Buchbesprechung Charlotte Kerner

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Buchbesprechung
Charlotte Kerner: Geboren 1999
Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg 1995.
162 Seiten.
Euro 6,54
ISBN 3-407-78737-5
Inhaltsverzeichnis
Informationen zu Werk und Autor
+ Zur Orientierung
+ Inhaltsangabe
+ Die Autorin Charlotte Kerner
+ Die Werke Charlotte Kerners
Arbeitsaufgaben / Themenbereiche
+ Aufgabe 1: Argumente für und gegen das Klonen
+ Aufgabe 2: Personencharakterisierung
+ Aufgabe 3: Beziehungsgeflecht
+ Aufgabe 4: Schauplätze
+ Aufgabe 5: Erzählebenen des Romans
+ Aufgabe 6: Literarische Gattungen – Science-Fiction
+ Aufgabe 7: Thema „Fortpflanzungsmedizin“
Lösungsvorschläge zu den Arbeitsaufgaben und Zusatzmaterialien
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 1: Argumente für und gegen das Klonen
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 2: Personencharakterisierung
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 3: Beziehungsgeflecht
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 4: Schauplätze
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 5: Erzählebenen des Romans
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 6: Literarische Gattungen – Science-Fiction
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 7: Thema „Fortpflanzungsmedizin“
+ Zusatzmaterialien
Weitere Vorschläge für den Unterricht
+ Vorschläge zum Schreiben
+ Vorschläge zum darstellenden Spiel
+ Projektvorschläge
Verweise auf Aktion Sprache und Stichwort Literatur
+ Themenbereiche in Aktion Sprache und Stichwort Literatur
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Rezensionen zum Text
Weitere Tipps und Literaturhinweise
+ Tipps zum Weiterlesen, CDs, Filme …
+ Sekundärliteratur
Zur Orientierung
Empfehlung / Schulstufe
Geboren 1999 ist für SchülerInnen ab der 9. Schulstufe geeignet. Das Buch behandelt ein aktuelles,
komplexes Thema – die Genforschung – in leicht zugänglicher Form. Es eignet sich hervorragend für
den fächerübergreifenden Unterricht mit Biologie und Umweltkunde, Religion und Philosophie.
Es wäre auch sinnvoll, die SchulärztIn oder eine GynäkologIn zu einem Informationsgespräch
einzuladen.
Karl Meiberg, geboren 1999, wird als Baby adoptiert. 17 Jahre später begibt er sich auf die Suche
nach seinen genetischen Eltern. Sie führt ihn in die Welt der Samenspender, Ei-Lieferantinnen,
Leihmütter und Retortenbabys. Karl selbst ist ein so genanntes Retortenbaby. Er muss am Ende mit
der Tatsache fertig werden, dass seine Mutter eine leblose Gebärmaschine war. Nach dieser
Entdeckung verschwindet Karl. Die Journalistin Franziska Dehmel macht seinen „Fall“ zu einem
Bericht für eine Zeitung und hofft, dass Karl den Artikel liest und wieder zurückkommt.
Inhaltsangabe (ausführlich)
Karl Meiberg, geboren 1999, wurde als Baby von Anna und Dietrich Meiberg adoptiert. 17 Jahre
später – im Jahre 2016 – möchte er Näheres über seine leiblichen Eltern erfahren. Am Computer des
Bürgerzentrums findet er im Feld „Leibliche Eltern“ die Eintragung „anonym, SGR 1999“. Das
bedeutet, dass für weitere Auskünfte die Zustimmung der Adoptiveltern notwendig ist. Außerdem stellt
er fest, dass das Geburtsdatum auf seiner Adoptionsurkunde nicht mit jenem im Computer
übereinstimmt.
Franziska Dehmel, eine Journalistin, die sich schon längere Zeit mit Fortpflanzungsmedizin
beschäftigt, hilft ihm bei seinen Recherchen. Von ihr erfährt er, dass die Codebezeichnung „R“ für
„Retortenbaby“ steht. 2016 werden solche Kinder als IVF-Kinder bezeichnet (IVF bedeutet „In-VitroFertilisation“). Die unterschiedlichen Geburtsdaten erklären sich Karl und Franziska damit, dass das
Datum auf der Adoptionsurkunde den Tag der „sozialen Geburt“ (Adoption) ausweist, der Computer
jedoch den Tag der „biologischen Geburt“ durch eine Leihmutter als Geburtsdatum führt.
Karls Suche konzentriert sich nunmehr auf die Eispenderin, den Samenspender und die Leihmutter.
Im Zuge seiner Recherchen erfährt er, dass sein biologischer Vater bei einem Verkehrsunfall ums
Leben gekommen ist und dass seine biologische Mutter, die ihre Eizellen ausdrücklich nur für
Forschungszwecke bestimmt hatte, nach Amerika ausgewandert ist. Karl setzt nun alle Hoffnungen
auf seine Leihmutter. Über die Organisation Anti-Gen kommt Karl auf Professor Rüdiger Wald, der
Karls Eltern zu ihrem Adoptivkind verholfen hatte. Dieser hat mit Embryonen experimentiert und auf
dem Gebiet der künstlichen Gebärmutter medizinische Forschungen betrieben. Karl will ihn zur Rede
stellen, findet aber nur einen tauben und senilen Mann vor, der ihm keine Antworten gibt.
Hacker der Organisation Anti-Gen dringen in die Datenbank jener Klinik, an der Professor Wald tätig
ist, ein und finden dort Berichte über Experimente an sechs Embryonen: Fünf Embryonen starben bei
diesen medizinischen Versuchen, der sechste Embryo, Karl KG/AU, wird einer künstlichen
Gebärmutter eingepflanzt. Der Zusatz hinter „Karl“, KG/AU, steht eben dabei für „künstliche
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Gebärmutter / Artificial Uterus“. Karl verschafft sich daraufhin Zugang zur Klinik und lernt seine
„Mutter“ kennen: eine leblose Maschine. Er bricht in Tränen aus und verschwindet. Sein Tagebuch
schickt er Franziska, die für die Zeitung seine Lebensgeschichte aufschreibt und hofft, dass Karl sich
bei ihr melden wird. Sie spricht mit Professor Wald, der in diesem Gespräch überhaupt nicht senil wirkt
und vehement den Standpunkt vertritt, bei seinen illegalen Versuchen mit Embryonen völlig im Recht
zu sein. Denn er verhelfe kinderlosen Paaren zu Kindern und unterbinde gleichzeitig den Missbrauch
von Leihmüttern.
Das Ende ist offen. Man erfährt nicht, wie Karl mit der schrecklichen Wahrheit zurechtkommt.
Die Autorin Charlotte Kerner
Charlotte Kerner wurde am 12.11.1950 in Speyer, Deutschland, geboren. Nach ihrem Studium der
Volkswirtschaft und Soziologie in Mannheim und Studienaufenthalten in Kanada und China arbeitete
sie an einem stadtsoziologischen Projekt mit. 1979 erhielt sie den 1. Preis im Wettbewerb „Reporter
der Wissenschaft“ für eine Arbeit über eine Frauenselbsthilfegruppe nach Krebsoperationen. Seit
1979 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in Lübeck. Sie schreibt unter anderem für GEO,
Emma und Die Zeit.
In ihrer Autorentätigkeit sind Kerners Spezialgebiet engagierte Frauenbiografien, denen sehr genaue
Recherchen zu Grunde liegen. Zu ihrer Motivation zum Schreiben und ihren Vorbildern meint sie:
„Zum Schreiben brauche ich ein Thema, das mich umtreibt. (...) Die Nobelpreisträgerinnen waren
Vorreiterinnen, ließen sich nicht in Rollenklischees pressen. Und Vorbilder sind gerade für Mädchen
und Frauen sehr wichtig.“ (Lübecker Nachrichten vom 24.10.1997).
Ihr besonderes Interesse gilt auch der Medizin, vor allem der Fortpflanzungsmedizin – worin sich auch
die Motivation, einen Roman wie Geboren 1999 zu schreiben, begründet.
Die Werke Charlotte Kerners
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Seidenraupe, Dschungelblüte. Die Lebensgeschichte der Maria Sibylla Merian. Weinheim: Beltz &
Gelberg 1998.
Kerner erhielt dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Lise, Atomphysikerin. Die Lebensgeschichte der Lise Meitner. Weinheim: Beltz & Gelberg 1999.
Kerner erhielt dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis 1987.
Alle Schönheit des Himmels. Die Lebensgeschichte der Hildegard von Bingen. Weinheim: Beltz &
Gelberg 2000.
Madame Curie und ihre Schwestern. Frauen, die den Nobelpreis bekamen. Weinheim: Beltz &
Gelberg 1990.
Nicht nur Madame Curie ... Frauen, die den Nobelpreis bekamen. Weinheim: Beltz & Gelberg
1999.
Diese beiden Bücher beinhalten Porträts aller Nobelpreisträgerinnen von 1903–1996.
Kinderkriegen. Ein Nachdenkbuch. Weinheim: Beltz & Gelberg 1995.
Frauen äußern sich zum Thema „Kinder kriegen oder nicht?“
Blueprint, Blaupause. Weinheim: Beltz & Gelberg 2001.
Die berühmte Pianistin Iris erkrankt an multipler Sklerose. Sie lässt sich klonen, ihre Tochter Siri
soll als Kopie (Blaupause) ihre Lebensträume verwirklichen. Inhaltlich ist dieser Roman eine
Fortführung des Gentechnik-Themas. Kerner erhielt dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis
2000.
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Arbeitsaufgaben / Themenbereiche
Aufgabe 1: Argumente für und gegen das Klonen
Lesen Sie einige Artikel, die sich mit dem Thema Klonen beschäftigen. Was ist Ihrer Meinung nach
das Hauptargument gegen das Klonen? Welche Argumente dafür lassen sich finden?
Aufgabe 2: Personencharakterisierung
Charakterisieren Sie die Hauptpersonen.
Inwiefern stimmen die Selbstcharakteristik Karls und die Beschreibung durch Franziska überein?
Aufgabe 3: Beziehungsgeflecht
Klären Sie die Beziehungen der Personen zueinander. Versuchen Sie eine grafische Darstellung der
Beziehungen (Tipp: Karl steht im Zentrum!)
Aufgabe 4: Schauplätze
Beschreiben Sie den Schauplatz, die Stadt Herbeck. Welchen Gegenpol dazu findet Karl?
Aufgabe 5: Erzählebenen des Romans
Erklären Sie die verschiedenen Erzählebenen des Romans näher. Was bewirken sie?
Aufgabe 6: Literarische Gattungen – Science Fiction
Welchen literarischen Gattungen kann man Geboren 1999 zuordnen?
Informieren Sie sich über Science-Fiction-Literatur.
Inwiefern ist Geboren 1999 ein besonderer Science-Fiction-Roman?
Aufgabe 7: Thema „Fortpflanzungsmedizin“
Informieren Sie sich über Fortpflanzungsmedizin. Besonders an Biologie und Medizin Interessierte
können sich zu einer Art „Expertengruppe“ zusammenschließen. Die Ergebnisse der Recherchen
sollen in der Klasse präsentiert werden.
Tipp: Als Informationsquelle eignet sich etwa das Heft GEO Wissen vom März 1998, das über
zahlreiche Aspekte des Themas informiert und auch weiterführende Literatur enthält.
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Lösungsvorschläge zu den Arbeitsaufgaben und Zusatzmaterialien
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 1: Argumente für und gegen das Klonen
Einen guten Überblick zum Thema „Klonen“ können sich Ihre SchülerInnen auch verschaffen, wenn
Sie Ihnen die in dieser Buchbesprechung als Zusatzmaterialien angeführten Texte (Zeitungsartikel …)
zur Verfügung stellen.
Charlotte Kerner selbst äußerst sich so: „Es verstößt gegen die Menschenwürde und die Freiheit, die
im Zufall liegt.“
Aus: Tagespost vom 25.2.2000
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 2: Personencharakterisierung
Karl
Er ist ein guter Beobachter. Schon als Kind zurückhaltend und distanziert, lehnt er die Umarmungen
seiner Mutter ab. Seine Klassenkollegen nennen ihn „den kalten Karl“, Fabian Dehmel spricht sogar
von „Eisschrank“. Er lacht nicht; er weint nur bei Schmerzen; Gefühle kann er nur schwer zeigen. Er
fühlt sich zerrissen (siehe Geboren 1999, S. 38). Beim Anblick seiner „Mutter“ kommen allerdings
auch ihm die Tränen. Die Frage, ob für sein schroffes Wesen die leblose Gebärmaschine
verantwortlich ist, wird nicht explizit beantwortet.
Franziska fällt sofort seine scharfe Beobachtungsgabe auf, er kommt ihr erwachsener als ihr Sohn vor.
Seine grauen Augen mag sie nicht, sie ließen niemanden an sich heran. Franziskas Charakteristik
deckt sich mit Karls Selbstcharakteristik im Tagebuch (siehe Geboren 1999, S. 9ff.).
Normale „menschliche“ Gefühle empfindet er nur gegenüber Sarah. Am Ende lässt er aber auch sie
nicht mehr an sich heran.
Er ist seinen Eltern Dietrich und Anna dankbar, macht ihnen aber auch Vorwürfe, weil sie seine
genetischen Eltern anonym bleiben lassen. Er meint auch, dass es zwar Liebe gegeben habe, dass
aber der Respekt vor ihm gefehlt habe, sonst hätte man ihm schon früher von Professor Wald erzählt.
Instinktiv lehnt er die Stadt ab und zieht sich zum „alten Fluss“, einem Biotop, zurück. Bei seiner
Identitätssuche macht ihm besonders die Tatsache zu schaffen, dass es fünf weitere Klone von ihm
gibt, wer garantiert ihm, dass nicht irgendeiner doch überlebt hat. Damit ist die Einzigartigkeit seines
Individuums in Frage gestellt. Die Suche nach sich selbst belastet ihn so sehr, dass er auch in
Griechenland nicht abschalten kann und an Selbstmord denkt (siehe Geboren 1999, S. 98f.).
Als er vom Urlaub zurückkommt, intensiviert er die Suche nach seiner Leihmutter, er versucht sogar
durch Hypnose an sie heranzukommen.
Franziska
Sie ist Journalistin, geschieden. Ihr Sohn Fabian geht mit Karl in eine Klasse, er stellt den Kontakt
zwischen den beiden her. Zunächst ist Karl für sie nur eine interessante Story, später kommen sie sich
näher (Bruderkuss!). Karl wird ihr immer wichtiger, sie weiß, dass er Hilfe braucht. An der Eskalation
der Ereignisse und an Karls Verschwinden fühlt sie sich schuldig. Als sie mit Professor Wald
gesprochen hat, steht sie eindeutig auf Karls Seite. Im Rahmen ihrer Recherche ändert sich auch ihre
Einstellung gegenüber der Gentechnik: Ist sie zunächst interessiert und vom Fortschritt überzeugt,
wird sie nach der Begegnung mit Professor Wald zur Gegnerin. Sie ist die zweite Hauptfigur. Bei ihr
laufen die Fäden der Handlung zusammen.
Sarah
Sie ist ein Jahr jünger als Karl, wenig charakterisiert. Sie liebt Karl, wie er ist; seine Herkunft ist ihr
egal. Sie fürchtet nur, dass Karls Identitätssuche ihre Beziehung stören könnte. Sie ist ausgeglichen
und nett und bedeutet den Ruhepol in Karls Leben. Sie glaubt, dass sich Karl sein Anderssein nur
einbildet.
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Sie nennt Karl manchmal „mein Schwan“, nach dem Märchen, in dem ein hässliches Entlein zum
schönen Schwan wird.
Anna und Dietrich
Ihre Ehe bleibt kinderlos, sie entschließen sich zur Adoption. Anna ist zunächst Deutschlehrerin,
später Museumspädagogin, Dietrich ist Ingenieur. Dietrich hat eine nüchterne Sicht von der
Genforschung. Er hält die künstlichen Gebärmaschinen für technischen Fortschritt, der zu begrüßen
ist. Karls Identitätssuche ist für ihn ein Problem im Rahmen der Pubertät. Anna ist Professor Wald
dankbar, denn nur durch ihn war es für sie möglich, Mutter zu werden.
Beide machen Franziska den Vorwurf, Karl in seiner Suche nach der Leihmutter unterstützt zu haben
und ihn damit ins Unglück getrieben zu haben. Beide empfinden Karl als normalen, wenn auch sehr
verschlossenen Menschen.
Professor Wald
Seine Persönlichkeit wird in zwei Erscheinungsformen dargestellt. Bei seinem Treffen mit Karl stellt er
sich senil, taub und wirkt beinahe sympathisch. Im Gespräch mit Franziska zeigt er sein wahres
Wesen. Er betrachtet seine Arbeit mit Embryonen außerhalb des Mutterleibs als sein Lebenswerk, zu
dem er steht und für das er sich zu wenig beachtet fühlt. Der Fortschritt hat für ihn Vorrang vor den
einzelnen Menschen und deren Gefühlen. Die künstliche Gebärmaschine sieht er als Alternative zu
Leihmüttern und damit als Beitrag zur Emanzipation der Frau.
Dagmar Bruhns
Sie unterstützt Karl bei seiner Suche nach der Leihmutter, sie verschafft sich illegalen Zugang zu
Informationen über Rüdiger Wald.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 3: Beziehungsgeflecht
Karls wichtigste Bezugsperson ist Sarah, sie steht zu ihm, ganz gleich, was die Suche auch ergeben
würde.
Franziska steht an zweiter Stelle, sie wird zur echten Freundin, die nicht nur Interesse an ihm hat, weil
er eine gute Story abgibt. Am Ende nimmt das Interesse an dem Artikel ab, das Interesse an Karl
nimmt zu (vgl. Franziskas Aussage auf S. 124: „Aber Karl ist weder ein Golem noch ein Spuk,
verdammt noch mal. Er ist mein Freund, und er braucht Hilfe.“). Sarah und sie stehen seiner
Identitätssuche positiv gegenüber.
Die Eltern Anna und Dietrich empfinden Karl als normal, nur etwas zurückhaltend. Sie unterstützen
Karls Suche nicht.
Professor Wald wäre es verständlicherweise lieber, Karl hätte seine Suche nie begonnen. Aber er ist
bis zuletzt überzeugt, dass er im Recht ist.
Franziskas Sohn Fabian ist eifersüchtig, weil seine Mutter sich mit Karl intensiver beschäftigt als mit
ihm.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 4: Schauplätze
Herbeck ist ungemütlich, kalt, immer liegt eine Dunstglocke über der Stadt (vgl. S. 48). Das
Bürgerzentrum mit dem leuchtenden „H“ auf dem Dach, den langen Gängen, dem Neonlicht, den
Sicherheitsvorkehrungen, den gelben Uniformen der Beamten, dem Blau der Fahrstühle und der
Anonymität der Menschen erinnern an einen Alptraum. Die Stadt ist Symbol für den negativen
Fortschritt. Die Menschen verlieren ihre Individualität, sie werden zu Nummern degradiert. Den
Menschen werden Informationen zugeteilt, sie werden am Mitdenken gehindert, sie werden
uninformiert gehalten. Die Farben Gelb, Sandfarben und Grau dominieren. Alles in allem eine
deprimierende Atmosphäre.
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Karl flüchtet zum alten Fluss, in eine Gegend, die die Einwohner Herbecks vergessen haben. Hier
dominieren Grün und Blau, die Atmosphäre ist ruhig und heimelig, hier fühlt sich Karl geborgen, hier
kommt er zur Ruhe (vgl. Karls Tagebuch, S. 65f.).
Kerner gestaltet hier den Jahrtausende alten Gegensatz zwischen Kultur (Zivilisation) und Natur. Karl,
Produkt des wissenschaftlichen Fortschritts, fühlt sich instinktiv zur Natur hingezogen. Die sonst der
Natur zugesprochene heilende Kraft kann ihm allerdings nicht mehr weiterhelfen.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 5: Erzählebenen des Romans
Die Struktur des Buches ist sehr kompliziert, sie zwingt zum Nachdenken, lässt keine lockere
Unterhaltungslektüre zu.
Es gibt fünf unterschiedliche Textsorten:
1. Zeitungsbericht „Geboren 1999“
Franziska versucht Passagen des Berichts aus der personalen Sicht Karls und ihrer eigenen zu
schreiben, um die Geschichte möglichst authentisch zu gestalten. Sie sind gefühlsbetont. Manchmal
gibt es allerdings auch auktoriale Teile, die sachlich gehalten sind und der Information dienen. Der
Zeitungsbericht ist eine Rückblende und beginnt mit Karls Begegnung mit seiner „Mutter“ und besteht
aus drei Teilen. Diese werden allerdings immer wieder vom epischen Bericht unterbrochen.
• Die Suche: Teil 1: Geheimnisvolle Geburtstage (2 Teile)
• Die Suche: Teil 2: Gensumpf (3 Teile)
• Die Suche Teil 3: High-Tech-Schöpfung (3 Teile)
• Ende der Suche: Erkennen
• Wiedersehen: Dieser Teil leitet als Rückblende den Artikel ein.
2. Karls Tagebuch
Das Tagebuch gibt die subjektive Sicht Karls wieder. Das Hauptmotiv darin ist die Frage: Wer bin ich?
Die Tagebuchaufzeichnungen sind Anstoß für Franziska, über Karl nachzudenken. Sie werden nicht
chronologisch verwendet.
3. Tonbandinterviews
Gespräch zwischen Franziska und Sarah
Gespräch zwischen Franziska und Anna
Gespräch zwischen Franziska und Dietrich
Durch sie erfährt man, wie diese drei Personen Karl einschätzen.
4. Hintergrundartikel
Ein Bericht über das Retortenkind, das selbst zur Mutter wird.
Aus zwei mach fünf
Die Eiserben
Mutter = Großmutter, Schwester = Mutter
Die Brutfabrik
Zeitungsartikel (die auf Originalquellen beruhen)
5. Epischer Bericht
In dessen Mittelpunkt steht Franziskas Recherche (als Rückblende), die Perspektive ist meist personal
aus ihrer Sicht. Er ist der rote Faden durch den Text.
Außer diesen fünf Textgruppen gibt des noch das „Anti-Gen-Dossier“ über Professor Wald und eine
Szene aus Goethes Faust (siehe S. 119).
Die fünf Textelemente wirken wie eine Collage, sie sind nicht chronologisch geordnet und verhindern
eine rasche Identifikation der LeserIn mit Karl.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 6: Literarische Gattungen – Science-Fiction
Der Roman ist einerseits ein Science-Fiction-Roman, andererseits ein so genannter Adoleszenzroman
und auch ein Kriminalroman.
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1. Science-Fiction-Roman: Die Handlungsebene ist im Jahr 2016 angesiedelt, allerdings hat die
heutige Realität diese Fiktion bereits zum Großteil eingeholt. Die künstliche Gebärmutter ist zwar
immer noch Zukunftsmusik, die Weichen dazu sind aber heute längst gestellt.
Science-Fiction-Literatur:
Der Terminus „Science-Fiction“ umfasst zwei Begriffe, die sich eigentlich widersprechen: „Science“
sieht man im Zusammenhang mit Wissenschaft, Planung, Sachlichkeit, Rationalität; „Fiction“ bedeutet
nicht-rational, emotional, fantastisch.
Ein Science-Fiction-Roman hat Ähnlichkeit mit einer Utopie (worin ein Idealzustand des menschlichen
Lebens fiktional gestaltet wird). Manche sehen seine Wurzeln im fantastischen Roman des 18. und 19.
Jahrhunderts. Ebenso kann ein Science-Fiction-Roman Elemente des Märchens, des Helden- und
Ritterromans, des Bildungsromans, der Abenteuerliteratur und des Western enthalten.
Dementsprechend sind seine Motive technische Entwürfe, fantastische Reiseabenteuer, Abenteuer im
Weltraum, biologische und naturwissenschaftliche Experimente, Versuche, Unerklärbares
pseudowissenschaftlich zu erklären, die Begegnung mit fremden, oft außerirdischen Existenzen und
Intelligenzen, die die Welt oft auch bedrohen, aber auch Staats- und Gesellschaftsentwürfe, die
abschrecken sollen. Als literarische Formen werden in der Science-Fiction-Literatur neben Romanen
auch Kurzgeschichten, Comics und Heftchenromane verwendet.
Als Klassiker gelten Jules Verne und H.G. Wells. Neue Impulse erhält die Science-Fiction-Literatur
von Samjatin, Orwell, Huxley, Bradbury und Lem. Sie betrachten in ihren Werken den
Fortschrittsglauben und den Wissenschaftsoptimismus kritisch und ihre Werke sind von Kultur- und
Technikpessimismus geprägt. Neueste Science-Fiction-Literatur entwirft häufig Szenarien von
Cyberwelten …
2. Adoleszenzroman: Das zentrale Motiv in diesem Roman ist die Identitätssuche Karls. Er sucht
nach seinen genetischen Eltern und später nach seiner Leihmutter, weil er sich „anders“ fühlt.
Gleichzeitig mit der Suche erfolgt auch der Ablösungsprozess von seinen Eltern. Unklar ist, ob die
Identitätsfindung letztlich gelingt, weil das Ende ja offen ist.
3. Kriminalroman: Die „Detektive“ Karl und Franziska verfolgen Spuren vom Jahr 2016 zurück bis ins
Geburtsjahr 1999. Am Ende wird Professor Wald entlarvt, unerlaubt mit Embryonen experimentiert zu
haben, ob er bestraft wird, bleibt offen.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 7: Thema „Fortpflanzungsmedizin“
Sie können den SchülerInnen natürlich auch die im Folgenden als Zusatzmaterialien angeführten
Texte (Zeitungsartikel …) zur Verfügung stellen.
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Zusatzmaterialien
Text 1:
Menschen, Klone, Sensationen
US-Forscher kopieren menschliche Zellen – angeblich nur für medizinische
Zwecke. Doch nicht jeder glaubt ihnen.
Von Hans Schuh
Ihre Titelstory Erstes Menschen-Baby geklont garnierte die Bild-Zeitung am 18. Juni mit einem
Kommentar: „Vor einem Jahr hat ein Japaner auf Hawaii Mäuse geklont ... Jetzt ist das fragwürdige
Experiment am Menschen gelungen. Beängstigend!“ Das Blatt forderte „schärfere Gesetze,
internationale Kontrollen und drastische Strafen für Menschen-Kloner“ und grübelte: „Dürfen wir Gott
so ins Handwerk pfuschen?“
Mit dieser Story, inspiriert von einem Bericht tags zuvor im britischen Boulevardblatt Daily Mail, verhob
sich Bild gleich dreimal – in den Kategorien Theologie, Reproduktionsbiologie und Journalismus. Denn
erstens lässt sich Gott so einfach nun doch nicht ins Handwerk pfuschen. Zweitens erzeugt Bild aus
einem alten US-Forschungsfoto vom November 1998 (Eizelle einer Kuh, in der sich menschliches
Erbgut einige hundert Mal teilte) ein brandaktuelles „Menschen-Baby“. Drittens ist journalistisch der
Husarenstreich gelungen, die erklärte Absicht der US-Forscher genau ins Gegenteil umzukehren.
Denn die wollten durch Mischen artfremden Materials von Kuh und Mensch die Entwicklung
vollständiger Lebewesen gerade verhindern. Das Bild zeigt einen Zellhaufen mit tödlichem Defekt, der
nie eine Gebärmutter gesehen hatte.
Die überschießenden Reaktionen der Boulevardpresse verdeutlichen aber den ethischen Sprengstoff
klontechnischer Experimente, die derzeit vor allem in den USA laufen. So berichtete die Washington
Post am 14. Juni über die Forschung der beiden Firmen Geron und Advanced Cell Therapeutics
(ACT). Beide wollen menschliche Embryonen so weit züchten, dass sich aus den kugelförmigen
Zellhaufen sogenannte Stammzellen für medizinische Zwecke entnehmen lassen. Die Firmen
beschwören, dass es ihnen nicht um das Erzeugen geklonter Menschen gehe (reproduktives Klonen),
sondern um die Gewinnung dieser therapeutisch wichtigen Zellen (therapeutisches Klonen). Die
Experimente seien völlig legal, denn die Embryonen würden nicht in eine Gebärmutter eingesetzt und
spätestens am 14. Wachstumstag vernichtet, lange bevor Nerven oder gar menschenähnliche Wesen
entstanden seien. Um dies zu belegen, gab ACT das alte Foto vom Kuh-Menschen-Klon an die
Presse.
Tatsächlich ist solche Forschung in den USA erlaubt. Allerdings hat Bill Clinton ihr vor Jahren die
staatliche Finanzierung entzogen. Inzwischen wogt eine politische Diskussion darum, ob man
therapeutisches Klonen zur Gewinnung von Stammzellen wieder öffentlich fördern solle. Auf solches
Geld hoffen Firmen wie Geron oder ACT.
Angesehene Institutionen wie die National Institutes of Health der USA bestätigen den Stammzellen
ein revolutionäres therapeutisches Potential. Sie können sich nahezu unbegrenzt vermehren, aus
ihnen gehen alle Organe wie Blut-, Leber-, Nerven- oder Muskelzellen hervor. Gelänge es, aus
Stammzellen insulinproduzierende Zellen zu züchten und diese auf Diabetiker zu übertragen dann
ließen sich Millionen Zuckerkranke heilen. Neue Nervenzellen könnten Lahme wieder gehen lassen,
und Parkinsonkranke müssten nicht mehr zittern. Theoretisch trägt der Körper in jeder Zelle ein
Programm zur Selbstheilung, manchmal schließt er ja auch klaffende Wunden. Aber leider nicht
immer. Forscher brennen deshalb darauf, jene Stammzellen in den Griff zu bekommen, die ganze
Organe oder Körperteile regenerieren können.
Kritiker dieses Forschereifers wenden ein, genau diese Bestrebungen, die Neuprogrammierung von
menschlichem Erbgut besser verstehen zu lernen, förderten auf Dauer auch das reproduktive Klonen.
Denn wer die Orchestrierung des Erbgutes so perfekt beherrscht, dass er Ersatzorgane züchten kann,
der liefere auch die Technik, um ganze Menschen zu klonen.
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Die Firma ACT glaubt jedoch, diesen Vorwurf ausräumen zu können: Statt schwer erhältlicher
menschlicher Eizellen benutzt sie die Eizellen von Kühen, die in jedem Schlachthof massenhaft
anfallen. Aus diesen Zellen wird der Kern mit dem Rindererbgut entfernt und durch menschliches
Erbgut ersetzt, etwa aus Hautzellen eines Männerbeins. Tatsächlich beginnt dieses chimäre Gebilde
sich manchmal zu teilen wie ein normaler Embryo; das Foto von ACT beweist es. Aus dem hybriden
Embryo ließen sich dann menschliche Stammzellen fischen, lebensfähige Klone könnten jedoch nicht
entstehen.
Als Hinderungsgrund gelten die „Kraftwerke“ in jeder Zelle, die Mitochondrien. Sie werden
ausschließlich über die Mutter vererbt, ihre DNA kommt nur in der Eizelle vor. Beim Klonverfahren
nach ACT entsteht ein vorwiegend menschlicher Embryo – aber mit der Energieversorgung einer Kuh.
Tatsächlich sind bisher alle Versuche gescheitert, Mäuse, Affen oder Schafe bis zur Geburt aus
hybriden Kuheiern zu züchten. Genau dies bemängeln aber auch die Kritiker der ACT-Klontechnik:
Sind die hybriden Wesen nicht lebensfähig, dann könnten auf diesem Weg gewonnene Stammzellen
auch nicht für eine medizinische Therapie taugen. So gezüchtete Organe müssten frühzeitig
versagen.
Die Firma kontert mit Plänen, sie wolle Kuh-Mitochondrien durch menschliche Mitochondrien ersetzen.
Und im ersten Heft der Zeitschrift Cloning, von Dolly-Erzeuger Ian Wilmut herausgegeben, berichten
jetzt Forscher der Utah State University, ihnen sei es fast gelungen, ein Schaf der seltenen AltaiRasse zu klonen. Sie hatten Erbgut aus der Haut eines Altai-Widders in die Eizelle einer Kuh bugsiert
und den hybriden Embryo einem Schaf in die
Gebärmutter eingepflanzt. Er wuchs dort 59 Tage heran, dann kam es zum Abort. Prinzipiell lasse sich
die Methode weiter verfeinern, dann könne man viele vom Aussterben bedrohte Tiere retten. Noch ein
Heilsversprechen.
Die Firma Geron hingegen setzt auf menschliche Eizellen, um an die begehrten Stammzellen
heranzukommen. Ihr Forschungschef Calvin Harley bestätigte der Washington Post, dass ein von
Geron geförderter Wissenschaftler menschliche Embryonen klont – zu therapeutischen Zwecken,
versteht sich.
Deutsche Wissenschaftler dürfen sich an dem Klonierungswettlauf nicht beteiligen, das
Embryonenschutzgesetz untersagt es. Die Stammzellen können sie sich indes auf Umwegen
beschaffen – aus abgetriebenen Föten.
Langfristig dürften sowohl das therapeutische Klonen als auch der Umweg über abgetriebene Föten
überflüssig werden. Denn wer die Proteine kennt, die das Erbgut zur Produktion einzelner
Stammzellen veranlassen, der braucht nur noch die richtige Proteinmischung in das verletzte oder
amputierte Glied zu spritzen – und alles wird wieder heil.
Sollte dies gelingen, dann wird jeder solche Biomedizin wie selbstverständlich nutzen. Und man wird
sich nostalgisch der heftigen Ethikdebatten der Vergangenheit erinnern.
Aus: Die Zeit vom 24. Juni 1999
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Text 2:
Erbgut-Check für Embryonen?
PRO
Die Zukunftstechnik PID könnte viel Leid lindern
Von Hans Schuh
Brüchige Glasknochen, Schleimlungen, Blut-, Stoffwechsel- und Nervenkrankheiten – es gibt eine
Fülle schwerer Erbleiden. Selbstverständlich versuchen wir, den Patienten zu helfen und üble Launen
der Natur zu korrigieren. Die Therapie ist nicht nur erlaubt, sondern ethisch geboten.
Allerdings wäre Vorbeugen besser als Heilen. Angehörige erbkranker Familien kennen das Elend
genau und möchten ihren Kindern solche Leiden ersparen. Nach heftigen Disputen toleriert unsere
Gesellschaft die Abtreibung schwer erbkranker Babys, falls die werdende Mutter ihre Gesundheit
bedroht sieht. Ein unbefriedigender Kompromiss.
Nun möchte die Bundesärztekammer mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) künftig Angehörigen
schwer erbkranker Familien zu gesunden Kindern verhelfen – ohne Abtreibung. Ein überfälliger
Schritt, der in den meisten EU-Staaten schon realisiert ist. Denn dank der PID kann die Frau bereits
vor der Schwangerschaft erfahren, ob der Embryo belastet ist, und seine Übertragung in ihren Schoß
verweigern. Dies ist viel humaner, als ihn wochenlang in sich heranwachsen zu lassen, dann zu testen
und eventuell zu töten.
Leider schränkt die Bundesärztekammer jedoch den Zugang zur PID massiv ein: Sie ist nur solchen
Paaren erlaubt, die ein bekanntes und sehr hohes Risiko tragen, erbkranken Nachwuchs zu zeugen.
So sei es „unabdingbare Voraussetzung“, dass das hohe genetische Risiko „bei beiden Partnern“
dokumentiert ist. Mit kaum hundert Fällen pro Jahr ist zu rechnen. Etwa wenn Eltern bereits ein
krankes Kind haben und sich nun ein gesundes zweites Baby wünschen.
Für eine PID genügt laut Ärztekammer weder, dass die Frau altersbedingt ein erhöhtes Risiko trägt,
ein krankes Kind zu gebären, noch dass sie sich wegen Sterilität einer Befruchtung außerhalb ihres
Körpers unterziehen musste. Genau in solchen Fällen könnte die PID aber Tausenden Frauen helfen.
Denn wenn sie sich den Mühen einer Reagenzglasbefruchtung unterziehen, warum dann die Prüfung
des Embryos vor dem Einpflanzen in den Uterus verbieten, aber danach zur Pränataldiagnostik raten?
Das fördert nur Schwangerschaften auf Probe und Abtreibungen. Dabei könnte die PID die Zahl der
„medizinisch indizierten“, oft aber eugenisch bedingten Abtreibungen deutlich reduzieren.
Der Bedarf nach Frühdiagnostik kindlicher Schäden wird zunehmen, in dieser Zukunftstechnik spielt
die PID eine wichtige Rolle. Denn aus sozialen Gründen übersteigt das Alter von Erstgebärenden
zunehmend die biologisch optimale Phase von etwa 18 bis 30 Jahren. Längst befürwortet die
Gesellschaft das Wunschkind, und ähnlich legitim wie die Bestimmung des Zeitpunktes ist der
Wunsch, schwere Erbleiden zu vermeiden.
Deshalb sollten wir das medizinisch beste und für die Frauen schonendste Verfahren ermöglichen.
Der Entwurf der Bundesärztekammer ist halbherzig. Dahinter stecken Ängste, sowohl eine
Kostenlawine loszutreten, als auch im politischen Kampf mit Lebensschützern, Abtreibungs- und
Gentechnikgegnern oder schlicht Fortschrittsskeptikern große Angriffsflächen zu bieten. Gewiss wie
jede Technik ist auch die PID ein zweischneidiges Schwert: Sie kann missbraucht werden und einen
unerwünschten Wettlauf um qualitätsoptimierten Nachwuchs entfachen. Die Ärztekammer minimiert
dieses Problem zwar quantitativ durch ihre scharfe Zugangskontrolle zur PID, qualitativ entschärft sie
es jedoch kaum. Dies erleichtert es den PID-Gegnern, den vorliegenden Entwurf als extremes
Minderheitenprogramm zu verwerfen, dessen inhärente Risiken in keinem Verhältnis zum
medizinischen Gewinn stünden.
Das entscheidende Problem lautet: Wie nutzen wir die PID zur Krankheitsvermeidung und verhindern
ihren Missbrauch zur Nachwuchsoptimierung nach unerwünschten Kriterien wie Ästhetik, Geschlecht
etc.? Zentral ist hierbei der Informationsfluss vom PID-Labor zu den Eltern und ihrem Arzt. Warum
sollten nicht wenige autorisierte Analysezentren, überwacht durch demokratisch legitimierte
Zerberusse vom Schlage unserer Bundesgesundheitsministerin, nur krankheitsrelevante Daten
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herausfinden und weiterleiten dürfen? Damit ließen sich tausendfaches Leid und auf Dauer enorme
Kosten für lebenslange Therapien vermeiden.
Jahrtausendelang mussten die Menschen ertragen, was ihnen die Genlotterie an Erbleiden
aufbürdete, ähnlich wie einst Seefahrer mit Stürmen, Klippen und Strömungen zurechtkommen
mussten. Mit wachsender Möglichkeit, Risiken vorauszusehen und umschiffen zu können, wird die
Zahl jener sinken, die sich und ihren Nachwuchs in blindem Gott und Naturvertrauen den Gefahren
aussetzen. Ein von oben verfügter Zwang zur Blindheit durch Technikverbote wird scheitern und
privaten Diagnose-Wildwuchs im Ausland fördern. Nur ein positives Angebot der Solidargemeinschaft
hat Aussicht, den Run auf das Wunschkind in sozialverträgliche Bahnen zu lenken. Darüber lohnt es
sich zu diskutieren.
CONTRA
Die PID beschwört eine neue Eugenik herauf.
Von Volker Stollorz
Mit tragischen Fallgeschichten wollen die deutschen Ärzte die vorgeburtliche Genanalyse aus der
Verbotszone manövrieren. Man stelle sich vor: Die Mutter eines Kindes, das an unheilbarer
Muskelschwäche leidet, wird ein zweites Mal schwanger. Während das erste Kind im Alter von sechs
Jahren stirbt, ergibt ein Gentest, dass auch der Fötus von der tödlichen Krankheit betroffen ist. Die
seelisch tiefverstörte Frau treibt ihr heranreifendes zweites Kind ab. Wer kann es ihr verdenken, dass
sie mithilfe der Präumplantationsdiagnostik (PID) endlich ein gesundes Kind zur Welt bringen will?
Diese emotionale Logik ist durchsichtig, die Zuspitzung auf den Einzelfall verräterisch: Ein trauriges
Schicksal soll das Nachdenken über den Schutz des ungeborenen Lebens erschlagen; das
Embryonenschutzgesetz, das über den menschlichen Embryo wacht, erscheint plötzlich
unmenschlich.
Was ist falsch an dieser Argumentation? Zunächst stimmt der subtil erweckte Eindruck nicht, zur
Präimplantationsdiagnostik gäbe es für Paare keine Alternative außer den Verzicht auf Kinder oder die
Adoption. Genetisch vorbelastete Paare können auch durch Samenspende Kinder zeugen, wenn sie
nicht auf 100-prozentiger genetischer Elternschaft beharren. Helfen könnte ihnen auch die gesetzlich
erlaubte Polkörperdiagnostik. Dabei werden Teile der Eizelle vor ihrer Befruchtung durch Samenzellen
genetisch durchleuchtet, ohne dass dabei Embryonen zerstört werden.
Auch wenn Ärzte die PID mit der Pränataldiagnostik (PND) gleichsetzen, begehen sie einen
Denkfehler. Bei der PND wird der Embryo im Mutterleib genetisch untersucht und eventuell
abgetrieben. In beiden Fällen hängt sein Leben vom Ergebnis eines Gentests ab. Die Mediziner
argumentieren, eine PID sei weniger traumatisch für die Frau. Diese Behauptung verschweigt jedoch,
dass auch eine künstliche Befruchtung riskant und seelisch belastend ist. Hinzu kommt ein wichtiger
Unterschied. Ein Schwangerschaftsabbruch ist normalerweise die Abwehr eines bestehenden, für die
Frau jedoch unerträglichen Zustandes. Bei der PID dagegen wird Leben in vitro erst gezeugt und dann
bewusst selektiert. Wenn Ärzte die PID anbieten, beteiligen sie sich somit erstmals daran,
menschliches Leben zu erzeugen und zu vernichten. Das ist eine ungeheure Zäsur im Berufsethos.
Weil die Ärzte diesen Erdrutsch spüren, rechtfertigen sie sich mit angeblich vergleichbaren
Ausnahmefällen. So soll es Frauen mit genetischen Vorerkrankungen geben, die auch vor
mehrfachen Abtreibungen nicht zurückschrecken, bis ein gesundes Kind geboren wird. Zwar dürften
sich in Wahrheit nur extrem wenige Frauen eine derartige Tortur antun. Statt die PID aber
ausgerechnet aufgrund dieser Einzelfälle zu erlauben, wäre es ehrlicher, bewusste
Schwangerschaften auf Probe als rechtswidrig zu verurteilen. Nicht die PID gehört erlaubt, sondern
fragwürdige Anwendungen der PND eingeschränkt.
Was besonders schwer wiegt: Die gezielte Selektion im Labor beschwört die Gefahr einer nützlichen,
schmerzlosen und effizienten „neuen Eugenik“ herauf, bei der Wünschbares zur Norm wird. Zwar
versucht die Ärzteschaft, den eugenischen Geist der PID in die Flasche strenger Indikation zu sperren.
Doch mit Ethikkommissionen allein lässt sich der Dammbruch kaum stoppen. Wer kann einerseits
einem Paar mit der Erbkrankheit Huntington die PID verweigern? Wer will andererseits verhindern,
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dass Paare den Embryonencheck in Rahmen einer künstlichen Befruchtung als Qualitätskontrolle
nutzen, um ihre Chance auf ein gesundes Kind zu erhöhen? Die PID öffnet die Tür zur schönen neuen
Welt des Baby-TÜVs – wenn auch zunächst nur einen Spalt breit.
Wenn Ärzte aber ohnehin ständig Wünsche verzweifelter Eltern in die Schranken weisen müssten,
warum begeben sie sich dann überhaupt erst auf die ethisch abschüssige Ebene? Auch die
Leihmutterschaft wurde hierzulande verboten, obwohl sich Paare diese wünschen. In den USA
betrachten schon heute immer mehr „informierte Patienten“ Ärzte nur noch als Erfüllungsgehilfen ihrer
Visionen von Normalität. Noch ein paar Jahre genetischer Fortschritt, und der Kinderwunsch wird zur
ultimativen Shopping-Erfahrung. Gleichzeitig könnte die Zeugung Behinderter endgültig zur säkularen
Sünde werden. Das dürfen Ärzte nicht wollen, selbst wenn sich solche Machbarkeitsfantasien in
Deutschland zähmen ließen. Wer den menschlichen Embryo bis zum 14. Lebenstag rechtlich einmal
zur Disposition stellt, macht ihn zum Objekt der Begierde von Forschern.
In den USA kann besichtigt werden, wie rasch Embryonen zum Rohstoff degradiert werden, um
daraus „Monsterfrüchte“ (Peter Sloterdijk) im Dienste des therapeutischen Fortschritts zu züchten.
Bevor wir über unser Menschenbild endgültig im Labor entscheiden, verzichten wir lieber auf die PID.
Helfen könnte dabei eine altmodische Weisheit: Man muss viel wissen, um wenig zu tun.
Aus: Die Zeit vom 2. März 2000
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Text 3:
Prädikat wertvoll
Wunschkinder aus dem Reagenzglas. Was darf die Forschung?
Von Andreas Sentker
Babys nach Maß, Organe aus der Retorte, Gentherapien, die das Erbgut von Generationen verändern
– die Möglichkeiten eines Missbrauchs der Biomedizin sind erschreckend. Schon wächst der Druck
auf werdende Mütter, das ungeborene Kind auf Erbschäden untersuchen zu lassen. Der Horrorvision
einer genetisch perfektionierten und homogenisierten Gesellschaft stehen jedoch beachtliche
Möglichkeiten gegenüber, individuelles Leid zu verhindern.
Die Verheißungen der Wissenschaft spalten die Gesellschaft. Die einen fordern, bestehende Gesetze
zu lockern, um deutschen Forschern und Ärzten den Anschluss an die internationale Entwicklung zu
ermöglichen; andere wollen vorsorglich alles verbieten, was an den Kern des Lebens rührt.
Was darf die Fortpflanzungsmedizin? Welche Grenzen darf sie nicht überschreiten? Darüber
diskutieren diese Woche in Berlin auf Einladung des Bundesgesundheitsministeriums Mediziner,
Philosophen, Theologen und Juristen. Es geht vor allem um drei Punkte:
Erstens: Ist die genetische Auswahl im Reagenzglas gezeugter Embryonen – die so genannte
Präimplantationsdiagnostik (PID) – erlaubt?
Zweitens: Dürfen embryonale unreife Zellen – so genannte Stammzellen – zur Züchtung von Gewebe
und Organen verwendet werden?
Drittens: Ist bei Erbschäden eine Keimbahntherapie zulässig, ein genetischer Eingriff, der nicht nur
den Embryo selbst, sondern auch seine Nachkommen betrifft?
Obwohl diese Fragen angesichts der medizinischen Entwicklung dringend nach einer Antwort
verlangen, steht dahin, ob sich die Experten in Berlin ihnen mit der gebotenen Gewissenhaftigkeit
zuwenden können. Denn der Streit um das neue Fortpflanzungsmedizingesetz ist prinzipieller Natur.
Selbst die Befürworter eines solchen Gesetzes sind sich nicht einig. Soll es nur die
Rahmenbedingungen für die Arbeit der Forscher und Ärzte festlegen und für künftige Entwicklungen
offen sein? Oder soll es Reproduktionsmedizin und Gentherapie umfassend regeln und
konsequenterweise neben dem bisherigen Embryonenschutz auch den Abtreibungsparagrafen 218
integrieren?
Bedarf es überhaupt eines neuen Gesetzes? Das deutsche Embryonenschutzgesetz gehört zu den
strengsten der Welt. Und doch ist es ein typischer Kompromiss der föderalen Republik, mangels
Gesetzgebungskompetenz des Bundes unvollständig und auf strafrechtliche Regelungen beschränkt.
Denn als das Gesetz am 1. Januar 1991 in Kraft trat, war die Gesundheitsgesetzgebung in
Deutschland noch Ländersache.
Erst mit einer Änderung des Grundgesetzes wurde 1994 die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
in diesem Bereich vervollständigt. Endlich bestand die Möglichkeit, auf Bundesebene angemessen zu
reagieren und eine breite gesellschaftliche Debatte zu beginnen. Und dann geschah – nichts.
Zu heikel war den Politikern das Thema. Erst nach der Geburt des Klonschafes Dolly berief das
Bundesjustizministerium eine Arbeitsgruppe, die den juristischen Handlungsbedarf prüfen sollte. Die
Experten schlugen jedoch nur kosmetische Änderungen des alten Regelwerks vor. Dabei ist ein
grundlegend überarbeitetes, in sich geschlossenes Gesetzeswerk dringend notwendig.
Vor allem die Länder drängen auf eine rasche Lösung. Auch die Bundesärztekammer setzt die
Regierung unter Druck. Sie legte im Februar einen Diskussionsentwurf zur PID vor und signalisierte
damit, sie werde die Embryonenauslese – wenn die Politik nicht handele – standesrechtlich regeln.
Wie schon vor 20 Jahren die Retortenbefruchtung.
Im Kern geht es um die Frage, wie umfassend der Gesetzgeber regulierend in einen Bereich
eingreifen darf, dessen Entwicklungen noch gar nicht abzusehen sind. Zwei Faktoren zwingen zu
einem juristischen Balanceakt: die medizinisch-technische Entwicklung und der fast ebenso rasche
Wertewandel in der Gesellschaft. Löste die Geburt von Louise Brown, dem ersten Retortenbaby, 1978
noch weltweites Entsetzen aus, so ist heute die künstliche Befruchtung weitgehend akzeptiert. Wer
dem medizinischen Fortschritt keine allzu engen Fesseln anlegen will, muss ein gewisses Maß an
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Rechtsunsicherheit hinnehmen. Unvermeidbar neu auftauchende Detailfragen kann der Gesetzgeber
ohnehin nicht von vornherein regeln.
Immerhin besteht jetzt endlich die Chance, die politischen Rahmenbedingungen zu definieren und so
einem möglichen Missbrauch vorzubeugen. „Der Akzent verschiebt sich von der ethischen
Problematik auf eine Frage der politischen Philosophie: Wie soll mit dem Problem menschlicher
Embryonen in vitro politisch praktisch umgegangen werden?“, fragt der Münsteraner Philosoph Kurt
Bayertz.
Der Pragmatismus der Amerikaner kann kein Vorbild sein. Die US-Regierung hat die öffentliche
Förderung der Embryonenforschung schlicht eingestellt, das Feld privaten Firmen überlassen und sich
auf diese Weise um eine Entscheidung zwischen ökonomischem Interesse, medizinischem Nutzen
und ethischem Verhalten gedrückt.
Die deutsche Politik muss jetzt entscheiden, welchen rechtlichen Status der Embryo im Reagenzglas
haben soll – und ob es tatsächlich berechtigte Interessen gibt, den bestehenden Schutz
einzuschränken. Dringender noch als eine nationale Regelung ist eine internationale Übereinkunft als
Antwort auf die globalisierte Forschung und den schon jetzt zu beobachtenden
Reproduktionstourismus in europäische Nachbarländer.
Der Europarat verabschiedete am 4. April 1997 das Übereinkommen über Menschenrechte und
Biomedizin. Der völkerrechtlich verbindliche Vertrag trat am 1. Dezember 1999 in Kraft und wurde
bisher von 28 der 41 Staaten des Europarats unterzeichnet. Deutschland ist nicht dabei. Dabei
garantiert allein die Teilnahme der Deutschen, dass sie nicht nur unter sich diskutieren, sondern die
ethischen Mindeststandards auch auf europäischer Ebene mitbestimmen. Anders als viele Kritiker der
Konvention behaupten, wäre die Unterschrift der Regierung keine „ethische Bankrotterklärung“. Nichts
hindert die Deutschen, ihre Paragrafen strenger zu formulieren.
Ein Konsens dazu zeichnet sich ab. Leider ist das wünschenswerte umfassende Gesetz, das die
medizinisch unterstützte Fortpflanzung, den Umgang mit dem Embryo im Labor, aber auch die
Abtreibung regelt, nicht in Sicht. Gesundheitsministerin Fischer will den Paragrafen 218 nicht
antasten. Immerhin ist die PID, glaubt man einem Gutachten der Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz, schon jetzt mit dem bestehenden Gesetz vereinbar. Die Bundesärztekammer hat mit
ihrem Richtlinienentwurf einen sinnvollen Weg im Umgang mit der heiklen Embryonenauslese
aufgezeigt: strikte Beschränkung auf schwerste Erbleiden.
Im Umgang mit embryonalen Stammzellen ist dagegen Zurückhaltung angebracht. Es gilt, andere,
bereits bestehende Möglichkeiten zu prüfen. Auch bei Verzicht auf diese Forschung an menschlichen
Embryonen wird die medizinische Forschung in Deutschland den Anschluss nicht verlieren. Noch
arbeiten die Wissenschaftler weltweit an Tiermodellen. Diese Experimente sind hierzulande erlaubt
und – nebenbei bemerkt – im internationalen Vergleich sehr erfolgreich.
Unerlaubt bleibt der genetische Eingriff am Menschen, der auch seine Nachkommen betrifft, die so
genannte Keimbahntherapie. Der Berliner Genetiker Jens Reich bezeichnet die entsprechende
Forschung schlicht als „abenteuerlich“ – und er hat Recht. Ohnehin erwarten selbst optimistische
Visionäre einen Erfolg der Keimbahneingriffe frühestens in einigen Jahren. Dann darf man getrost
über neue Gesetze nachdenken. Jetzt heißt es diesbezüglich: Verbieten!
Aus: Die Zeit vom 25. Mai 2000
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Text 4:
Wenn der Gencode entziffert ist: Kinder à la carte bestellen
Von Christof Gaspari
Jahrelange Bemühungen von Forschung und Wirtschaft stecken hinter diesem Erfolg, Unsummen von
öffentlichen und privaten Geldern sind investiert worden. Mit dem Entschlüsseln allein ist es allerdings
nicht getan. Jetzt kennt man zwar die Buchstaben der „Geheimschrift“, in der unsere Erbinformation
codiert ist. Um den ganzen Text zu entziffern, bedarf es weiterer Anstrengungen. Aber auch dieser
Schritt wird gelingen. Und eines Tages wird der Mensch die „Blaupause des Lebens“ in Händen
halten.
Geradezu Wunderbares erhofft man sich von diesem Durchbruch. Man werde Geißeln der
Menschheit, bisher unheilbare Krankheiten wie Krebs, Aids oder Alzheimer bekämpfen können,
vielleicht das Altern verhindern. Wer kann guten Gewissens gegen solche Wohltaten auftreten? Nur
Ewiggestrige, Fortschrittsfeinde, Meckerer, die immer ein Haar in der Suppe finden. Ihretwegen werde
man doch nicht die Zukunftstechnologie schlechthin einbremsen!
Bei diesen Wohltaten wird es aber nicht bleiben, vielmehr wird alles, was möglich ist, auch umgesetzt
werden. Vielleicht nicht im ersten Anlauf, aber mit der Zeit. Denn unsere Gesellschaft ist unfähig,
wirksame Barrieren gegen das zu errichten, was zwar menschenunwürdig ist, sich aber als nützlich,
wirtschaftlich einträglich oder unterhaltsam erweist.
Wer das feststellt, outet sich nicht als unverbesserlicher Pessimist, sondern zieht nur die Lehren aus
dem, was bisher geschah. Woran haben wir uns nicht alles gewöhnt, was als menschenunwürdig galt!
Etwa dass man Kinder in der Retorte erzeugt: Längst wird das Verfahren nicht nur bei verzweifelten
Ehepaaren angewandt. Mittlerweile gibt es im Internet Angebote für Samen- und Eispenden.
Körperliche Vorzüge werden da ebenso in die Auslage gestellt wie Intelligenzquotienten. Man kann
sogar Schwangerschaften in Auftrag geben.
Auch können sich Frauen in ihren jungen Jahren ihre hochwertigen Eizellen entnehmen, sie künstlich
befruchten und tieffrieren lassen, um sie erst in einer späteren Lebensphase zu „aktivieren“. So
können auch Kinder zur Welt kommen, deren Väter längst gestorben sind. Sie werden so zu
Spielbällen von Launen und Moden.
Interessant ist der Fall von Billy aus Los Angeles: Als er zur Welt kam, war sein Zwillingsbruder schon
sieben Jahre alt. Billy war ohne Wissen der E1tern von den Ärzten als Reserve für den Bruder
„erzeugt“ und auf Eis gelegt worden. Weil man in der Reproduktionsklinik keine Verwendung mehr für
das tiefgefrorene Kind hatte, bot man ihn der 44-jährigen an und sie trug ihn – Gott sei Dank – aus.
Je mehr technisch möglich wird, umso mehr wird man das Produkt „Kind“ gezielt gestalten. Schon
jetzt gibt es Verfahren, die es gestatten, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Geschlecht des Kindes
vorher zu bestimmen. Ein US-Unternehmen in Virginia lockt mit einer Erfolgsquote von 90 Prozent
dank ihres Spermiensortierers.
Im Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie wurden Mäuse genetisch so verändert, dass sie
doppelt so viele Männchen wie Weibchen zeugen. „Für die Zukunft halte ich auch eine 100-prozentige
Auswahl für möglich“, beurteilte Bernhard Hermann, der Leiter des Forscherteams, das Potenzial
seiner Entdeckung, will das Verfahren aber nur in der Tierzucht angewendet wissen. Allerdings: Was
bei Säugetieren funktioniert, wurde bisher stets beim Menschen angewendet.
Das Erbgut testen
Ist einmal das Erbgut des Menschen entschlüsselt, wird man früher oder später künstlich gezeugte
Kinder routinemäßig auch auf Defekte untersuchen. Und sobald man das technisch halbwegs
beherrscht, wird man den Eltern nahe legen, aus Verantwortung für ihre Nachkommenschaft solche
Tests durchführen zu lassen. Die explodierenden Kosten der Gesundheitssysteme werden das Ihre an
Überzeugungsarbeit in dieser Frage leisten.
Ideologisch ist der Boden für eine solche Entwicklung längst aufbereitet. Im Zeitalter der
Empfängnisverhütung sind eigentlich nur noch Wunschkinder vertretbar. Beim derzeitigen Stand der
Technik bedeutet Wunschkind vor allem, dass man den Zeitpunkt der Zeugung steuert. Aber das
Wunschkonzept lässt sich problemlos auf andere Merkmale ausweiten. Der deutsche Philosoph Dieter
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Birnbacher sagt es trocken: „Entscheidungsmöglichkeiten über die qualitativen Merkmale der Kinder“
seien auch „Entscheidungsmöglichkeiten über einen wesentlichen Teil des eigenen Lebens“.
Auch die deutsche Bundesärztekammer plädierte im Februar in einem Papier für die
Präimplantationsdiagnostik, mit der man Erbkrankheiten erkennen kann. Selbstverständlich wurde die
Forderung eingeschränkt auf Fälle, in denen ein „hohes Risiko für eine bekannte und
schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht“.
Man kann sich vorstellen, wie rasch eine solche Einschränkung fallen würde in einer Gesellschaft, die
heute schon einen solchen Horror vor Behinderung hat, dass sie die Abtreibung behinderter Kinder bis
zur Geburt zulässt und Ärzte zu Schadenersatz verurteilt, wenn sie bei vorgeburtlichen
Untersuchungen solche Behinderungen übersehen.
Bleibt also nichts anderes, als zu klagen und brav mitzutrotten in das Zeitalter des perfektionierten
(Un-)Menschen? Es geht darum, geduldig und nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es der Würde
des Menschen widerspricht, ihn zum Gegenstand von Nützlichkeitsüberlegungen zu machen – in
welcher Lebensphase er sich auch immer befinden mag, ob er als befruchtete Eizelle am ersten Tag
seiner Existenz oder ob er im Koma lebt.
Eine Gesellschaft, die den Menschen zum Gegenstand herabwürdigt, indem sie ihn nach Gutdünken
herstellt, abtötet, patentiert oder wie jetzt im „Kunstwerk“ des Herrn Schlingensief im Container vor der
Oper versteigern lässt, kann nicht überleben, auch wenn sie in Information, Unterhaltung und Geld
schwimmt. Der Mensch lebt eben nicht allein vom Brot, von dem, was ihm nützlich erscheint. Das
wurde uns vor 2000 Jahren offenbart, damit wir unsere Menschenwürde bewahren.
Aus: Die Furche vom 8. Juni 2000
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Text 5:
Die rechtlichen Grundlagen der medizinisch unterstützten Fortpflanzung.
Eder-Rieder, Maria A.
(...)
Ein Verbot von Mietmüttern ergibt sich nicht ausdrücklich aus dem Gesetz (FN 15), ist aber de facto
gegeben. Dies folgt aus den oben umschriebenen Voraussetzungen der in aufrechter Ehe oder
Lebensgemeinschaft an eigenen Eizellen als letztem Ausweg vorgenommenen Sterilitätsbehandlung.
Weiters aus der zivilrechtlichen Konsequenz, wonach die Leihmutter die Mutter des von ihr geborenen
Kindes ist (§ 137b ABGB) und der Gesetzwidrigkeit und Nichtigkeit von Leihmutterverträgen (§ 879
Abs 2 Z la ABGB) (FN 16). Dazu kommt die Strafbarkeit der Vermittlung von Ersatzmüttern (§ 21 Z 3
iVm § 22 Abs 1 Z 4 FMedG). Die Mietmutter selbst ist jedoch nicht strafbar.
(...)
Aufbewahrung, Verwendung, Untersuchung und Behandlung von Gameten und Embryonen:
a) Aufbewahrung nach § 17 FMedG
Samen und Eizellen, die für eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung verwendet werden sollen,
sowie entwicklungsfähige Zellen dürfen tiefgefroren und höchstens ein Jahr aufbewahrt werden (§ 17
Abs 1 FMedG). Sie dürfen weder an die Personen, von denen sie stammen, noch an andere
Personen oder Einrichtungen weitergegeben werden (§ 17 Abs 2 FMedG). Nach diesem Jahr erfolgt
die Vernichtung (FN 38), da die Forschung an diesen Gameten verboten (§ 9 FMedG) ist. Das
Tieffrieren von Samen (Eizellen und Embryonen) ist nur im zugelassenen Krankenhaus möglich (§ 11
Abs 1, § 17 Abs 1 und Abs 2).
b) Forschungsverbot
Die Abwägung zwischen Lebensschutz des Embryos und Freiheit der medizinischen Forschung wurde
in § 9 FMedG zugunsten des Lebensschutzes geregelt. Damit ist die gezielte Produktion von
überzähligen Embryonen verboten. Das Tieffrieren von Gameten und Embryonen (FN 39) ist erlaubt.
§ 9 FMedG normiert das Verbot, extrakorporale Embryonen bzw Gameten für andere Zwecke als
einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung, also etwa für medizinische Experimente, zu
verwenden. Als Argument wird der „Schutz der menschlichen Würde des Embryos“ angeführt.
Forschungen an entwicklungsfähigen Zellen sind verboten (FN 40). Dieses Verbot betrifft das
Kultivieren von Embryonen im Glas über 14 Tage hinaus, die künstliche Mehrlingsbildung
(Klonierung), Vereinigung mehrer Embryonen oder von Teilen von Embryonen (Chimärenbildung)
oder Erzeugung von Mischwesen aus Mensch und Tier (Interspezieshybridisierung) und Züchtungen
von Menschen mit bestimmten Eigenschaften (Geschlechterwahl) (FN 41), aber auch den
umstrittenen Bereich der „hochrangigen medizinischen Forschung“ zur Gesundung des Embryos (§ 9
Abs 1 FMedG) (FN 42) und spricht auch die Ausschaltung von Erbkrankheiten durch die
„Gentherapie“ bzw. die „Keimbahntherapie“ an (§ 9 Abs 2 FMedG). Ein Eingriff zum Nutzen des
Embryos („Heilversuch“) könnte – wie Methodenverbesserungen – m. E. zwar erlaubt werden, nicht
jedoch ein Eingriff im Interesse Dritter (FN 43).
Die Klonierung eines Menschen, d. h. die Schaffung identer Individuen durch ungeschlechtliche
Vermehrung, sei es durch Teilung von Embryonenzellen oder Verpflanzung des Zellkerns nach der
Methode des Schafes „Dolly“, wonach das Gen-Material aus ausgereiften Zellen mit einer
unbefruchteten entkernten Eizelle verschmolzen wird und die entstandenen Embryonen dem
Muttertier eingepflanzt werden (FN 44), ist unzulässig.
Aus diesem Grund wäre auch das Vorhaben des US-Wissenschafters Seed – das Klonen von
Menschen mittels Zellkernverpflanzung – in Österreich nach § 9 Abs 2 FMedG verboten. Die Meldung
über diese Vorhaben hat global zu Protesten (FN 45) und in Europa zum 1. Zusatzprotokoll zur
Europaratskonvention über Biomedizin (1996) geführt (FN 46) und soll auch in den USA durch den
US-Kongress verboten werden.
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Da das Grundrecht auf Leben nach Art 2 EMRK das keimende Leben nicht umfasst, ist das
Absterbenlassen von überzähligen Embryonen unbedenklich. Der Schutz des Embryos nach § 9 Abs
2 FMedG vor Genmanipulationen (in Keimzellbahnen) ist wegen der anderen Intention sachlich
gerechtfertigt (FMedG), bleibt aber bei – hochrangigen medizinischen Forschungen – strittig (FN 47).
Wird dem Verbot widersprochen, so ist dies nach § 22 Abs 1 Z 3 FMedG strafbar.
Aus: JAP 1998/99. S. 165
Text 6:
Genetisch ausgewählter Bub
In Frankreich ist zum ersten Mal ein genetisch ausgewähltes Kind geboren worden. Der Bub namens
Valentin kam sechs Wochen zu früh zur Welt und ist wohlauf, wie die Ärzte am Mittwoch mitteilten.
Erstmals in Frankreich wurde dabei die so genannte Präimplantations-diagnose (PID) angewandt. Bei
diesem Verfahren wird der künstlich befruchtete Embryo vor der Einpflanzung in den Mutterleib durch
Zellentnahme auf Erbkrankheiten hin untersucht. Da bei der künstlichen Befruchtung in der Regel
mehrere Embryonen entstehen, ist es zumeist möglich einen Embryo ohne Krankheitsmerkmale
auszuwählen. Ein Elternteil Valentins ist Träger einer vererbbaren, unheilbaren Leberkrankheit (AFP).
Aus: Der Standard vom 16. November 2000
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Weitere Vorschläge für den Unterricht
Vorschläge zum Schreiben
1) Das Buch endet offen. Welche Möglichkeiten der Fortsetzung können Sie sich vorstellen?
Sammeln Sie Einfälle in Form eines Clusters oder Mind-Mappings. Wählen Sie eine Möglichkeit
aus und schreiben Sie einen ausführlichen Schluss. Vielleicht können Sie auch die verschiedenen
Textebenen aus dem Buch fortsetzen.
2) Karl schreibt Franziska einen Brief – einen Abschiedsbrief?
3) Schreiben Sie drei Einträge in Sarahs Tagebuch, in denen sie Veränderungen an Karl feststellt.
Wählen Sie geeignete Zeitpunkte in der Handlung: z. B. als er feststellt, dass er ein IVF-Kind ist,
als sie den Urlaub in Griechenland verbringen, als er verschwindet ...
4) Schreiben Sie einen inneren Monolog Franziskas: Sie hat gerade die Nachricht erhalten, dass
Karl verschwunden ist. Sie könnten so beginnen : „Mein Gott, ich bin daran sicher auch schuld ...“
5) Anna schreibt Karl einen Brief, in dem sie ihm ihre Situation erklärt.
6) Analysieren und beurteilen Sie die Rezensionen des Buches. Welchen Punkten können Sie
zustimmen? Welche lehnen Sie ab?
7) Schreiben Sie eine Rezension des Buches für eine Jugendzeitung.
8) Erstellen Sie ein Psychogramm Karls, indem Sie Aussprüche über ihn, die seine „Kälte“
manifestieren, von ihm selbst und den anderen Personen im Buch sammeln.
Vorschläge zum darstellenden Spiel
1. Spielen Sie eine Podiumsdiskussion. Auf der Bühne sitzen als Befürworter der
Produktionsmedizin Professor Wald, als Gegner Dagmar Bruhns von Anti-Gen und Franziska
Dehmel und als Betroffener Karl Meiberg.
Teilen Sie sich in zwei Gruppen nach PRO und CONTRA und diskutieren Sie mit den
„Fachleuten“.
Zur Bewältigung dieser Aufgabe ist es notwendig, vorher sehr genau informiert zu sein;
z. B. durch das Heft GEO Wissen (März 1998) oder die als Zusatzmaterialien angebotenen
Zeitungsartikel.
2. Die Personen des Buches stellen sich vor.
Projektvorschläge
1) Fächerübergreifend mit Biologie und Umweltkunde:
„Chancen und Gefahren der Fortpflanzungsmedizin“
2) Fächerübergreifend mit BE:
Zeichnen Sie Herbeck und den Fluss.
Zeichnen Sie die künstliche Gebärmutter, halten Sie sich dabei genau an die Informationen im
Text.
Entwerfen Sie ein neues Cover
3) Fächerübergreifend mit Religion und Philosophie:
„Die ethische Seite der Fortpflanzungsmedizin“
4) Fächerübergreifend mit Geschichte: Lebensborn
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Themenbereiche in Aktion Sprache und Stichwort Literatur
Aktion Sprache 1:
S. 5ff. Clustering und Mindmapping
S. 67ff.: Diskussion
S. 87ff: Grundlagen für Rezension
S. 97ff.: Erzählformen
S. 103ff.: Gestaltung von Personen
S. 105fd. Gestaltung von Orten
S. 135ff.: Analyse nichtdichterischer Texte
Aktion Sprache 2:
S. 109ff.: Charaktere
Aktion Sprache 3/4:
S. 69ff.: Darbietungsformen des Erzählens
S. 109ff.: Literaturkritik
S. 151 ff.: Innerer Monolog
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Rezensionen zum Text
Rezension 1:
Carsten Martin: Kinder ohne Wurzeln
(...) Unter einem eigenen Blickwinkel hat sich die Jugendbuchautorin und Journalistin Charlotte Kerner
in ihrem neuen Roman Geboren 1999 mit den Konsequenzen der Reproduktionsmedizin
auseinandergesetzt. Der Titel des Buches verrät schon, dass es sich hier um eine Zukunftsgeschichte
handelt. Die Romanhandlung spielt im Jahre 2016 in einer Provinzgroßstadt irgendwo in der
Bundesrepublik. Die Hauptperson des Buches ist der siebzehnjährige Karl Meiberg. Karl, Jahrgang
1999, wurde als Baby adoptiert. Das wurde nie verschwiegen. Nichtsdestoweniger verspürt er immer
stärker das existenzielle Bedürfnis zu erfahren, wer seine leiblichen Eltern sind, weshalb sie ihn
weggegeben haben. Von seinen Eltern, die bei der Adoption unterschreiben mussten, dass die
genetische Herkunft Karls anonym zu bleiben hat, kann er darüber nichts erfahren. So macht er sich
auf eigene Faust auf die Suche. Da ihm jedoch auch im „Bürgerzentrum“ der Stadt unter Hinweis auf
eine Sonderregelung keine Auskunft erteilt wird, bittet er die Mutter eines Mitschülers, die Journalistin
Franziska Dehmel, um Unterstützung. Die gemeinsamen Nachforschungen führen bald zu der
Gewissheit: Karl ist ein IVF-Kind, gezeugt aus der Eizelle einer Frau und dem Samen eines Mannes,
die sich nie im Leben begegneten, ja, nicht einmal voneinander wussten. Karl ist innerlich vollkommen
verstört, hat das Gefühl sich aufzulösen, bildet sich schließlich sogar ein, dass es ihn geklont
womöglich mehrmals gebe. In seiner Verzweiflung klammert er sich an die Hoffnung, zumindest seine
Leihmutter ausfindig zu machen,
Als Karl sie schließlich gefunden hat, verschwindet er spurlos, schickt der Journalistin jedoch zuvor
sein Tagebuch. Diese beschließt Karls Schicksal für eine Wochenzeitung aufzuschreiben, in der
Hoffnung, ein Lebenszeichen von ihm zu erhalten. Bruchstückhaft, wie ein Puzzle lässt Charlotte
Kerner die Geschichte von Karl sich aus der Erzählperspektive der am Schreibtisch arbeitenden
Journalistin entwickeln. Dass der Roman dabei immer noch ein Jugendbuch bleibt, dafür sorgen vor
allem die zahlreich „zitierten“ Tagebuchaufzeichnungen Karls.
Charlotte Kerner ist es gut gelungen, sich in die Gefühlswelt eines Siebzehnjährigen, obendrein eines
Adoptivkindes auf der Suche nach seinen Wurzeln, einzufühlen.
Auch insgesamt ist Geboren 1999 alles andere als eine utopische Gruselgeschichte, sondern ein
durchaus glaubhaftes Szenario einer möglichen Zukunft. In Charlotte Kerners Roman hat sich die
Leihmutterschaft zu einem allmählich anerkannten Geschäft der IVF-Spezialisten mit dem Handelsgut
Kind gemausert. Eier- und Samenbanken werden von vielen Kommunen unterhalten und sind gut
ausgelastet, da viele Menschen mittlerweile durch Umweltgifte verursachte Unfruchtbarkeit oder
Erbgutschäden befürchten; IVF ist längst millionenfach geübte Praxis. Als Konsequenz dieser
Entwicklung sieht die Autorin schließlich die Konstruktion einer künstlichen Gebärmutter, womit der
alte (Alp-)Traum vom Homunculus, dem „Retorten-Baby“, verwirklicht wird. Auch wenn diese
beklemmende Vorstellung bislang Zukunftsmusik ist und hoffentlich bleiben wird, wäre es doch
blauäugig anzunehmen, dass Forscherteams – mit sicherlich durchaus philanthropischem
Selbstverständnis – nicht schon an ihrer Verwirklichung sind: Es wäre doch gelacht, so könnte man
zynisch deren Denkweise auf den Punkt bringen, wenn sich die Mutter-Kind-Beziehung während der
Schwangerschaft nicht in komplizierte biochemische Formeln pressen lässt. Auf der Strecke dabei
würden einzelne Menschen bleiben: Kinder ohne wirkliche Wurzeln, und Frauen, denen eines Tages
einmal die Frage gestellt werden könnte, ob es denn nicht etwas verantwortungslos sei, ihr Kind auf
die überkommene, „unsichere“ Weise zu bekommen.
Es ist zu hoffen, dass Charlotte Kerners Roman, der im übrigen auch ein kleines, gut lesbares
Glossar, in dem die wichtigsten Fachausdrücke erklärt werden, enthält, die Aufmerksamkeit bekommt,
die er verdient.
Aus: Bulletin Jugend + Literatur 1/1990. S. 25
Schulbuch online für Deutsch
Rezension 2:
Ein Leben aus der Retorte
Charlotte Kerners düstere Visionen zwischenmenschlicher Beziehungen
(...) Das Buch ist zwar nicht übermäßig brillant geschrieben, doch kann man es nur schwer aus der
Hand legen, weil es so viele Kenntnisse in unterhaltsamer Verpackung enthält. Karls Angst vor
geklonten Brüdern, die Akten über seine „genetischen Eltern“ – der Vater hatte den Samen
gespendet, um sich mit dem Erlös ein Medizinstudium leisten zu können, die Mutter, weil sie ihre
Eizellen Forschungszwecken zur Verfügung stellen wollte – und schließlich die Begegnung mit der
Maschine, die diese Frucht ausgetragen hat, entwerfen ein schlimmes, aber auch wieder nicht
unvorstellbares Bild von der Zukunft. (...)
Aus: Der Tagesspiegel vom 5. November 1989
Weitere Tipps und Literaturhinweise
Tipps zum Weiterlesen, CDs, Verfilmungen …
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Kerner, Charlotte: Blueprint. Weinheim: Beltz & Gelberg 2001.
Orwell, George: 1984
Huxley, Aldous: Schöne, neue Welt
Ziegler, Reinhold: Version 5 Punkt 12
Shelley, Mary: Frankenstein
Verfilmung von Geboren 1999, Regie: Kai Wessel. (Videokassette zu bestellen bei Südwestfunk
Baden-Baden / SWF-Media, D-76522 Baden-Baden)
Sekundärliteratur
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Lange, Günter: Erwachsen werden. Jugendliterarische Adoleszenzromane im Deutschunterricht.
Baltmannsweiler: Schneider-Verlag 2000. S. 94-133.
GEO Wissen, März 1998.
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