Schulangst - für die Grundschule noch (k)ein

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Leuzinger-Bohleber, M. (1990): Schulangst - für die Grundschule noch (k)ein Thema? In: Faust-Stiehl, G.,
Schmidt, E., Valtin, R. (Hg.): Kinder heute - Herausforderung für die Schule, Arbeitskreis Grundschule
e.V. Frankfurt a.M., S. 232-239.
I1. Leben angesichts bedrohter Zukunft
44.
Schulangst
für die Grundschule noch
(k)ein Thema?
Psychoanalytische Anmerkungen zu Ausdrucksformen
von Angst bei Kindern im Grundschulalter
Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Professorin
für Psychoanalyse an der Gesamthochschule
Kassel
Wie verbreitet ist wohl Schulangst
bei uns heute?
BACH, KNÖBEL, ARENZ-MORCH und ROSNER
veröffentlichten 1986 ihre Untersuchungsergebnisse einer
repräsentativen
Lehrerbefragung
zu
Verhaltensauffälligkeiten in der Schule des Landes
Rheinland-Pfalz (insgesamt 1527 Schulen, 92,1
%Rückantworten), die sie 1981 durch-geführt hatten. In
ihrem Fragebogen an die Schulleiter und Lehrer waren
auch Fragen nach Schulangst enthalten: Nur 3 % der
Grundschüler zeigten manifeste Schul-angst. Latent war
sie aber vermutlich in vielen Symptomen vorhanden:
übertriebener
Ehrgeiz
(4
%),
mangeln-des
Selbstvertrauen (9 %), Clownerien (4 %) etc. (vgl. S.
97—99).
Vergleichen wir diese Zahlen etwa mit den Befunden
der Konstanzer Untersuchung, die FEND et al. (1987)
durchführten, sind diese zuerst einmal «beruhigend». Bei
den von FEND et al. untersuchten 12—16jährigen
Jugendlichen, sagten 37 % aller Schüler, daß sie sich
abends im Bett oft Sorgen darüber machen, wie sie am
nächsten Tag in der Schule abschneiden werden (vgl. S.
9), 18 % der befragten Schüler können vor wichtigen
Arbeiten und Prüfungen kaum etwas essen, 28 % haben
bei der gleichen Gelegenheit oft Bauch- und Magenschmerzen, 48 % empfinden meistens heftiges Herzklop fen, wenn eine Klassenarbeit kurz bevorsteht.
Können Sie sich als Grundschullehrer trösten, daß
nur ca. 3 % der Kinder wirklich unter Schulangst leiden?
— Ich glaube, leider nicht — die Zahl 3 % stammt aus
einem Fragebogen an die Lehrer und beinhaltet, daß — in
der Beurteilung der Lehrer — 3 % der Schüler das manifeste Bild der Schulangst zeigen. Wie Sie wissen, be schäftigen wir Psychoanalytiker uns gerade mit nichtmanifesten, unbewußten Manifestationen seelischen
Geschehens, Manifestationen, die nur schwer mittels
eines Fragebogens erfaßt werden können. — Daher
möchte ich im folgenden auf versteckte, latente, verschlüsselte Formen der Angst bei Kindern im Grundschulalter sensibilisieren. Doch dazu zuerst noch kurz
zu der Frage:
Was ist Schulangst überhaupt?
Der Erziehungswissenschaftler FEND und seine Mitarbeiter (1987) definieren Schulangst wie folgt:
«Mit Schulangst meinen wir die überdauernde Bereitschaft, schulische Leistungsanforderungen als persönliche Bedrohung zu empfinden und in charakteristischer
Weise darauf zu reagieren: mit dem Erleben von Bauchund Magenschmerzen, daß man 'nicht mehr klar denken
kann' bis hin zur gedanklichen Vorwegnahme von
Mißerfolg.» (S. 5/6)
Folgende drei Punkte sind für die Auslösung von
Angst in Leistungssituationen wichtig:
«a)Die betreffende Situation und ihre möglichen Folgen
sind für den Schüler persönlich bedeutsam; ob er gut oder
schlecht abschneidet, ist ihm alles andere als egal (Aspekt
der Bedeutsamkeit)
b) es ist nicht oder nicht hinreichend klar, was eigentlich
genau verlangt und wie bewertet wird (Aspekt der Sicherheit)
c) er hat keine vernünftigen Möglichkeiten, mit den Leistungsanforderungen fertig zu werden (Aspekt der
Bewältigbarkeit).» (S.6)
In der Definition enthalten ist einmal die persönliche
Evaluation der Schulsituation durch den ängstlichen
Schüler: Er empfindet sie vor allem als Leistungssituation und reagiert, dieser teilweise verzerrten Wahrnehmung entsprechend — mit idiosynkratischen körperlichen (Magen- u. Bauchschmerzen) und seelischen
Symptomen (Angst, Mißerfolgserwartung, Insuffizienzgefühlen etc.).
Dagegen steht bei der psychoanalytischen Definition von Angst der Signalcharakter dieser Emotion im
Zentrum (vgl. dazu etwa THOMÄ u. KÄCHELE 1985). FREUD
(1895) war ursprünglich davon ausgegangen, daß Angst
aus einer Umwandlung von Sexualspannung entstehe,
doch revidierte er diese Ansicht aufgrund vermehrter
klinischer Beobachtung seiner Patienten 1926 in seiner
Arbeit «Hemmung, Symptom und Angst»: Angst wird
nun zum Signal für eine äußere oder aber auch für
eine innere Gefahr. Sie versetzt uns körperlich und
seelisch in die Lage, eine Gefahr zu erkennen und auf sie
möglichst optimal und schnell zu reagieren.
Sehen wir z. B. einen unserer 8jährigen Grundschüler am Rande einer hochbefahrenen Autostraße stehen und beobachten, wie er einem
Freund auf der anderen Straßenseite zuwinkt, der
ihm zuruft, er solle doch schnell sein tolles neues
Flugzeug sehen, ist es «adäquat», daß wir als
erwachsene Beobachter Angst bekommen und
blitzschnell das zum Sprung über die Straße an-
Schulangst
setzende Kind packen und zurückhalten, da wir —
ebenfalls blitzschnell — das entgegenkommende
Auto wahrgenommen haben. — «Angst» war die
adäquate gefühlsmäßige Reaktion im Zusammenhang mit der Evaluation der Situation, die uns zu
sekundenschnellem, adäquaten Eingreifen veranlaßte — sofort — ohne vorher «bewußt» die
Gefahrensituation analysiert zu haben. —
Dies ist ein Beispiel der Funktion der Emotion «Angst»
als Signal für eine äußere Gefahr. — Wie sieht nun
dagegen der Signalcharakter bei einer inneren Gefahr aus? Dazu ein sicher vereinfachtes Alltagsbeispiel:
Einer Ihrer Grundschüler hat einen schlechten Tag und ärgert sich pausenlos. — Da Sie selbst
auch mit dem falschen Bein aufgestanden sind,
ertragen Sie dies schlechter als sonst und werden
immer wütender. Als er schließlich, ohne erkennbaren Anlaß, seinem Banknachbar seinen Kakao
über seine Lesefibel schüttet, zuckt es Ihnen im
Arm — Sie haben den starken inneren Impuls,
dem Kerl eine Ohrfeige zu versetzen. — Diese
Abfuhr eigener, durch den Schüler stimulierter
aggressiver Impulse stellt aber für Sie eine «innere
Gefahr» dar, da Handgreiflichkeiten gegen Ihr
Ichideal als Lehrer, gegen einen Teil Ihres beruflichen Überichs, verstoßen. — Plötzliche Angst,
Sie könnten die Kontrolle über sich selbst verlieren, mag Sie vor dieser Gefahr warnen — und Sie
z. B. dazu bewegen, schnell das Klassenzimmer
zu verlassen und einen Moment lang Luft zu
schnappen.
Dies sind zwei Beispiele für eine adäquate, in
unseren
Worten
eine
nicht-neurotische
Signalfunktion von Angst: Aus beiden Beispielen
geht hervor, welch' zentrale Funktion der Emotion
«Angst» im Umgang mit äußerer und innerer Realität
zukommt. —
Doch interessieren wir uns hier vor allem für die
Frage inadäquater Angst, etwa übertriebener, panischer Schulangst, die bekanntlich zu einer schweren
Leistungsbeeinträchtigung wie auch zu sozialen Stigmatisierungen führen kann. Z. B. werden hochängstliche
Schüler von ihren Klassenkameraden oft diskriminiert
und auch Lehrer schreiben den Hochängstlichen allgemein negative Persönlichkeitsmerkmale zu, obschon es
den Lehrern im allgemeinen gar nicht gelingt, die
Ängstlichen als Ängstliche zu identifizieren, geschweige
denn, den Grad der Angstneigung zu diagnostizieren.
Wie kommt es zu inadäquater, «neurotischer»
Schul-angst? Wir Psychoanalytiker gehen, vereinfacht
gesagt,
von der Hypothese aus, daß inadäquate Angst dadurch
zustande kommt, daß zu einer aktuellen Problemsituation unbewußt alte, in der Regel aus der frühen Kindheit
stammende, traumatische Erfahrungen assoziiert werden, die — wiederum unbewußt — panische Ängste auslösen, die das Ich überfluten — oder aber durch das Ich
abgewehrt werden müssen. — Lassen Sie mich dies kurz
an einem Beispiel illustrieren:
Eine junge Frau sucht mich auf, weil sie unter
Migräne, chronischen Verstopfungen und intensiven phobischen Ängsten leidet — sie kann ihr
Haus nicht mehr verlassen, was ihr u. a. verunmöglicht zu arbeiten. Sie ist mit einem sehr viel
älteren Mann verheiratet, ist auch psychogen steril
und frigide. — In der Psychoanalyse stellt sich u. a.
heraus, daß ihre Partnerwahl sehr stark durch
ödipale Wünsche und Konflikte bestimmt ist — sie '
hat ihren Vater als dreijähriges Mädchen an Krebs
verloren. — Doch unbewußt assoziiert sie z. B. die
erwachsene Sexualität mit ihrem Mann mit dem
ödipalen Inzesttabu. I. a. W.: Sie «verwechselt» die
aktuelle Situation mit der frühinfantilen Liebesbeziehung zu ihrem Vater — Frigidität und Sterilität sind die Folgen. — Nebenbei bemerkt schützt
sie unbewußt auch die phobische Symptomatik
vor einer fantasierten sexuellen Verführung durch
andere, jüngere Männer an der Arbeitsstelle. —
Aus psychoanalytischer Perspektive postulieren wir
nun ähnliche innerseelische Prozesse, die auch einer
inadäquaten Schulangst zugrunde liegen können. Vor
allem eignet sich die Struktur des Lehrer-Schüler-Verhältnisses (dyadische Erwachsener-Kind-Beziehung)
sowie auch der Schulsituation im allgemeinen (Rivalitätssituation mit anderen Schülern, Leistungssituation,
Trennungssituation vom Elternhaus etc.) besonders gut
für die Reaktivierung frühinfantiler Konflikte, z. B. traumatisch verlaufener aggressiver Konflikte während der
sogenannten Separations-Individuations-Phase im 2.
und 3. Lebensjahr, ödipaler Konflikte im 4./5. Lebensjahr etc.
Doch da ich gut verstehe, wenn Ihnen, als Nichtpsychoanalytiker, dieses psychodynamische Denken spekulativ und schwer nachvollziehbar vorkommt, möchte
ich Ihnen im folgenden einen Teil einer Emotionstheorie kurz vorstellen, die ich zusammen mit einem Kollegen aus Zürich entwickelt habe, die zwar u. a. von der
Psychoanalyse ausgeht — aber vorwiegend auf neueren
Ergebnissen der Emotionspsychologie beruht (PFEIFER
U. LEUZINGER-BOHLEBER 1989, LEUZINGER-BOHLEBER U.
PFEIFER 1989). Ich hoffe, daß uns dieses Schema helfen
kann, verschiedene Manifestationen von Schulangst
besser zu verstehen.
233
II. Leben angesichts bedrohter Zukunft
Verschiedene Manifestationen von Schulangst
im Grundschulalter — eine theoretische Skizze
und einige kurze Fallvignetten
Warum nimmt nun ein Kind die Schulsituation als
übertriebene, verzerrte Gefahrensituation wahr und
reagiert dann mit inadäquater «Angst»?
Lassen Sie mich dazu etwas ausholen. Nach der
neueren Emotionspsychologie besteht eine Emotion aus
Prozessen in vier Subsystemen:
1. dem kognitiv-evaluativen Subsystem,
2. dem physiologischen Subsystem,
3. dem expressiv-kommunikativen Subsystem und
4. dem Subsystem des subjektiven Erlebens (vgl.
PFEIFER U. LEUZINGER-BOHLEBER 1989).
Demnach besteht «Angst»:
1. aus einer kognitiv-evaluativen Analyse der
Gefahrensituation
(vgl.
Beispiel
oben:
die
Wahrnehmung und Beurteilung der Verkehrssituation
als gefährlich für das Grundschulkind), wobei zu
erwähnen ist, daß eine solche Analyse und Bewertung
nicht immer bewußt, sondern oft funktional latent, d.
h. «unbewußt», blitz-schnell abläuft. Sie ist auch nie
«objektiv», sondern immer z. T. abhängig von einem
persönlichen «subjektiven» Bewertungssystem. Viele
Angstforscher haben betont, daß vor allem die frühe
Beziehung der Eltern das Angstniveau des Kindes prägt:
Ängstliche Eltern werden, wie man im Volksmund sagt,
ihre Angstlichkeit auf das Kind «übertragen» — in der
Terminologie
unseres
Schemas
werden
Evaluationsprozesse ursprünglich in der Regel von den
Eltern gelernt, z. B. ob eine Leistungssituation an sich
schon etwas Gefährliches, Angst Evozierendes ist oder
eine Chance, seine Fähigkeiten auszuprobieren. Doch ist
auch auf das Kulturspezifische bei der Wahrnehmung
und Evaluation von Gefahrensituationen hin-zuweisen:
Was in der einen Kultur schon als lebensgefährlich
wahrgenommen wird, ist in einer andern noch lange kein
Nervenkitzel.
2. gehört zu «Angst» eine körperliche Reaktion,
d. h. eine physiologische Reaktion (schneller Atem,
erhöhte Pulsfrequenz, veränderter Hautwiderstand,
Schwitzen an den Händen etc.).
3. ist mit «Angst» ein bestimmtes expressiv-kommunikatives Element verbunden, d. h. ein bestimmter
Ausdruck in Mimik (aufgerissene Augen, offener Mund
etc.), Gestik (abrupte Bewegungen in Richtung Gefahrensituation), Körperhaltung (gespannter Muskeltonus)
oder auch verbal (Achtung!), was wiederum eine kommunikative Bedeutung im Sinne einer Mitteilung an sich
selbst («ich habe Angst») bzw. an den
Kommunikationspartner beinhaltet. Hier spielt der
kulturspezifische Faktor eine besonders große Rolle
(vgl. z. B. das bekannte «ewige Lächeln» der Japaner,
das für uns eine Interpretation ihrer Mimik in
interaktionellen Situationen erschwert). Das Problem
kennen Sie vielleicht zu-
nehmend, wenn Sie ein Völkergemisch an Kindern in
ihren Grundschulklassen haben.
4. Schließlich gehört zu der Emotion «Angst» auch
noch das subjektive Erleben der Angst. Dies ist eine
Komponente, die selbstverständlich von Individuum zu
Individuum variiert und daher auch nicht meßbar ist.
Doch werden wir noch darauf zu sprechen kommen, daß
z. B. ein völliges Fehlen des subjektiven Erlebens von
Angst in einer Angstsituation für uns ein psychopathologisches Zeichen ist.
Nur wenn alle vier Subsysteme adäquat zusammenwirken, haben wir das Bild einer einer bestimmten Situation angemessenen Angstreaktion.
Die Emotion «Angst» steht auch immer im Zusammenhang mit der Kognition und Evaluation einer bestimmten aktuellen Situation, ein Prozeß, der, wie wir noch
diskutieren werden, immer idiosynkratisch-sozialisatorisch, schichtspezifisch und kulturspezifisch
geprägt ist.
Wie nimmt nun ein Grundschüler in unserer Gesellschaft die Schule wahr, wie bewertet er sie, wenn diese
Kognition und Evaluation zu «Schulangst» führt?
Zusammenfassend dazu einige Diskussionsthesen:
 Eine «milde Form» der Schulangst ist, z. B. bei der
Einschulung, für den Grundschüler adäquat: Sie ist eine
seelische Reaktion, die ihn in die Lage versetzen soll, die
neuen sozialen leistungsbezogenen Erwartungen, die
unsere Gesellschaft via Schule an Erstkläßler stellt, ernst
zu nehmen.
 Der Übergang von «normaler» zu «pathologischer»
Situation ist fließend (vgl. Schema nebenan).
 «Normale» und «pathologische» Angst sind Signale
auf eine vom Schüler erlebte äußere oder innere Gefahrensituation (u. Ü. ein «Hilferuf» an den Lehrer, eine
gewollte Störung des Unterricht s, und soll daher ernst
genommen werden. Vielleicht nehmen sogar unsere
Kinder noch reale Gefahren präzise wahr, die wir als
Erwachsene oft verleugnen.).
 Wie aus dem Schema ersichtlich, gehören Kognitionen, Bewertungen (das Wahrnehmen und Denken)
immer zu einer Emotion: In diesen neuen Theorien wird
die herkömmliche Spaltung zwischen Denken und
Fühlen aufgehoben.
 Inadäquate Angst kann sich unterschiedlich manifestieren: Emotionsstörungen können sich in jedem der
vier Subsysteme, wie auch im Zusammenspiel aller vier
Subsysteme abspielen — daraus läßt sich eine Klassifikation von «verschiedenen Manifestationen» von Schulangst ableiten.
Schulangst
Tabelle 1: Grobklassifikation von Emotionsstörungen
Die detaillierten Erklärungen finden sich im Text. Eine «1» bedeutet, daß das entsprechende Teilsystem in
adäquater Weise am emotionalen Vorgang beteiligt ist, «0» bedeutet ein nicht adäquates Vorhandensein. Es
bedeutet also nicht «nicht vorhanden». Nicht alle rein syntaktisch aufgelisteten Varianten sind psychologisch
sinnvoll. Welche sinnvoll sind, wird im Text besprochen. Die im Text beschriebenen Übergänge sind mit alphabetisch beschrifteten Pfeilen bezeichnet.
Lassen Sie mich anhand einiger Fallvignetten mögliche Manifestationen von Schulangst illustrieren.
Ist «Angst» überhaupt eine
«adäquate» Emotion in der Grundschule?
Schulangst kann sich nun, im Sinne dieses Schemas
als «adäquate Emotion: Angst» manifestieren, in der alle
vier Subsysteme in einer, der Situation angemessenen,
Weise zusammenwirken. Z. B. ist eine milde Form der
Angst vor jeglicher Form der Leistungskontrolle auch in
der Grundschule durchaus angemessen, da das Kind
darin «adäquat» wahrnimmt, daß ein Versagen in dieser
Situation eine gewisse Gefahr darstellt. — Eine milde
Form der Angst ist eine funktionale Vorbereitung auf die
oben beschriebene psychosoziale und intellektuelle,
schulische Leistungssituation und ermöglicht, z. B. durch
die physiologische Reaktion, eine Konzentration auf die
gestellte Aufgabe. Damit stellen wir fest, daß Angst
durchaus eine «adäquate Emotion» in einer bestimmten schulischen Situation sein kann. — Anders ist es mit
«übertriebener», zu intensiver Angst, im Extremfall einer panikartigen Angst, die keine Leistung mehr ermöglicht, sondern Psyche und Körper voll in Anspruch nimmt.
Welche Intensität von «Angst» ist einer spezifischen
Schulsituation angemessen?
Hier haben wir folglich die zweite Frage, die uns
beschäftigen wird: die Frage nach der Intensität der
Schulangst.
In unserem Schema gehören zu einer «adäquaten»
Angst analoge Vorgänge in allen Subsystemen, also z. B.
auch im expressiv-kommunikativen Subsystem. Doch
ist hier zu erwähnen, daß die Definition von «adäquat»
schon' kulturspezifisch geprägt ist. Es scheint mir in
manchen Subgruppen der deutschen Bevölkerung z. B.
für männliche Grundschüler nicht unbedingt «normal»,
daß ein Junge z. B. bei der Einschulung eine Emotion
wie «Angst» zeigen kann, denken wir nur an
Äußerungen wie: «Sei ein Junge! Ein Junge weint doch
nicht, zittert doch nicht wegen so einer Kleinigkeit!» etc.
Ist in einer bestimmten Kultur der Ausdruck einer
Emotion wie Angst tabuisiert, d. h. «verboten» (oder
noch deutlicher bei uns zu beobachten bei der Emotion:
Arger), führt dies schließlich dazu, daß der an sich
adäquate Affektausdruck dauernd kontrolliert werden
muß, was schließlich dazu führt, daß er sukzessiv verloren geht: Angst kann dann mimisch und in anderen
Körpersprachen wie der Gestik etc. nicht mehr mitge235
II. Leben angesichts bedrohter Zukunft
teilt werden, und - was nun zentral ist - nicht nur dem nommen, sondern immer mehr - z. T. via Identifikation
Kommunikationspartner, sondern auch sich selbst ge- mit dem Vater - vorwiegend als ungerechte Auslesegenüber, nicht mehr mitgeteilt werden (Verlauf a). Instanz, die nun auch ihn, als letzten Jungen der Familie,
«weghaben» wollte ... (auch hier der fließende Übergang
Dazu ein Beispiel: Peter, ein Erstkläßler, wurde mir von der «richtigen» zur nicht-adäquaten Evaluation:
von seinem Lehrer zur psychologischen Abklärung Schule als gesellschaftliche Selektionsinstanz bis hin zu
überwiesen, weil er wegen seines chronisch aggressiven einer fast wahnhaften Unterstellung an den Lehrer, er
Verhaltens in ein Heim versetzt werden sollte. - In der diene auch nur diesem einen Interesse der Institution,
Abklärung zeigte sich, daß sein manifestes, aggressives obwohl sich der Lehrer, der Peter sehr gerne hatte, real
Verhalten u. a. seelisch dazu diente, massive Ängste gegen die von der Schulbehörde angedrohte
abzuwehren, wie wir dies als Psychoanalytiker be- Heimversetzung von Peter zur Wehr setzte.).
zeichnen. Seine Mutter litt unter einer seltenen Stoffwechselkrankheit, die zu plötzlichem Tod führen konnAus psychoanalytischer Sicht ist eine «inadäquate»,
te, und kam selbst mit dieser Todesbedrohung schlecht verzerrte Evaluation der Schulsituation einer der häufigzurecht. Der Vater, ein Lastwagenchauffeur, wehrte u. a. sten Gründe für inadäquate Schulangst, d. h. Schulangst,
den drohenden Verlust seiner Frau durch ein überbe- die sich entweder nicht mehr als direkte Angstäußerung
tont «männliches» Verhalten ab: Er hatte doch alles in erkennen läßt oder aber nicht die zu erwartende Intensider Hand, behauptete sich in jeder Lebenslage, teilwei- tät hat.
se auch recht handfest, wenn man ihn beleidigte, ließ
sich nichts bieten, strahlte so etwas aus, wie ein «lonely
Übrigens führte Peter u. a. gerade die UnterscheiCowboy» im wilden Westen, der sowieso keine Frau dung der Lehrerpersönlichkeit von der seines Vaters
und keine Familie brauchen konnte. - Peter schien sich zur Reaktivierung innerer Konflikte. Bekannter dürfte
sehr mit dieser Form der männlichen Abwehr zu iden- Ihnen das Problem der Konfliktreaktivierung durch
tifizieren. Ähnlichkeiten der Lehrerpersönlichkeit und eines ElNun: In der Schule wurde er mit einem anderen ternteils bzw. einer früheren Beziehungsstruktur sein.
männlichen Vorbild konfrontiert, einem sehr liebevollen,
sanften, gefühlsbetonten Lehrer, was Peter u. a. sehr
Ein solches Beispiel war für mich eine Szene mit
verwirrte. Dazu kam noch eine Schulangst i. e. S.: Peter dem spanischen Erstkläßler Juan, die ich durch Zufall
war das fünfte Kind der Familie - alle vier älteren Söhne beobachten konnte. Juan ist ein Junge, der an einer
hatten in der Schule versagt: Zwei von ihnen wurden in Epilepsie leidet, die aber medikamentös kontrolliert
Sonderschulen, die anderen beiden in Erziehungsheime werden kann, so daß er normal eingeschult wurde. - Er
eingeliefert. - Der Vater war sehr gekränkt und wütend ist das einzige Kind seiner Eltern, die hier ein
darüber, mit Peter sollte dies nicht wieder passieren! - zurückgezogenes, in meinen Augen trauriges
(Verlauf a: Affektkontrolle —> Affektabspaltung) Arbeiterdasein führen - die Frau kann kaum deutsch
Aggressionen als Ausdruck massiver, latenter und leidet unter furchtbarem Heimweh. Der Vater - ein
Schulängste?
vom Stereotyp her «stolzer Spanier» - hat sehr Mühe,
Übrigens war bei Peter sukzessiv auch das «subjekti- in einem großen Betrieb als Handlanger zu arbeiten,
ve Erleben» von Angst verlorengegangen (Verlauf b: und richtet nun - kompensatorisch - seine ehrgeizigen
Affektverdrängung) - er fühlte sich chronisch wütend, Wünsche auf seinen Sohn: Dieser soll es einmal besser
nicht ängstlich - für uns ein' psychopathologisches haben, er sei so intelligent, klug etc.! - Zufällig
Symptom. Übrigens kann eine Chronifizierung dieser beobachtete ich die beiden beim Hausaufgabenmachen
Art sozial aufgezwungener Kontrolle von Affektausdruck - ein schlimmes Bild: Rechnete Juan falsch, wurde er
schließlich dazu führen, daß auch die physiologischen von seinem Vater sogleich geohrfeigt; kein Wunder,
Reaktionen mitbeeinträchtigt sind. Peter zeigte durch- daß Juan in der Rechenstunde bei einem ebenfalls
aus noch die physiologischen Merkmale von «Angst», z. relativ autoritären Lehrer zusammen-zuckte, wenn er
B. Herzklopfen, Schwitzen, heftige Abwehrbewegungen vor den anderen Kindern eine Rechnung lösen sollte. im Körper, doch mischten sich diese nun auch mit Nach einigen Wochen kam es zu regelrechten
physiologischen Reaktionen, die eigentlich zur Emotion Panikattacken in der Schule: Die Angst vor
«Wut» gehören: Er bekam oft einen roten Kopf (im körperlicher Strafe, die sich bei diesem Ausländerkind
Gegensatz zum Erbleichen bei einer Angstreaktion) mit seiner Epilepsie aus verschiedenen Gründen zur
(Verlauf c).
Panik steigerte, hatte sich auf die Schulsituation geEs war für mich eindrücklich zu beobachten, wie bei neralisiert. Juan ist ein Beispiel, bei dem die Intensität
Peter sukzessiv auch die kognitiv-evaluative Komponen- der Schulangst durch eine .teilweise inadäquate
te beeinträchtigt wurde (Verlauf d): Die Schule wurde Evaluation der schulischen Leistungssituation
sukzessiv nicht mehr als eine, zwar in unserer Gesell- gestört ist.
schaft wichtige und leistungsbetonte Institution wahrge236
Schulangst
Im nächsten Beispiel geht es nochmals, wie bei Peter,
um das Ersetzen der Emotion «Angst» durch eine
andere. Michael, der Sohn eines Künstlers in einem
kleinen Bauerndorf, brachte seine Lehrerin, eine enge
Freundin seiner Eltern, zur Verzweiflung, weil er sich in
der ersten Klasse nie den gemeinsamen Regeln
unterwerfen konnte und unter massiven
Konzentrationsstörungen litt.
In den Ferien vor seiner Einschulung waren er und
seine um zwei Jahre jüngere Schwester mit seiner Lehrerin eine Woche in Ferien, u. a. um ihre Mutter zu
entlasten, die ihr drittes Kind erwartete. Als sie vom
Urlaub zurückkamen, hob die Mutter die kleine Schwester zur Begrüßung hoch, dabei platzte die Fruchtblase.
Sie erschrak und mußte in Hektik zum entfernten Krankenhaus zur Entbindung gebracht werden. — Bei der
Einschulung von Michael war nur sein Vater dabei — die
Mutter lag im Krankenhaus.
Humane Schule
Michael, ein kreatives, begabtes Kind, ist den gesellschaftlichen Erwartungen an einen Erstkläßler unter
diesen Umständen nicht gewachsen: Er kann die Schulsituation nicht als neue, relativ neutrale soziale Situation,
als interessantes Lernfeld wahrnehmen. Für ihn werden
Ängste mobilisiert, nun auch in der Schule seine Liebesperson, die Lehrerin, mit andern teilen zu müssen. Seine
fantasievollen, aber effizient störenden Einfälle im Unterricht verfolgen — unbewußt — u. a. das Ziel, die
Lehrerin zu einer Zweierbeziehung, einer Dyade mit
ihm zu verführen, die störenden Geschwister —
Mitschüler — Rivalen auszuschalten.
Psychoanalytisch gesehen, ist er nicht fähig, in die
Latenzphase einzutreten, d. h., die in der Regel heftigen,
intensiven Triebkonflikte des Vorschulkindes als einigermaßen gelöst hinter sich zu lassen («latent» werden
zu lassen). Er ist psychisch nicht in der Lage zu sublimierten Triebbefriedigungen, durch die z. B. Auseinandersetzungen mit neuen außerfamiliären Bezugspersonen lustvoll werden. Dadurch ist er auch eingeschränkt
im «Lernen» im sozialen Bereich, aber auch bezogen auf
die in unserer Kultur verlangten Fertigkeiten wie Lesen,
Rechnen etc.
Auch Michael zeigte keine manifeste Schulangst —
doch waren seine manifesten Symptome unbewußt
verbunden mit seiner Angst, den Anforderungen
der Schule, sein Liebesobjekt «Lehrerin» mit andern
Schülern zu teilen, nicht gewachsen zu sein.
Michael spielte zwar den Klassenclown (kognitivevaluativ Komponente), doch waren Angstsignale in
den anderen drei Subsystemen noch durchaus zu
beobachten: in seinen chronisch aufgerissenen Augen,
seinem
ängstlichen
Betreten
des
Klassenzimmers am Morgen, seinem
Zittern im Schreiben, seinem gespannten
Muskeltonus u. a. — Allerdings schien ihm
selbst sukzessiv das Erleben von «Angst»
verloren zu gehen (Verlauf e): Er erlebte
sich als «spaßig», als Klassenclown, nicht
als ängstlicher Schüler. Clownerie statt
Angst?
Bei einem anderen Verlauf (Verlauf f) bleibt das subjektive Erleben von
«Angst» durchaus bestehen, doch weiß
das Kind selbst nicht mehr, warum es
Angst hat (kognitiv-evaluativ: 0), und
drückt auch nicht mehr Angst in seinem
expressiv-kommunikativen System aus.
Ein eindrückliches Beispiel dazu
blieb mir aus meiner Tätigkeit in der Kinderpsychiatrie in Erinnerung. Claudia,
ein achtjähriges Mädchen, war von einer
Nachbarin mehrere Male beobachtet
worden, wie es auf dem Gleis der Eisenbahnlinie, auf der die Intercity-Züge Winterthur-Zürich fuhren, von der Schule nach Hause lief. —
Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß solche offensichtlichen Selbstgefährdungen aus psychoanalytischer
Sicht oft Formen kindlicher Suizidalität sind. — In der Abklärung stellte sich heraus, daß Claudia als Fünfjährige
ihre Mutter an Krebs verloren hatte und nun, wie im
Märchen, bei einer bösen Stiefmutter lebte. Unbewußt—
und das tönt für Sie vielleicht spekulativ — hatte Claudia
den Tod ihrer geliebten Mutter in ihrem magischen
Denken als Fünfjährige u. a. auch sich, etwa ihren
ödipalen Rivalitätsgefühlen, zugeschrieben, in denen sie
– wie es «normalen Wünschen» dieses Alters entspricht
237
II. Leben angesichts bedrohter Zukunft
—manchmal die Mutter als Rivalin beim Vater weggewünscht hatte, um den Vater ganz für sich zu haben. —
Verliert nun ein Mädchen in diesem Alter real die Mutter, erzeugen diese Triebwünsche oft heftige unbewußte
Schuldgefühle, die z. B. zu suizidalen Selbstbestrafungstendenzen führen können, wie bei Claudia.— Eindrücklich war nun, daß die «böse» Stiefmutter bis zum
Schuleintritt durch ihr schlimmes Verhalten Claudia
gegenüber diese Schuldgefühle psychisch gemildert
hatte: Claudia mußte tagtäglich soviel leiden, daß sie
dadurch ihre Sühnebedürfnisse befriedigen konnte. —
Nun begegnete sie aber in der Schule einer sehr liebevollen Lehrerin, die dieses stille, traurige Kind mit den
großen schwarzen Augen sofort sympathisch fand, einerseits eine psychische Wohltat für Claudia, andererseits wurden aber dadurch u. a. wieder Rivalitätsgefühle
geweckt, diesmal in Zusammenhang mit anderen Schülern. Dadurch wurde der ursprüngliche ödipale Konflikt
in etwas anderer Form wiederbelebt: Claudia wünschte
— in ihren unbewußten Fantasien — verständlicherweise,
daß die Lehrerin (als Ersatz für die tote Mutter) ganz für
sie alleine da sein sollte, was auch bedeutete, die übrigen
«Schülerlnnen — Rivalinnen» bei ihr auszustechen. Dieser verständliche Wunsch evozierte die magische Befürchtung, sie könnte mit diesen aggressiven Gedanken
den Kindern real etwas antun (wie der Mutter), was
wiederum zu heftigen Schuldgefühlen führte, die dann,
z. B. durch suizidale Handlungen, zu mildern versucht
wurden.
Auch hier: Claudia zeigte keine manifeste Schulangst, sondern erlebte sich diffus ängstlich, eben
weil sie latent (unbewußt) die Schulsituation als
(ödipale) Rivalitätssituation um die Liebe der
Lehrerin erlebte. Physiologisch waren immer noch
Angstsignale beobachtbar (z. B. Zittern beim Schreiben), doch ihr Gesicht zeigte meist einen anderen Affekt, den Affekt von starrer, chronifizierterTrauer.
Selbst-destruktives Verhalten statt manifester
Schulangst?
nicht erlaubt, in der Schule glücklich und erfolgreich zu
sein, zuweilen ein Grund für massives Schulversagen
und sekundäre Schulängste.
Bei Claudia war übrigens der fließende Übergang zu
Variante 12 (Verlauf g) zu beobachten: Sie zeigte z. B.
massive Eßstörungen (in Angstsituationen kann man in
der Regel nichts essen) auch zu Hause, also nicht in der
schulischen Situation. — Ich habe erwähnt, daß psychosomatische Beschwerden wie Bauch- und Magenschmerzen bei Jugendlichen, aber auch bei Grundschülern, oft
die einzig sichtbaren Symptome sind, die auf Schulangst
hinweisen. Unbewußt wird dann die Schule, oft z. B.
bevorstehende Leistungssituationen, als massive Gefahr wahrgenommen, die die heftigen physiologischen
Reaktionen auslöst, ohne aber dem Schüler bewußt zu
sein.
Zusammenfassende Diskussionsthesen:
1. Manifestationen von Schulangst sind bei Grundschülern vielfältig, idiosynkratisch und kulturabhängig.
II. Inadäquate Kognition und Evaluation von
Schulsituationen führen zu inadäquater
Schulangst.
«Inadäquate Kognitionen und Evaluationen von Schulsituationen» (z. B. der Leistungssituation, der Beziehung zu Mitschülern, zum Lehrer) führen zu inadäquater Schulangst, i. a. W.: Unbewußt wird die Schulsituation verzerrt, «neurotisch» als Gefahrensituation wahrgenommen und führt' zu entsprechenden, inadäquaten,
emotionalen Reaktionen.
III.
Die Struktur der Schulsituation eignet sich
zur Konfliktreaktivierung.
Die Struktur der Schulsituation eignet sich nach
psychoanalytischer Auffassung dazu, ungelöste vergangene und aktuelle Konflikte zu reaktivieren und unbeEine andere Manifestation selbstdestruktiver Ten- wußt auf die Schulsituation zu übertragen.
denzen zur Milderung unbewußter Schuldgefühle haben
 Durch die Struktur der Lehrer-Kind-Dyade können
jene Kinder und Erwachsene, die FREUD als «die am
ungelöste libidinöse oder aggressive Konflikte mit dem
Erfolge scheitern» charakterisierte. — Diese Proursprünglichen Liebespartner (bzw. der Dreieckssituablematik ist wahrscheinlich viel häufiger, als man getion Eltern-Kind) reaktiviert werden, z. B.:
meinhin annimmt. Wir Kinderpsychoanalytiker kennen
sie z. B. von Geschwistern behinderter Kinder oder — Schulangst aufgrund der Angst vor Liebesverlust
auch von Scheidungskindern, die sich unbewußt, wie
oder der Angst vor Trennung
dies die eindrückliche Langzeitstudie von WALLERSTEIN  Schulangst aufgrund von Schamangst, (Angst vor
und BLAKESLEE ( 1 9 8 8 ) illustriert, oft für das Scheitern der
Versagen, Angst vor Autonomieverlust)
Ehe der Eltern verantwortlich machen. — Diese Kinder  Schulangst aufgrund der Angst vor Schuldgefühlen.
leiden in der Regel an zwei Fronten: an den realen,
äußeren Folgen der Scheidung, wie dem Verlust eines
Elternteils, den alltäglichen Spannungen, oft auch an der  Durch die Struktur der Schulsituation: Lehrerin —
Einbuße der Lebensqualität ganz allgemein, — aber dar- Kindergruppe können Geschwisterkonflikte (Neid, Eiüber hinaus auch an einer «inneren Front», wo sie z. B. fersucht, Rivalitätskonflikte) reaktiviert werden: Schulgegen Schuldgefühle zu kämpfen haben, was ihnen u. U. angst aufgrund von Angst vor Geschwisterrivalität.
238
Schulangst
IV. Was sind «inadäquate Schulängste»?
Wie können Lehrer «inadäquate» Ängste erkennen?
Wie diskutiert, entspricht eine «milde» Angstreaktion
oft einer adäquaten Analyse des Leistungsaspekts wie
auch der sozialen und gesellschaftlichen Funktion der
Schule.
«Inadäquat» bedeutet nun
statt «Angst» wird eine andere Emotion generiert (z.
B. Aggression, Arger, manische Affekte etc.)
die Intensität der Angst ist der auslösenden Situation
nicht angemessen.
Wie erkennen wir eine «unangemessene» Angstreaktion?
 Es liegt eine Störung im Zusammenspiel der Prozesse
in den vier Subsystemen vor (z. B. sagt der Schüler: «Ich
habe kein bißchen Angst vor der Prüfung», zeigt aber
massive Angstsignale in Mimik und Gestik, in der physiologischen Reaktion (Magenschmerzen etc.)).
 Es liegt eine Störung in einem der vier Subsysteme
vor (siehe erwähnte Beispiele der überkontrollierten
Angst, der verdrängten Angst, der psychosomatischen
Reaktion etc.).
V. Umgang der Lehrerin bzw. des Lehrers mit
Schulangst
ren» und in einigen, nichtpsychoanalytischen und vielleicht zu simplifizierenden Schritten zu beschreiben:
Genaue Beobachtung des idiosynkratischen Schülerverhaltens (z.B. der vier Subsysteme und deren
Zusammenspiel)
Analyse der Beobachtung und Hypothesenbildung
Abstützen der Hypothesen durch weitere Beobachtung
(evtl.
zusätzliche
Informationserhebung
durch
Gespräche mit Eltern, im Extremfall mit Fachleuten)
Je nach Analyse: Ansetzen von Interventionen:  Veränderung der kognitiv-evaluativen Komponente
(Kognition und Evaluation der Schule durch den Problemschüler «entzerren», z. B. durch genaue Definition
der gestellten Aufgabe, Schaffen von Sicherheit, Korrektur falscher Kausalattribuierung durch gemeinsame
Analyse von Erfolg und Mißerfolg, «Bewältigungserfahrung» durch Ermöglichen kleiner Erfolgserlebnisse etc.
 Beeinflussung der physiologischen Komponente
(Entspannungsübungen, autogenes Training etc.; bei
Grundschülern: Bewegung und Entspannung vor Leistungsnachweisen etc.)
 Beeinflussung der Komponente des «subjektiven
Erlebens» (z. B. dem Schüler vermitteln, daß eine milde
Angstreaktion in Leistungssituationen nichts «Schlimmes» ist, sondern das «richtige Gefühl» in dieser Situation, oder - ein anderes fiktives Beispiel - daß er vielleicht im Grunde genommen Angst hat, wenn er aggressiv
wird und die Klasse stört etc.).
Ich kann Ihnen hier keine Rezepte im Umgang mit
Schulangst vermitteln. Als Psychoanalytikerin halte ich
ohnehin wenig von Rezepten, da für uns jedes Kind ein
einzigartiges Wesen ist, das seine eigene Konfliktstruktur
(bedingt durch seine einmalige Lebensgeschichte in einer
spezifischen familiären und gesellschaftlichen Umwelt)
Literatur
aufweist und daher in der Regel eine originär-individuelle
pädagogische Betreuung erfordert. - Ich weiß, daß wir als BACH/KNÖDEL/ARENZ-MORCH/ROSNER: Schule heute. Berlin
1986
Kinderpsychoanalytiker
in
einer
unvergleichbar
privilegierteren Situation sind als Lehrer einer Klasse mit FEND, H. et al.: Entwicklung im Jugendalter. Angst in der
Schule. Arbeitsbericht 2 aus dem Forschungsprojekt:
meist um die 20 Schüler: Wir können uns intensiv Zeit
Entwicklung im Jugendalter, durchgeführt an der
nehmen, ein einzelnes Kind genau zu beobachten,
Universität Konstanz, gefördert von der Deutschen
kennenzulernen in seiner Eigenart und ihm zu einer
Forschungsgemeinschaft
vermehrten Einsicht in seine unbewußte Sprache, seinen
FREUD, S.: Studien zur Hysterie. Band I, Frankfurt a. M. 1895
«fremden Kontinent in ihm selbst», zu verhelfen - für uns
FREUD, S.: Hemmung, Symptom und Angst. GW. Bd. 14,
eine Voraussetzung für jede Verhaltensänderung.
Frankfurt/M. 1926
Und doch möchte ich Sie ermuntern, bei Problem- LEUZINGER-BOHLEBER, M./PFEIFER, R.: Motivations- und
schülern eine ähnliche Grundhaltung auch in der Schule
Emotionsstörungen. Ein Cognitive Science Ansatz. Teil
einzunehmen und zuerst einmal - so weit es in ihren
II: Intervertionen. Z. Klin. Psych., 2 (1989) S. 195—218
Möglichkeiten liegt - zu versuchen, die idiosynkratische LEUZINGER-BOHLEBER, M.: «Ich will leben und meine Katze
Sprache dieses Kindes, seine verzerrten oder direkten
auch.» Psychoanalytische Anmerkungen zu Überlebensstrategien in der «Katastrophe». psychosozial, 11 (1989)
Angstäußerungen als Signale für eine von ihm erlebte
36, S. 62—81
Gefahrensituation zu verstehen und daraus evtl.
PFEIFFER,
R./LEUZINGER-BOHLEBER, M.: Motivations- und
Interaktionsangebote und Konfliktlösungen abzuleiten.
Emotionsstörungen. Ein Cognitive Science Ansatz. Teil I:
Ich habe - als Diskussionseinstieg - versucht, diese
Grundlagen, Klassifikation und Diagnosen. Z. Klin.
Grundhaltung für die Schulsituation zu «operationalisiePsych., 1 (1989), S. 40—74
THOMÄ, H./KäcHELE, H.: Lehrbuch der psychoanalytischen
Therapie. Bd 1: Grundlagen. Berlin 1985
WALLERSTEIN, J./BLA.KESLEE, S.: Gewinner und
Verlierer. Frauen, Männer, Kinder nach der
Scheidung. Eine Langzeitstudie. München 1989
239
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