1.1 Was bedeutet "Wissen"? / 1.2 Das Problem der "Wahrheit"

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1.1 Was bedeutet "Wissen"?
Lassen wir uns bei unserer Annäherung an die Bedeutung von
"Wissenschaft" zunächst ganz naiv vom Wortsinn leiten, so geht
es in der Wissenschaft offensichtlich um Wissen. Nun kann
"Wissen" aber einmal als Hauptwort (Substantiv) zum anderen
als Tätigkeitswort (Verb) verstanden werden. Dies macht sofort
einsichtig, daß auch "Wissenschaft" üblicherweise in doppelter
Bedeutung gebraucht wird, nämlich (a) einmal für das "Wissen"
(also eine Menge von Sätzen) selbst, zum anderen (b) für das
(systematische) Unterfangen, zu solchen Sätzen zu kommen z.B. indem spezifische Erfahrungen so systematisiert werden,
daß bestimmte Sätze über Sachverhalte ausgesagt werden
können, oder indem mit solchen Sätzen operiert wird, diese
verbreitet werden etc. Zu beiden Bedeutungen je ein
Definitions-Beispiel aus klassisch-populären Werken:
a) "Wissenschaft, Gesamtheit des Wissens; nach Gebieten
oder Lehrsätzen systematisch geordnete Erkenntnis oder
Kenntnis mit dem methodischen Streben ihrer Erweiterung."
(Knaurs Lexikon, 1951)
b) "Wissenschaft ist Forschung und Lehre in allen
Gegenstandsbereichen. Forschung ist geistige Tätigkeit
einzelner oder von Gruppen mit dem Ziel, in methodischer,
systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu
gewinnen. Lehre ist Darstellung der Ergebnisse und Methoden
der Forschung mit dem Ziel, fachliches Wissen zu vermitteln
und zu wissenschaftlichem Denken zu erziehen." (Der neue
Brockhaus 1971)
Diese beiden Definitionen können uns dazu dienen,
einführend einige klärende Fragen aufzuwerfen: Ist denn
Wissenschaft "die Gesamtheit des Wissens", wie (a) behauptet?
Immerhin weiß ich, daß meine Tante Emma mir vorgestern
einen Brief geschrieben hat und mir darin erzählt, daß ihr
Bruder Paul in den Alpen Urlaub macht. Ist mein Wissen um
diesen Brief, mein Wissen von Onkel Pauls Urlaub also, ein Teil
"der Wissenschaft", und ist der Brief damit ein
wissenschaftliches Dokument? Oder nehmen wir den Bäcker,
der mir gegenüber wohnt: Er weiß viel darüber, wie man Brot
macht und noch so einiges mehr, wahrscheinlich hat er selbst
einiges ausgetüftelt, was seine Arbeit effektiver macht. Ist das
alles Wissenschaft?
Diese Fragen würden wir zunächst "selbstverständlich"
verneinen: Solche Tätigkeiten und ihre Ergebnisse sowie ein
solches Wissen werden wir nicht zur Wissenschaft zählen. Aber
so einfach, wie es scheint, ist die Grenzziehung keineswegs.
Was wäre nämlich, wenn sich plötzlich herausstellte, daß Tante
Emma Jahrzehnte unter Pseudonym Literatur veröffentlicht hat;
oder wenn Onkel Paul in den Alpen ein Attentat auf den
Staatschef von X begeht? Dann rücken beide ins Licht des
öffentlichen Interesses und der Brief, sowie die darin
geschilderten Sachverhalte können für Literaturwissenschaftler
oder Politikwissenschaftler mit herangezogen werden, werden
also zum Gegenstand wissenschaftlichen Handelns (damit sind
sie allerdings noch keine Wissenschaft). Aber warum muß es
sich denn um spektakuläre Geschehnisse handeln? Könnte es
nicht gerade aus psychotherapeutischer Sicht auch interessant
sein, die Lebensgeschichte von Tante Emma zu rekonstruieren,
in der vielleicht dieser Brief eine wichtige Rolle spielt?
Eine solche Rekonstruktion wäre allerdings nicht
wissenschaftlich interessant, wenn es wirklich nur um Tante
Emma, als diese einmalige Person, ginge - sondern nur dann,
wenn Tante Emmas Lebensgeschichte irgendwie typisch oder
zumindest exemplarisch für etwas Allgemeines wäre, was mit
der Rekonstruktion gezeigt werden soll (z.B. die Beziehung
zwischen der Lebensgeschichte und der Entwicklung von Krebs
oder bestimmten Wahnbildern). Ebenso kann natürlich das
Wissen des Bäckers von gegenüber und das, was er sich
ausgetüftelt hat, für Arbeitsmediziner oder für
Organisationspsychologen etc. von hohem Interesse sein, und
Basis für wissenschaftliche Erkenntnisse werden - aber wohl nur
dann, wenn sich daraus irgend etwas für andere ableiten läßt.
Diese Argumentation zeigt, daß Wissen in einem bestimmten
Zusammenhang mit allgemeinen Problemen stehen muß und auf
eine bestimmte Weise erfaßt und aufbereitet sein muß, um als
Wissenschaft zu gelten.
Was nun, um auf die zweite Definition einzugehen, wenn der
Bäcker seine neuen Erkenntnisse, die er ausgetüftelt hat, in
methodischer, systematischer Weise gewonnen hat, und wenn er
dieses Wissen, z.B. über besonders schmackhafte Brotsorten,
auf Notizzetteln so festgehalten hat, daß jeder diese Rezepte
nachprüfen kann? Oder was wäre, wenn ein Eremit in den
Bergen auf geniale Weise, durch systematisches, methodisches
Nachdenken Wissen erworben hat, das er prinzipiell jedem auch
zur Nachprüfung vermitteln könnte - wenn nur jemand käme,
und ihn fragen würde?
Auch bei diesen Beispielen würden wir uns wohl weigern,
bereits von "Wissenschaft" zu sprechen. Einerseits ist die Frage
der "Schmackhaftigkeit" wohl eher Ansichtssache (was noch
deutlicher wäre, wenn der Bäcker über seine Gefühle beim
Brotbacken geschrieben hätte), andererseits sind Notizzettel,
oder das Wissen im Kopf das Eremiten, keine akzeptablen
Formen, um die Bezeichnung "Wissenschaft" zu vergeben. Aber
auch diese Zuordnung würde sich ändern, wenn der Bäcker
seine Erkenntnisse in Bezug zu "einschlägigen" Fragestellungen
bringt (z.B. "Schmackhaftigkeit" in Relation zur Verdaubarkeit,
oder in Relation zur Kauffreudigkeit der Kunden etc.), hierzu
systematisch Befunde gesammelt hat und diese in "einschlägigen" Fachzeitschriften publiziert. Analoges gilt für den
Eremiten.
Ob etwas im Rahmen von Wissenschaft als "Wissen"
angesehen werden kann, hängt somit nicht nur vom Wissen in
den Gehirnen einzelner oder mehrerer ab, sondern auch von den
Formen, in denen dieses Wissen niedergelegt und seine
Entstehung dokumentiert ist, ferner aber auch von dem
Bezugsrahmen, in dem es verwendet werden kann. Dies läßt
sich gut anhand einer Kritik von Georges Devereaux (1984: 27)
an einer Untersuchung von Gebhard u.a. (1958) verdeutlichen:
Gebhard u.a. hatten, gestützt auf die Daten des bekannten
"Kinsey Reports" (eine großangelegte amerikanische Umfrage
über männliches und weibliches Sexualverhalten), versucht,
wissenschaftlich zu belegen, daß "Abtreibung nicht
traumatisierend wirkt". Devereaux wendet m.E. zu Recht ein,
daß diese Aussage (unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch
sei) keine wissenschaftliche Aussage über den behaupteten
Untersuchungsgegenstand sei. Die Daten beziehen sich nämlich
darauf, wieviele Frauen sagten (und/oder glaubten) daß eine
Abtreibung sie im psychologischen Sinne nicht traumatisiert
habe und wieviele dies nicht sagten (und/oder glaubten).
Devereaux argumentiert nun, daß der entscheidende Irrtum
darin liegt, "daß die Autoren es versäumen anzugeben, zu
welchem Universum des Diskurses ihre Daten gehören. Sie
nahmen an, daß ihre Daten ins Feld der Psychiatrie gehörten,
während sie in Wirklichkeit aufgrund der einfachen Tatsache,
daß keines ihrer Objekte eine gültige psychiatrische
Selbstdiagnose stellen, ins Feld der Meinungsforschung
gehörten. Daher registrierten die Autoren in dieser Hinsicht
nichts, was auch nur entfernt zu dem Thema gehörte, das zu
untersuchen sie vorhatten".
Devereaux bestreitet nicht, daß es sich um ein durchaus
interessantes Ergebnis der Meinungsforschung handelt. Wir
sehen aber an diesem Beispiel, wie sehr man aufpassen muß,
worüber man spricht und was das "Wissen" wirklich bedeutet:
Etwas über die Meinungen der befragten Frauen auszusagen,
wäre korrekt gewesen, hierzu liegt das "Wissen" vor; etwas über
Traumatisierungen auszusagen, war hingegen Unsinn (wenn
auch selbst in wissenschaftlichen Abhandlungen solche Fehler man spricht von Artefakten, vgl. Kap. 5.4 und 6.4 - vorkommen,
und in der populären Aufarbeitung von wissenschaftlichen
Ergebnissen leider sogar typisch sind).
Im Rahmen von Wissenschaft entsteht Wissen durch einen
typischen Erfahrungsprozeß, der sich von der Alltagserfahrung
insbesondere in folgenden 4 Aspekten unterscheidet:
a) Spezifische Fragestellungen:
Die Frage nach dem Verhalten von Metallen im
Zusammenhang mit Säuren oder der Erwärmung eines Drahtes
im Zusammenhang mit dem elektrischen Strom sind für den
Sozialwissenschaftler (in dieser Rolle) in der Regel
uninteressant - im Gegensatz zur Frage der Interaktion
zwischen Menschen und zwischen sozialen Systemen, deren
Einfluß auf Wahrnehmung, Denken, Verhalten, die Genese
pathologischer Formen, usw. Vice versa gilt entsprechendes für
den Physiker oder den Chemiker.
Das bedeutet gleichzeitig, daß der Wissenschaftler
entsprechend seiner Disziplin für die Behandlung der
aufgeworfenen Fragen eine ganz spezifische Wirklichkeit
konstituiert: für die Psychologen gehören z.B. "Übertragung"
und Abwehrmechanismen" oder "Triangulation" und "Joining"
zur professionellen Realität. Für die Konstitution dieser
spezifischen Realität benötigt man zunächst:
b) Spezifische "Interaktionsinstrumente":
Die Schnittstelle, an der der Alltagsmensch mit seiner Umwelt
in Kontakt tritt, sind seine Rezeptoren in Auge, Ohr etc. Für
unser naturwissenschaftlich-technisch beeinflußtes Weltbild
scheint es selbstverständlich zu sein, daß Wissenschaft
insbesondere auf einer technischen Weiterentwicklung solcher
"Interaktionsorgane" zu "Interaktionsinstrumenten", bzw. der
Erschließung völlig neuer Wirklichkeitsbereiche durch solche
Instrumente beruht: Mikroskop und Fernrohr als technologische
"Verbesserungen" des Auges, Mikrophon und Verstärker als
"Ergänzungen" zum Ohr, Elektronensynchrotons (=riesige
Elektronen-Beschleuniger), um mit Elementarteilchen "in
Kontakt zu treten", Reagenzien zur "Interaktion" mit den
Gebilden der Chemie etc.
Der Psychologen verwendet aber für die Untersuchung seiner
Fragestellung in der Regel nicht technische Apparate der
Naturwissenschaftler sondern spezifische, seinem
Untersuchungsgegenstand angepaßte Fragebögen,
Beobachtungsschemata, ggf. sogar experimentelle Instrumente insbesondere aber auch seine natürlichen, für das Alltagsleben
geeigneten Sinnesorgane (z.B. bei Beobachtungen von
Therapieabläufen, bei sozialen Experimenten, oder für die
Inhaltsanalyse von Dokumenten). Denn für ihn ist ja gerade das
Alltagsleben ein zentraler Bereich vieler seiner Fragestellungen.
Das bedeutet aber keineswegs, daß seine Fragestellungen
identisch mit den Fragen des Alltags wären, noch daß er diese
mit Methoden der alltäglichen Lebensbewältigung bearbeiten
würde. Vielmehr "sieht" er seinen Gegenstandsbereich durch die
Brille seiner Fragen, Methoden und Begrifflichkeiten und
Theorien - und diese kognitive "Brille" gehört zu seinen o.a.
spezifischen "Interaktionsinstrumenten". Es wird, im
übertragenen Sinne, nicht mit den Augen des Alltags "gesehen",
sondern z.B. mit den Augen des Kategoriensystems.
Mit den spezifischen Fragestellungen und den dafür
spezifischen "Interaktionsinstrumenten" sind verbunden:
c) Spezifische Handlungsmuster:
Die wissenschaftsspezifischen "Interaktionsinstrumenten"
müssen adäquat und sinnvoll eingesetzt werden - und dieses
"sinnvoll" meint natürlich nicht den Sinn, der schon in der
Alltagswelt vermittelt wurde. Denn auch die Instrumente des
Psychotherapieforschers z.B. gehören kaum dieser Alltagswelt
an. Daher erfordert deren adäquater Einsatz auch typische
Handlungsmuster.
Zu diesen Handlungsmustern gehört dann aber auch die
systematische Planung und Organisation dieser Erfahrung: Eine
wissenschaftliche Befragung besteht eben nicht darin, daß Tante
Emma, Onkel Fritz oder einige Leute, die man zufällig auf der
Straße trifft, angesprochen werden. Bei der Fixierung bzw.
Dokumentation der Erfahrung, bei ihrer Aufbereitung,
Zusammenstellung, weiteren Bearbeitung (z.B. mittels
statistischer Modelle), bei der Ergebnispräsentation, der
Argumentation und der Distribution (z.B. mittels
wissenschaftlicher Zeitschriften) sind ebenfalls bestimmte
Handlungsmuster zu berücksichtigen, die nicht der Alltagswelt
entstammen. Der Sinn dieser Handlungsmuster wird von der
Gemeinschaft der Wissenschaftler (insgesamt oder einer
bestimmten Fachdisziplin oder innerhalb noch kleinerer
Gruppen), der "scientific community" ebenfalls von Generation
auf Generation weitergegeben.
Dabei ist die Bezeichnung "Generation" hier ebenfalls nicht
als Alltagsbegriff zu verstehen noch bezieht sie sich auf das
"übliche" Leben - von der biologischen Geburt bis zum
biologischen Tod. Sondern der Begriff bezieht sich auf das
"wissenschaftliche" Leben, für das in unserer WissenschaftsKultur in der Regel das Studium die Sozialisationsphase und
z.B. die Promotion den entscheidenden Initiationsritus
(=Aufnahmeritus als "Gleichwertiger" in eine bestimmte
gesellschaftliche Gruppe - hier eben die "scientific community")
darstellt.
Im Zusammenhang mit diesen spezifischen Handlungsmustern
stehen nun wieder:
d) Spezifische Sprache und Wissensbestände:
Die wissenschaftliche Erfahrung innerhalb einer Disziplin ist,
wie klar geworden sein dürfte, von der Alltagserfahrung sehr
verschieden. Um über diese Erfahrung reden zu können, um der
Folgegeneration deren Sinn zu vermitteln oder um klare
Handlungsanweisungen geben zu können, bedarf es daher
offensichtlich auch einer spezifischen Sprache. Man stelle sich
nur vor, man wollte über Ergebnisse an einem
Elektronensynchrotron in der Alltagssprache kommunizieren:
Man könnte fast kein Teil, keine Beobachtung benennen,
geschweige denn Zusammenhänge beschreiben und anderen, für
ähnliche Versuche, mitteilen. Hier zeigt sich auch schon, daß
offensichtlich die Mathematik eine besondere Fachsprache ist,
um bestimmte Zusammenhänge kurz und präzise darzustellen
und, gerade im technischen Bereich, exakte
Handlungsanweisungen geben zu können.
Auch die wissenschaftliche Sprache hat also insbesondere die
Verständigung über diese spezifischen Erfahrungen zu
gewährleisten, die Kommunikation sicherzustellen und damit
gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Der gesamte Prozeß
vollzieht sich dabei vor dem Hintergrund (fach-)spezifischer
Wissensbestände, zu deren Vermehrung, Erprobung und
Veränderung das gesamte soziale Unternehmen "Wissenschaft"
durchgeführt wird.
1.2 Das Problem der "Wahrheit"
Wenn man Menschen unterschiedlicher Ausbildung danach
fragt, welche Eigenschaften denn das Wissen haben soll, das im
Rahmen der Wissenschaft erworben wird, so wird man als einen
zentralen Aspekt sinngemäß hören, daß es darum ginge,
zunehmend die Wahrheit über diese Welt zu entdecken.
Beginnen wir die Diskussion dieser Vorstellung mit dem Wort
"entdecken": Von der Wortbedeutung ausgehend steht dahinter
die Sichtweise, daß "etwas" bereits da-ist (wenn auch verdeckt),
das nur ent-deckt werden muß. Ähnlich, wie man ein Kind
aufdeckt, das verborgen unter einer Decke schlummert. Und
dieses bereits Da-Seiende ist in diesem Zusammenhang offenbar
die "Wahrheit" (über die "Wirklichkeit"). Dieser
"substantivistische" Wahrheitsbegriff (wie er in der Fachsprache
der Philosophie treffend heißt) unterstellt also, daß es
"Wahrheiten an sich" gibt, die zwar erkannt und ausgesagt
werden können, die aber auch ohne eine solche Erkenntnis so
da-sind, denen die Erkenntnis also nicht wesentlich ist.
Das "Entdecken" hat sogar unmittelbaren Bezug zu der
Übersetzung des griechischen Begriffes für Wahrheit "aletheia",
der schon Anfang dieses Jahrhunderts von dem Wissenschaftsund Naturphilosophen Nicolai Hartmann (1882-1950) als
"Entbergung" übersetzt wurde (andere Übersetzungen sind:
Offenbarung, Unverborgenheit). Diese Übersetzung kommt der
obigen Auffassung offensichtlich sehr nahe - so gibt es denn
auch nach Hartmann "echte Erkenntnis einer realen Welt".
Dennoch zeigt die ausgedrückte Beziehung "Wahrheit über
diese Welt" in der obigen Aussage, daß sich nach üblichen
Vorstellungen die Wissenschaft sich auf eine wie immer
geartete "Welt" oder "Wirklichkeit" beziehen solle, und es
daher nicht um "Wahrheit" allein gehen könne. Es findet sicher
auch Konsens, daß diese "Welt" oder "Wirklichkeit" nicht per
se "wahr" oder "falsch" sein kann (dabei ist es hier noch
gleichgültig, wie wir "Welt" oder "Wirklichkeit" verstehen). Der
Tisch kann nicht "wahr" sein. Auch die - angenommene Tatsache (oder der Sachverhalt) , daß der Tisch im Zimmer
steht, kann nicht "wahr" sein: Der Tisch ist so, wie er ist, und
ein Sachverhalt verhält sich eben so, wie er sich verhält - der es
liegt eben ein anderer Sachverhalt vor. "Wahr" (oder "falsch")
kann nur eine Aussage über eine Tatsache sein, also z.B. die
Aussage: "der Tisch steht im Zimmer". Wenn der Tisch nun
"tatsächlich" nicht im Zimmer steht, so ist nicht irgendein
Sachverhalt "falsch", sondern der Sachverhalt ist dann eben, daß
der Tisch nicht im Zimmer steht. Hingegen wäre die Aussage,
"der Tisch steht im Zimmer" dann falsch. Man beachte aber, daß
die Aussage: "die Tatsache, daß der Tisch im Zimmer steht, ist
falsch" selbst weder falsch noch richtig sein kann, sondern
schlicht sinnlos ist.
Abgesehen vom rein substantivistischen Wahrheitsbegriff, der
meist auf den religiösen bzw. mystischen Bereich beschränkt ist
(und als Substanz eben auch als Mehrzahl auftreten kann: "Es
gibt Wahrheiten"), kann Wahrheit also nur eine Eigenschaft von
satzförmigen Aussagen sein (und kann daher auch nur im
Singular "Wahrheit" auftreten). In der obigen Aussage ist
"Wahrheit über die Welt" also durch "wahre Sätze über die
Welt" zu ersetzen bzw. zu präzisieren. Und es schein wenig
Probleme zu machen, die Wahrheit dieses Satzes festzustellen z.B. indem man sich ins fragliche Zimmer begibt und einfach
nachsieht.
Doch so einfach ist es mit Wahrheit leider nicht: Denn die
Erörterung eben zeigte bereits, daß grundsätzlich zu
unterscheiden ist zwischen
a) dem Sachverhalt selbst, (hier z.B.: der Tisch steht
im Zimmer)
b) der Aussage über diesen Sachverhalt (hier der Satz:
"Der Tisch steht im Zimmer") und
c) der Beziehung zwischen (a) und (b)
Die Frage, die durch (c) aufgeworfen wird, wie also die
Beziehung zwischen einer Aussage über einen Sachverhalt und
diesem Sachverhalt selbst ist, wird als Kernfrage der
Wahrheitstheorien bezeichnet. Die wichtigsten
Beantwortungsvorschläge (oder Klassen solcher Vorschläge)
sind dabei die folgenden:
i) Korrespondenztheorie:
Sie geht davon aus, daß Wahrheit in einer Übereinstimmung
zwischen Aussage und Sachverhalt besteht. Das Hauptproblem
aber ist, daß sich (a) und (b) auf völlig verschiedenen Ebenen
befinden. So ist ein brauner Tisch (a) wohl fraglos etwas
anderes als ein Satzgebilde (b) über diesen Tisch ("Der Tisch ist
braun"). Was also soll "Übereinstimmung" heißen? Ist dies nicht
selbst wieder eine Aussage, nämlich der Form: "Zwischen dem
Sachverhalt, daß der Tisch braun ist, und der Aussage: 'Der
Tisch ist braun' besteht Übereinstimmung." Nun müßte man
aber wiederum die Wahrheit dieser Aussage wiederum
feststellen - ein Prozeß, der ohne Ende so weiter ginge.
Völlig unklar ist auch, welcher Sachverhalt eigentlich mit der
Aussage "Der Tisch ist nicht braun" (und allen anderen
Negationen auch) "korrespondieren" soll - so fragt schon
Ludwig Wittgenstein: "Gibt es negative Sachverhalte?" Ein
weiterer Kritikpunkt wäre, daß Wahrheit als Übereinstimmung
etwas Endgültiges suggeriert. Dies widerspricht aber nicht nur
der Wissenschaftsgeschichte, in der sich "Wahrheiten" immer
wieder als "falsch" erwiesen haben oder doch zumindest
bezweifelt worden sind. Auch handelt man sich damit die
Beweislast ein, daß für eine einmal festgestellte
Übereinstimmung nun für alle Zeiten kein begründeter Zweifel
mehr möglich sein wird.
ii) Kohärenztheorie:
Sie verlegt die Wahrheit einer Aussage in die
Übereinstimmung (=Kohärenz) bzw. Widerspruchsfreiheit mit
allen möglichen Aussagen innerhalb eines logischaxiomatischen Systems. Die "Wirklichkeit" bzw. die "Welt" ist
das Gesamt möglicher Aussagbarkeiten. Damit wird zwar die
Feststellung der Übereinstimmung möglich, aber zum einen
können die Axiome (Voraussetzungen) des Systems selbst nicht
dem Wahrheitskriterium unterzogen werden, zum anderen sind
mehrere Systeme denkbar, die jeweils in sich kohärent sind,
zwischen denen aber dennoch Widerspruch besteht (was die
meisten abendländischen Wissenschaftler nicht akzeptieren
würden, obwohl sich gerade in dieser Hinsicht neuerlich ein
deutlicher Trend abzeichnet, östlichen Philosophien folgend,
Widersprüche zwischen in sich kohärenten Aussagensystemen
"auszuhalten" - sie quasi als unterschiedliche aber gleich
akzeptable Perspektiven auf den gleichen
Betrachtungsgegenstand aufzufassen).
iii) Konsenstheorie:
Sie verlegt Wahrheit in die Übereinstimmung - den Konsens zwischen allen, die dieselbe Sprache sprechen und hinsichtlich
des behaupteten Sachverhaltes kompetent sind. Hier wird
Wahrheit am stärksten von den drei Ansätzen mit dem
Geltungsanspruch zusammengebracht, der nur in der
argumentativen Diskussion - dem Diskurs - eingelöst werden
kann. Problematisch ist hier allerdings, wie ein "Konsens"
letztlich festgestellt werden kann, bzw. ob im Falle des
Anzweifelns eines solchen, über die Frage, ob nun ein
"Konsens" vorliegt oder nicht, wieder ein Konsens herzustellen
wäre - und so ohne Ende. Ein ähnlicher Kritikpunkt mündet in
die Frage, wer eigentlich die "Kompetenten" sind, die
entscheiden, ob jemand "kompetent" für den Diskurs ist - und
wer entscheidet wieder über deren Kompetenz, bzw.: wie wird
hier ein Konsens über die Kompetenz hergestellt?
In jeder der drei Gruppen von Wahrheitstheorien gibt es
wieder unterschiedliche Ansätze und Sonderformen. Auch
besteht keineswegs Einigkeit bei Philosophen hinsichtlich der
obigen Aufteilung (so ist z.B. die pragmatistische
Wahrheitstheorie des Psychologen W. James: "Wahr ist, was
sich bewährt", kaum in dieses Schema einordbar). Es dürften
aber zumindest einige Grundfragen und Probleme deutlich
geworden sein. Übereinstimmung besteht jedenfalls bei allen
obigen Positionen, daß Wahrheit keine Eigenschaft von Dingen
sondern von Sätzen ist, daß Wahrheit an Erkenntnissubjekte
(Menschen) gebunden ist und - ganz offenbar schon wegen der
Sätze - mit Verständigung zwischen diesen Menschen
zusammenhängt.
Mit dieser Feststellung, daß "Wahrheit" sich nur auf
satzförmige Gebilde beziehen kann und von der Verständigung
zwischen den Sprechern abhängt, wird für die Wissenschaft die
soziale Ebene bedeutsam. Ein solcher Bezug auf soziale
Konventionen reduziert aber den Anspruch mancher
Wissenschaftler, ihre Forschung "objektiv" in dem Sinne
durchzuführen, daß möglichst nur "die harten Fakten" und
weniger so unklare Gebilde wie "soziale Übereinkünfte" eine
Rolle spielen sollen.
Wenn aber letztlich eine wissenschaftstheoretisch
einwandfreie Korrespondenz zwischen Sprache (Theorie) und
Sachverhalt nicht möglich ist, so müssen theoretisch-empirische
Aussagen einerseits zunächst auf die Ebene möglicher
Erfahrungen transformiert werden (Transformation 1)- etwa in
Form von Prognosen über Erfahrungen, die unter bestimmten
Bedingungen (besonders auch: bestimmten BeobachterHandlungen) eintreten sollten. Im Beispiel mit dem Tisch wäre
die Prognose, daß jemand, der sich in den fraglichen Raum
begibt, diesen Tisch wahrnehmen müßte. Hierbei stellt sich u.a.
als Methodenproblem die Frage, ob die (zunächst ebenfalls auf
der sprachlichen Ebene abgeleiteten) Bedingungen, unter denen
die Erfahrungen auftreten, einerseits adäquat verstanden und in
Handlungsoperationen umgesetzt werden. Andererseits muß
das Erfahrene auf die Ebene der Sprache rücktransformiert
werden (Transformation 2) werden, wobei sich u.a. das Problem
der Glaubwürdigkeit stellt. Beim "Tisch im Zimmer" ist dies
wohl weniger ein Problem. Was aber sind die Bedingungen,
unter denen bestimmte physikalische Erfahrungen prognostiziert
werden - oder, problematischer noch, unter denen bestimmte
transpersonale Erfahrungen gemacht werden können? Wie stellt
man fest, ob Patient A "eine Schizophrenie hat"?
Offenbar liegt die einzige Möglichkeit, diese Kluft zwischen
Sprache und Erfahrung zu überwinden in der Zuflucht zu so
"unempirischen" und "unwissenschaftlichen" Aspekten wie
"Vertrauen" in die "Kompetenz" und "Glaubwürdigkeit" der
Forscher. Dies darf als ein schmerzlicher Schnitt in die
scheinbar so glatte Oberfläche "harter Wissenschaft" angesehen
werden. Denn mit den beiden notwendigen Transformationen
zwischen der Sprach- und der Erfahrungsebene wird
Wissenschaft untrennbar mit menschlichen Handlungen
verbunden. Natürlich kann man die erstere Transformation
elegant mit der Forderung nach "systematischer Methodik" und
letztere mit der nach "intersubjektiver Nachprüfbarkeit"
versehen. Dennoch können auch solche Begriffe nicht darüber
hinwegtäuschen, daß diese Transformationen weit entfernt von
jeder Algorithmisierbarkeit sind (d.h. fernab von formal
faßbaren oder zumindest in eindeutige Regeln gießbare
Vorgehensweisen). De facto ist der Grund, warum man
Professor K eine bestimmte Forschungsaufgabe überträgt und
nicht dem kleinen Fritz, daß letzterer möglicherweise viel zu
"schlampig" und "unsystematisch" arbeitet, viel zu "unerfahren"
ist, etc. Andererseits vertraut man K, daß er seine Erfahrungen
wahrheitsgemäß berichtet - dazu gehört neben der Vermeidung
wissentlicher/ unwissentlicher (Ver-)Fälschung auch z.B. eine
angemessene sprachliche (ggf. z.B. formal-sprachliche)
Repräsentation und Interpretation seiner Erfahrung.
Unabhängig davon, ob eine (empiriebezogene) Theorie also
"eigentlich" richtig ist und unabhängig von den konkreten
Erfahrungen, kann ein Scheitern der Überprüfung dieser Theorie
im Einzelfall allein schon durch die eine, die andere oder beide
beschriebene Transformationen verursacht werden. Zwar gibt es
Regeln, hier allzu unangenehme Pannen einzudämmen - z.B.
"Replikation" (d.h. Wiederholung) gerade bei unerwarteten
Ergebnissen. Doch einerseits setzt die praktische Bedeutung des
Begriffes "unerwartet" voraus, daß elaborierte Theorien über
das Erwartete vorhanden sind (das dürfte für die Physik in
großen Teilen der Fall sein, für die Human- und
Sozialwissenschaften, also auch die Psychotherapie, hingegen
kaum). Andererseits werden systematische Fehler in der
Forschungsgemeinschaft (die sich also ebenfalls replizieren)
hiervon kaum berührt.
Wissenschaft - und damit verbundene Aspekte wie "Wahrheit", "Erfahrung", "Erkenntnis", etc. - haben somit nur Sinn in
Bezug auf sozial interagierende Erkenntnis-Subjekte.
Wissenschaft im heutigen Sinne ist zudem ohne die
"Wissenschaftler-Gemeinschaft" ("scientific community") bzw.
"Forscher-Gemeinschaft" ("community of investigators") und
ihren akzeptierten Fragestellungen, Lösungs-Methoden sowie
Interaktions-Gewohnheiten (z.B. spezifische PublikationsOrgane) nicht denkbar. Man mag darin auf den ersten Blick eine
Schwächung gegenüber einer vom Funktionieren der
Sozialgemeinschaft unabhängigen "objektiven" Wissenschaft
sehen. Man sollte sich aber klarmachen, daß ein EinzelIndividuum seine Erfahrungen nicht als Wissen fixieren oder
diese auch nur thematisieren: Wie der Soziologe Niklas
Luhmann (1971:52) zu Recht herausarbeitet, würde nämlich
überhaupt keine Erkenntnis möglich sein - d.h. eine
"Distanzierung des unlösbar in seinem Erleben lebenden
Subjekts von seinen Erlebnisinhalten" - wenn alle Menschen
(und Forscher) die Welt auf identische Weise erfahren würden.
Erst die Erfahrungsunterschiede schaffen die Perspektiven, die
von rein subjektiven Sinnstrukturen abstrahieren und damit
gemeinsam intendiertes Handeln gegenüber einer als
intersubjektiv verstandenen Außenwelt ermöglichen. Oder, frei
nach Berger & Luckmann (1970:11), der Gegenstand der
Erkenntnis wird fortschreitend deutlicher erst durch die Vielfalt
der Perspektiven, die sich auf ihn richten.
Die extremste Formulierung zur Intersubjektivität der
Wahrheit und Erkenntnis hat wohl Charles S. Peirce (18391914), der Begründer des "Pragmatismus" gegeben:
"Individualismus und Falschheit sind ein und dasselbe." Vor
dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen erscheint es
allerdings angemessener zu sagen: Dem Einzel-Individuum
würde sich die Frage nach "Wahrheit" oder "Falschheit" nicht
stellen; sie wäre sinnlos, da, wie eben gesagt, ein solches EinzelIndividuum in der Unmittelbarkeit seines Erlebens verhaftet
bliebe und somit keine Trennung zwischen unmittelbarer
Erfahrung und Erfahrenem möglich wäre.
Es sei betont, daß dieser Argumentation natürlich ein ganz
bestimmtes Wissenschaftsverständnis zugrunde liegt, das weder
im Detail von allen geteilt wird, noch historisch gesehen immer
so war.
3.4 Exkurs zum Verhältnis von Psychotherapie und
Wissenschaft
Wissenschaftler haben mit Psychotherapeuten gemeinsam,
daß sprachliche Kommunikation zu den zentralen Bestandteilen
ihrer Tätigkeit gehört - weit mehr als es bei Handwerkern,
Kraftfahrern oder Bauern der Fall ist. Gleichwohl ist die
erkenntnisleitende Blickrichtung, unter der (professionell) Welt
erfahren und zu sprachlicher Kommunikation verarbeitet wird,
zwischen Wissenschaftlern und Psychotherapeuten gemeinhin
völlig gegensätzlich: Wissenschaft, so wird gesagt, habe den
Blick auf Gesetzmäßiges, Prognostizierbares und auf mögliche
Gemeinsamkeiten in den Phänomenen zu richten, und damit von
der Individualität und der Einmaligkeit der Abläufe in dieser
Welt zu abstrahieren. So betonte z.B. Wolfgang Pauli, PhysikNobelpreisträger und einer der führenden (wenn nicht gar der)
Quantentheoretiker seiner Zeit, in der Einleitung zu einem
Symposium anläßlich des Internationalen Philosophenkongresses in Zürich 1954:
"Ich behaupte nicht, daß das Reproduzierbare an und für sich
wichtiger
sei als das Einmalige, aber ich behaupte, daß das wesentlich
Einmalige sich der Behandlung durch naturwissenschaftliche
Methoden entzieht. Zweck und Ziel dieser Methoden ist es ja,
Naturgesetze zu finden und zu prüfen, worauf die
Aufmerksamkeit des Forschers allein gerichtet ist und gerichtet
bleiben muß".
Dieser Sichtweise würden wohl auch heute noch nicht nur
viele Naturwissenschaftler, sondern auch Geistes- und
Sozialwissenschaftler überwiegend zustimmen.
Im Gegensatz dazu haben Psychotherapeuten immer einen
einzelnen Menschen (oder ein Paar, eine Familie) vor sich,
ausgezeichnet durch eine individuelle Geschichte. Zwar lassen
sich Ähnlichkeiten - ja sogar manche Gleichheiten - zur jeweils
individuellen Geschichte anderer finden. Aber für ein tieferes
Verständnis und für eine angemessene, würdevolle Begegnung,
geht es eben gerade um diese Einmaligkeit, die sich aus dem
Vergleichbaren spezifisch hervorhebt.
Ohne Zweifel weiß auch der Psychotherapeut im Rahmen
klinisch-psychologischer Theorien um "Gesetzmäßigkeiten": Er
mußte die derzeit im Abendland gängigen Vorstellungen über
Krankheitsentstehung und -verläufe studieren; er kennt die diagnostischen Kategoriensysteme, mit Hilfe derer er sich mit
anderen Psychotherapeuten über seine Patienten Erfahrungen
verständigen kann, weil solche Kategorien auf einen
gemeinsamen Erfahrungshintergrund im Umgang mit
menschlichem Leid verweisen, er hat sich mit Kriterien und
Konzepten wirksamer Interventionen auseinandergesetzt, kurz:
Er kennt die Psychotherapie auch als eine Wissenschaft, in der
es um allgemeine Naturgesetze geht - also um Reproduzierbares
hinsichtlich der psychischen, psychosomatischen und sozialen
Natur des Menschen. Dabei wird gerade bei den diagnostischen
Kategoriensystemen die Tendenz abendländischer Wissenschaft
deutlich, den Erkennenden aus der Beschreibung des Erkannten
auszublenden: Fast ausschließlich werden "Krankheits-" oder
"Störungsbilder" so beschrieben, als handle es sich um ontisch
feststehende Eigenschaften der Betroffenen; wobei man noch
nicht einmal über das wundersame Entgegenkommen der Natur
staunt, dem Diagnostiker eine so gut handhabbare Anzahl von
Kategorien zu liefern: Denn üblicherweise wird mit der
Verwendung von Diagnose-Systemen wie selbstverständlich
vorausgesetzt, daß weder jeder Mensch von jedem anderen diagnostisch zu unterscheiden "ist", was Milliarden Kategorien zur
Folge hätte, noch daß das allen Menschen und ihren Krankheitsverläufen grundlegend Gemeinsame einer einzigen Kategorie
zuzuordnen "ist". Vielmehr ordnen Diagnose-Systeme die
Phänomene ("Persönlichkeiten", "Krankheiten" und der
"Verläufe" etc.) stets einer gut handhabbaren Kategorien-Anzahl
zu. Welches Erkenntnisinteresse aber dahinter steht, gerade
jenes Set an Phänomenen zur Bildung einer bestimmten
Kategorie und zur Abgrenzung gegen andere aus der phänomenalen Komplexität zu abstrahieren, bleibt meist verborgen: In
der klinischen Literatur geht es fast ausschließlich darum, wie
wir ein bestimmtes "Störungsbild" von einem anderen unterscheiden, und kaum jemals warum (vgl. Kriz 1989).
Auch der Psychotherapeut ist daher in das soziale und
kognitive Gefüge der Wissenschaft eingebunden. Aber in der
konkreten therapeutischen Situation bildet dieses Wissen
bestenfalls einen allgemeinen kognitiven Hintergrund, vor dem
er handelt (oder, in manchen Psychotherapieformen, wie z.B.
der Verhaltenstherapie, aus dem er einen Teil seines "Handwerkszeuges" abgeleitet hat). Er kann daher beispielsweise
seinem Patienten nicht als einem "Depressiven" begegnen, der
genau in die diagnostische Kategorie 300.40 DSM III-R fällt mit den damit zusammenhängenden Vorstellungen über
Entstehung und Verlauf von Krankheit. Vielmehr kann der
Psychotherapeut nur zu einem einmaligen Menschen Kontakt
herstellen, und er wird dessen einmalige Lebensgeschichte
implizit oder explizit berücksichtigen müssen und ihn,
bestenfalls, im Verlauf der psychotherapeutischen Kontakte auf
allen Wegen und "Umwegen" - jenseits lehrbuchartiger
"Krankheitsverläufe" - begleiten.
Es scheint so, als folge aus diesen gegensätzlichen
Perspektiven - der Wissenschaftler, der das Allgemeine,
Reproduzierbare der Welt und der Psychotherapeut, der das
Einmalige, Individualgeschichtliche, zur Sprache bringt - auch
zwangsläufig ein unterschiedlicher Umgang mit eben dieser
Sprache: Auf der einen Seite Sprache als Abbildung von Welt
auf der anderen Seite hingegen Sprache als Beziehungsstifter.
Daß eine solche Schlußfolgerung aber fehlgeht, hat ein anderer
Quantenphysiker und ebenfalls Nobelpreisträger, Werner
Heisenberg, bereits 1955 so ausgedrückt:
"Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften
in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich
eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein
Bild unserer Beziehung zur Natur."
Dabei ist mit "unserer Beziehung zur Natur" wohl kaum ein
abstrakter Sachverhalt, etwa im Sinne einer mathematischen
Relation, gemeint, sondern die Art und Weise des sich inBeziehung-Setzens. Selbst in den Naturwissenschaften geht es
demnach um eine Begegnung mit (dem nichtmenschlichen Teil)
der Natur. Dies setzt sich deutlich ab von dem Irrtum (seitens
großer Teile der abendländischen Wissenschaft), der Mensch
könne sich bei dieser Beziehung als Erkennender ausklammern
bzw. sich als Teil selbst aus dem Ganzen lösen oder es gar
beherrschen. Eine naturgerechtere Wissenschaft (die den
Menschen als Teil der Natur versteht und damit dann wie selbstverständlich auch menschengerechter wäre) würde daher als
eine wichtige Grundqualität ein ganzheitliches In-BeziehungTreten-Können erfordern - im Sinne des bekannten Philosophen
Martin Buber, daß das Ich sich erst und nur in der Begegnung
mit dem Du ergibt und umgekehrt. Entsprechend liegt nach
Maurice Friedman (einem der führenden Buber-Interpreten), die
Bedeutung Bubers besonders in dessen Kritik "an der Herrschaft
des Ichs des Forschers über das Es des untersuchten
Gegenstandes in der heutigen Wissenschaft: Wissenschaft
wurde zur unpersönlichen Manipulation, die wesentlich beteiligt
ist am Verschwinden Gottes und an der Massenvernichtung
selbst" (Hampden-Turner 1986: 124).
Nun ist es gängige psychotherapeutische Erfahrung, daß viele,
wenn nicht die meisten, Patienten ganz wesentlich darunter
leiden, nicht oder nur verängstigt, verkrampft, verstümmelt,
verbogen in Beziehung treten zu können - zu Partnern, Eltern
oder Kindern, zu den Mitmenschen, zur Mitwelt sowie, sehr oft
und damit verbunden, zu sich selbst. Ein wesentliches
Kennzeichen dieser Störung in der Beziehungsfähigkeit besteht
darin, daß statt des Sich-Einlassens versucht wird, die
Beziehung unter Kontrolle zu bringen. Je mehr Angst jemand
empfindet, desto höher wird sein Sicherheitsbedürfnis sein;
jedoch glossiert schon der Volksmund diesen meist
untauglichen Versuch mit: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist
besser" - ist es ebenso gängige menschliche Erfahrung, daß es
selten längerfristig gelingen kann, Sicherheit dadurch zu
erlangen, daß Kontrolle ausgeübt bzw. erhöht wird von. In
psychotherapeutischen Praxen sind denn auch kaum Menschen
anzutreffen, die zuviel Vertrauen erfahren haben bzw. selbst zu
viel Vertrauen zeigen, im Gegensatz zur Fülle jener Menschen,
die zuviel Kontrolle erfahren haben bzw. die unter ihrem
eigenen Hang nach Kontrolle leiden.
Es ist bemerkenswert, wie in der abendländischen Wissenschaft gerade Kontrolle und das Verbergen der eigenen Motive
und Emotionen hinter einer "richtigen" Methodik als
"Tugenden" einer sauberen Vorgehensweise propagiert werden.
Ich bin daher in einer längeren Abhandlung (Kriz 1996) der
Frage nachgegangen, ob Angst bzw. Angstabwehr nicht auch ein
wesentliches Motiv sein dafür könnte, sich überhaupt dem
Programm abendländischer Wissenschaft zu verschreiben und
den Beruf des Wissenschaftlers zu wählen. So provokativ diese
Frage vielleicht klingen mag, so ist sie zumindest keineswegs
neu: So hat z.B. Maslow ein Kapitel seiner "Psychologie der
Wissenschaft" mit dem Titel: "Die Pathologie der Erkenntnis:
Angstmildernde Mechanismen der Erkenntnis" überschrieben;
und er hat in einem anderen eine Liste von 21 "krankhaften",
"primär angstbedingten" Formen im Bedürfnis, "Erkenntnisse zu
gewinnen, zu wissen und zu verstehen", zusammengestellt. Ein
weiteres Kapitel läßt er mit den zusammenfassenden Sätzen
beginnen: "Wissenschaft kann demnach der Abwehr dienen. Sie
kann primär eine Sicherheits-Philosophie sein, ein Absicherungssystem, ein kompliziertes Mittel, Angst zu vermeiden..."
(Maslow 1977:57).
Bedenkt man die grundlegende Weltsicht der "Väter" der
modernen abendländischen Wissenschaft, Francis Bacon, Rene
Descartes und Isaac Newton, so dienen diese nicht gerade als
Gegenbeispiel: Bacon, als Generalstaatsanwalt von König James
I. mit Hexenprozessen und -verhören gut vertraut, propagierte
die experimentelle Methode mit Bildern wie: "die Natur auf die
Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt", "sie auf
ihren Irrwegen mit Hunden hetzen" und sie "sich gefügig und
zur Sklavin machen". Diese Formulierungen zeugen nicht
gerade von Souveränität, geschweige denn von einer achtungsvollen, dialogischen Haltung, in der Beziehung zur Mitwelt.
Und auch die Hexenprozesse, aus denen diese Metaphern
stammen, können eher als Versuche von Angstabwehr der
mächtigen Männer verstanden werden - Angst vor dem
Weiblichen, dem Archaischen, dem für sie Fremden, und Angst
vor dem Verlust an Kontrolle - statt als Zeichen von
Souveränität.
Descartes Unterscheidung von res cogitans und res extensa
(grob gesprochen, die Trennung in Geist und Körper, oder
besser: in Bewußtseinswelt und mechanistisch, physische Welt)
führte bekanntlich dazu, daß in seinen Schulen (aber keineswegs
nur dort) die lebenden Organismen nicht nur mit Maschinen
verglichen, sondern letztlich als nichts anderes als Maschinen
behandelt wurden. Einer Schilderung der cartesianischen Schule
von Port-Royal durch Nicolas Fontaine um 1700 ist zu
entnehmen, wie dort Tiere an ihren vier Pfoten auf Bretter
genagelt, sie bei lebendigem Leibe seziert, und ihre Schmerzschreie als Lärm von Federn in Uhrwerken verstanden wurden und sich die Forscher noch über jene lustig machten, die,
"unwissenschaftlich", den Tieren Schmerzen unterstellten.
Bedenkt man, daß für menschliche Säuglinge und Kleinkinder
Gefühlsansteckung und anthropomorphisierende Identifikation
eher typisch sind (d.h. diese bei Schmerzensschreien, Weinen
etc. mit gleichen Gefühlen reagieren), so muß den erwachsenen
Wissenschaftlern eine bemerkenswerte Ausblendung und
Abwehr gelungen sein - die in fataler Weise an die Rechtfertigung des Haltens und Mißhandelns von Sklaven durch
"fromme" Amerikaner erinnert, nach der "Neger" eben keine
"richtigen Menschen" wären und das "Liebe Deinen Nächsten"
der Bibel natürlich für sie nicht zuträfe, oder an die Ermordung
von Millionen Juden in deutschen Konzentrationslagern durch,
so die Beschreibungen, teilweise "liebevolle Familienväter",
oder die Ausblendungen und Abwehrmechanismen bei den
heutigen Folteren in aller Welt. Daß Deutsche und Japaner im 2.
Weltkrieg an KZ-Häftlingen bzw. Kriegsgefangenen grausamste
Menschen-Experimente zur "medizinischen Forschung"
unternahmen, schließt den Bogen zur Wissenschaft wieder auch wenn diese Extreme keineswegs als typisch für "die
Wissenschaft" hingestellt werden sollen.
Isaac Newton letztlich, der die experimentelle Methode und
Induktion Bacons mit der Deduktion Descartes verband und als
Leitfigur abendländischer Wissenschaft gilt, betonte
insbesondere die Bedeutung mathematischer Abstraktion und
kategorialer Verallgemeinerung. Der Einzelfall hat in dieser
Sichtweise nur als Beispiel für etwas Allgemeines Wert, wie
bereits oben mit dem Pauli-Zitat belegt wurde. Beispiele sind,
wie schon Maslow hervorhebt, anonym, entbehrlich, nicht einzigartig, nicht unantastbar, sie haben keine eigenen, nur ihnen
allein zukommenden Namen. Zu "Beispielen" wird daher ganz
gewiß keine dialogische Beziehung hergestellt. Gleichzeitig
dienen solche kategorialen Verallgemeinerungen als Basis für
Regelmäßigkeiten und damit auch für Prognose und Kontrolle,
und helfen somit wesentlich, die Angst vor dem stets Neuen,
Unberechenbaren, zu vermindern (vgl. Kriz 1993).
Diese, hier nur kurz skizzierte, Haltung abendländischer
Wissenschaft gegenüber der Mitwelt hat unser gesellschaftliches
Weltbild bis in die Gegenwart hinein geprägt. Obwohl sich
dieses Bild durch neuere Erkenntnisse gerade an der
Forschungsfront der modernen Naturwissenschaften in den
letzten Jahrzehnten inzwischen radikal gewandelt hat (s.u.) wird es von manchen Wissenschaftlergruppen sogar immer noch
als "Vorbild" hingestellt, leider auch innerhalb der Psychologie
und der Medizin. Auch im psychotherapeutischen Feld ist die
Vermittlung von Selbst-Kontrolle viel populärer - und erscheint
als "effektiver" - als die von Selbst-Vertrauen. Gerade in jüngerer Zeit gewinnt im Zusammenhang mit der Diskussion um ein
Psychotherapeutengesetz und der Kassenzulassung in
Deutschland eine Strömung Oberhand, die vorgibt,
"tatsächliche, objektiv nachgewiesene Wirkungen" erheben und
bewerten zu können, "wie wirksam ... Therapieform A wirklich
(ist)", d.h. "die Spreu vom Weizen zu trennen, indem objektive
Fakten über die Wirkung und Wirkungsweise einer
Therapieform" festgestellt werden (alle drei Zitate,
ernstgemeint, aus einem derzeit häufig zitierten Buch über die
Wissenschaftlichkeit von Psychotherapie - Grawe et al. 1994) so, als gäbe es keine Auffassungsunterschiede, sondern als wäre
es ein ewig gültiges Naturgesetz, was überhaupt als Ziel einer
Therapie angesehen werden soll......
4.2 Zur Kulturabhängigkeit von Erkenntnis und
Wissenschaft
Gerade die Psychotherapie wendet sich oft Realitätsbereichen
zu, die von der Alltagswelt deutlich entrückt sind. Selbst in
kaum als "pathologisch" empfundenen Bereichen geht es eher
um die "weichen" Realitäten in Form von Interpretations- und
Deutungsmustern innerhalb eines spezifischen Sozialgefüges
(Familie, Paar, Arbeitsgruppe etc.), als um die "harten" Fakten,
denen sich Naturwissenschaftler in der Regel zuwenden.
Wie weit aber reicht eigentlich die Verbindlichkeit selbst der
"harten Fakten? Der in der bisherigen Argumentation betonte
Zusammenhang zwischen Handlungen, Erfahrungen und
Sprache läßt vermuten, daß in anderen Kulturen, mit anderer
Sprache, anderen Handlungsgewohnheiten und einer anderen
Umwelt auch die Realität der Lebenswelt anders sein könnte.
Dies macht schon die Differenzierung der Begriffe hinsichtlich
eines Erfahrungsbereiches deutlich: So unterscheidet der "Flachländer" gewöhnlich nur zwischen "Schnee" und "Eis"; der
Skifahrer hat mehrere Begriffe für verschiedene Formen des
Eises/Schnees, und der Eskimo hat über hundert Begriffe, mit
denen er seine unterschiedlichen Erfahrungen hinsichtlich
Schnee/Eis ausdrückt. Diese Unterscheidungen sind für ihn
offensichtlich lebensrelevant, es sind Erfahrungen, die er
anderen möglichst präzise mitteilen will und muß, weil mit
unterschiedlichem Handeln darauf reagiert werden muß.
Gleichzeitig dienen diese vielen Begriffe dazu, daß die EskimoKinder in der Sozialisation auf die vielen unterschiedlichen
Formen von Schnee/Eis hingewiesen werden und diese als
unterschiedlich wahrnehmen lernen - Unterschiede, die wir
zunächst überhaupt nicht bemerken würden und erst in der
Lebenswelt der Eskimos nach und nach wahrnehmen und dann
auch mit den unterschiedlichen Begriffen belegen könnten.
Sprache strukturiert also die Erfahrung mit der Umwelt, und die
Erfahrung mit der Umwelt strukturiert Sprache.
In extremster Form ist diese Perspektive in Form der sog.
Sapir-Whorf-Hypothese der "linguistischen Relativität" bekannt
geworden. Damit ist gemeint, daß Denken und Weltsicht durch
die Sprache bestimmt sind.
Whorf untersuchte insbesondere indianische Kulturen...und
stellte bei seiner Untersuchung der HOPI-Indianer fest, daß
deren Sprache sehr anders strukturiert ist als unsere (SAE =
Standard Average European = Standard-DurchschnittsEuropäisch). So kommt die Sprache der Hopis weitgehend ohne
Raum-Zeit-Begriffe aus, stattdessen spiegeln die Wörter eine
Anschauung wieder, nach der alles im Fließen ist und zwischen
zwei großen Formen, dem schon Manifestierten und dem noch
nicht Manifestierten unterscheidet. Substantive bezeichnen in
der Hopi-Sprache nicht Allgemeinklassen (Haus, Lampe)
sondern individuelle "Gegenstände", und die Allgemeinheit
wird durch das Verb ausgedrückt. Ebenso kann ein Hopi Verben
ohne Substantive verwenden. Hingegen müssen wir in unserer
Sprachstruktur stets jemanden als "Täter" für das Tätigkeitswort
benennen - z.B. müssen wir sagen "es blitzt" obwohl völlig
unklar ist, wer oder was das "es" sein soll und daher "blitzt"
inhaltlich (aber eben nicht grammatisch) viel angemessener
wäre.
Ohne hier auf Details eingehen zu können, ist wohl einsichtig,
daß die "Welt" der Hopis damit auch anders strukturiert ist als
die unsere, wobei die Beziehung zwischen Sprache und Realität
koevolutionär zu sehen ist: In der Sozialisation wird den HopiKindern zwar mit dieser Sprache auch eine bestimmte Weltsicht
vermittelt, aber dies kann nur mit der Bewährung in sinnvollem
Handeln verbunden sein. Nicht (nur) die Sprache der Hopis ist
daher anders als unsere, sondern die Kultur und die gesamte
Umwelt ist es.
Damit erhebt sich die Frage: Wie stark ist der Einfluß von
Wissenschafts"kulturen" auf die Konzeption von Realität? Und
darüber hinaus: Wie stark ist wiederum der Einfluß der Kultur
auf die Wissenschaft?
Die Wissenschafts- und Kulturgeschichte belegt nun an
zahlreichen Beispielen, daß die sozialen und kulturellen
Einflüsse keineswegs auf den Bereich der Alltagserfahrung
beschränkt sind. Ein eindrucksvolles Beispiel stellen die
Beobachtungsreihen des Saturnringes durch Galilei und
Huygens dar: Beide zählten sicher zu den hervorragendsten
Naturwissenschaftlern ihrer Zeit und keiner würde wohl
bezweifeln, daß sie es an Sorgfalt und geschulter
Beobachtungsfähigkeit nicht mit heutigen Wissenschaftlern
(z.B. auch Psychologen) aufnehmen könnten. Doch obwohl
beide bemüht waren, das Beobachtete so genau und objektiv wie
möglich wiederzugeben, und obwohl ihre Instrumente weitaus
besser waren, als heutige billige Warenhausfernrohre (mit denen
heute jeder Hobbyastronom "den Saturnring" deutlich "sehen"
kann), zeichneten Galilei und Huygens vom "Gesehenen"
Bilder, von denen viele aus heutiger Sicht "unmöglich gesehen"
beurteilt werden müssen. Aus der Astronomie gibt es weitere
Beispiele, wie mit der Veränderung der Theorien über das
Beobachtete sich auch die Beobachtungen (nochmals: von
hervorragend geschulten Wissenschaftlern) radikal änderten.
Dies zeigt, daß "Sehen" und "Beobachten" und "Aufzeichnen"
- auch von geschulten Wissenschaftlern - nicht von der
Auffassung und der kognitiven Repräsentanz dessen zu trennen
ist, was als "Wirklichkeit" hypothetisch der Wahrnehmung
unterstellt wird.
Gerade wenn man die Selbstverständlichkeit "unserer"
wahrgenommenen und erfahrenen Wirklichkeit als
gesellschaftlich-kulturelle Leistung zu würdigen weiß, kann man
der Gefahr entgehen, diese kulturrelative Leistung mit ontischobjektiver (und damit alleingültiger) Wirklichkeit zu
verwechseln. Ersteres eröffnet die Fragen nach "neuen
Wirklichkeiten" (als Basis jedes Paradigmawechsels), letztes
würde die zulässigen Fragen und Methoden auf das jeweils
gerade vorherrschende Paradigma (oder zumindest: die
Paradigmen) beschränken: Was es nicht geben kann, braucht
dann auch nicht untersucht zu werden. Mit einer solchen
Haltung ist aber der Schritt von pragmatisch reflektierter und
sinnvoller Beschränkung zu "wissenschaftlicher" Beschränktheit
nicht mehr weit.
Es ist wohl nicht verwunderlich, daß es auch aus dem Bereich
der Medizin, Psychologie Psychotherapie zahlreiche Beispiele
für die Kulturabhängigkeit dessen gibt, was als
"wissenschaftliche Wahrheit" ausgegeben wird. Einer der
"Klassiker" sind die zahlreichen Forschungsarbeiten zur
Untermauerung der "Polygenie-Theorie" im letzten Jahrhundert,
mit der u.a. die Sklaverei verteidigt wurde. Mit genauesten
Meßmethoden "bewiesen" Forscher wie Morton oder Broca
(nach dem wir heute noch das motorische Sprachzentrum im
Vorderhirn benennen) die "angeborene Dummheit" der "minderwertigen Rassen". Man sollte diese Beispiele ausführlich bei
Gould (1983) nachlesen, da sie einen tiefen Einblick in die
Exaktheit der Forschung geben (z.B. wurden Mittelwerte von
Schädelmessungen auf 1/1000 Millimeter genau bestimmt) und
so zeigen, daß die Ideologie in der Wissenschaft keineswegs an
oberflächlicher "Schlamperei" zu erkennen ist.
Ebenfalls bei Gould (1983) nachzulesen ist die Theorie des
Arztes S. A. Cartwright, 1851 auf einem medizinischen
Kongreß in Louisiana vorgetragen, wonach als Ursache der
häufigen Fluchtversuche von Sklaven eine Geisteskrankheit
"Drapetomanie" (d.h. der irre Wunsch, wegzulaufen) "entdeckt"
wurde. Wir sind heute geneigt, über diese absurden "Irrtümer"
des letzten Jahrhunderts zu lächeln. Doch fallen uns diese vor
allem als "absurd" auf, weil sich unsere Ansicht über Sklaverei
und Rassen gewandelt hat. Was aber ist mit den Ansichten
gegenwärtiger Humanwissenschaft - wie können wir sicher sein,
daß man in 100 Jahren nicht über unseren heutigen absurden
Irrtümer lacht? Nur weil unsere wissenschaftlichen Ansichten
ins gegenwärtige Weltbild passen?
Wodurch ist z.B. unsere Ansicht über "Schizophrenie"
fundierter als über "Drapetomanie"? Mit den heutigen
Diagnosemöglichkeiten würden wir nämlich auch die
"Drapetomanie" noch besser diagnostizieren können als vor 100
Jahren: Ein Sklave, der gerade im Begriff ist, einen
Fluchtversuch zu begehen, wird erhöhten Herzschlag und
Blutdruck aufweisen, er transpiriert erhöht, bestimmte
"ungewöhnliche" Gedanken gehen durch seinen Kopf (die man
vielleicht mit allerneuesten Methoden sogar an der
Durchblutung bestimmter Hirnareale differentialdiagnostisch
belegen kann). Ist diese Betrachtung viel anders, als z.B. die
wohl berechtigte Problematisierung in einem Standardlehrbuch
der klinischen Psychologie (Davison & Neale 1988, S. 35):
"Einen Patienten, der sich der Realität entfremdet hat und
halluziniert, beschreibt man als schizophren. Wenn wir dann
fragen, warum sich der Patient der Realität entfremdet hat und
halluziniert, lautet die Antwort häufig, das tue er, weil er
schizophren sei. Mit 'Schizophrenie' wird also ein bestimmtes
Verhalten, aber zugleich auch eine Ursache für eben dieses
Verhalten bezeichnet. Ein klares Beispiel für einen Circulus
vituosus - den man in der Wissenschaft unbedingt vermeiden
sollte."
Abschließend zu diesem Abschnitt noch ein kurzer
exemplarischer Blick auf die Vorstellungen von
"Krankheitsursachen" - ein gutes Beispiel dafür, daß
Wissenschaft keineswegs ein einer stetigen Vermehrung
"wahrer" Erkenntnis besteht:
Am 13. August 1865 starb in Wien der Arzt und
Geburtshelfer Ignaz Semmelweis (nach dem in Wien heute ein
Klinik benannt ist). Er war nur 47 Jahre alt, und starb infolge
einer Verletzung, die ihm vermutlich bei einer
Auseinandersetzung mit einem Wärter zugefügt wurde:
Semmelweis war nämlich 14 Tage zuvor von drei "Kollegen" in
die "Landes-Irrenanstalt" eingewiesen worden - wie die kürzlich
aufgefundene Krankenakte zeigt, ohne untersucht worden zu
sein, und ohne daß das Einweisungszeugnis die Andeutung einer
Diagnose enthielt . Semmelweis war verbittert, weil viele
Kollegen die Kontaktinfektion, als Ursache des Kindbettfiebers,
und seine entwickelten Desinfektionsmethoden nicht
anerkannten. Und er hatte in offenen Briefen angedroht, diese
Kollegen als Mörder hinzustellen, wenn sie seine Lehre nicht
befolgen würden. Den wissenschaftlichen Beweis für die
Richtigkeit seiner Thesen erbrachten erst später die
Bakteriologen, und Semmelweis wurde (postum!) als "Retter
der Mütter" verehrt (Quelle: "Die Zeit" Nr. 33, 1995).
Nun hatte man also eine "Wahrheit" - doch bei Thure von
Uexküll (1963) finden wir die andere Seite: "Als man sich z.B.
zu Beginn der bakteriologischen Ära auf die Entdeckung immer
neuer Erreger konzentrierte, geriet die alte Erfahrung von den
Widerstandskräften des Körpers in Vergessenheit. Man glaubte
mit der Entdeckung des Erregers das Problem der
Infektionskrankheiten gelöst zu haben. Es bedurfte drastischer
Hinweise, um die Medizin daran zu erinnern, daß sie mit den
neuen Entdeckungen nur einen Teilbezirk erfaßt hatte. Der
erboste Hygieniker Pettenkofer (nach dem z.B. in München eine
Straße benannt ist J.K.) trank damals eine Kultur lebender
Cholerabazillen und bewies durch sein Überleben den Gegnern,
daß der Erreger allein noch keine Cholera ausmacht."
Solche Einsichten förderten die Beachtung und Entwicklung
der "Psychosomatik", d.h. die Erkenntnis, daß es vielleicht nicht
der einzig richtige Blickwinkel sein könne, Descartes folgend
den Menschen in einen Körper und eine Psyche (und soziale
Eingebundenheiten) auseinanderzudividieren. Magengeschwüre,
Herz-Kreislauferkrankungen und viele andere Volkskrankheiten
wurden zunehmend im Lichte dieser Psychosomatik gesehen.
Am 27.9.1988 wurde Hugo, die "Human Genome
Organization" gegründet. Es geht um die Kartierung des
menschlichen Genoms, d.h. die Darstellung sämtlicher Gene des
menschlichen Körpers. Dafür müssen auf den 2x23
Chromosomen-Sätzen des Menschen mit ca. 50.000-100.000
Genen die insgesamt rund 3 Milliarden Basenpaare der DNA
(fadenartige, zu einer Doppelhelix verdrillte Substanz, aus der
die Gene bestehen und die als Träger der Erbinformation gilt) in
ihrer Abfolge festgestellt werden. Dies klingt wie ein übliches
wissenschaftliches Unterfangen. Doch um den allein in den
USA für dieses Projekt aufgewendeten Etat von 28 Mill. Dollar
zu durchzusetzen, bedarf es beachtlicher Ideologisierungen
(sonst könnte noch jemand auf die Idee kommen, mit dem Geld
ein paar weniger Menschen in New York und sonst in den USA
- wenn schon nicht in der 3. Welt - verhungern zu lassen). Diese
Ideologie wird deutlich, wenn man die Begründung für die
"Antwort der Europäer" auf dieses Projekt, nämlich mit einem
Etat von 60 Millionen DM die Gene zu erforschen, ansieht: Da
es höchst "unwahrscheinlich ist, die umweltbedingten
Risikofaktoren auszuschalten", und um eine "Weitergabe der
genetischen Disponiertheit an die folgende Generation zu
verhindern" muß man soviel wie möglich über die Faktoren der
genetischen Disposition lernen, hieß es in dem Papier, das auch
dem Deutschen Bundestag zur Beschlußfassung vorlag
(Drucksache 11/3555 vom 24.11.88 - glücklicherweise wurde
diese Beschlußvorlage mit seinen entlarvenden Formulierungen
rechtzeitig gestoppt, das Genom-Programm, nun geschickter
"verkauft", allerdings nicht). Zu verhindern gilt es, danach und
auf diesem Wege, Krankheiten wie Krebs, schwere Psychosen,
Herzkrankheiten, Diabetes, Autoimmunkrankheiten etc. Krankheiten also, von denen in der gleichen Schrift betont wird:
"Diese Störungen haben eine starke Umweltkomponente". Doch
bevor man der Industrie Auflagen macht, weniger Schadstoffe
zu produzieren oder das Geld investiert um stressfreiere Lebensund Arbeitsbedingungen zu erreichen, versucht man offenbar
lieber, den Menschen zu züchten, der den Schäden einer
rücksichtslosen Plünderung und Vergiftung dieses Planeten
standhält (oder wie sonst ist die Verhinderung von
Dispositionen an die folgende Generation zu verstehen?).
Über die Triebfeder in unserer Kultur für solche
Weichenstellungen wissenschaftlichen Forschens möchte ich
hier nicht spekulieren - es genügt vielleicht abschließen aus der
Beschlußvorlage zu zitieren: "...was bedeutet, daß
fortgeschrittene Technologien mit hohem Mehrwert ... gefördert
werden sollen. Begründete Schätzungen gehen davon aus, daß
der potentielle europäische Markt für DNA-Sonden in den
nächsten 10 Jahren einen Wert zwischen 1 und 2 Mrd.
ECU/Jahr aufweisen wird."
Daß Wissenschaft also nicht nur aus "Liebe zu Wahrheit" und
aufgrund wissenschaftstheoretischer Kriterien auf bestimmten
Wegen zur Erkenntnis voranschreitet, war vielleicht dem Leser
auch schon vorher klar. Da eine Abhandlung über Forschungsund Wissenschaftsmethodik zwangsläufig den normativen
Aspekt von Wissenschaft eher in den Fokus rückt, müssen
redlicherweise auch solche Exkurse die Perspektive ergänzen.
Als Kontrast werden sich der folgenden beiden Kapitel wieder
den eher normativen Konzepten von wissenschaftlichem
Handeln zuwenden.
7. Probleme und Fragen der Psychotherapie-Forschung
..... Die Schwierigkeiten der Psychotherapie-Forschung liegen
m.E. vor allem darin begründet, daß oft so getan wird, als
handele es sich um rein methodische Fragen, während dahinter
schwerwiegende und keineswegs konsensfähige inhaltliche - um
nicht zu sagen: weltanschauliche - Vorentscheidungen liegen.
Konsens findet man sicher darin, daß es in der
Psychotherapie-Forschung (abgesehen von zahlreichen
Spezialfragen) um zwei Hauptfragen geht, nämlich (a): "wirkt
eine bestimmte Psychotherapie überhaupt (und wenn ja: wie
effektiv)"?; (b): "wirkt Vorgehensweise A besser als
Vorgehensweise B"? Die letztere Frage ist typisch für sog.
Therapievergleichsstudien, bei der ersteren geht es um
Therapieerfolg, bzw. Evaluation (Bewertung einer Maßnahme).
Beide Fragen klingen ganz "einfach und unschuldig" und
scheinen naturwissenschaftlichen Fragestellungen ziemlich
ähnlich zu sein - etwa: "bewegt sich ein Objekt überhaupt (und
wenn ja: mit welcher Geschwindigkeit)?", bzw.: "bewegt sich
Objekt A schneller als Objekt B?" Doch der Ähnlichkeitsschein
trügt gewaltig! Während nämlich "Bewegung",
"Geschwindigkeit" und "Geschwindigkeitsdifferenz" in der
Physik für alle verbindlich operational (d.h. unmittelbar auf
Beobachtungs-Handlungen bezogen) definiert ist, gilt dies für
keinen der o.a. Begriffe in Bezug auf Psychotherapie. Wir haben
aber bewußt diese "naiven" Fragen gewählt, weil daran die
eigentlichen Fragen deutlich werden:
Wie wird "Therapie-Erfolg" überhaupt definiert und
gemessen? Ein kleiner Blick in die Debatte klinischer
Psychologie zeigt, daß dies keineswegs klar ist. Schon
hinsichtlich der inhaltlichen Ziele, was überhaupt erstrebenswert
ist, herrscht keineswegs Konsens. Auch wenn man sich
hinreichend einig sein wird, daß die Sozialgemeinschaft (d.h.:
die Kassen) eher nur für eine Reduktion von Lebens- und
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Symptomen aufkommen
solle (statt z.B. für "Persönlichkeitsentwicklung"), so sind
Fragen der Finanzierung und von Therapiezielen doch
zweifellos keine methodisch-statistischen Fragen, so daß man
einfach unter einer bestimmten Perspektive "drauflosmessen"
könnte, um dann Allgemeines über die "Wirkung" von
Psychotherapie von sich zu geben. Außerdem geht es
keineswegs nur um den - im Mainstream gering geschätzten und
eher lächerlich gemachten - Aspekt von
Persönlichkeitsentwicklung: für das große Spektrum sog.
"chronischer Krankheiten" - angefangen von schwerer
Schizophrenie, Hirnschädigungen, Asthma, Diabetes, etc. - oder
andere nicht (mehr) heilbare Krankheiten wie z.B. Krebs hat
sich das Konzept der "Bewältigung" durchgesetzt, bei dem eben
eine "Ausheilung" der Primärsymptome nicht als sinnvoller
Therapie-Erfolg angestrebt werden kann, sondern eben eine
Erhöhung der "Lebensqualität" und ein "erträglicher Umgang"
mit der Krankheit. Doch wie sind diese - ebenfalls wohl nicht
von jedem gleich verstandenen - Begriffe zu definieren?
Und selbst dann, wenn man hinsichtlich der Konzept-Definitionen weit mehr Einigkeit hätte, als faktisch vorherrscht: Wie
werden diese denn nun konkret operationalisiert und gemessen,
d.h. an welchen konkreten empirisch erfaßbaren Größen wird
das Konzept denn festgemacht? Werden - wie meist üblich Tests und Fragebögen eingesetzt, greift die bereits im 1. Kapitel
referierte Problematisierung von Devereaux: zu welchem
Universum des Diskurses gehören überhaupt die erhobenen
Daten? Sind Fragebogen-Daten eher als Meinungen oder
klinische Diagnosen zu werten? Therapie-Forscher setzen
"selbstverständlich" das letztere voraus - worin und wann ist
dies begründet?
Es sei beachtet, daß alle diese Fragen zwar erörtert aber nicht
geklärt werden können. Denn man kann hinsichtlich dieser
Fragen zwar Entscheidungen herbeiführen, aber mit guten
Gründen hätte man sich meist natürlich auch anders entscheiden
können. Oft werden allerdings nicht einmal die getroffenen
Entscheidungen als solche dokumentiert, sondern es wird so
getan, als wäre die Definition des Erfolgs, dann dessen
Operationalisierung und dann die Messung inhaltlich so
selbstverständlich, daß man nun eine formale Methode einfach
"anwenden" könne.
Nachdem man diese Entscheidungen (explizit oder implizit)
getroffen hat, taucht die nächste Gruppe an Fragen auf, über die
entschieden werden muß (und auch diese sind wieder
keineswegs "selbstverständlich"): An welchen Patienten werden
die Messungen überhaupt durchgeführt? Nimmt man an, daß die
Therapiemethode A bei allen Patienten gleich wirkt? - Eher
wohl nicht! Doch wonach wählt man aus? Reicht es, eine
bestimmte "Symptomgruppe" zu wählen? Und warum wird
diese abgegrenzt - es ist nämlich wiederum keineswegs
"selbstverständlich", daß unsere klinischen Klassifikationen, auf
der Ebene von Krankheitsverläufen gewonnen, auch die
optimalen Klassifikationen für Therapieverläufe sind. Geht es
eher um möglichst homogene Symptome, oder um eine
homogene Schwere von Beeinträchtigungen, oder um einen
homogenen Verlauf der bisherigen Krankengeschichten, oder
um homogenen "sozialen Support" (der erheblich mit dem
Therapie-Verlauf interagieren dürfte) oder.., oder..? Auch dieses
sind keine statistisch-methodischen Fragen, sondern es stehen
unterschiedliche inhaltlich-theoretische Vorstellungen dahinter
wenn man sich für das eine oder das andere entscheidet - und
wieder ist eine Entscheidung etwas anderes als die
algorithmisierte Durchführung einer Methode.
Welche Therapeuten von Richtung A läßt man nun die zu
beforschenden Therapien durchführen? Eine möglichst
repräsentative Auswahl? (Woher gewinnt man die
Basisinformation dafür?) Oder nimmt man möglichst erfahrene
Therapeuten? (was heiß das - und: wie realistisch ist es
anzunehmen, daß erfahrene Therapeuten genau "Methode A" in
"Reinkultur" vertreten?). Wählt man (was wohl realistisch ist)
jene, die man gerade bekommen kann: Sind das dann nicht eher
jene, die vielleicht unter Patientenmangel leiden (und vielleicht
überzufällig Anfänger sind oder andere Eigenschaften
aufweisen, die sie nicht gerade zu den Aushängeschildern für
Therapieform A machen)?
Wenn diese Fragen nun alle entschieden sind: Was bleibt, als
kleine "Zwischenbilanz", eigentlich noch von der AusgangsFrage übrig, (z.B.) "ob und wie effektiv Therapiemethode A
wirkt?" Was wir nach den bisherigen Entscheidungen erwarten
könnten, wäre Information darüber, wie Patienten der Gruppe B,
nach den Kriterien C, D und E... zusammengestellt, hinsichtlich
Antworten und Beobachtungen der Variablen F, G und H... bei
Therapeuten mit den Eigenschaften I, J und K... sich verändern.
Beantwortet das noch unsere obige Frage - bzw. ist diese
Information noch als angemessene Basis anzusehen, um
Aussagen über "die Therapieform A" zu machen?
Dabei hätten wir nun noch fast jene Fragen vergessen, um die
in der Literatur über Psychotherapie-Forschung gemeinhin so
viel Aufhebens gemacht wird: Soll man einen Vergleich
"vorher"/"nachher" (d.h. ein prä-post-design) durchführen, oder
aber eine Verlaufsstudie (panelanalyse), bei der zu vielen
Zeitpunkten die Information erhoben wird? Wie soll eine
Kontrollgruppe zusammengesetzt sein, die den Therapie-Erfolg
gegen Zufallseinflüsse bzw. Spontanremission sichert (d.h.
gegenüber der Tatsache, daß sich auch bei einem Teil der
unbehandelten Patienten nach einer Zeit "Besserung" einstellt s.u.)? Wie groß soll die Stichprobe an Patienten sein? (Nun,
jedenfalls größer als in den meisten Therapiestudien, ... denn bei
den üblicherweise aus der Literatur zu erwartenden
Effektstärken und den üblicherweise verwendeten statistischen
Tests reichen 20-30 Personen keineswegs aus, die
Nullhypothese: "kein Effekt" zu verwerfen - nebenbei: dies gilt
noch radikaler bei Therapievergleichsstudien, wo es um
Unterschiede in den Effekten geht). Doch diese, in diesem
Absatz skizzierten, Fragen sind vergleichsweise zu den vorher
aufgeworfenen eher trivial, da es sich hier tatsächlich eher
(wenn auch nicht vollständig) um statistisch-methodische
Fragen handelt, bei denen die Kriterien daher (vergleichsweise)
klar sind und deren adäquate Beantwortung zum
Handwerkszeug des Forschers gehören sollte.
Weit schwieriger und unklarer ist es da schon wieder, statt der
Wirkung einer Therapieform A die zweite obige Frage, nach
dem Therapie-Vergleich zu stellen. Denn nun müssen nicht nur
sämtliche oben aufgeführten Entscheidungen (mit den dahinter
liegenden theoretischen Vorstellungen und Problemen)
getroffen werden. Sondern zusätzlich ist natürlich die Frage zu
entscheiden, hinsichtlich welcher Aspekte (bzw. welches
Aspekte-Raumes) ein solcher Vergleich überhaupt stattfinden
könnte. Erinnern wir uns: Die obigen Entscheidungen führten
sinnvollerweise zu einer, für A ganz spezifischen
Auswahlkombination aller dieser Entscheidungsaspekte. Wenn
dieselbe Entscheidungssequenz analog für Therapieform B
durchgeführt wird, bleiben dann überhaupt irgendwo
Überschneidungen, um über einen Vergleich etwa aussagen zu
können?
Nun, wer nur statistische Modelle im Kopf hat und von
klinischer Psychologie nichts versteht, könnte auf die Idee
kommen, alles per Zufall auszuwählen - d.h. Patienten werden
per Zufall auf zufällig ausgewählte Therapeuten der Schulen A
und B aufgeteilt und die Veränderungen werden mit zufällig
gezogenen Kategorien, Tests etc. bestimmt. Abgesehen davon,
daß diese Vorgehensweise fernab jeder praktischen Realisierung
liegen würden, gäbe es zwei Möglichkeiten: entweder man hat
ein vollständiges Design, in dem alle Kategorienkombinationen
vertreten sind, oder man führt tatsächlich nur eine
Zufallsauswahl durch. Im ersten Fall muß man nur ein Dutzend
der oben aufgeworfenen Entscheidungsfragen (die keineswegs
Anspruch auf Vollständigkeit erheben!) mit je 5 Abstufungen
bzw. Alternativen berücksichtigen, um die Absurdität zu
erkennen: Es ergeben sich 512, das sind über 244 Millionen,
Kombinationen. Man müßte also eine "Stichprobe" vom
Umfang mehrerer europäischen Staaten erheben, um pro
Kombination auch nur jeweils einen einzigen Menschen zu
untersuchen. Im zweiten Fall wären die Untersuchungs- (und
Kontroll-)-gruppen zwar klein (aber: s.o.), jedoch was sagt es
aus, wenn Therapieform A bei anderen "Störungen" etc.
hinsichtlich anderer Kriterien "besser" abschneidet als
Therapieform B? Dies wäre wie die Aussage, daß
Geigenunterricht effektiver ist als Klavierunterricht, nachdem
man einige Kinder, die ein Instrument lernen wollten, zufällig
auf verschiedene Lehrer an Geigen- und an Klavierschulen
aufgeteilt hätte, und nach einem Jahr Eltern, mit
unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was überhaupt die
Sinn des Musikunterrichtes sein könnte, die "Erfolge" beurteilen
ließ.
Diese eher anekdotische Schilderung einiger Probleme und
Schwierigkeiten beim direkten Vergleich nur zweier TherapieAnsätze hat wohl deutlich werden lassen, welche immensen
theoretischen und konzeptionellen Defizite aufzuarbeiten wären,
bevor die obigen Fragen einigermaßen kompetent entschieden
werden können und man "loslegen" könnte herumzurechnen. Es
sollte auf der Hand liegen, daß es da nicht unbedingt leichter ist,
Meta-Analysen durchzuführen, d.h. Analysen, in die
"Ergebnisse" zahlreicher anderer Studien eingehen, um zu einer
Gesamtaussage zu kommen. Das Wort "Ergebnisse" wurde
deshalb in Anführungszeichen gesetzt, weil eben jedes
"Ergebnis" einer solchen Einzelstudie implizit oder (selten)
explizit die gesamte Entscheidungssequenz über alle oben
aufgeworfenen Fragen (und weitere) enthält. Hier stellen sich
zusätzlich Fragen ein, wie: Welche Studien werden einbezogen?
Wie begründet sich die Auswahl? Wie wird mit
unterschiedlichen Stichproben, mit unterschiedlicher Anzahl
von Erfolgskriterien umgegangen (d.h. ist eine Studie an 50
Personen genau so aussagekräftig wie eine an 1000, und ist eine
Studie mit nur 1 klaren Effekt nur 1/10 so wichtig zu nehmen
wie eine andere mit 10 nachgewiesenen Effekten)? Wie werden
Abhängigkeiten berücksichtigt (sind 10 fast gleiche Kriterien 10
mal so wichtig wie nur 1 in einer anderen Studie)?
Wir wollen es bei diesen Fragen bewenden lassen. Es blieb
wohl kaum verborgen, daß ich der gegenwärtigen
Psychotherapie-Forschung, je komplexer sie betrieben wird
(d.h. je mehr implizite Entscheidungen eingehen) desto
skeptischer gegenüberstehe. Neben den hier angerissenen
Fragen gibt es nämlich noch viel grundlegendere, wie z.B.
welche Modelle von "Ursache-Wirkung" wir unseren
Überlegungen zugrundelegen. Wenn wir ernst nehmen, was die
moderne naturwissenschaftlich fundierte Systemtheorie uns lehrt
(und was in vorangegangen Kapiteln skizziert wurde), dann sind
in komplex vernetzten Systemen diskontinuierliche Verläufe zu
erwarten - und Psychotherapieforscher reden auch gern davon,
daß die unterschiedlichen Faktoren, die den Erfolg einer
Therapie beeinflussen, miteinander vernetzt sind. Daraus würde
aber folgen, daß z.B. keine Gruppenvergleiche derart
durchgeführt werden dürfte, daß die Veränderungen auf
Datenniveau aggregiert (d.h. zusammengefaßt - etwa über
Mittelwertsbildung) werden. Je nach individuellem
Ausgangspunkt (der zu erheben wäre) kann nämlich ggf. eine
"große Ursache" dann keine Wirkung eine "kleine Ursache"
eine große Wirkung entfalten. Auch solche Fragen müßten
natürlich vorher explizit geklärt werden, bevor man nach
irgendwelchen "statistischen Verfahren" etwas "berechnet" (und
damit natürlich unwissentlich in dieser Frage eine bestimmte
Stellung bezieht - meist jene, daß man nicht von
diskontinuierlichen Verläufen und damit, entgegen der verbalen
Beteuerungen, auch nicht von vernetzten Prozessen ausgeht). ...
Solange diese Fülle an inhaltlichen Fragen nicht geklärt ist (und
oft nicht einmal angemessen diskutiert wird) nützen selbst (oder:
gerade?) die aufwendigsten "Untersuchungen" wenig; sie
verhindern eher eine redliche Psychotherapie-Forschung. Oder,
provokanter ausgedrückt: Solange wir in der Erforschung und
wissenschaftlichen Debabtte, was überhaupt unter
Psychotherapie-Effekten zu verstehen ist, so weit am Anfang
stehen, kann die großangelegte und wissenschaftspolitisch
brisante "Sammlung" von Effekten eben nur Effekt-Hascherei
sein.
Aus diesen Gründen würde ich selbst auch eher für eine
stärkere Grundlagenforschung in diesem Bereich plädieren..
Die Praktiker beeindruckt die gegenwärtige Psychotherapie-Forschung ohnedies nicht, wie in zahlreichen Arbeiten der Forscher
beklagt wird. Der Therapeut, der zu seiner und der Patienten
Zufriedenheit behandelt, wird seine Vorgehensweise und
Weltsicht nicht deswegen wechseln, weil eine Untersuchung
unter (für ihn) nicht genau geklärten Umständen bei einem
Klientel (das er schwerlich beurteilen kann) hinsichtlich einiger
Kriterien (von denen er vielleicht manche keineswegs teilt) die
statistische Nullhypothese, daß Therapie nicht wirkt (wovon er
jeden Tag sowieso das Gegenteil erfährt) "signifikant"
zurückweisen konnte.
8. Epilog: Zur Psychotherapie der Wissenschaft
Bereits in Abschnitt 3.4 wurde in einem Exkurs zum
Verhältnis von Wissenschaft und Psychotherapie einiges
ausgeführt - und damit dieser Epilog quasi vorbereitet. An
dieser Stelle möchte ich daran anküpfend gern die Aussage von
Maslow (1977) in seinem Werk "Psychologie der Wissenschaft" aufgreifen, wo er (sinngemäß) fragte: Warum fragen wir
eigentlich immer wieder, ob die Psychotherapie auch
wissenschaftlich genug sei? Warum fragen wir nicht lieber, ob
die Wissenschaft psychotherapeutisch genug ist? Und mit dieser
Fragestellung die Betrachtungsperspektive bei den Erörterungen
über Wissenschaftsmethodik in der Psychotherapie umkehren.
Berücksichtigen wir, daß in der Entwicklungsgeschichte
dieses Planeten bereits vor 3 Mrd. Jahren erste Lebensformen
auftraten, es seit fast einer halben Million Jahre den Homo
sapiens, und seit immerhin über 100.000 Jahren den
sogenannten "Homo sapiens sapiens", den modernen Menschen,
gibt, so währt das nun gut 300 jährige Programm
abendländischer Wissenschaft, bezogen auf die Dauer eines
Tages, weit weniger als eine Minute in der
Menschheitsgeschichte - in der Geschichte des Lebens sogar nur
wenige Millisekunden. Bedenkt man nun noch, daß die Völker
des Abendlandes weniger als 1/5 der Weltbevölkerung
ausmachen, muß festgestellt werden, daß eine historisch und
geographisch verschwindend kleine Minderheit mit ihrem
Wissenschaftsprogramm in geradezu unglaublich kurzer Zeit
diesen Planeten mit seinen Menschen und der Mitwelt an den
Rand des Abgrundes geführt hat.
Daß dieses Programm seit Anbeginn durch seine Leitfiguren,
Bacon, Descartes und Newton, vor allem von
Kontrollbedürfnissen gekennzeichnet ist, wurde ebenfalls in 3.4
kurz skizziert. Kontrollbedürfnisse - d.h. Sicherheit vor allem
über Kontrolle statt z.B. über Vertrauen herstellen zu wollen finden wir im Alltag im Zusammenhang mit Angstabwehr. In
der Tat ist es für Psychotherapeuten bemerkenswert, wie
verblüffend die klinisch beschriebenen Mechanismen zur
Angstabwehr jenen Prinzipien entsprechen, die in der
abendländischen Wissenschaft als "Tugenden" einer sauberen
Methodik propagiert werden: Möglichst weitgehende Ausschaltung von Unvorhersehbarem und Unkontrollierbarem,
Reduktion von Einflußvariablen, möglichst weitgehende
Prognose der Ergebnisse von Handlungen, maximale Kontrolle
dessen, was passieren kann, Verbergen der eigenen Motive und
Emotionen hinter einer "richtigen" Methodik, Beschränkung der
Erfahrungen auf jenen Bereich, der durch "zulässige" Fragen
und Vorgehensweisen vorab definiert ist.
Ob wir daher so stolz auf die Errungenschaften dieser
abendländischen Wissenschaft sein sollten, wie wir uns selbst
und der Welt immer noch weitgehend ungebrochen über alle
Medien verkünden und dabei in kultur- und wissenschaftsimperialistischer Manier die Lebenswelten anderer
Völker und Kontinente mit diesem Kulturprogramm zunehmend
erobern, werden wohl erst ferne Generationen beurteilen
können. Ganz gewiß aber ist die ethische, moralische und
soziale Entwicklung des Menschen weit hinter dem analytischwissenschaftlichen Fortschritt zurückgeblieben. Denn die
abendländische Wissenschaft hat nicht nur theoretisch ein
beispiellos todbringendes Potential geschaffen - sie realisiert
auch zunehmend diese Möglichkeiten: Die Entwicklung von
Massenvernichtungsmitteln sowie deren Einsatz in zwei
Weltkriegen dieses Jahrhunderts, in deutschen Gaskammern,
und auf zahlreichen weiteren Schauplätzen in dieser Welt, die
Zerstörung der Mitwelt durch eine Wirtschafts- und Technik"Entwicklung", die selbst bei gesicherten und elementaren
Zusammenhängen, wie beim CO2-Ausstoß oder der Abholzung
der Regenwälder, nicht den kurzfristigen Eigennutz als oberstes
Handlungsprinzip zu überwinden vermag, der Einsatz von
medizinischen Erkenntnissen zur Perfektionierung von
Foltermethoden oder zur Herstellung biologischer Kampfstoffe,
sind wenige Beispiele dafür, daß dem Menschen die Folgen
seines Wissenschaftens längst über den Kopf gewachsen sind.
Der Mensch bedürfte somit dringend einer "Nachsozalisation"
(wie dies Psychotherapeuten allgemein bei schweren Persönlichkeitsstörungen des Menschen fordern), um die Diskrepanz zwischen wissenschaftlich-technischer und ethisch-sozialer Entwicklung zu mildern und um zu versuchen, Schlimmstes zu
verhindern.
Meine These ist nun, daß eine psychotherapeutische Haltung,
die wesentlich die Begegnungsfähigkeit ins Zentrum der
Entwicklung stellt, als ein Wegweiser für eine lebensgerechtere
Wissenschaft dienen könnte. Ich habe die Haltung
abendländischer Wissenschaft exemplarisch an der Art und
Weise der Wissenschaftler-Kommunikation festgemacht - denn
auch Wissenschaft ist, wie wir sahen, wesentlich durch
Kommunikation bestimmt. Sprache, die vorgibt, vor allem eine
äußere Welt abzubilden, in welcher der Abbildende scheinbar
nicht vorkommt, ermöglicht eine Distanzierung vom eigenen
Erleben und eine Verschleierung eigener Motive. Sie macht
unantastbarer und den Akteur weniger durchschaubar, als wenn
in der Sprache die Beziehung des Sprechenden zu dem, wovon
und worüber er spricht, auch explizit zum Ausdruck kommt schlechte Richter und Professoren neigen hierzu, etwa wenn sie
einen Urteilsspruch erläutern oder die Tatsachen ihres Faches
darstellen, und sich dabei hinter dem Gesetz oder der Methodik
verbergen, um keine Ver-Antwort-ung übernehmen zu müssen,
d.h. keine Antwort auf die Frage: "Wo stehst denn Du, der uns
dies verkündet?"
Ein treffendes Beispiel für die therapeutisch wirkende
Funktion von Sprache findet man in Martin Bubers Schrift "Der
Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre". In der ersten
Geschichte dieses Buches erzählt Buber, wie Rabbi Schneur
Salman, der Raw (Rabbiner) von Reusen in Petersburg gefangen
saß, und wie sich der Oberste der Gendarmerie zu ihm in die
Zelle begibt, um einen angeblichen Widerspruch in der
jüdischen Glaubenswelt aufzudecken:
Zuletzt fragte er: "Wie ist es zu verstehen, daß Gott der
Allwissende zu Adam spricht: >Wo bist Du?<"
"Glaubt Ihr daran", entgegnete der Raw, "daß die Schrift
ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr
beschlossen sind?"
"Ich glaube daran", sagte er.
"Nun wohl", sprach der Raw, "in jeder Zeit ruft Gott jeden
Menschen an: >Wo bist Du in Deiner Welt? So viele Jahre und
Tage von den Dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist
Du derweil in Deiner Welt gekommen?< So etwa spricht Gott:
>Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?<"
Als der Oberste die Zahl seiner Lebensjahre nennen hörte,
raffte er sich zusammen, legte dem Raw die Hand auf die
Schulter und rief: "Bravo!"
Aber sein Herz flatterte
Buber führt dazu u.a. aus: "Auf die sachliche Frage, die, mag
sie hier auch ehrlich gemeint sein, doch im Grunde keine echte
Frage, sondern nur eine Form der Kontroverse ist, wird eine
persönliche Antwort erteilt, oder vielmehr, statt einer Antwort
erfolgt eine persönliche Zurechtweisung".
Nun mag man sich an der "Zurechtweisung" reiben, denn auf
den ersten Blick erscheint eine Zurechtweisung weniger dem
dialogischen Prinzip als eher der Haltung des Obsiegens in der
Kontroverse zu entsprechen. Bedenkt man aber, daß in dieser
Geschichte der Rabbi der Gefangene ist und nimmt die Reaktion
des Hauptmanns als Maßstab für die Beurteilung, so findet man,
daß es in dieser "Zurechtweisung" nicht um ein Obsiegen geht,
sondern daß diese durchdrungen ist von "Weisheit" und
"Weisung" auf den "rechten" Weg - dessen genaue Zielrichtung
wohl nur der so Zurechtgewiesene selbst finden kann. Es geht
also nicht um Zielvorgabe, sondern um die Aufforderung nach
diesem Ziel überhaupt zu suchen.
Gerade in dieser Beschreibung Bubers wird das Elend besonders deutlich, wie heutige Wissenschaft jungen Studenten an
den Universitäten allzuoft entgegentritt. Denn zur
Charakterisierung dieser Studiensituation könnte man Bubers
Beschreibung genau umdrehen: Auf eine persönlich relevante
Frage, die ehrlich gemeint ist, erfolgt eine sachliche Antwort,
die aber im Grunde gar keine echte Antwort enthält, sondern oft
nur eine Zurechtweisung (hier nun aber im Dienste der
Angstabwehr) ist - besonders dann, wenn die gestellte Frage
droht, die Regeln der Logik und Methodik oder die Grenzen der
Fachdisziplin (oder gar nur die des Professors) zu überschreiten.
In einer solchen Studiensituation sind die Ziele dann durch die
Koryphäen des Faches meist längst vorgegeben; Suchen
erscheint oft unerwünscht und wird als ein Zeichen von
Unsicherheit und Inkompetenz diskreditiert, während die
möglichst perfekte Reproduktion der mit den Zielen kompatiblen Ergebnisse mit guten Noten belohnt wird. Daß eine solche
Studiensituation den Dialog nicht fördert, liegt auf der Hand.
Für Psychotherapie hingegen ist die beschriebene Begegnung
im Gefängnis typisch (wenn auch bei Buber idealtypisch
verdichtet): Der Therapeut will von seinem Gegenüber mit
seinen "Fragen" selten etwas wissen, was er nicht weiß - und
selbst dann nicht aus bloßer Neugier oder um jenen etwas
abzufragen - sondern er will, um nochmals Buber zu zitieren,
"im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche
Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, daß sie den Menschen ins
Herz trifft, daß sich der Mensch von ihr ins Herz treffen läßt."
Mit diesen Ausführungen sollte keineswegs die pragmatische
gegen die semantische Sinnhaftigkeit ausgespielt werden gewöhnlich sind beide Aspekte in Zeichenprozessen von
Bedeutung. Entgegen der Einseitigkeit in weiten Bereichen der
Wissenschaft, mit der die logisch-semantische Funktion von
Sprache propagiert wird, sollte hier auf die Perspektive
fokussiert werden, daß Sprache eben auch als eine Umgebung
verstanden und gebraucht werden kann - begleitend und
gestaltend - in der Menschen Erfahrungen machen.
Im Rahmen von Wissenschaft finden wir diesen Aspekt noch
am ehesten in den empirischen bzw. experimentellen
Grundlagen eines Faches vermittelt: So und so müsse man
vorgehen, um eine bestimmte Erfahrung zu machen. Wie aber
bereits am Beispiel von Bacon und Descartes gezeigt wurde,
führt diese Vermittlung von spezifischen Bedingungen für
bestimmte Erfahrungen auf lebensfeindliche Abwege, wenn sie
nicht zugleich vom dialogischen Prinzip getragen wird. Unter
den Bedingungen der Angstabwehr verkommt ein
Methodenkanon zudem oft zu dogmatischen Abgrenzungen des
Erlaubten, statt Möglichkeiten dafür bereitzustellen,
Erfahrungsräume zu vergrößern, d.h. die Methoden dienen
dann eher dazu, Erfahrungen auszugrenzen oder gar zu
verhindern - besonders, wenn sie das gerade herrschende Weltbild des Faches in Frage stellen könnten.
Im Hinblick auf eine lebensgerechtere Wissenschaft möchte
ich vorschlagen, die therapeutische Leitfrage: "Wie mag es
jemandem gehen, der das sagt, was er sagt?" auch für
wissenschaftliche Kommunikation, etwas abgewandelt, zu
verwenden und zu fragen: "Was mag jemand wirklich meinen welche Erfahrung will er transportieren, was beschäftigt ihn,
welche Grundfragen leiten ihn - der das sagt, was er sagt?" Das
würde bedeuten, bei der Aufnahme der Information weniger
sofort nach Schwächen und Gegenargumenten zu suchen,
sondern danach, was sich mit den eigenen Erfahrungen und
Sichtweisen zu neuen Bildern kombinieren läßt.
Dies ist keineswegs ein Plädoyer für "unkritische"
Wissenschaft, in der Unklarheiten sich beliebig vermehren, wie
es auf den ersten Blick scheinen könnte. Vielmehr werden Inhalte hinsichtlich ihres Beitrages zum gemeinsamen Verständnis
von "Lebenswelt" (oder eines Ausschnittes daraus) hinterfragt
und können geklärt bzw. modifiziert werden. Ideen müssen sich
dann nicht primär gegen andere behaupten oder in destruktive
Konkurrenz zu diesen treten, sondern können (in konstruktiver
Konkurrenz) miteinander kombiniert zu komplexeren und
tieferen Einsichten führen.
Moderne Wissenschaft und Wissenschafts-Mythen
Gerade für die Erforschung und Beurteilung von
Psychotherapieverfahren ergibt sich hier ein sehr wesentliches
Problem. Denn bei diesem Gegenstandsbereich kann nicht die
strenge, reduktionistische Laborforschung zum Tragen kommen,
in der durch geschickte experimentelle Anordnung (oder durch
statistische Aufbereitung) fast alle bis auf wenige Variablen
kontrolliert werden können. Zumindest solange noch nicht
geklonte Therapeuten an geklonten Patienten eine streng
manualisierte Vorgehensweise vollstrecken, ist das Modell der
Pharma-Forschung mit beliebig reproduzierbaren reinen
Substanzen bzw. Substanzkombinationen eine der vielen irreführenden Fiktionen (weitere s.u.). Wenn wir aber die gegebene
Komplexität akzeptieren, können wir uns nicht den neuen
Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften und
Mathematik in Hinblick auf solche komplexen Systeme
verschließen. Hier hat sich nämlich in den letzten drei
Jahrzehnten ein radikaler Wandel im Verständnis des
wissenschaftlichen Vorgehens - einschließlich der Grenzen und
Möglichkeiten - vollzogen, die viele scheinbar gesicherte
Erkenntnisse über “allgemeingültige” Prinzipien
wissenschaftlicher Methodik ins Reich der Mythen verbannte.
Leider ist dieser gravierende methodologische und
methodische Wandel in den modernen Naturwissenschaften von
der Psychologie noch zu wenig zur Kenntnis genommen
worden. Obwohl die inhaltlichen Forschungsergebnisse und richtungen zunehmend die komplexe Vernetztheit auch des
psychologischen Gegenstandsbereiches - und hier durchaus auch
der klinischen Psychologie - untermauern: Sei es die
Berücksichtigung der Vernetzung von Neuronal-, Humoral- und
Immunsystem, die Beziehungen von kognitiven Bewertungen,
Stress und vielen Körperparametern, die Rückkopplungen
zwischen individuellen Bewertungsstrukturen und sozialen
Interaktionsmustern und so fort.
Angesichts des Entwicklungsstandes in den
Naturwissenschaften gerade im Hinblick auf solche komplexen
Systeme ist es bestürzend, wie sich in der klinischen
Psychologie noch zahlreiche Vorstellungen halten können,
denen zwar die wissenschaftlich Grundlage inzwischen entzogen
ist, die aber als wirksame Mythen die Debatte immer noch
beherrschen. Ich möchte einige dieser zentralen (teilweise
miteinander verwobenen) Mythen kurz aufzählen (wobei ich
manche Phänomene hier nur anführe ...
1.) Objektivitäts-Mythos: Dieser wurde bereits kurz angeführt
und beinhaltet den Glauben, man könne Fakten und “die Welt”
so erkennen, wie sie “wirklich” sind. Statt dessen kommen wir
nicht umhin, im Rekurs auf die Gemeinschaft (auch: die
scientific community) uns der Verantwortung für unsere
Entscheidungen zu stellen. Um es mit Heisenberg zu sagen:
“Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in
unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich
eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein
Bild unserer Beziehung zur Natur.” Wir müssen uns somit z.B.
der Diskussion stellen, welche Beziehung wir zu Phänomenen
wie “Krankheit”, “Gesundheit”, “Heilung”. “Therapie” etc.
haben - und können diese Fragen nicht über die Wahl von
statistischen Parametern oder Items entscheiden (sondern nach
den Entscheidungen dann die Parameter und Items entsprechend
entwickeln). Der Anspruch in der Psychotherapie-Debatte, man
wolle “objektiv feststellen”, was “tatsächlich” wirke, steht
jedenfalls im Kontrast zur Bescheidenheit der modernen Physik.
2.) Analyse-Mythos: Der Glaube, daß durch analytische
Zerlegung, Erforschung der Teile und dann wieder deren
synthetische Zusammenfügung, in jedem Fall ein Ganzes
untersucht werden kann, hat sich als Trugschluß erwiesen (und
damit auch die unbedingte Suche nach “Wirkfaktoren”).
Vielmehr haben Phänomene, wie die Emergenz, gezeigt, daß
Systeme wesentliche Eigenschaften aufweisen können, die nicht
aus den Teilen erklärbar sind (was z.B. auch schon die
Gestaltpsychologie betonte). Nur wenn Teile artifiziell
rückkopplungsfrei gehalten werden können, lassen sich diese
nicht-linearen Einflüsse vermeiden.
3.) Homogenitäts-Mythos: Nicht nur, daß die o.a. Frage “ist
Therapierichtung A wirksam..?” einen Pharma-Mythos über die
Homogenität therapeutischen Handelns seitens einer bestimmten
Richtung “A” voraussetzt; wesentlich neu kam mit der
Systemtheorie die Erkenntnis, daß die nicht-linearen
Rückkopplungen (typischerweise) zu qualitativen Sprüngen
führen können. Das klassische Prinzip “natura non facit saltus”
(die Natur mache keine Sprünge), das im Kleinen schon durch
die Quantenmechanik widerlegt wurde, hat sich nun allgemein
als Trugschluß erwiesen. Ursache-Wirkungs-Verläufe sind
damit ebenfalls keineswegs homogen (größere Ursachen führen
keineswegs immer zu größeren Wirkungen). Die “Geschichte”
selbst einfacher physikalischer und chemischer Systeme muß
wesentlich berücksichtigt werden (was in der Therapie z.B.
gegen Manuale sprechen würde).
4.) Design-Mythos: “Verum et factum conventur” (Wahr sein
und Hergestellt sein ist dasselbe - das von VICO 1710
eingeführte Verdict, das über Jahrhunderte das credo
abendländischer Wissenschaft war) mußte zugunsten der
Erkenntnis verworfen werden, daß selbstorganisierte Systeme
zwar verändert werden können, aber nur entsprechend den
inhärenten Strukturmöglichkeiten. Wieder müssen
beispielsweise Physiker und Chemiker einfachen, “toten”
Systemen mehr typische Eigenart zugestehen, die sich jeder
designhaften Veränderung widersetzt, und die es durch
Umgebungsbedingungen zu fördern (und nicht “herzustellen”)
gilt, als der behavioristische Mainstream noch vor kurzem dem
Menschen theoretisch zubilligen wollte. Nebenbei: auch in
diesem Aspekt liegt nochmals begründet, daß sich Therapeuten
“der Richtung A” nicht designhaft ausbilden lassen: Selbst
weitgehend sklavisch Manuale vollstreckende Therapeuten
wären immer noch Menschen mit spezifischen Eigenarten. Und
nachdem selbst die VT die Bedeutung der therapeutischen
Beziehung betont, kommen hier andere Aspekte mit auf den
Plan, die den Therapieverlauf beeinflussen, als es im Manual
vorherbestimmbar wäre (jedenfalls ist mit “Beziehung” gerade
nicht eine “technische Vollstreckung” thematisiert).
5.) Genauigkeits-Mythos: Der Glaube, daß man nur genau
genug messen müsse - oder genügend detaillierte Kenntnisse
besitzen - um etwas genau vorhersagen zu können, ist tief in der
klassischen Wissenschaft verbreitet gewesen. Mit dem
Homogenitätsmythos zusammen bildete dies die Grundlage des
Erfolges der Differentialrechnung in vielen technischen
Anwendungsbereichen: Noch so komplizierte Verläufe lassen
sich demnach letztlich, bei immer kleiner (genauer) werdenden
Teilstücken durch gradlinige Übergänge annähern. Doch auch
diese Ansicht hat sich - in dieser Allgemeinheit - durch die
moderne Forschung als Mythos erwiesen: Bei rückgekoppelten
Systemen ist mit fraktalen Verläufen zu rechnen - was faktisch
bedeutet, daß auch eine immer weiter vorangetriebene
Auflösung nur jeweils neue “Kompliziertheiten” zutage fördert.
Selbst sehr einfache, von jedem Mittelschüler für wenige
Schritte ausrechenbare Gleichungen, können im weiteren
Verlauf unberechenbar werden (“determinstisches Chaos”).
Auch diese Eigenschaften sind für lebende Systeme eher typisch
- d.h. ihre Bedeutsamkeit und Wirksamkeit kann nur über
artifizielle Ausklammerung der Rückkopplungen begrenzt
werden.
6.) Kausalitäts-Mythos: Natürlich wollen und sollen
Therapeuten (wie auch Systemwissenschaftler) etwa bewirken -
Kausalität ist also nicht einfach “aufgehoben”. Allerdings mußte
die klassische Vorstellung von Kausalität wesentlich modifiziert
werden: Wie bereits genannt, können, je nach spezifischer
Geschichte des Systems, kleine Ursachen zu großen Wirkungen
führen (und umgekehrt), qualitative Sprünge können auftreten
und Ordnung muß z.B. nicht dadurch hergestellt werden, daß
Ordnung eingeführt wird, sondern daß (recht unspezifische)
Umgebungsbedingungen gewährleistet werden, unter denen ein
System seine inhärente Ordnung selbst realisiert. “Aufgehoben”
ist also das Primat von lokaler Kausalität - die z.B. zur
Anwendung kommt, wenn man eine verbeulte Blechbüchse
wieder ausbeulen will. Bei einem Wasserfall aber läßt sich eine
unerwünschte Kaskaden-Struktur ebenso wenig lokal “ausbeulen”, wie eine Kerzenflamme (im Gegensatz zum Stummel)
einem Design in Form eines Osterhasen angepaßt werden kann.
Genau dies eben sind die Unterschiede zwischen dynamischen
und statischen Systemstrukturen. Prozesse des Lebens einschließlich biologischer, medizinischer, psychischer und
interaktioneller Aspekte - sind aber nur als dynamische Systeme
angemessen zu beschreiben. Die Leitideen von BlechbüchsenInterventionen als Reparatur einer Krankheit lassen sich nur
unter extrem restringierten Bedingungen verwirklichen.
Es gibt noch einige weitere überkommene Vorstellungen über
das, was “wissenschaftlich” heißt - Vorstellungen, die zwar die
Debatte um die Psychotherapieverfahren mit dem Anspruch von
“naturwissenschaftlichen” Ideale durchgeistern, die aber von
den heutigen Naturwissenschaftlern und
Wissenschaftstheoretikern längst revidiert worden sind. Bereits
aus den aufgeführten Aspekten aber folgt, daß wir methodisch
wie methodologisch sehr viel vorsichtiger in den Aussagen über
Ergebnisse und Effekte sein müssen, als es manche vollmundige
Behauptungen mit Verweis auf gesammelte Signifikanzsterne
wahrhaben wollen.
Ich weiß, daß manche Gesundheitspolitiker und Vertreter der
Krankenkassen uns zu einfachen Antworten auf ihre Fragen
drängen. Es scheint am Zeitgeist zu liegen, daß angesichts einer
immer komplexer werdenden Welt besonders die
reduktionistischen, klaren, ohne von Bedenklichkeiten
eingeschränkten Wahrheiten und Lösungen gesucht werden. Ob
etwas “so oder aber so ist”, muß demnach “ohne wenn und
aber” entschieden werden. Versucht man hingegen, der
Komplexität nur etwas gerechter zu werden indem man beginnt,
differenzierend zu erklären, “das hängt davon ab, wie...”, so
steht man schon im Geruch, nicht “genügend zu wissen” um die
Frage “ein für allemal endgültig klar zu beantworten.” So
wenig, wie die Physiker dazu gedrängt werden können, nun endlich einmal klar zu entscheiden, ob Licht denn nun “wirklich
Welle oder Teilchen ist”, sollten wir uns drängen lassen zu
entscheiden, ob Verhaltenstherapie nun wirklich besser als
Gesprächspsychotherapie ist (selbst wenn es reale Therapeuten
geben sollte, die als “die” Repräsentanten “der”
Verhaltenstherapie bzw. “der” Gesprächspsychotherapie
anzusehen wären). Vielmehr sollten auch wir uns damit
begnügen, daß je nach den Umständen unterschiedliche
Therapeuten unterschiedlich vorgehen werden - Umstände, zu
denen die Geschichte, einschließlich der Vorlieben und
Befürchtungen, der Patienten, deren soziale, kulturelle,
materielle und berufliche Eingebundenheiten, die bisherige
Krankheitsentwicklung, die Persönlichkeit und Geschichte mit
den spezifischen Vorlieben, Fähigkeiten und persönlichen
Grenzen des Therapeuten gehören (um nur wenige Aspekte zu
nennen). Worum es eher gehen sollte, ist, wie sicher gestellt
werden kann, daß diese unterschiedlichen Therapeuten in
unterschiedlichen Richtungen jeweils eine gute Ausbildung
haben, die ihnen verantwortliches und kompetentes Handeln
ermöglicht.
Nimmt man beispielsweise einige der o.a. Aspekte, so wird
man finden, daß die Berücksichtigung dieser Prinzipien
moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis recht typisch ist
für das, was humanistische Psychologie - also z.B. Gestalt- und
Gesprächspsychotherapie - wesentlich ausmacht. Es sei
gleichzeitig daran erinnert, daß noch vor nicht allzu langer Zeit
diese Prinzipien moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis
von manchem Psychologen als “schwärmerisch” belächelt und
als eher “unwissenschaftlich” diffamiert wurden. Auch die
Gesprächspsychotherapie wird heute im Kreise der kompetenten
Wissenschaftler im Bereich klinischer Psychologie und
Psychotherapie zwar als wissenschaftlich fundiert angesehen aber leider nicht etwa deshalb, weil sie diese Prinzipien in
hohem Maße umsetzt und sehr differenzierte Konzepte dazu
entwickelt hat, sonder vor allem deshalb, weil sie zusätzlich
auch noch mit den klassischen Methoden genügend
Signifkanzsterne zusammengesammelt hat ...
Es ist allerdings ein Problem, daß Psychotherapien, die eher
solchen systemtheoretischen Konzepten folgen - wie z.B. die
Gesprächspsychotherapie oder die Familientherapie - gemessen
am Alltagsverständnis, keine “einfachen” Konzepte sind. Ich
habe kürzlich (Kriz 1998b) in anderem Zusammenhang auf die
Schwierigkeiten hingewiesen, die sich unserer Sprach- und
Denkstruktur angesichts vieler wesentlicher Erkenntnisse dieses
Jahrhunderts stellen: Typisch für eine systemische
Betrachtungsweise ist nämlich im Wesentlichen prozeßhaftes
Geschehen statt verdinglichter Objekte, Rückkopplung und
Nicht-Linearität in diesen Prozeßverläufen sowie ein nichtlokales Verständnis von Kausalität. Unsere abendländische
Sprache (genauer: SAE, d.h. standard average european) ist
hingegen typisch verdinglicht und a-prozessual, bringt somit
Objekte und Relationen zwischen ihnen ”zur Sprache”, und
vermittelt lokale Kausalitäten -und dies liegt eben auch den
Metaphern zugrunde, mit denen wir wesentlich die Welt
begreifen. Die “Absurditäten”, “Widersprüche”,
“Ungereimtheiten” moderner Physik lassen sich daher eben
nicht angemessen in üblicher Sprache vermitteln sondern nur
durch abstrakte mathematische Formalismen - vor deren
Beurteilung sich Laien ehrfurchtsvoll zurückhalten.
Im Bereich der klinischen Psychologie und Psychotherapie
sind allerdings solche Formalismen in hohem Maße unüblich.
Wie sollen aber z.B. einem Krankenkassenvertreter, der sich auf
seinen “gesunden Menschenverstand” beruft, vermittelt werden,
daß manche Therapiekonzepte auch dann (oder: gerade dann)
“wissenschaftlich fundiert” und hoch “wirksam” sein können,
wenn sie den üblichen Ursache-Wirkungs-Prinzipien, Aufteilung
in abhängige und unabhängige Variablen etc. nicht in jedem Fall
folgen. Am Beispiel der Gesprächspsychotherapie hat sich
leider gezeigt, daß tausende erfolgreich behandelter Patienten
(was sich ja anhand der Krankenakten verifizieren läßt) sowie
viele auch mit “klassischen” Designs erbrachte
Wirksamkeitsstudien manche Kassenvertreter in ihrer Skepsis
gegenüber einem so komplexen Konzept wie der “Aktualisierungstendenz” nicht überzeugen konnte. Da das Wissen aus der
interdisziplinären Systemforschung nur ganz langsam in die
Allgemeinbildung diffundiert, wird dieses Sprach- und Denk(und Metaphern-)Problem noch eine erhebliche Zeit
grundsätzlich bestehen bleiben - auch wenn erfreulicherweise
mit dem neuen Gesetz endlich nur Wissenschaftler über “die
Wissenschaftlichkeit” befinden werden.
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