Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld)

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1
Klaus-Michael Bogdal
Auf der Suche nach Identität. Deutsche Intellektuelle und deutsche Literatur nach der
Wiedervereinigung
I.
Als der neue Bundespräsident Horst Köhler vor einiger Zeit verlauten ließ, dass er davon
ausgehe, dass die Lebensverhältnisse in Deutschland noch auf lange Zeit hinaus sehr
unterschiedlich seien würden, war die Empörung vor allem im wirtschaftlich rückständigen
und sozial schwachen Osten groß. Köhler, von Hause aus Finanz- und Währungsspezialist,
hatte in erster Linie die materiellen Lebensverhältnisse im Blick. Dass die Menschen in Ost
und West sich selbst seit den siebziger Jahren zunehmend über ihre sozio-kulturellen
Verhältnisse wahrnehmen und ihr Leben ganz individuell und frei von z.B. geographischen
Zuordnungen (Stadt-Land, Ost-West, Nord-Süd) entwerfen, war ihm ebenso entgangen wie
die (alltags-)kulturelle Orientierungssuche in Deutschland nach der Vereinigung. Was Politik
und Literatur und Kunst versäumt haben, die Verständigung über eine gemeinsame
Identitätsangebote,
übernehmen
auf
sehr
problematische
Weise
inzwischen
die
Massenmedien. In elektronischen Volksabstimmungen entscheiden sie über die „die zehn
besten Deutschen“, die besten Lieder, die besten Bücher und lassen in aufwändigen Ost-WestFernsehshows die fünfziger, die sechziger, die siebziger, die achtziger Jahre Revue passieren.
Diese Erinnerungen blenden meist negative Erfahrungen aus. Not, Leid, Unterdrückung,
Umweltzerstörung, Gewalt usw. sind nicht sehr unterhaltsam. Lieder, Spielzeug,
Eßgewohnheiten, Mode, Sportrekorde u.ä. lassen das Gefühl von Gemeinsamkeit
aufkommen. Dieses vage, in eine diffuse Vergangenheit projizierte Gefühl hält jedoch keiner
Realitätsprobe statt, wie Reaktion auf die Äußerungen des Bundespräsidenten gezeigt haben.
Neben ereignisbedingten Faktoren, die ein Zusammenwachsen des ehemals geteilten
Landes in sehr vielen Bereichen behindern bzw. verhindern, gibt es im kulturellen bzw.
literarischen Bereich, auf den ich beschränken werde, Entwicklungen ‚längerer Dauer’, die
schon in den siebziger Jahren begonnen haben und erst jetzt in ihren Auswirkungen sichtbar
werden. Vier Punkte möchte ich hervorheben:
- die Folgen der Individualisierung in allen Lebensbereichen und der damit sinkende ‚Bedarf’
an universalisierenden Intellektuellen,
- der Verlust einer hegemonialen Kultur des sogenannten Bildungsbürgertums und die
Aufspaltung in sozio-kulturelle Milieus, die ihre eigenen Leitfiguren hervorbringen, die
wiederum für die anderen Milieus nicht akzeptabel sind,
2
- der Rückzug (oder das Versagen) der kritischen Intellektuellen und ihre Ersetzung durch
Experten
- die Fragmentarisierung des Intellektuellenmilieus.
Vor fünfzehn Jahren wäre es noch einfacher gewesen, über deutsche Kultur zu
berichten - nicht nur wegen der Teilung des Landes. Grenzen und Frontlinien ließen sich gut
ausmachen. Man kann das an Enzensbergers Essays aus den Achtzigern nachprüfen. 1 Titel
wie „Über die Ignoranz“, „Lob des Analphabetentums“, „Der Triumph der Bildzeitung“, „Das
Nullmedium“ signalisieren: Die Probleme hatten die Anderen. Über ihnen stand der
Intellektuelle - der Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Künstler - ein scharfsinniger,
kritischer, unabhängiger Beobachter und Ratgeber für eine bessere Zukunft, durch den
Nonkonformismus
der
Adenauerära
gereift,
Achtundsechzig
gestählt
und
durch
Neunundachtzig noch nicht desavouiert, von anerkannter moralischer und sprachlicher
Autorität und zufriedenstellender Medienpräsenz.
Von all dem ist nach den Debatten um Christa Wolf, Grass, Walser und Habermas/Sloterdijk
wenig geblieben. In den neunziger Jahren scheint sich ein Wandel vollzogen, ja ein Bruch
ereignet zu haben.
Die Folgen des Wandels für die Literatur lassen sich noch nicht abschätzen, doch ist ein
wachsendes Unbehagen zu verspüren. Die Veränderung wird, wie jüngst von Norbert
Niemann in der ZEIT unter dem Titel „Bölls Vermächtnis. Warum man den wunderbaren
Moralapostel der Nation dringend wieder lesen sollte“2, als Verlust eines für die Literatur
wesentlichen Antriebs beklagt. Wie sieht es also mit der Selbstwahrnehmung der
Intellektuellen in Deutschland aus?
Sie steht noch ganz im Bann des Wandels, der als Verlust und Abstieg, und im Blick auf
die Probleme der Gegenwart, als Versagen erfahren wird.
Vom „Elend der Eliten“3 ist die Rede. Die einst wegen ihrer Scharfsinnigkeit Bewunderten
werden als „Volksankläger mit ihren Bocksgesängen“4 verspottet, die „zur wahrhaft
klagenden
Klasse“5
abgestiegen
seien.
Michael
Naumann,
vor
kurzem
noch
Vorzeigeintellektueller im Ministerrang nach französischem Vorbild, vermisst die VorDenker, jene, die im Unterschied zu den abgedankten Intellektuellen der Nachkriegsepoche
1
Enzensberger 1988
Niemann 2003.
3
Hofmann 2002, S.3.
4
Ebd.
5
Ebd.
2
3
den Wandel begreifen. „Das Neue ist immer noch unheimlich in Deutschland.“ 6 Dem neuen,
vereinigten Deutschland fehle ein wichtiges Moment, die intellektuelle Prägekraft, die
Fähigkeit, den Horizont des Gegebenen zu überschreiten. „Die Intellektuellen wissen es nicht
mehr: Sie haben den Mut zur politischen Fantasie verloren. (...) Utopien, das alte
Lieblingsspielzeug der Intellektuellen, verrosten sang- und klanglos in der Abstellkammer des
Weltgeistes.“7 Das alles ist mir als Diagnose zu wenig und zu stark an einer uns heroisch
erscheinenden Vergangenheit ausgerichtet.
Um den Bruch im intellektuellen Leben in Deutschland hinreichend erklären zu können,
müssten wir uns dem Phänomen von mehreren Seiten nähern und zunächst zwischen der
Rolle der kritischen Intellektuellen im Allgemeinen und der Rolle des Schriftstellers als
Prototyp des gesellschaftlich engagierten, moralisch autorisierten, einen geistigen Gegenpol
zur Macht bildenden Intellektuellen unterscheiden.
So spannend es wäre, über die Rolle der kritischen Intellektuellen wie Habermas zu sprechen,
möchte ich mich, um in der Zeit zu bleiben, auf die Schriftsteller konzentrieren.
II.
1.) Seit Zolas Intervention, die ein antisemitisch grundiertes Justizverbrechen in die „Affäre
Dreyfus“ umzudeuten wusste, setzen sich Schriftsteller an Hand eines Einzelfalls
benachteiligter, verfolgter, bedrohter Personen für universelle Werte ein. Ihr Szenario ist die
Krise8, die sie - gegen gesellschaftliche Lethargie, Ängste oder Vorurteile - in ihrer Deutung
mit der Wahrheitsfrage verbinden und zu einer Entweder-Oder-Entscheidungssituation
zuspitzen. Auf diese Weise gelingt es ihnen für einen wichtigen Augenblick die
Deutungshoheit zu gewinnen und über eine allgemeine Zustimmung ihr Ziel zu erreichen.
Persönlichkeiten wie Heinrich Böll (und in der Frühphase der Bundesrepublik nicht zu
vergessen Albert Schweitzer) haben durch ihr erfolgreiches Wirken als Warner und Mahner
so etwas wie die Macht der Machtlosen ins Spiel gebracht, die meist auch Thema ihres
literarischen Werks war. Ein ruhmloses Ende dieser Tradition wurde sicher mit Walsers
Paulskirchenrede erreicht. In Erinnerung ist seitdem seine Abrechnung mit den die
Moralkeule schwingenden „Meinungssoldaten“, vergessen die ‘klassische’ Intervention
6
Naumann 2002.
Assheuer 2002, S.43. Vgl. dagegen den Gestus der Pop-Generation: Aus dem Roman „Eine Art Idol“ (2001)
von Marc Fischer: „Eine meine hervorstechendsten Charaktereigenschaften ist die Tatsache, daß ich mich immer
für irgendwelche Ideen begeistern konnte, bloß - auch wenn das den Idealen eines Samurai widerspricht - habe
ich mich leider nie besonders für die engagiert.“ (zit. nach Baßler 2002, S.127.)
8
Vgl. Jäger 2000, S.9.
7
4
Walsers bei den ‘Mächtigen’ für den DDR-Spion Rainer Rupp in den beiden letzten Sätzen.
Davon war nie mehr öffentlich die Rede.
Zu fragen ist, ob sich die deutsche Gesellschaft soweit ‘normalisiert’ hat, dass Interventionen
überflüssig geworden sind?
Diesen Eindruck vermittelt Enzensbergers 1988 erschienener Sammelband „Mittelmaß und
Wahn“, eine an der Dialektik geschulte Phänomenologie des ‘Geistes der alten Bundesrepublik’, die nach seiner Diagnose zu sich selbst gekommen war. Mittelmaß wird - in
Anspielung auf die antike republikanische Tugend des rechten Maßes - als die von der
Mehrheit gewünschte - und hart erarbeitete - Normalität beschrieben. „Diese Gesellschaft ist
mittelmäßig. Mittelmäßig sind ihre Machthaber und ihre Kunstwerke, ihre Repräsentanten
und ihr Geschmack, ihre Freuden, ihre Meinungen, ihre Architektur, ihre Medien, ihre
Ängste, Laster, Leiden und Gebräuche... Diese Einsicht hat etwas Erlösendes.“9
Die ersten Zeichen eines Mentalitätswandels in den Achtzigern werden unter dem Stichwort
Postmoderne als Verstöße gegen das Normalitätsgebot geahndet. Das Erlösungswort
Normalität verstellt den Blick für das Neue. Es bleibt die ambivalente Selbstbeschreibung der
Leistung eines Nachkriegsintellektuellen, der sich nun ‘in der Mitte’ der Gesellschaft
aufgehoben fühlt und die zentrifugalen Bewegungen der Gegenwart ignoriert, wenn er zu dem
Schluss kommt: „Der Mittelweg der Republik hat sich, wenigstens vorläufig, als durchaus
golden erwiesen.“10
2.) Bis in die Achtziger gelten die Schriftsteller als ‘innerer Kreis’ und „als Musterfall eines
‘freischwebenden’ Intellektuellen“.11 Aus welchen Gründen rücken sie in den Neunzigern an
den Rand? Weshalb gelingt es ihnen nicht, den schwindenden Einfluss des ‘Geistigen’ durch
künstlerisch-ästhetische Wirkung zu kompensieren? Wie ist der Zusammenhang mit der
Veränderung der Sozialstruktur und der Differenzierung der Gesellschaft in sozio-kulturelle
Milieus? Weshalb nimmt die Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen Autoren die
traditionelle Rolle nicht mehr an, sondern erprobt neue Formen öffentlicher Präsenz (siehe:
Popliteratur)?
3.) Welche Veränderungen erschweren die spezifische Wahrheitspolitik der Schriftsteller?
Werden das kritische Potential literarischer Sprache und ihr Erkenntniswert nicht mehr wahrgenommen? Versagen geniale Intuition und Beobachtungsgabe vor einer hochkomplexen
9
Enzensberger 1988, S.258.
Enzensberger 1988, S.260.
11
Jäger 2000, S.1.
10
5
Wirklichkeit? Trifft eine Behauptung, wie die von Bohrer immer weniger zu, dass ästhetische
Kritik „ganz neue Facetten eines zu Kritisierenden erst zur Erscheinung bringt“? 12 Wird der
gestiegene gesellschaftliche Erklärungsbedarf erst recht angesichts der mangelhaften
Sachkenntnis der Schriftsteller sichtbar?
4.) Solange die Hochkultur des Bildungsbürgertums - auch noch nach seinem sozialen Zerfall
- eine hegemoniale Rolle spielen konnte, galten große literarische Werke (gewissermaßen) als
(Selbst-)Krönung des Geisteslebens und die Dichter als Repräsentanten der ‘besseren Seite’
der Nation, selbst wenn sie wie Thomas Mann ins Exil vertrieben worden waren. Seit dem
Beginn gesellschaftlicher Modernisierungsschübe in den Sechzigern gibt es keinen Raum
mehr, in dem eine solche Rolle noch ernsthaft gespielt werden könnte.
Ich kann ein erstes Resümee ziehen. Es wäre geschichtsblind, von der Literatur etwas zu
verlangen, wozu sie nicht in der Lage ist. Leitvorstellungen über Deutschland oder auch nur
über eine zukünftige Kultur, wird sie nicht hervorbringen, weil es einen nationalen
Kommunikationsraum nicht mehr gibt und hoffentlich in Europa auch nicht mehr geben wird.
Dennoch bleibt eine wichtige Aufgabe. Durch Arbeit an der Sprache vermag die Literatur
imaginäre
Zeit-Räume
zu
schaffen,
Differenzerfahrungen
auszusprechen
und
die
vermeintliche Stabilität des Vorgefundenen zu unterminieren. Sie vermag sich mit anderen
auf die Suche nach Orientierung und Identität zu begeben. Über fünf Beispiele einer solchen
Suche aus der Zeit nach 1990 möchte berichten. Sie sind bewusst so gewählt, dass drei
unterschiedliche Generationen zu Wort kommen: die Generation der vor dem Krieg
geborenen, die Nachkriegsgeneration und die jungen Autorinnen und Autoren, die erst nach
der Vereinigung mit dem Schreiben begonnen haben.
III.
1.
An den Anfang stelle ich ganz bewusst eine Romantrilogie, die für mich zu den
bedeutendsten Werken der Nachkriegsliteratur zählt, Dieter Fortes „Das Haus auf meinen
Schultern“, wie Johnsons „Jahrestage“ viel zu spät erschienen, um die Tageserfolge der
12
Bohrer 2002, S.48.
6
Sechziger und Siebziger noch in den Schatten stellen zu können und wie diese nun auf eine
schrittweise Entdeckung angewiesen.13
In die Dunkelheit der Vergangenheit einzudringen, die labyrinthischen Wege der ‘Vorfahren’
mit Hilfe eines immer wieder reißenden Fadens ihrer Erinnerungen und Überlieferungen zu
erkunden, ist Fortes Erzählgestus. Man könnte das Verfahren als Anthropologisierung des
Erzählens bezeichnen, die das Erzählte zum einzig Bleibenden erklärt. Zugleich ist ein
chronikalisches Element vorhanden, das zusammen mit dem anthropologisierenden Erzählen
dazu führt, dass die Geschichten und die Geschichte niemals deckungsgleich erscheinen, auch
wenn ihre Zeit identisch ist. Die Erzähldichte der Trilogie variiert außerordentlich. Was noch
im kollektiven Gedächtnis der beiden Familienverbände, über die berichtet wird, bewahrt
wurde, wird bruchstückhaft erzählt und erscheint umso unschärfer, je weiter es zurückliegt.
Legenden, Anekdoten und besondere Ereignisse werden im ersten Band „Das Muster“ in
sechsunddreißig Gedächtnisbildern festgehalten, die einen Zeitraum von ungefähr 800 Jahren
füllen. Der historisch rekonstruierbare 2. Teil der Familiengeschichte, der die Zeit vom
Vormärz bis zur Machtergreifung umfasst, wird nach dem Muster des Familienromans
erzählt. Das persönlich Erinnerbare hingegen, die Zeit der Naziherrschaft, des Weltkriegs und
der unmittelbaren Nachkriegszeit, folgt im 3. Band einem anderen Prinzip. Individuelle
Wahrnehmungen herrschen vor, winzigen Details, die sich eingeprägt haben, wird viel Platz
eingeräumt, Erlebnisse implodieren und scheinen durch die hergestellte Nähe den Erzähler
noch in der Gegenwart zu überwältigen. Auf diese Weise wird - anthropologisch fundiert - der
Prozess der Zivilisation nachgezeichnet, der im 20. Jahrhundert in eine Serie von
Katastrophen mündet, die den Einzelnen überwältigen. Der Erzähler ist kein Sysiphos oder
Atlas, der das ‘Haus’ auf seinen Schultern noch tragen könnte. Die Erzählung führt mitten in
die trojanischen Kriege des 20. Jahrhunderts, denen keine Odyssee oder Äneis mehr folgt. So
erfährt die nicht erzählte Geschichte Nachkriegsdeutschlands dennoch eine Deutung, die sich
radikal von Enzensbergers Bild des ‘goldenen Weges’ unterscheidet. Die Erzählung hält den
Augenblick nach der Katastrophe fest, stellt die Zeit still. Dieser Moment ist der wahre
Nullpunkt der deutschen Geschichte, die Chance zu einem Neuanfang. Da diese Chance aus
der Sicht des Erzählers vertan wird, gelingt es ihm nicht - anders als einem Teil der deutschen
Nachkriegsgesellschaft -, über diesen Punkt hinaus oder hinter ihn zurück zu gehen. Er
„erstarrte“, wie Forte in einem Essay schreibt, „in der vergangenen Zeit (...).“ 14 Dort verharrt
Im Folgenden greife ich auf einzelne Formulierungen aus meinem Aufsatz ‚Erhofftes Wiedersehen. Dieter
Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern, in: G. Helmes u.a. (Hgg.): Literatur und Leben.
Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne, Tübingen 2002, S.304-318’ zurück.
14
Forte 2002, S.29f.
13
7
er und befindet sich erzählend doch in der Gegenwart (eines vereinten Deutschland), dort
verharrt er, um das Vergangene zu vergegenwärtigen. Weil die deutsche Gesellschaft die
„Verwundungen und Verwüstungen“15 nur äußerlich beseitigt habe, befinde sie sich immer
noch am Nullpunkt. „Die ganze Wohlfahrtsgesellschaft macht mir zutiefst Angst, weil ich sie
auf Sand gebaut sehe. Es ist eine Momentaufnahme, die bald wieder anders aussehen wird, sie
erscheint mir wie gemalt.“16 In den neunziger Jahren geschrieben, bedeutet dies eine strikte
Absage an die Geschichte Nachkriegsdeutschlands.
2.
„Wir überleben nicht als die, die wir gewesen sind, sondern als die, die wir geworden sind,
nachdem wir waren“17, heißt es in Martin Walsers autobiographischem Roman „Ein
springender Brunnen“. Walser führt ein Fortes Trilogie entgegengesetztes Erinnerungs- und
Erzählkonzept vor, indem er den Zeitbrüchen, der Geschichte der Katastrophen und
Verbrechen, die Kontinuität der Erinnerung des erzählenden Individuums entgegenstellt. Dies
gelingt durch den Sprung aus der Gegenwart in eine aus ‘Sprache’ geschaffene
Vergangenheit. Die Sprache stellt die frühkindlich erlebte Ganzheit einer dörflichen Welt
wieder her. Das Individuum findet in der Heimat seine Sprache und in der Sprache seine
Heimat und so - als zukünftiger Dichter - zu sich selbst. Auf diese Weise entstehen Bilder und
Geschichten einer unschuldigen Kindheit, die vor der Zerstörung durch eine nachträgliche
Bearbeitung bewahrt werden sollen. Dem Bild der Kindheit entspricht eine ebenso
‘unschuldige’, der Musik verwandte Sprache, die sich den Verführungen der anderen
Sprachen, hier des Nationalsozialismus und der Kirche, zu entziehen weiß. Die
halluzinatorische
Wahrnehmung
des
‘springenden
Brunnens’
-
eine
mythische
Ursprungsphantasie - kündigt die Geburt des Dichters an und bedeutet zugleich die
Selbstrettung aus den unauflösbaren Widersprüchen der erlebten Zeit. Die Sprache löst
Widersprüche und Irritationen zugunsten einer sinnvoll geordneten Welt auf, in der nichts von
Belang fehlt. „Das Dorf war der Inbegriff der Menschheit.“18 Die Ganzheit wird im Roman
als Einheit von Topographie, Menschen und Sprache imaginiert. So kennzeichnet die
Nichtbeherrschung des Dialekts die Nationalsozialisten als Außenstehende. Vor allem
heimatliche Produkte wie die leitmotivisch immer wieder auftauchenden Äpfel (und ihre
Eigennamen)
15
verbinden,
Forte 2002, S.42.
Forte 2002, S.54.
17
Walser 1998, S.15.
18
Walser 1998, S.323.
16
Landschaft,
Menschen
und
Sprache.
Die
Kindheit
im
8
Nationalsozialismus ist zwar kein wiedergefundenes Paradies, doch für Walser ganz
existentialontologisch (hier wiederum im Gegensatz zur historischen Anthropologie/Archäologie Fortes) das in den Tiefen der Erinnerung durch ‚Seelen-’ und Spracharbeit
freigelegte und ‘gefühlte’ ‘wahre Sein’, das nicht durch historische Reflexion und historisches
Wissen wieder verschüttet werden darf. „Man erfährt nur zu genau, welche Art von
Vergangenheit man gehabt haben soll, wenn man in der gerade herrschenden Gegenwart gut
wegkommen will.“19 Obwohl dieses Konzept emphatisch für den Einzelnen und sein
Gewissen entworfen wird, verallgemeinert Walser umstandslos und häufig: „Als das war, von
dem wir jetzt sagen, daß es gewesen sei, haben wir nicht gewußt, daß es ist. Jetzt sagen wir,
daß es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wußten, was wir
jetzt sagen.“20 Die demonstrative Rückkehr zu den Verdrängungsmechanismen der
Restaurationszeit, die im Roman durch häufiges Einstreuen von Sentenzen („Man kann nicht
leben und gleichzeitig etwas darüber wissen"21) untermauert wird, muss zu einem Zeitpunkt
verwundern, zu dem die Generation der damals Erwachsenen nun nahezu vollständig
abgetreten ist. Deshalb lese ich das Erinnerungs- und Erzählkonzept weniger als Revision der
Vergangenheitsbewältigung, sondern als Umriss einer (gar nicht so) neuen, von
aufklärerischem Wissen befreiten Intellektuellenposition. Walsers Haltung ist an diesem
Punkt konsequent auf die Gegenwart bezogen, in der wir dann ebenfalls nicht gleichzeitig
leben und etwas über sie wissen können. Was uns bleibt, hat Walser in den Gesprächen mit
Bubis und vor allem mit Schröder vorgeführt: „ein Geschichtsgefühl“ (Walser), das in den
„Tausenden Briefen“, von denen er gerne spricht, sein Echo findet.
Aus einiger Distanz betrachtet, ähnelt die neue Position erschreckend der von Gerhard
Schulze in seiner kultursoziologischen Studie „Die Erlebnisgesellschaft“22 beschriebenen
Mentalität des Harmonie- und des Integrationsmilieus, deren Abgründe Walser in seinen
frühen Werken so trefflich ausgelotet hatte: deren Präferenz für Gemütlichkeit,
Kontemplation, Harmonie und Perfektion, deren Streben nach Geborgenheit und Konformität,
nach Einfachheit und Ordnung. Man findet also auch hier eine Apologie des Mittelmaßes wie
bei Enzensberger, jedoch ohne dessen selbstironische Distanz und Neugierde auf Anderes und
Fremdes.
3.
19
Walser 1998, S.282.
Walser 1998, S.9.
21
Walser 1998, S.124.
22
Schulze 1993.
20
9
Im ‚Harmoniemilieu’ spielt auch Ulla Hahns Roman „Das verborgene Wort“. Der Schauplatz
ist sicher nicht zufällig das Rheinland. Bonn, die alte Hauptstadt ist nicht weit. Erzählt wird wie bei Forte und Walser vor autobiographischem Hintergrund - die Geschichte eines
Mädchens aus der Unterschicht, dem es gegen den manchmal gewalttätigen Widerstand ihrer
Umwelt in den fünfziger und sechziger Jahren durch die Entdeckung der Literatur und durch
Bildungshunger gelingt, die Eingangstür zur Welt der Intellektuellen zu öffnen. In einer
Schlüsselszene aus der Grundschulzeit, als die Mutter bei der Tochter ein ihr unbekanntes
Buch entdeckt, dass sie „mit spitzen Fingern wie irgendetwas Vergiftetes, Verdrecktes,
Ekliges haltend,“ so grob traktiert, „daß die Seiten im Luftzug knatterten und aus dem Leim
zu gehen drohten“23, schreit diese, „Mama, (...) so darfs de doch keen Boch anpacke (...), dat
Booch, du mähs dat Booch ja janz kapott.“24 Die Hinwendung zur Literatur und zu den
Schönheiten ihrer Sprache entfremdet vom Herkunftsmilieu: „Du jlövs wol jitz och, dat de jet
Besseres bes!“25 Das Ablegen des Dialekts, in den Fünfzigern noch Grundvoraussetzung für
eine höhere Bildung - „Das ist richtig, sagte ich. Ach, nä, äffte er. Dat es reschtesch, un wie
mer kalle, dat es nit reschtesch.“26 - führt zum Verlust kollektiver Identität, der jedoch durch
einen Gewinn an Individualität und Lebensalternativen kompensiert wird. Mit Lessing, Kleist,
Droste, Heine, einem Brockhaus und immer wieder mit Friedrich Schiller - „Schiller, das war
ich selbst: ‘Der Mensch ist frei und würd’ er in Ketten geboren’“27 - gelingt die Befreiung aus
der sozialen und geistigen Enge. Die Erzählerin schreckt, wenn es um die Bedeutung der
Kultur geht, auch nicht vor Übertreibungen zurück, so wenn sich die Protagonisten eine
Abschrift von Rilkes „Panther“ in die Pumps legt, wenn sie zur Arbeit ins Büro geht. Die
Geschichte ihrer Emanzipation erweist sich als eine Aufstiegssaga der Bundesrepublik in
einem doppelten Sinn: sozial und geschlechtsspezifisch. Die Macht über das - zu Anfang
verborgene - Wort befreit, verleiht kommunikative Kompetenz, würden wir heute sagen. Mit
der Literatur erwirbt man in den damaligen Zeiten noch symbolisches Kapital. Die
Protagonistin kann nun an jenem Gebilde arbeiten, das Ulrich Beck die „individualisierte
Gesellschaft“ genannt hat.
Obwohl in den Neunzigern geschrieben, kommen die Romane von Forte, Walser und Hahn
nicht in der Gegenwart an. Ich meine damit nicht den Plot oder die Zeit, über die erzählt wird,
sondern die Mentalität und das Selbstverständnis, aus denen heraus sie entstanden sind. Sie
23
Hahn 2001, S.74.
Hahn 2001, S.74f.
25
Hahn 2001, S.85.
26
Hahn 2001, S.175.
27
Hahn 2001, S.300.
24
10
zeigen - bei allen Unterschieden - Bilder eines mehrfach vergangenen Landes, in die sie sich
nachträglich einzeichnen. Damit setzen sie sich und dem Land ein Denkmal. Das Neue
entdecken sie nicht.
4.
Für die beiden Autoren, über die ich nun sprechen werden, Feridun Zaimoglu und Christian
Kracht, der eine 1964 in der Türkei, der andere 1966 in der Schweiz geboren, ist das
Deutschland Fortes, Walsers und Hahns ferne Vergangenheit.
Zaimoglu erzählt in seinem erst vor ein paar Wochen erschienenen Roman unter dem - nach
den Ereignissen von Erfurt sensationsheischenden - Titel „German Amok“ aus der
Perspektive eines Ich-Erzählers „mundschänderisch“28, wie er an einer Stelle schreibt, einige
Episode aus dem Leben eines Malers. Dieser bleibt im großstädtischen Kunstbetrieb mit
seinen wechselnden Moden, seinen Zwängen zur exzentrischen Selbstdarstellung und zum
gnadenlosen Konkurrenzverhalten erfolglos und muss deshalb von Gelegenheitsarbeiten
leben: z.B. als Schächter im Schlachthaus und als Bühnenbildner für eine freie Theater- und
Therapiegruppe, die im Osten von den Segnungen des Solidaritätsbeitrags profitiert. Zu einem
zynischen und bindungsunfähigen Beobachter und Selbstbeobachter geworden, baut er
allmählich eine emotionale Beziehung zu einer geistig behinderten Wohnungsnachbarin aus
dem ‘Kiez’ auf, die er zunächst „Mongo-Maniac“ und später Clarissa nennt. Clarissa, die
einzige, die eine in ihrer Verrücktheit ernst gemeinte Utopie verfolgt, stirbt am Ende des
Romans wie Plenzdorfs Edgar Wibeau bei Experimenten mit Starkstrom. Denn sie wünscht
über einen „Neutralisator“29 und einen „Tachyonenempfänger“30 Kontakt mit einer anderen
Welt im Jenseits aufzunehmen. Im satirisch beschriebenen Kunstbetrieb ist die Genialität wie
in Enzensbergers Diagnose einem schlechten Mittelmaß gewichen.31 Kunst wird, ich zitiere
jetzt Enzensberger, „nur noch gespielt und als Amoklauf des Outsiders für die Medien
inszeniert. So entstehen Monster auf Bestellung, zahme Wilde, Nibelungen aus Pappmaché,
Schocks aus zweiter und dritter Hand.“32 Es ist der türkische Migrant (der Ich-Erzähler), der
der Theatergruppe, die den Holocaust, aus jeglichem Kontext gerissen, für ihr Projekt
instrumentalisiert hat, in Abwandlung eines nicht ganz unbekannten Verdikts vorhält: „Nach
28
Zaimoglu 2002, S.64.
Zaimoglu 2002, S.248.
30
Zaimoglu 2002, S.232.
31
„Die Leute können keine zwei Minuten genial sein, den Rest des Tages sind sie schlechtes Mittelmaß.“
(Zaimoglu 2002, S.61.)
32
Enzensberger 1988, S.271f.
29
11
Auschwitz ist das Gas als Metapher tabu!“33 Der Ich-Erzähler ist nicht Bölls ‚Clown’, aber
dennoch eine diesem vergleichbare Figur: zu viel wissend, um nicht beobachten zu müssen,
selbst zu orientierungslos, um noch handeln zu können.
Der Erzähler betrachtet das Deutschland der Jahrtausendwende von den Rändern her. Aus
dieser Perspektive erscheint es als Land ohne eine Mitte, auf die hinzuorientieren es sich
lohnte. Der ‘Rand’ ist überall und das Leben ein ununterbrochener ‘Kampf ums Dasein’, um
schließlich
irgendein
Binnenterritorium
oder
ein
Ghetto
zu
beherrschen.
„Die
Sozialschlachten dauern an, rund um die Uhr.“34 Im Getümmel lässt sich nicht immer
erkennen - außer an der Kampflinie zwischen Armut und Reichtum -, wer der Stärkere und
wer der Schwächere, wer Täter und wer Opfer ist.
Was den Beobachter handlungsunfähig macht, ist der Widerspruch zwischen der
Bewusstlosigkeit, mit der das Überleben inszeniert wird, und dem Aufwand und der damit
verbundenen Vergeudung von Ressourcen: materiellen, sozialen, ästhetischen und
individuellen. Ihn erschreckt der forcierte Einsatz für das Nichtige und Erbärmliche einer in
die Anal- und Oralphase zurückfallenden Gesellschaft - beobachtbar vor allem am
Geschlechtsleben der ‘Eingeborenen’ und der zugereisten Stämme, die sich mit den
geschilderten Praktiken wohl kaum noch fortpflanzen werden. „Alle sind hinüber, alle sind
erledigt, wir haben kleine Handlungsspielräume, der eine stirbt jung, der andere wird alt und
bläst sich auf. Aber auf den Drogenafro Carlo setze ich große Hoffnungen: er vergiftet jeden,
der bezahlen kann, und er gehört zum Heer der Ausputzer in dieser für immer verfluchten und
vergammelten Metropole.“35
Zaimoglu rückt der Wirklichkeit im Sinne Walter Benjamins ganz nah auf den Leib.36 Ein
ethnographischer Realismus entsteht, mit einer eigenen Sprache und Ästhetik: von den
„Windelscheißerhosen“37 der Jugendlichen bis zur geblümten Rede des Hodscha. Er ließe sich
mit dem französischen Philosophen Jacques Ranciere so beschreiben: „das Alltägliche wird
schön, insofern es Spur des Wahren ist. Und zwar wird es Spur des Wahren, insofern man es
aus seiner Selbstverständlichkeit herausnimmt, um es in eine Hieroglyphe, in ein
mythologisches oder fantasmagorisches Bildzeichen zu verwandeln.“38 Die Spuren des
Wahren als Zeichen der Geschichte zu lesen, unternimmt der Erzähler gegen Ende des
Romans in einer den Stil des Alten Testaments mit dem des Koran verbindenden Strafpredigt:
33
Zaimoglu 2002, S.219.
Zaimoglu 2002, S.56.
35
Zaimoglu 2002, S.53.
36
Vgl. Benjamin 1980, S.112.
37
Zaimoglu 2002, S.19.
38
Ranciere Jacques 2001, S.16.
34
12
„Denn ein jeder hat ein Hemd aus Menschenfleisch, ein jeder von euch verdient es vor seinem
Angesicht, in Ketten und Eisen gelegt zu werden, ein jeder von euch im Volk der hartherzigen
Rudeltiere müßte weinen, wenn die Pforten Seiner Barmherzigkeit verschlossen sind.“39
In diesem Roman ist Deutschland ein neues Land: urban, globalisiert und multi-ethnisch.
Doch die neuen Ethnien werden nicht wie so oft in der Migrantenliteratur als Minderheiten
glorifiziert, die in einem kalten Land ihre Identität und Ursprünglichkeit bewahrt haben.
Zaimoglu provoziert im Gegenteil und spricht von türkischen „Raplümmeln“40 und dem
„Drogenneger“41, der den Deutschen „das Mamma Africa Feeling“42 verscherbelt usw.
Auffällig ist, dass der in der Türkei geborene und in Köln und Kiel aufgewachsene Zaimoglu
seinen Roman in der neuen Hauptstadt und in ihrem Umland ansiedelt. Konsequenter als die
meisten Erzähler der Gegenwart, die wie Politycki oder Brussig in die jeweiligen Provinzen
ihrer Kindheit des geteilten Landes zurückkehren, nimmt Zaimoglu Deutschland als neues
und dennoch innerlich zerrissenes Land wahr:
„Im anderen Land. Wo sich früher eine sichtbare Grenze (...) hindurchzog, stößt man heute
(...) auf eine doppelt und dreifach bewehrte Demarkationslinie. Sie ist eingeschnitten ins
Land, dessen Eingeborene der Wolkenzüge überdrüssig geworden, wünschen und hoffen, die
Neue Zeit möge ihnen doch auch einen anderen Himmel bescheren.“43
Wo Thomas Brussig in „Helden wie wir“ noch über den „geheilten Pimmel“ kalauerte, nimmt
Zaimoglu Christa Wolfs Motiv des „geteilten Himmels“ wieder auf, um dieses ‘andere’, nun
seit mehr als einem Jahrzehnt bestehende Land und seine Stagnation zu begreifen:
„Der Himmel bleibt derselbe, den Boden machen sie nicht fruchtbar [Hervorh. d.Vfs.KMB], die Knechte schwingen sich auf zu Besitzansprüchlern von Parzellen. Es ist
vorgekommen, daß das Maultier den ihm umgehängten Hafersack zu seinem eigentlichen
Herrn und Meister verklärte. Last- und Nutztiere brauchen Führung.“44
5.
Christian Krachts viel gelesener und besprochener Roman „Faserland“ ist schon 1995
erschienen. Der Ich-Erzähler, sozial eher der Ober- als der Mittelschicht zuzuordnen, ein
‘Taugenichts’ der Neunziger, dessen größte kreative Leistung darin besteht, drei Rauchringe
39
Zaimoglu 2002, S.249.
Zaimoglu 2002, S.19.
41
Zaimoglu 2002, S.51.
42
Ebd.
43
Zaimoglu 2002, S.112.
44
Zaimoglu 2002, S.114.
40
13
zu schaffen45, reist planlos von Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und die
Bodenseegegend nach Zürich. Das Werk ist, wie der Rostocker Kollege Moritz Baßler
zurecht gegen den main-stream der Literaturkritik festgehalten hat, keine Apologie einer
oberflächlichen
Popliteratur
und
-kultur,
sondern
ein
selbstironischer,
„durchaus
geschlossener, traditionell durchgeführter Problemroman“.46 Anders jedoch als bei Zaimoglu
existieren bei Kracht im Alltäglichen keine Spuren des Wahren mehr, sondern nur Waren. Der
Roman führt mit ansteigendem Erzähltempo mitten hinein in den Präsentismus der
Erlebnisgesellschaft, beschreibt ihren Konsumwahn und ihre latente und offene Gewalt, aber
auch ihr spielerisches Potential und ihren Witz. Geschwindigkeit, Überfluss und Ekel führen
dazu, dass der Protagonist sich ständig übergeben muss. Wenn es ein Leitmotiv in diesem
Roman gibt, dann dieses: „Nicht so ein normales Übergeben, sondern ein richtiger Schwall,
wie in Der Exorzist, nur eben nicht grün, sondern rot. (...) Ich wußte gar nicht, daß Menschen
auf einen Haufen so viel kotzen können, ich meine, rein mengenmäßig.“47
Die Zeichen, die hier manisch aufgezählt werden, sind Warenmarken, jene Marken, an denen
man die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu der Gesellschaft erkennt. Sie stellen ein
symbolisches Kapital dar, das sich taxieren lässt, mehr nicht. Soziale Zuordnungen werden
von kulturellen abgelöst.
Alles in diesem Roman ist Gegenwart, Augenblick, der nicht festgehalten werden kann:
„Danach bestellt sie zwei Flaschen Roederer, und als sie kommen, trinken sie jeder ein Glas
auf ex, und jemand hinter der Bar legt Hotel California von den Eagles auf, und wie die
Musik so spielt und der Hund Max sein Brötchen zerkaut und draußen die Sonne untergeht,
fühle ich mich auf einmal so verdammt glücklich.“48
Erinnerungen, die den Protagonisten an einigen Schauplätzen einholen, erweisen sich als
bedeutungslos für das Heute:
„Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben
hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte
Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus
dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber manchmal
verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich
mich, ob das immer schon so war und ob ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen
überhaupt nicht mehr nachvollziehbar.“49
45
Kracht 2002, S. 149.
Baßler 2002, S.114.
47
Baßler 2002, S.46.
48
Baßler 2002, S.20.
49
Baßler 2002, S.70.
46
14
Die gleiche unernste Haltung nimmt der Erzähler auch gegenüber dem ‘goldenen Weg’ ein,
für den Enzensberger die Geschichte der BRD hält: „(I)n diesem Moment denke ich, daß (...)
ich wahnsinniges Glück habe, in einem demokratischen Deutschland zu leben, wo keiner an
irgendeine Front muß mit siebzehn. Das ist natürlich SPD-Gewäsch, was ich da denke, aber
ich bin schließlich auch höllisch betrunken.“50
Deutschland und der Erlebnisgesellschaft seiner Generation am Ende der Reise entkommen,
imaginiert der Protagonist eine Idylle, ein Leben „auf einer Bergwiese, in einer kleinen
Holzhütte“51 mit Isabella Rossellini und ein paar Kindern, denen er in der Abgeschiedenheit
von Deutschland erzählen würde, „von dem großen Land im Norden, von der großen
Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. Und von den Menschen würde ich
erzählen, von den Auserwählten, die im Innern der Maschine leben, die gute Autos fahren
müssen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören, während um sie herum alle
dasselbe tun, nur eben ein klein bißchen schlechter.“52
So entschließt sich der Erzähler, das unmittelbar zuvor auf der Reise Erlebte und Erfahrene
der Vergangenheit anheim zu geben: Die große Maschine „wäre unwichtig, da ich sie nicht
mehr beachte, würde es sie nicht mehr geben, und die Kinder würden nie wissen, daß es
Deutschland jemals gegeben hat, und sie wären frei, auf ihre Art.“53
Frei vom Faserland - das bleibt nicht das letzte Wort. Der Erzähler macht sich auf den Weg
zum Friedhof von Kilchberg, nicht ohne Nennung der „Lindt-Schokoladenfabrik“54, die er
passiert, nun nicht mehr auf der Suche nach alten und neuen Freunden aus der eigenen
Generationskohorte, sondern nach dem Grab von Thomas Mann. Da es inzwischen dunkel
geworden ist, irrt er, Streichhölzer anzündend, über den Friedhof: „Ich finde das blöde Grab
von Thomas Mann nicht.“55 Zu seinem Entsetzen muss er in der Dämmerung beobachten,
dass ein „Hund vielleicht auf Thomas Manns Grab gekackt haben könnte“.56 Einfach ist der
Weg zurück aus der traditionslosen, von Warenmarken besetzten Gegenwart zur großen
Tradition deutscher Erzählliteratur also nicht und - am geschändeten Grab Thomas Manns
wohl auch noch nicht ans Ende gelangt. Der Abstieg von Kilchberg führt ihn schließlich
heraus aus der Welt der Warenzeichen und zurück in die Topographie literarischer Tradition
mit ihren Symbolen, die längst vergessen schienen.
50
Baßler 2002, S.97.
Baßler 2002, S.152.
52
Baßler 2002, S.153.
53
Baßler 2002, S.154.
54
Baßler 2002, S.155.
55
Baßler 2002, S.156.
56
Baßler 2002, S.157.
51
15
„Ich steige ins Boot und setze mich auf die Holzplanke, und der Mann schiebt die Ruder
durch diese Metalldinger und rudert los. Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.“57
Mit diesen beiden Worten endet der Roman, zwischen Zürich und Kilchberg, auf dem See.
Dort auf dem Züricher See hatte ein nicht unbedeutender deutscher Dichter namens Johann
Wolfgang von Goethe geschrieben:
„Aug mein Aug was sinkst du nieder
Goldne Träume kommt ihr wieder
Weg du Traum so Gold du bist
Hier auch Lieb und Leben ist.
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne
Liebe Nebel trinken
Rings die türmende Ferne
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.“58
Keiner der zahlreichen Rezensenten, fixiert auf den Ton der Pop-Literatur, hatte bemerkt, dass
Kracht seinen Protagonisten hier zu Klopstock und Goethe zurückführt. Wie in den anderen
vorgestellten Werken führt die Suche nach Identität in Deutschland nicht zurück ins Leben.
Kein „Geteilter Himmel“, keine „Deutschstunde“. Die Protagonisten finden zur Sprache, zur
Dichtung, die dem Tod erschreckend nahe sind.
57
58
Baßler 2002, S.158.
Goethe 1987, S.169.
16
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Universität Bielefeld
Fakultät für Linguistik und
Literaturwissenschaft
Postfach 10 01 31
D-33501 Bielefeld
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Klaus-Michael Bogdal
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