Moskau. Freitag, den 3. Mai 2002. - Martin W hlisch

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Willkommen im Nirgendwo - Flüchtlinge in Rußland
Gespräche in Süd-Rußland zum Krieg in Tschetschenien
Auf der Suche nach Antworten in einem unbekannten Land.
ZIS-Reise vom 3. Mai bis zum 31. Mai 2002, Rußland
Martin Wählisch
Wolgograd | Astrachan | Stavropol | Wladikawkas
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Inhaltsverzeichnis
Moskau. Freitag, den 3. Mai 2002. ........................................................................................................................................................................................................ 8
Moskau. Freitag, den 3. Mai 2002. ........................................................................................................................................................................................................ 9
Wolgograd. Sonnabend, den 4. Mai 2002. .......................................................................................................................................................................................14
Wolgograd. Sonntag, den 5. Mai 2002. ............................................................................................................................................................................................ 20
Wolgograd. Montag, den 6. Mai 2002. ............................................................................................................................................................................................. 24
Wolgograd. Dienstag, den 7. Mai 2002. ............................................................................................................................................................................................ 30
Wolgograd. Mittwoch, den 8. Mai 2002............................................................................................................................................................................................. 31
Wolgograd. Donnerstag, den 9. Mai 2002. ...................................................................................................................................................................................... 34
Wolgograd. Freitag, den 10. Mai 2002............................................................................................................................................................................................... 38
Astrachan. Sonnabend, den 11. Mai 2002. .........................................................................................................................................................................................41
Astrachan. Sonntag, den 12. Mai 2002. ............................................................................................................................................................................................. 42
Astrachan. Montag, den 13. Mai 2002. .............................................................................................................................................................................................. 45
Astrachan. Dienstag, den 14. Mai 2002. ............................................................................................................................................................................................ 49
Astrachan. Mittwoch, den 15. Mai 2002............................................................................................................................................................................................. 50
Astrachan. Donnerstag, den 16. Mai 2002. ....................................................................................................................................................................................... 55
Wolga-Delta. Freitag, den 17. Mai 2002. ........................................................................................................................................................................................... 60
Wolga-Delta. Sonnabend, den 18. Mai 2002. .................................................................................................................................................................................. 64
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Astrachan. Sonntag, den 19. Mai 2002. ..............................................................................................................................................................................................65
Stavropol. Montag, den 20. Mai 2002. ...............................................................................................................................................................................................69
Stavropol. Dienstag, den 21. Mai 2002. .............................................................................................................................................................................................. 75
Stavropol. Mittwoch, den 22. Mai 2002. ............................................................................................................................................................................................ 78
Stavropol. Donnerstag, den 23. Mai 2002. .......................................................................................................................................................................................82
Stavropol. Freitag, den 24. Mai 2002. ................................................................................................................................................................................................. 87
Wladikawkas. Sonnabend, den 25. Mai 2002...................................................................................................................................................................................88
Wladikawkas. Sonntag, den 26. Mai 2002.........................................................................................................................................................................................93
Wladikawkas. Montag, den 27. Mai 2002. .........................................................................................................................................................................................99
Wladikawkas. Dienstag, den 28. Mai 2002. ..................................................................................................................................................................................... 105
Wladikawkas. Mittwoch, den 29. Mai 2002. .................................................................................................................................................................................... 108
Zugfahrt. Donnerstag, den 30. Mai 2002. ........................................................................................................................................................................................ 111
Moskau. Freitag, den 31. Mai 2002. ....................................................................................................................................................................................................112
Nachwort ....................................................................................................................................................................................................................................................113
Nachwort ................................................................................................................................................................................................................................................... 114
Anhang ........................................................................................................................................................................................................................................................116
1.
Rezept, Osterspeisen ...................................................................................................................................................................................................................................................................... 116
2.
Zitate über Ossetien ........................................................................................................................................................................................................................................................................ 117
3.
Auszüge von Kostai Hetagurov ................................................................................................................................................................................................................................................... 118
4.
Auszüge aus Gedichten von Kosta Hetagurov ...................................................................................................................................................................................................................... 119
5.
Gedicht Michael Lermontov ........................................................................................................................................................................................................................................................ 124
Literaturnachweis .................................................................................................................................................................................................................................... 126
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Vorwort
Liebe Leserin,
Lieber Leser,
dieses Tagebuch ist während meiner Studienreise im Mai diesen
Jahres durch Süd-Rußland entstanden. Ich wollte das Leben von
Flüchtlingen in Rußland dokumentieren und die Rolle von
Hilfsorganisationen kennenlernen. Es kam aber doch alles anders,
als ich dachte.
Allein die Vorbereitungen für diese Reise bergen eine eigene
Geschichte. Im Februar bewarb ich mich bei ZIS für ein
Stipendium, um nach Inguschetien zu fahren und dort einen
Einblick in die Arbeit mit Flüchtlingen zu bekommen.
Inguschetien hat nach Ausbruch des Krieges in Tschetschenien
den größten Teil der Flüchtlinge aus seiner Nachbarregion
aufgenommen. Die geographische und kulturelle Verbindung der
beiden Regionen, aber auch die moderate Politik des ehemaligen
Präsidenten der Republik, Ruslan Aschew, gegenüber den
Flüchtlingen haben zu dieser Rolle Inguschetiens geführt. Durch
den Bau von Zeltlagern und die Sicherung der Versorgungslage
leisten internationale Hilfsorganisationen ihren Teil, um den
Menschen vor Ort zu helfen. Ich meinerseits wollte durch jene
Organisationen Aufgaben wie humanitäre Hilfe verstehen und ins
Gespräch mit Flüchtlingen kommen.
In Folge nahm ich Kontakt u.a. zu englischen und deutschen
Hilfsorganisationen auf. Eine enge Absprache war schon
aufgrund der Sicherheitslage in Inguschetien nötig. Mit der
Zusage durch zwei Hilfsvereine plante ich die Details der Reise.
Mitarbeiter vor Ort rieten mir, einen Flug nach Nazran zu
nehmen. Ein Zitat bleibt mir dabei noch im Kopf: “Wir haben nie
von einem Ausländer gehört, der mit der Bahn nach Nazran
gekommen ist“. Die Aussagen waren unterschiedlich. Ich fuhr
zum Bahnhof, sprach mit Reisenden und der Schaffnerin, und
entschied mich für die Fahrt mit der Bahn. Letztlich schließen die
Bedingungen von ZIS einen Flug aus. Soweit so gut.
Mit einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft besprach ich die
bevorstehenden Wahlen in Inguschetien. Da Aschew zurücktrat,
gab es ein Gerangel mehrerer Kandidaten, die teilweise von
Kreml unterstützt wurden. Der Ausgang der Wahlen war
vorhersehbar und daher fürchteten viele, dass die Arbeit der
Hilfsorganisationen vor Ort eingeschränkt würde. Von der Wahl
in Inguschetien hing also auch meine ZIS-Reise ab.
Die Wahl war am 4. April. Bei der Auszählung konnte keiner der
Kandidaten die Mehrheit auf sich vereinigen. Die Nachwahlen
sollten am 28. April stattfinden. Den 3. Mai hatte ich als Beginn
meiner Studienreise datiert. Alles hing an mehreren goldenen
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Fäden. Im Briefwechsel mit meiner Betreuerin von ZIS einigten wir
uns, dass ich nur einen Teil meiner Studienreise in Inguschetien
verbringen würde. Weitere Orte für die Recherche lagen am Fuße
des Kaukasus.
Zwei Wochen vor Reisebeginn passierte aber noch etwas völlig
anderes. Als ich einen Mitarbeiter für humanitäre Hilfe in der
deutschen Botschaft um eine Schreiben bat, in dem die Botschaft
meine Reise bestätigte, fielen alle Reisevorbereitungen wie ein
Kartenhaus zusammen. Erst im März hatte er mir einen Kontakt
zu einem deutschen Hilfsverein und dem UNHCR verschafft. Er
war verblüfft von der Tatsache, dass ich wirklich vor hatte zu
fahren. Auf einmal wußte er nichts mehr von meinem Vorhaben.
Komisch, dabei hatte ich mich ebenfalls seit März mit einem
Mitarbeitern aus dem politischen Referat und der
Wirtschaftsabteilung über die Sicherheitslage unterhalten. Beide
konnten ihm das bestätigen. Mir war klar, dass eine Studienreise
nach Nazran nur mit einer Hilfsorganisation möglich ist und
niemand für mich Verantwortung übernehmen könnte.
Die Zusage von Hilfsvereinen vor Ort stand, daher war ich über
die Aufregung verwirrt. Zu spät. Kurzerhand war aber das
Auswärtige Amt in Berlin informiert, die wiederum den
Geschäftsführer von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in
Kenntnis setzten. Jener wiederum rief meine Länderkoordinatorin
in Moskau mit der Frage an, „ob wirklich einer der Freiwilligen
nach „Tschetschenien“ fahren wolle“. Nun waren die Dinge völlig
verdreht.
Am Tag darauf bekam ich eine Mail von einer deutschen
Hilfsorganisation, die alles weitere absagte. Bis dato hatten wir
alles geregelt und jetzt die Wendung. Mir war alles
unverständlich. Lag es daran, dass das Auswärtige Amt Projekte
von deutschen Hilfsorganisationen finanziert? Vielleicht hatte ich
die Sicherheitslage aber doch unterschätzt.
Es ist eine Groteske und ich war mitten drin. Es ging bis dahin,
dass mir gesagt wurde, der FSB würde mich vielleicht bereits
überwachen. Man warf mir vor, die gesamt Arbeit der Freiwilligen
in Moskau zu gefährden. Mein Visum würde nicht verlängert
werden. „Wer will schon, das ein junger Ausländer über die Lage
von Flüchtlingen in inguschischen Zeltlagern schreibt?“, hieß es
nur.
Am gleichen Tag kam unabhängig von allem die Absage durch
ZIS. Zwei Wochen vor der geplanten Reise war alles wie
weggespült. Neben meiner normalen Arbeit in Moskau hatte ich
drei Monate Zeit und Kraft in die Vorbereitung gesteckt, Treffen
und Absprachen mit Hilfsorganisationen, alles war hinfällig.
Ich kam nicht weiter. In einem Telefonat mit Sabine, meiner
Betreuerin von ZIS, sammelten wir verschiedene Gedanken. Das
Thema Flüchtlinge in Rußland ist mir zu noch zu unbekannt, um
es nicht in Angriff zu nehmen, und zu interessant, um es mit
einem Schlag loszulassen. Es ist ein riesiges Buch mit hiesigen
Kapiteln. Ich war bisher gerade mal dazu gekommen, den Staub
vom Umschlag zu pusten.
Wir änderten die Reiseroute. In der Kürze der Zeit ich versuchte
alles nötige zu organisieren. In Wolgograd gibt es einen guten
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Freund, der mit Flüchtlingen arbeitet und ebenfalls Freiwilliger bei
Aktion Sühnezeichen ist. Hier sollte meine erste Station liegen.
Unweit an der Wolga liegt Astrachan, die Lage am Kaspischen
Meer und die Nähe zum Kaukasus machen diese Stadt sicherlich
zum Brennpunkt. Von Rostov aus wollte ich den Zug aus Nazran
nehmen und auf der Rückfahrt versuchen, Interviews mit
Flüchtlingen zu machen.
Ich nahm die gleichen Fragen mit, die ich mir schon ganz am
Anfang stellte: Wie leben Flüchtlinge aus Tschetschenien in
Rußland? Welche Aufgaben nehmen Flüchtlingsorganisationen
dabei wahr? Ein grundsätzliches Interesse lag mir an der Meinung
von den Menschen auf der Straße. Was denken sie über die
Flüchtlingsproblematik und den Krieg in Tschetschenien?
Mir brannte alles unter den Fingernägeln. Doch wieder stieß ich
auf das Unbekannte, denn wie heißt es in einem Lied: Der Mai
macht alles neu. Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Suche nach
Antworten in einem unbekannten Land.
Viel Freude beim Lesen,
Ihr
Martin Wählisch
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Kasaner Bahnhof | Moskau
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Moskau. Freitag, den 3. Mai 2002.
Die Reise fing ja gut an. In Rußland gibt es die Tradition, vor
einer langen Fahrt in Ruhe zu Hause eine Tasse Tee zu trinken.
Bei mir hat das noch nie geklappt. Auf den Spuren des großen
Zeigers der Uhr wanke ich zum Bahnhof. Es ist einer dieser
ungewöhnlich warmen Tag im Mai, an denen nur der kalte Wind
in den Gängen der Metro einen auf den Boden der Tatsachen
zurückzuholen scheint. Das Treiben auf den Moskaus Straßen ist
wie immer eilig. Die Sonne spiegelt sich bereits auf den Scheiben
des Zuges, als wir auf dem Kasaner Bahnhof die Nummer meines
Waggons suchen. Ben, ein guter Freund, beruhigt mich. Die
Pünktlichkeit russischer Züge ist eine Frage des Schicksals.
Geschafft bin ich, nachdem ich mich durch die schmalen Gänge
bis zu meinen Abteil zwänge, die Sachen verstaue und den
Rückweg zu einem Abschiedsfoto antrete.
Ich hoffe auf einem Monat voller Abenteuer und Erlebnisse. Was
ich suche, sind Begegnungen mit Menschen in einem fremden
Land und Lösungen auf unzählige Fragen. Mein Kopf ist voller
leerer Kästchen, die herum schwirren, sich den Weg zu meinem
Mund erobern, um die Welt zu erkunden und satt in mein Ohr
zu schlüpfen.
Der Zug rumpelt, und ich sitze neben zwei grinsenden Russen.
Häuser und Bäume verschwinden von rechts nach links mit dem
Blick aus dem Fenster, und ich bin mir unschlüssig, ob wir uns
nun bewegen oder einfach nur kleine Zwerge die Landschaft an
uns vorbei tragen. Eine Armeslänge hinter dem kleinen Tisch, der
wie ein klappbares Bügelbrett in unser kleines Coupe montiert
ist, sitzt eine schwangere Frau in Latzhose. Wir sind also zu fünft,
denke ich und stimme auf die Fragen der jungen Russen neben
mir ein. Beide sind vor fünf Jahren aus Aschchabad nach Rußland
gekommen, um in Moskau zu arbeiten. Die ganze Familie lebt
jetzt an der Wolga. Jura und Dima sind auf den Weg zum
Geburtstag ihrer Mutter. Die Situation in Turkmenistan sei
schlecht. Ihr Präsident Saparmurat Nijazov regiere wie ein
Monarch. Nijazov läßt sich selbst "Turkmenbaschi", Führer aller
Turkmenen
nennen.
Goldene
Statuen,
Jubelparaden,
Heldenlieder: „Der Personenkult um ihn hat längst absurde
Ausmaße angenommen. Die Opposition im Land wird
unterdrückt. Um Wahlen auch künftig zu vermeiden, ließ er sich
1998 vom Parlament zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen.
Turkmenistan ist reich an Rohstoffen. Turkmenbaschis Reich
schwimmt auf Erdgas und ist ein Schlüssel für Zentralasien.
Vielleicht ist das ein Grund, warum die USA, Russland und China
mit dem Diktator auf Schmusekurs fahren. Trotzdem sind die
meisten der viereinhalb Millionen Menschen bitterarm. Nach dem
Zerfall der Sowjetunion funktionieren soziale Einrichtungen wie
Gesundheitswesen und Bildungssystem mehr schlecht als recht.
Drogensucht ist zu einem großen Problem geworden.“
„Rußland bedeutet Arbeit“, erzählt mir der 24-jährige Jura später
auf dem Gang. Viele zieht es aus den ehemaligen
Sowjetrepubliken nach Moskau. Planmäßig kam der Exitus für die
Wirtschaften der Staatengemeinschaft. Der Preis für die Freiheit
ist ein Leben ohne Kompromisse.
Wir lehnen uns gegen die Metallstange unter den Gardinen.
Russische Züge haben Stil. Die Plastikblumen an der Wand
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wippen im Klang der Schienen, und ich schmunzle über den
roten Teppichläufer unter meinen Füßen, der sich durch den
Waggon schlängelt.
Und da ist es wieder. Dieses unbehagliche Gefühl, bei dem der
Puls im Handgelenk pocht. Du bist unschuldig, doch trotzdem
fühlst du dich schlecht. Russische Beamte in blauen Hemden und
nackten Schulterklappen rufen einen Schauer in mir hervor.
Paßkontrolle. Ich erinnere mich nur zurückhaltend an eine
Situation nachts an der weißrussischen Grenze bei der ein kleiner
Zöllner mit riesigem grünen Filzhut alle Pässe einsammelte und
uns Stunden der Angst verleben ließ. Letztlich erwachten wir
doch aus unseren schwarz-weiß-Filmen und schliefen beruhigt
weiter. Diesmal sollte aber alles anders kommen. Mit einem
kurzen Klopfer auf seine Brust bekommt Jura seinen Paß zurück.
Jura lächelt und zwinkert mir zu. Ob sie überhaupt Russen wären,
höhnt der Uniformierte die beiden an. Mit den Blick auf meine
Papiere, fällt seine Stimmlage. „Wo sind Ihre Sachen? Der
Rucksack dort? Mitkommen.“ Jetzt geht der Spaß erst richtig los,
denke ich mir, als ich mich und mein Hab und Gut den Gang
entlang zum kleinen Kabuff der Schaffnerin schleife. „Sachen
auspacken!“, die Worte des blauen Hemdes vor mir klingen
nüchtern und kühl. Er hebt seinen Bauch vom Tisch und mustert
mich. Ich fühle mich gedemütigt. Die Dokumente sollen nicht
richtig sein. „Und wo ist überhaupt Ihre Zolldeklaration?“. Ich
stutze. „Wir haben doch einen Inder gesehen. Wo ist der?“. Er
spricht wohl von Ben, der mich zum Bahnhof gebracht hat. Die
Situation wird immer grotesker. Ich versuche meine Nervosität
durch ein Ausweichmanöver zu beruhigen. Ich summe ein Lied.
Nach kurzer Zeit muß ich lachen. Mit Augenschein auf den
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stummen Milizionär vergeht mir alles. Ich packe zwei
Diktiergeräte und den Fotoapparat aus. Als er mein Teleobjektiv
erblickt, steht schon ein zweites schmales Männchen in der Tür.
Ruhig bleiben, sage ich mir immer wieder und darf ein zweites
Mal alles ein- und auspacken. Es ist still, und die Frage meines
Gegenüber bohrt sich in mein Gedächnis: „Sind Sie ein Spion?“.
Ich verneine. „Haben sie Drogen bei sich?“. Abermals verneine
ich. Der Dünne schmökert in meinem gelben Langenscheidt
Wörterbuch und entdeckt den Lonely-Planet. Der Dicke schnauzt
mich weiter an und versucht mich zum Aufgeben zu bringen. Die
Bücher über Tschetschenien in Deutsch, Englisch und Russisch
gefallen ihm gar nicht. Die zwölf Filme in meiner Fototasche kann
er nicht verstehen. “Ja, Jungs soll ich Wirtschaftsspionage in
eurem Land machen, oder was?“, schießt es durch meinen Kopf.
Ich schalte das Tonbandgerät ein. Die deutschen Stimmen
machen ihn mißtrauisch. Gut, dass ich die Kassette mit
Glückwünschen für einen Freund in Deutschland eingepackt
habe. Ein bekanntes russisches Geburtstagslied quetscht sich
etwas verzerrt durch den Lautsprecher meines Diktiergerätes. Der
Dünne winkt ab. Der Dicke will noch mal den Fotoapparat sehen.
Ob das alles ist, frage ich. Die Dokument von der Botschaft sind
für ihn aber nur eine Kopie und das Visum ohnehin gefälscht.
Außerdem dürfte ich gar nicht nach Wolgograd fahren. Und
wieder die Frage nach dem Inder, mit dem sie mich doch auf
dem Bahnsteig in Moskau gesehen haben.
Ich habe mich selten so hilflos gefühlt und werde patzig. Mein
Visum hat die Russische Botschaft in Berlin ausgestellt, die sollte
man doch zur Überprüfung einfach mal anrufen. Ich finde die
Visitenkarte einer Bekannten aus der Deutschen Botschaft und
tippe mit dem Finger auf den gedruckten Bundesadler. Rufen sie
bei der Botschaft in Moskau an, man wird ihnen meine
Dokumente bestätigen. Was wäre ich für ein Spion, wenn sie
mich auf Anhieb entdecken würden?
Es bleibt still. Mit einem „Packen und gehen sie“ beendet der
Bauch mit einer Handbewegung die Vorstellung. Mechanisch
wünscht er eine gute Reise, und mir wird klar, dass mich diese
Sache auf weitere Erlebnisse der Reise einstimmt.
Am späten Nachmittag löffeln wir gemeinsam Nudeln aus einer
Styroporschale und diskutieren über das Thema Freiheit in
Rußland. Bisweilen hat sich meine Geschichte im Zug
herumgesprochen. Kleine Kinder wurden dazu ermutigt, sich an
unser Abteil heranzuschleichen, um den verdächtigen Deutschen
zu bestaunen.
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Dima und Jura | Im Zug
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Bahnhof | Wolgograd
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„Papa ist das der?“, höre ich eine Mädchenstimme fragen und
wende mich wieder an Dima. Ich verstehe nicht, warum ich bei
einem Visum für die gesamte Russische Föderation jede Fahrt in
eine andere Stadt durch eine Einladung von Freunden oder eine
Bestätigung von Projekten belegen muß. Jegliche Schikane der
Milizionäre sprechen auch gegen meine Persönlichkeitsrechte.
Jura erklärt mir, dass Rußland den Einfluß asiatischer Sekten
begrenzen will. „In den letzten Jahren wurde das Land von
verschiedenen Gruppierungen überschwemmt. Deswegen sind
sie schon am Bahnhof auf meine indische Begleitung
aufmerksam geworden. Du bist Ausländer, du fällst auf. Das
Thema Flüchtlinge und Tschetschenien ruft bei den Russen eine
andere Wirklichkeit hervor. Das Bild in den westlichen Medien
finden sie ungerecht und einseitig. Da können sie einen 19jährigen Jungen mit Adressen von Flüchtlingsorganisationen und
Studienvorhaben schon gar nicht einordnen.“ Freiheit und innere
Sicherheit passen in Rußland nicht in einen Topf. „Vielleicht
wollten die beiden aber auch nur Geld“, fügt Gaja an, die sich
kurz von ihren Familienmagazinen gelöst hat. Zum Krieg in
Tschetschenien will sie lieber nichts sagen. „Woher kenne ich
schon die Wahrheit?“, sagt sie. Russische Milizionäre werden
schlecht bezahlt, da sind schnell mal einige Dokumente nicht
richtig. Kleine Zuwendungen dürfen den Tatbestand aber gerne
korrigieren. Ich stehe immer noch zu ehrlicher Arbeit.
Ob ich Bier trinke? Nein, dann halt Cognac, der ist selbst
gebrannt und sei wieso besser. Lustig sieht die Sache schon aus:
Eine Plastikflasche und kleine Porzellantassen mit Blumenmotiv
stehen vor uns. Jura organisiert Schokolade. Dima zeigt mir, wie
man Zedernüsse knackt. Wir sprechen über das Gewicht von
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Neugeborenen. Gaja fragt, ob wir schnarchen. Geschichten,
Erzählungen, so habe ich mir Rußland immer vorgestellt. Im Zug
rückt man zusammen.
Die Atmosphäre ist nostalgisch. In der Nacht schaltet Jura seinen
Laptop an. Wir schauen „Herr der Ringe“ auf DVD. Das Schild
neben der Waggontür mahnt das Baujahr 1952 an. Ich schüttle
den Kopf, die Welt ist doch verrückt.
Alles liegt vor mir. Ich denke an die letzten Worte von Ben auf
dem Bahnhof in Moskau. Ich: „Es geht bestimmt alles schief. Die
Schaffnerin guckt schon so böse.“ Ben: „Die gucken immer böse.
Die müssen so gucken.“ Gehört das in Rußland vielleicht einfach
zum Leben dazu?
Ende der Aufschrift gegen 23.30 Uhr
Wolgograd. Sonnabend, den 4. Mai 2002.
Im Zug. Gegen 6 Uhr morgens. Ich sitze allein im Abteil. Die
Sonne hat längst die Wolken durchflutet. Das Radio summt vom
Anfang eines neuen Tages. Wir fliegen vorbei an gelben und
braunen Feldern, einer Hand voll Häuser und einem einsamen
Ölfaß. Nur die Linien der Strommasten am Wegesrand scheinen
uns zu begleiten.
Ankunft an der Wolga. Gegen 12 Uhr mittags. Wolgograd ist eine
Wurst. Eigentlich bin ich für Interviews mit Flüchtlingen unterwegs
und jetzt das. Feiertagswoche, in ganz Rußland werden Eier
bemalt oder Laternen für den 9. Mai geschmückt. Mein erster
Blick fällt auf die riesige Eisentafel neben dem Bahnhofsgelände.
„Willkommen in der Heldenstadt“, entziffere ich die verblichenen
Lettern. Daneben hängt eine Karte. Wolgograd liegt an der
Wolga. Das leuchtet ein. Dass die Stadt aber 90 km lang sein soll,
wird mir erst klar als ich mit dem Bus über eine Stunde bis ins
andere Ende der Stadt brauche. Gebogene Holzhäuser und
versprengte Fabriken scheinen auf die jenigen zu warten, die
mitten auf der Fahrt aussteigen wollen. Auf einer riesigen Wiese
thront die Technische Universität.
Katharina die Große holte deutsche Kolonisten ins Land.
Geschnitzte Fensterrahmen, ein kleiner Park. Es ist, als hätte
jemand das Grün in die graue Steppe geworfen. Die weiße Kirche
und das Pfarrhaus der Gemeinde wirken wie eine Insel. In dieser
Gegend wohnten einst gemeinsam Russen, Deutsche, Tataren,
Kalmücken und Ukrainer.
„Wolgograd kommt mir manchmal vor wie eine riesige Straße“,
erzählt mir Martin, der mich mit seiner Freundin Sara und Erik
vom Bahnhof abgeholt hat. „Die Stadt ist nur sechs Kilometer
breit, erklärt er weiter. „Der südlichste Bezirk war früher ein
eigener Ort. Den hat man kurzerhand an Wolgograd
angeschlossen. Daher trennt das Nichts den Krasnoarmejski
Bezirk vom Zentrum.“
Auf den Weg zur Kirche treffen wir Menschen mit Plastiktüten,
die ihre Osterspeisen zur Segnung bringen. Aus der Ferne hören
wir die ersten Gesänge. Die Kirche liegt im Dunkeln. Ein
Scheinwerfer gibt uns die Richtung an. Die Miliz hat das Gelände
weiträumig abgesperrt. Vor der Kirche: Eine Frau, die Pascha, eine
traditionelle pyramidenartige Speise aus Quark verkauft. An
kleinen Ständen bieten Großmütter Kerzen für den Gottesdienst
feil, dann beginnt der Gottesdienst.
Plattenbauten so weit das Auge reicht. Zwei Pappschilder mit
Schrift stehen vor dem Kino. Die Autos wirbeln durch den Staub.
Die Gesichter der Menschen vor dem Lebensmittelgeschäft kann
ich nur ungenau erkennen. Eine rote Straßenbahn rattert an uns
vorbei, als wir an einem kleinen Stand einen russischen
Osterkuchen für den Abend kaufen. Für die Tage in Wolgograd
kann ich im Haus der lutherischen Gemeinde Sarepta
unterkommen, in der Martin und Erik als Freiwillige arbeiten.
Gegen 22.30 Uhr. Es ist ein Abend wie Seide, als wir mit unserem
Osterkuchen zur Bushaltestelle schlendern. Ostern ist das größte
christliche Fest in Rußland und beginnt in der Osternacht mit
einer stundenlangen Auferstehungsmesse.
Ich mache die ersten Schritten in die orthodoxe Menge und
nehme meinen ersten Zug Weihrauch. Die Kirche ist gedrängt
voll. Kinder, junge Leute, Frauen mit Kopftüchern. Alle Augen sind
auf den Altar gerichtet. Gebete ertönen, die Menge kreuzigt,
verbeugt sich. Wieder und immer wieder scheint sich dieser Ritus
zu wiederholen. Wir sind in der größten Kirche von Wolgograd
und ich fühle mich wie in einer unwirklichen Geschichte. Das
Gefühl, hier zu sein und das mitzuerleben, ist überwältigend.
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Kurz vor Mitternacht gibt es kaum noch einen Stehplatz im
Gotteshaus. Der Geruch von Kerzenwachs hat sich auf uns
gelegt. Auf einmal geht das Licht an. Ein riesiger Leuchter über
unseren Köpfen wirft ein tausendfaches Licht auf die Ikonen. Das
Gold an den Wänden strahlt gelb. Es ist still. Die schweren Türen
des Altars öffnen sich. Mit schnellen Schritten schreiten vier
Geistliche heraus. Einer von ihnen schwenkt ein kleines Gefäß.
Süße Dämpfe legen sich um meine Nase. Zwei Gestalten in
weißen Gewändern tragen ein besticktes Tuch mit dem Antlitz
Christi in den Altarraum. „Das symbolisiert die Auferstehung
Christi, schließlich wurde damals auch die Grabplatte weggerollt“,
flüstert mir eine alte Frau zu. Genau so schnell, wie das
Schauspiel begonnen hat, endet es. Der Altar schließt sich
wieder. Zwei Meßdiener, einer mit Schwert, ein anderer mit Kerze
stellen sich seitlich der Treppenstufen auf. Der Altar öffnet sich
erneut. Nun treten sechs, sieben Mann mit großen
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Strasse | Wolgograd
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Osterkuchen | Wolgograd
Kerzen durch den Raum. Im nächsten Augenblick kann ich nur
noch zwei Männer mit Fahnen aus Samt erkennen. Die Situation
verläuft zu schnell, um alles in Tausenden von Einzelheiten
festhalten zu können.
Zwischendurch drängen Menschen mit Kerzen zu den Ikonen an
die Wände. Alte Frauen sind still in der Ecke in ihr Gebet vertieft.
Ein Chor färbt den Raum mit einer weichen Melodie. Im nächsten
Moment stürzt ein junger Mann im Trainingsanzug auf die
Ikonenwand zu. Seine Stimme zittert. Er fleht um Verzeihung.
Möge Gott ihm für seine Sünden vergeben. Einzelne hören zu.
Seine Worte schallen durch den Raum. Er ruft ohne Unterlaß.
Eine Frau hilft ihm, eine Kerze am Altar zu entzünden.
Es ist ein unaussprechliches Spektakel vor einem kleinen Tor,
einem Fenster zum Paradies, das zumindest für den Augenblick
des Göttliche offenbaren soll. Alles scheint bis auf die Sekunde
zu passen. Jeder Schwenk, jeder Spruch scheint Teil eines
einzelnen ewigen Lied, das durch die Nacht führt. Es ist wie ein
warmer Traum, umschlossen von dicken Klängen in einem
riesigen goldenen Palast.
Plötzlich zerreißt Glockenläuten die feierliche Stille: “Christos
woskres”, singt ein Priester. „Vo istinu voskrese“, antwortet das
Volk. Christius ist auferstanden! – Er ist wahrhaftig auferstanden!
Wir folgen dem Priester dreimal um das Gotteshaus. Hunderte
von Kerzen flackern in der Dunkelheit.
„Die Leute gehen wieder in die Kirche“, erzählt mir Iwan, ein
Student, der wohl durch mein Wörterbuch auf mich aufmerksam
geworden ist. „Langsam werden die alten Traditionen wieder
lebendig. Nicht nur die kirchlichen, auch das alte Volksbrauchtum
ist wieder populär. Ich bin gläubig, deswegen bin ich hier.“ Er
erklärt mir die Liturgie des Gottesdienstes und fügt an: „Die
dunkle Kirche symbolisiert eine düstere Welt ohne das Licht des
Glaubens. Gegen Mitternacht werden dann die Osterkerzen
angezündet, Freudengesänge des Chores setzen ein, vielstimmig,
voll, denn die Stimmen ersetzen die in orthodoxen Kirchen nicht
vorhandene Orgel. Auch gibt es in der orthodoxen Kirche keine
Bänke. Nach dem Kreuzgang wechseln die Priester ihre weißen
Gewänder
gegen
rote.
Die
Farbe
steht
für
die
Wiederauferstehung, daher werden die meisten Eier auch rot
gefärbt. Nach der Zeremonie umarmen sich Bekannte und küssen
sich dreimal.“
Gegen vier Uhr treten wir mit zusammengekniffenen Augen den
Heimweg an. Der Lautsprecherwagen vor der Kirche hat seinen
Betrieb eingestellt. Die Glocken schlagen immer noch hell und
vielstimmig. Der Tag ist noch dunkel. Die Menschen strömen aus
der Kirche. Es war ein märchenhafter Abend. Ich habe Kirche
noch nie so intensiv erfahren. Ich komme mir vor, als hätte mich
jemand bis in die Fingerspitzen mit russischen Traditionen
getränkt.
Ende der Aufschrift gegen 5 Uhr morgens
Vielleicht noch eine kleine Geschichte zum Thema meiner
Studienarbeit. Nachdem mir Iwan, der Student, die Liturgie in der
Kirche erklärte, unterhielten wir uns über den Krieg in
Tschetschenien und das Leben in Wolgograd. Seine Freundin
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selbst ist aus Grozny. „In Wolgograd lebt man wie überall“,
berichtet er. „Skinheads sind ein Problem in der Stadt. Dann gibt
es noch die vielen Gastarbeiter: Koreaner und Kasachen, die
arbeiten nur für ihr Essen und günstige Geschäfte. Auch gibt es
hier viele Leute aus Kalmücken. Aus Tschetschenien sind Familien
erst gekommen, als der Krieg anfing. Die suchen sich ein Haus
und verkaufen Produkte auf dem Markt.“ Es ist kalt. Ich habe
meine Jacke vergessen. Wir stehen hinter dem Kirchenhaus
neben einem Baum. Vorne im Licht ist es zu laut. Iwan bringt
mich mit einem Mönch zusammen, der gerade zufällig vorbei
kommt. Mit ihm spreche ich über das Verhältnis zur katholischen
Kirche. Nur die orthodoxe Kirche ist für ihn das Wahre. Zu Putin
will er nichts sagen. Als ich beginne, ihm Fragen zu
Tschetschenien zu stellen, verstummt er. Zwei Milizionäre
beobachten uns erst von weiten und haben sich dann endgültig
neben uns gestellt. Soviel dazu.
Wolgograd. Sonntag, den 5. Mai 2002.
Ostermorgen. Kopfschmerzen. Ich rieche nach Weihrauch. Sechs
Stunden Orthodoxie gehen ins Mark. Unser Osterkuchen ist
gesegnet. Erik hatte ihn noch rechtzeitig auf einen der Holztische
vor der Kirche gestellt, ehe der Pope sein heiliges Wasser mit
dem Quastenpinsel auf die Backwaren schleuderte. Ich bin
glückselig. Nur ein gefärbtes Ei konnte sich im Gedränge auf
dem Weg zum
20
Kreuzgang nicht durchsetzen. Es ist festlich. Auf einem kleinem
Stuhl in einer Neubauwohnung mitten in Wolgograd thront unser
Kulisch. Je höher der Osterkuchen, um so angesehender ist die
Hausfrau. Alles egal, unser Hefekuchen kommt aus der Fabrik.
Das strenge Fasten der Karwochen ist vorbei. Bei den
Butterwochen habe ich in Moskau noch richtig zugelangt. Die
vierzig Tage Obst, Gemüse, Brot und Wasser wollte ich dann aber
doch nicht „mal so zum Spaß“ mitmachen, auch wenn es mir
meine Russischlehrerin ans Herz legte. Rußland fordert viel von
seinen Gläubigen. Ich habe mich von meiner Vermieterin gerade
mal zu einem Frühjahrsputz hinreißen lassen.
Gegen 16 Uhr. Es sind nicht viele, die sich am Sonntagnachmittag
nach der anstrengenden Osterprozession auf dem Paradeplatz
gegenüber dem Intourist versammelt haben. Ich zähle 20
Geistliche und ca. hundert Menschen vor der Bühne. Hat die
russisch-orthodoxe Kirche wieder großen Einfluß auf das Leben in
Rußland gewonnen? Siebzig Jahre lange hatte der Kommunismus
Atheismus verordnet. Jetzt scheint das Volk wieder süchtig zu
werden.
Es herrscht Volksfeststimmung. Nur die Hartgesottenen sind
heute Nachmittag zum zweiten Gottesdienst gekommen. Vorher
gab es ein Konzert der ansässigen Kindergruppe. Russische
Folklore klingt wie Jodeln, nur etwas langsamer. Getanzt wird in
Trachten. Die Kinder sehen wie hüpfende Schneeflocken aus. Eine
Frau um die vierzig mit weißem Kleid animiert das Publikum. Sie
schwingt hin und her. Mit jedem zweiten Wort dankt sie der
Auferstehung Jesu.
Nach einer Stunde wandert ein Demonstrationszug zur Wolga.
Ein junger Meßdiener trägt ein Kreuz voran. Auf den
Treppenstufen am Ufer gibt es einen Gottesdienst im Freien. Ich
bin besonders von einem Priester mit einer zylinderförmigen
Samtkappe beeindruckt, der vom Gesang an einen Mullah
erinnert.
Soviel Programm zu Ostern. „Die Bühne und der Marsch zur
Wolga, das gibt es in diesem Jahr zum ersten Mal“, erzählt mir
Iwan, den ich durch Zufall mit zwei Studienkollegen wieder treffe.
„Die Kirche ist im Kommen. Sie ist die Hoffnung, die Lösung für
alle Probleme. Das Orthodoxe ist dabei ganz klar das Wahre.“
Die Worte des Mönchs habe ich noch im Ohr. Interessant ist
dabei auch, wie die orthodoxe Kirche sich mit der russischen
Kultur verwebt. Dieses Aufgebot an Festlichkeit glitzert wie
Wahlkampf. Da kommt es mir vor, als würden sich die Russen in
die Zeit des Zaren zurückwünschen. „Jetzt müssen die Russen
verstehen, wer sie sind, was sie sind. Und sie können das nur,
wenn sie auf ihre
21
22
Messdiener | Wolgograd
Verkehr | Wolgograd
23
Vergangenheit schauen“, gab mir der Geistliche gestern Nacht
mit auf den Weg.
„Die orthodoxe Kirche fürchtet die Konkurrenz anderer
Glaubensrichtungen“, deutet Eduard, der Vikar, am Abend in der
lutherischen Gemeinde an. „Es ist schon schwierig genug Visa für
deutsche Pfarrer zu bekommen. Einen katholischen Priester hat
man erst kürzlich die Einreise verweigert, als er von einer
Dienstreise ins Land wollte.“ Die Zusammenhänge wurden klarer,
ähnliches hat mir bereits Jura auf der Zugfahrt erzählt. „Die
orthodoxe Kirche ist eng mit der Politik verbunden. Ein Teil des
Schwarzhandel läuft über die orthodoxe Kirche, da offiziell
Steuern für Zigaretten und Alkohol entfallen. Das wissen doch
alle.“, fügt einer der Wachmänner der Gemeinde hinzu.
„Dieses Volk ist kulturell, historisch und geistlich die
Glaubensgemeinschaft der Orthodoxen Kirche“, unterstrich
Patriarch Alexii II einmal in einem Interview. Mir kommt es vor,
als dürfe nur die „rechtgläubige Kirche“ den Anspruch erheben,
in Staat und Politik mitzureden. Was sagen nur die über sechs
Millionen Muslime, die halbe Million Juden in Rußland und
Dutzende Naturreligionen in den Weiten Sibiriens dazu?
Wolgograd. Montag, den 6. Mai 2002.
Viel zu spät stand ich vor der Tür zum Komitee Hoffnung. Ich
wollte mehr über die Situation von Flüchtlingen und Migranten
in der Region um Wolgograd erfahren. Das Haus ist aus roten
24
Steinen gebacken, nur drinnen war niemand. Meinen Anruf aus
Moskau hat man wohl vergessen. Schon am Morgen meldete
sich niemand in der Bürgerhilfe. Da stehe ich nun in einem
dreckigen Flur. Eine Mutter durchstöbert mit ihrem Kind Tüten
mit Kleidern und Schuhen, die sie unter einem Tisch neben der
Tür hervorgezogen haben. Beide raten mir morgen wieder zu
kommen. Warum sie hier sind, frage ich sie. Die Tochter deutet
mit dem Finger um die Ecke. „Familienhilfe“ steht da mit roten
Druckbuchstaben an der Kalkwand. Merkwürdig trotzdem, dass
Mutter und Kind sich einfach aus fremden Plastiktüten bedienen.
Vielleicht ist das aber auch in Ordnung.
Auf einer Bank hinter meinem Rücken meckert eine alte Frau, als
ich die Zettel auf der Tafel des Komitees entziffere. Am Sonntag
malen zwei Pädagogen mit Kindern. Der Jurist ist nur am
Dienstag da. Für Flüchtlinge aus Grozny kann keine Registration
vorgenommen werden. Für Entschädigungszahlungen muß man
sich direkt an das Amt für Migration wenden. Ganz beiläufig finde
ich eine Notiz: „Kleiderspenden bitte unter den Tisch stellen.“
Die alte Frau im Gang sitzt anscheinend bequem und klagt
munter weiter. Der Staat würde ja sowieso nichts tun. Nun sitze
sie da und wüßte auch nicht weiter. Sie fängt an zu lachen und
grunzt ein bißchen. Ich fühle mich wie in einem Theater mit
Stehplätzen, wo am Eingang Freikarten verschenkt werden.
Bei einem Gespräch mit Eduard und Martin bringe ich weiteres
über das Komitee Hoffnung in Erfahrung. Eduard regt mich an,
bei einem Interview mit der Leiterin der Organisation doch ganz
genau nach der Nationalität der Flüchtlinge, denen sie geholfen
haben, zu fragen. Er erzählt mir von zwei tschetschenischen
Familien, die vor einiger Zeit die lutherische Gemeinde um
Unterstützung baten. Jene wiederum fühlten sich von der
Flüchtlingshilfe im Stich gelassen. „Wir konnten ihnen aber auch
nicht weiterhelfen. Ein paar Orangen lösen ihre Probleme nicht“,
gibt Eduard zu. Es existiert wohl ein Interview, dass mit den zwei
Familien aufgezeichnet wurde. Martin will es mir bei Gelegenheit
nach Moskau mitbringen. Eduard versucht einen Kontakt zu
einer der tschetschenischen Familien herzustellen. „Sie leben arm
in einer verkommenden Neubauwohnung irgendwo hier im
Wohngebiet. Sie sind verschreckt. Wenn wir sie finden, wäre es
gut, wenn du etwas für die Kinder mitbringst.“ Ich fasse Mut mit
meinem
Studienthema
in
Wolgograd
doch
noch
weiterzukommen. Wie töricht war, es zu denken, einen einfachen
Weg geschenkt zu bekommen. Auf der Straße laufen einem
doch keine Flüchtlinge zu. Die Flüchtlingsorganisation hat mich
aber auch richtig versetzt.
Enttäuscht mache ich mich von der Innenstadt auf zum
Heimweg. Die letzten Sonnenstrahlen kitzeln bereits mein
rechtes Ohr. Ich sitze auf den Treppenstufen zum längsten Fluß
Europas und erlebe für Dich Geschichte Nummer eins, liebes
Tagebuch:
Oleg und Alexei sind zwei Maikäfer. Einer ist betrunkener, als der
andere. Sind in der Feiertagswoche alle so alkoholisiert und
völlig betäubt? Jetzt schleppen mir beide noch ein Eis an. In
einer Fabrik hat er gearbeitet, erzählt mir Oleg, für militärisches
Gerät. Doch seit vier Monaten haben sie ihm keinen Lohn
gezahlt. Er ist neunzehn, schwankt auf seinen zwei Beinen und
grient mich durch seine Sonnenbrille an. Was er denn jetzt
mache, frage ich ihn. Auf dem Markt verkauft er Spielzeug.
Hundert Rubel sind das am Tag. Das reicht ihm, heute ist sein
freier Tag, da will er sich einfach mal betrinken. Das sei doch
schließlich Tradition in Rußland, meint er.
In solchen Trinkgemeinschaften gibt es ein interessantes
Phänomen: Trotz des Alkohols scheint zumindest einer von ihnen
abschnittsweise Nüchternheit zu simulieren. Das lenkt den
anderen von seinem Buchstabensalat ab, was wiederum zur Folge
hat, dass er eine Flasche Bier für seinen Zeitgenossen anordnet.
Beide haben eine schwache Blase, darum ist das Spiel limitiert.
Die Sonne ist dem Untergang geneigt. Es wird kühler. Ein
Großvater tritt mit seinem kleinen Enkelsohn ans Wasser und
deutet mit dem Regenschirm auf die andere Seite. Eine
Familiengesellschaft tritt mit dem Auto die Heimfahrt an. Es war
ein wolkenloser Tag, den viele mit der Bierflasche in der Hand
abschließen wollen. Ich versuche, mir die tief roten Wolken genau
einzuprägen, die sich in der Ferne auf die Spitzen der Bäume
werfen. Ein Schiff fährt an meiner Nasenspitze vorbei, und ich
hoffe, in ein paar Tagen mit einem ähnlichen nach Astrachan zu
kommen. Eine alte Frau mit Kopftuch, dicker Hornbrille und rotschwarzem Blumenkleid schneuzt sich vor der brechenden Welle
am steinernem Ufer. Ich muß schmunzeln, als sie ihren ebenfalls
mit Blumen bedruckten schwarzen Stoffbeutel nimmt und
Bierflaschen darin anfangen zu klirren. Etwas gutes hat die Sache
ja wenigstens: Morgen kann die Babuschka die ganzen leeren
Bierflaschen der Leute einsammeln.
25
Antworten kommen also doch immer. Manchmal haben sie bloß
Verspätung. Da hilft es nur sich treiben zu lassen. Ein junges Paar
fotografiert sich auf dem Steg. Ich hoffe für alle Betrunkenen,
dass sie immer genügsame Zuhörer finden. Mögen sie beim
vielen Reden niemals ihre Zunge verschlucken.
Erinnerungen kann man leider nicht verborgen. Manchmal ist die
Stimmung aber so einmalig, dass man sie nicht vergessen will.
Genauso ging es mir, als ich in der Marschrutka1 eine Stunde
lang für zehn Rubel viel Freude hatte. Ich erlebe Geschichte
Nummer zwei auf der Heimfahrt von einem Ende zum anderen
Ende der Wurst entlang der Wolga: Die Leuchtreklame auf der
Hauptstraße surrt bereits, als ich mich neben den Fahrer und
einen Soldaten dränge. Das blecherne Mobil ist gerade mal
halbvoll, als der
1
Kleiner Linienbus.
26
27
Reparaturauto | Wolgograd
28
Mann auf dem Fahrrad | Wolgograd
Kaukasier Blinker ansetzt, das Gefährt ausschwenkt und die Dose
samt Inhalt in den Verkehr rudert.
Die Gesellschaft in solchen Menschenfrachtern arbeitet. Ganz
selbstverständlich wird Geld zum Vordermann gegeben, der aus
dem gesammelten Topf das Wechselgeld verteilt. Erst dann wird
das Büschel an Scheinen dem Busfahrer in die Hand gestopft.
Der meistert gleichzeitig das Ausweichmanöver um des nächste
Schlagloch, sichtet mit dem anderen Auge willige Fahrgäste am
Straßenrand, schlägt einen Haken um einen lahmenden
Trolleybus
und
balanciert
lässig
seinen
glühenden
Zigarettenstummel im Mundwinkel.
Das Prinzip ist einfach. Wer raus will, brummt einfach
„Anhalten!“. Experten geben schon Minuten vorher Bescheid, um
sich auf Höhe ihres Plattenbaus bringen zu lassen. Dem Fahrer
ist das Wurst. Der nickt, sagt „Gut!“ oder hält einfach zur
richtigen Zeit an. Mitfahren ist da schon etwas schwieriger. Da
die meisten an einem Zipfel einsteigen ist meist mittendrin kein
Platz für willige Zusteigende. Unser Fahrer hat seine Besatzung
aber bestens im Blickfeld. Ein Platz genau in der letzten Reihe am
Fenster ist schnell geortet.
Ob er denn auch bei der Schule 37 vorbeifährt, fragt eine Frau,
die mit ihrer ausgestreckten Hand unsere Räder zum Stehen
gebracht hat. „Ja!“, hallt es zurück. Die Frau steigt ein und fällt
beim sofortigen Ausscheren des Kleinbus erst mal in die
helfende Menge. „Zeit ist Geld, schließlich bringt jede Runde die
Punkte für die Abrechnung am Monatsende“, erzählt mir der
Fahrer später. Bereits nach zehn Minuten vergewissert sich die
zugestiegene Frau abermals nach besagter Schule 37. Die Frau
scheint mir eine besorgte Mutter auf dem Weg zur
Elternversammlung zu sein. Bei erneuter Nachfrage einige
Minuten später tröstet sie der Kaukasier: „Ja, ich weiß doch. Ich
werde dort anhalten. Das dauert aber noch.“ Dann dreht er den
Kopf zu mir und fragt „Hier?“, ich ziehe verdutzt meine Schultern
bis zu dem Ohren. „Wie bitte? Ich will hier nicht aussteigen“, und
wende mich zu meinen Mitfahrer zur rechten. Der Soldat
telefoniert gerade und war wohl der unbemerkte Auslöser für die
Verwirrung. Der Fahrer schaut mich an, wir müssen beide
anfangen zu lachen. Nur die Stimme der übereifrigen Mutter
geht mir langsam auf die Nerven, die sich schon wieder nach der
Haltestelle erkundigt. Vorher steigt noch ein alkoholisierter Russe
zu, den ich bis nach vorne rieche. „Die Fahrpreise sind doch viel
zu teuer!“, lallt er und brabbelt auf die anderen Fahrgäste ein.
Nach weiteren zehn Minuten ist aber wenigstens die
vermeintliche Mutter am Aussteigen. Schule 37 haben wir
erreicht. Zwei junge Russen warten schon mit einer Flasche Bier
auf sie. Doch keine Mutter, denke ich mir. Einfach jemand, der
durstig ist.
Nach über einer Stunde ist der Spaß vorbei. Ich entknote meine
Beine aus dem Fahrerhäuschen. Ein letzter Blick auf den
kaukasischen Fahrer. Der hat sich schon wieder eine Zigarette
angezündet und den ersten Gang bereits eingelegt. Morgen darf
ich den gleichen Spaß erleben. Jeden Tag ein ganzes Abenteuer
in einer Stunde für zehn Rubel.
Ende der Aufschrift gegen 2 Uhr morgens
29
Wolgograd. Dienstag, den 7. Mai 2002.
Heute mal alles in Kurzform: Verschlafen. Telefonate hinsichtlich
der Flüchlingsorganisation Komitee Hoffnung führen weiterhin ins
Leere. Bekomme die private Telefonnummer der Leiterin über
die Auskunft heraus. Ebenfalls keine Antwort. Fahre in die Stadt.
Die Frau von der Administration des Bürogebäudes schlußfolgert
auf die Feiertage. Gang zur Stadtverwaltung. Das kann doch hier
noch nicht alles gewesen sein. Der Mitarbeiter für
Migrationsfragen hat gar keinen Plan. „Ja, wer sind Sie
überhaupt? Warum wollen Sie diese Informationen? Sind Sie
Deutscher? Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“ Ihr Vorgesetzter
läßt auch nicht mit sich reden. Beide kennen noch nicht mal das
Komitee „Hoffnung“. Verweisen mich auf das Rote Kreuz. Das
Amt für Migrationsdienst will auch keine Angaben herausgeben.
Mache mich auf zum NGO-Beratungszentrum vom DeutschRussischen Austausch. Durchforste mit Claudia, einer deutschen
Praktikantin, die Bibliothek. Plündere sämtliche Listen mit
Hilfsorganisationen in Süd-Russland. Finde Hinweise auf
Ressource-Zentren in Krasnodar, Stavropol und Astrachan.
Überlege meine Reiseroute zu ändern. Ich setze auf nichts und
niemanden mehr. Endecke ein Schild mit arabischen Schriftzug
auf dem Rückweg. Das Rote Kreuz hat geschlossen.
Abends, fahren Angeln. Treffen uns mit Wowa. Sohn des
Wachmanns, der ihn mit Martin zusammengebracht hat. Wohnt
in einer Siedlung außerhalb der Stadt. Kleines Sammelsurium an
Häusern. Alles sehr heruntergekommen und improvisiert. Um so
herzlicher er und seine Familie. Nette Menschen. Er ist 19 Jahre
alt, studiert Archäologie. Schenkt mir eine Patrone aus dem 2.
30
Weltkrieg. Ein Rohr der Panzerabwehr liegt hinter dem Schuppen
im Garten. Zeigt mir begeistert einen Helm mit Einschussloch. Ich
schweige.
Gehen zum Kanal. Quer über die einzige endlos
auseinandergezogene Straße. Vorbei an einem hintümpelnen
Bach. Gekonnter Sprung über ein Abflußrohr. Ein bellender Hund.
Leute, die nach dem rechten Sehen. Es riecht es nach Kuhdung.
Dorfleben, mal was anderes für einen Stadtmenschen. Die
Stechmücken hätten nicht sein müssen. Nach dem ersten Wurf
der Pose schon der erste Fisch. Russen tun die gefangenen Fische
einfach so lebendig in eine Tüte. Auf einmal, ein riesiges Schiff in
einem kleinem Kanal. Faszinierend. Tee und Blini2 zum Abschied.
Das muss die russische Gastfreundschaft sein.
Kein Auto nimmt uns als Anhalter mit. Wolga-Don-Kanal.
Gigantischer Staudamm. Festungswall ließ der russische Zar
errichten. Bollwerk gegen die dauernden Überfälle von Kosaken
und Steppenvölkern. Ein Schleuse. Beeindruckendes Bauwerk.
Neoklassizmus. 1952 fertiggestellt. Stalin war bei der Eröffnung
nicht dabei, soll aber drüber geflogen sein. Technik, die Hunderte
von Bruttoregistertonnen anhebt. Shell-Fässer. Öltanker vom
Kaspischen Meer. Denke an den Krieg in Tschetschenien.
Wirklichkeiten liegen so nahe.
Ende der Aufschrift 4 Uhr morgens
2
Eierkuchen.
Wolgograd. Mittwoch, den 8. Mai 2002.
Immer noch Feiertagswoche. Sprüche werden zwischen zwei
Bäume gespannt. Auf dem Markt steht ein Veteran. Viel Metall
hängt an seiner Brust. Ein Blumenhändler preist seine roten
Nelken an. „Für die Russen ist das wie Weihnachten“, witzelt Erik
am Morgen.
Martin ist krank. Ich breche zu dem Ehepaar auf, dass er sonst
zwei mal die Woche betreut. Ina und Achmed empfangen mich
offen mit einer unbeschreiblichen Selbstverständlichkeit. Sofort
wird mir ein Platz in der Küche angeboten. Sie freuen sich über
den unbekannten Besuch. Ich habe mich noch nicht mal richtig
vorgestellt, als mir Irina einen Teller mit Reis und Suppe reicht.
Ich
31
Stadtlandschaft | Wolgograd
Zu Besuch bei Ina und Achmed | Wolgograd
32
solle doch erstemal essen und satt werden. Die Situation ist
ausweglos. Ich fühle mich unsicher. Mein Blick geht durch die
Wohnung. Das Zimmer ist nicht groß. Viel haben sie nicht. Hier
wohnen sie nun zu dritt, ihre kranke Schwester liegt im Bett. In
der Küche: drei Teller, eine Kanne, zwei Töpfe. Beide sind aus
Grozny. Ina ist Russin, er Ingusche. Sie lernten sich vor dreissig
Jahren in Tschetschenien kennen. Damals hatte Ina noch für die
Verwaltung die Renten verteilt. Achmed hat als Bauarbeiter
Häuser und alles mögliche für die sozialistische Republik gebaut.
Seit 1999 sind sie in Wolgograd. „Der Krieg ist doch nicht
auszuhalten“, erzählt Irina. „Nur er ist viel zu spät nach
Wolgograd nachgekommen“, murrt sie. Beide sind herzlich,
stacheln sie gegenseitig an, und ich bin vergnügt, ihrem
Plaudern zuzuhören. Ina stellt mir Hühnchen vor die Nase. Als sie
an den mitgebrachten Lebensmitteln herumwuselt, lenke ich ein.
Das geht doch nicht. Die beiden haben nichts, dennoch bieten
sie mir alles was sie haben an. Wie kann ich ihrer
Gastfreundschaft nur gerecht werden?
Ina erzählt mir von ihrem Leben vor und während des Krieges in
Tschetschenien. Ich blicke heimlich zu Achmed. Der sitzt einfach
nur da und lächelt mich an. „Du sollst nicht in der Küche
rauchen!“, schimpft Ina heftigst. „Ja, ja“, sagt er nur und trollt sich
ins Wohnzimmer. Achmed ist Invalide der ersten Stufe. Sein
Alzheimer ist bemerkbar. Er schwärmt vom Kaukasus: „Кавказ
это Кавказ - Der Kaukasus ist der Kaukasus. Dazu kann ich dir
nichts erzählen, das mußt du sehen und spüren. Dazu hat der
Junge aber noch Zeit.“
„Weder gut, noch schlecht geht es uns. Wir leben noch“, stellt Ina
fest. „Wir helfen uns untereinander, dann geht es schon. Die
Bürgerhilfe in der Stadt hat jetzt auch die Dokumente für
Achmed aus Grozny angefordert. Vielleicht bekommt er bald
auch seine Pension. Die Töpfe dort haben mir Freunde
geschenkt.“ Der Wasserhahn im Bad ist hin. In der Platte müßte
man so einiges reparieren. Als ich gehe, drückt mich Achmed
zum Abschied auf der Straße. Mir ist warm, auch wenn ein kalter
Wind durch den Pullover bläst.
Am späten Abend in Sarepta versuche ich, die zwei Familien
ausfindig zu machen, von denen mir Eduard berichtete.
Fehlanzeige, Martin erzählt mir dafür von einer Frau, die er auf
der Straße kennengelernt hat: „Für gewöhnlich steht sie dort
drüben neben dem Kiosk. Die letzten Wochen hat sie Sirok3
verkauft. Früher war sie wohl Politikerin in Tschetschenien, jetzt
schreibt sie Briefe an Putin. Sie bittet um einen Termin. Einmal
wollte sie in einem Geschäft ein Brot kaufen. Die Verkäuferin
stellte sich stur, Tschetschenen würde sie nicht bedienen. Danach
hat sie sich die Haare gefärbt, um nicht aufzufallen und arbeiten
zu können.“
Sie wohnt in einem Hotel, zwei Häuser neben der Gemeinde. Ich
mache mich gleich auf den Weg und finde ein ranziges Haus. Die
Luft ist schlecht. Das Ambiente erinnert mich an eine
Jugendherberge. Nur ihr Sohn ist da. Die Mutter ist in Moskau.
Kasbek ist zurückhaltend, nur zögerlich läßt er mich in den
3
Eine süße kleine Speise aus Quark und Käse überzogen mit
Schokolade.
33
kleinen Raum. Vor dem zweiten Krieg in Tschetschenien war er
Geschäftsmann. Ein Cafe, einen Laden und ein Haus mit 14
Zimmern hatte er. „Ich war reich“, flüstert er. „An einem Abend
hat ein Hubschrauber alles nieder gebombt. Vor drei Jahren sind
wir hierher geflüchtet. Nun habe ich nichts.“ Ich kann mich nur
schwer in seine Situation denken. Warum er nicht wieder
arbeitet, frage ich ihn. „Wenn du nur wüsstest.“, antwortet er und
zittert. Manchmal sollte ich einfach keine Fragen stellen.
Ich höre ihm zu: „Wir hatten Bekannte hier. Über Elista in
Kalmückien sind wir mit dem Auto hierher gekommen. Danach
habe ich das Auto verkauft. Unsere Ersparnisse sind längst dahin.
Der Krieg hat uns bankrott gemacht.“
Die Stimmung ist mutlos. Kasbek zuckt mit den Schultern. Als ich
mich mit ein paar tschetschenischen Wörtern bedanke, weicht
sein hartes Gesicht auf: „Hoffnung, das heißt warten. Warten
darauf, dass der Krieg aufhört. Wie lange es noch dauert, wissen
wir nicht. Geholfen wird dir nicht.“ Von „Hoffnung“ hat Kasbek
gehört, für das Komitee und den Migrationsdienst findet er aber
nur böse Worte. „Ich träume von einer besseren Welt mit einer
gerechten Zukunft.“ Ich schwimme in Eindrücken. Wie
optimistisch können wir sein? Meine Gedanken machen mir
Angst.
Viel zu spät schleiche ich mich in den Jugendabend der
Gemeinde herein. Es geht um Flüchtlinge, die nach dem Bau der
Berliner Mauer von Ost- nach Westdeutschland geflohen sind.
Ich will ihre Meinung zum Krieg in Tschetschenien hören. Ein
Junge mit blonden Haaren hat Angst vor Kaukasiern. Ein Freund
34
von ihm ist einmal in eine Schlägerei geraten. „Die Kulturen sind
zu unterschiedlich. Eine Integration findet nicht statt“, findet er.
„Außerdem kannst du doch nicht einfach dorthin, wohin du willst,
nur weil es dir schlecht geht“. Diese Aussage ist spannend, da es
den Freiheitsbegriff berührt. Ein 20-jähriges Mädchen kritisiert die
Rolle der Medien: „Woher wissen wir, was wirklich dort abläuft?
Ich bin Russin und selber aus Grozny. Die Vorurteile im Fernsehen
sind unerträglich.“ Die Diskussion bleibt differenziert. Erik erzählt
uns von seiner Wohnungssuche. „Ist euch mal aufgefallen, dass in
den Annoncen «Только русских – Nur für Russen» steht? Wie
würdet ihr euch fühlen? “ Dazu fallen mir etliche Momente ein,
bei denen die Miliz ausschließlich Kaukasier auf der Straße
anhielt. Setzt diese Art der Paßkontrolle nicht schon den
Gleichheitsgrundsatz außer Kraft? Erstaunt hat mich die generelle
Angst vor den Kaukasiern. Interessant auch, dass mich ein
Student fragt, wie wir in Deutschland damit umgehen würden:
„Ist es bei Euch besser?“. Wir einigen uns darauf, mit offenen
Augen durch die Welt zu gehen. „In jeder neuen Kultur liegt doch
eine Bereicherung“, schließt ein Mädchen ab.
Ich bin zu müde, um alle Meinungen aus dem Kopf zu fischen.
Ende der Aufschrift 11 Uhr abends
Wolgograd. Donnerstag, den 9. Mai 2002.
Kriegsende, Heldentag, die roten Fahnen sind gehißt. Wir sind
mutig und fahren zum Ehrenmal. In der Straßenbahn herrscht
Ausnahmezustand. Am Mamajew-Hügel geht die Post ab.
Zivilisten und Soldaten wandern empor zur „Mutter Rußland“. Ein
Mann fotografiert seinen Sohn. Der Kleine salutiert. Seine
Uniform blitzt. Am „Tag des Sieges“ werden die Orden wieder
angelegt. Auf dem Rand eines Springbrunnens legen Kinder
Blumen nieder. Im Schein der Sonne treiben Blüten auf einen
Helden aus Stein zu. Die Inszenierung ist perfekt. Beim Gang die
Treppen hinauf hören wir den Radioausschnitt der Kapitulation
Hitlerdeutschlands. Musik spielt auf. Wir streiten vorbei an
Bildern, die links und rechts neben uns in die Granitwände
geschlagen sind.
Stalingrad ist Heldenstadt. In einer Halle sind die Namen der
Toten verewigt. Umschlossen von einer kolossalen Hand brennt
eine Fackel in der Mitte. Ein junger Soldat wacht über die
Ordnung. Die Menge schiebt sich staunend zum Ausgang. Die
nächste Stufe dieses riesigen Parks ist erreicht. Ich sehe drei
Herren, die sich auf
35
Schulterklopfer am 9. Mai | Wolgograd
Feuerwerk | Wolgograd
36
der Wiese treffen. Einer von ihnen trägt das Bild Stalins. Man
klopft sich auf die Schulter. Eine alte Sowjetfahne weht im blauen
Himmel. In ihrem Schatten liegen Hefte. Sie sollen über das
Leben des Genossen Stalin aufklären.
Entlang an den Grabplatten gefallener Generälen nähern wir uns
der Mamaja. Die „Mutter Russland“ ist gigantisch. Ihr Gesicht ist
energisch. Das Schwert erhebt sie drohend dem Feind und
schützend der Heimat entgegen. Dem Pathos dieser Figur kann
ich mich nur schwer entziehen. Ihr Haar und ihr Kleid sind im
Wind versteinert. Sie ist die größte freistehende Statue der Welt,
exakt zweimal so groß wie die New Yorker Freiheitsstatue.
Die Leute grillen hinter den Büschen. Ein fülliges Damentrio
trällert russische Volkslieder. Die Gesellschaft sitzt im Gras und
applaudiert. Menschenschlangen warten vor den gelben Tonnen
auf einen Becher Kvas4. An einem Stand kann man Militärkappen
mit rotem Stern kaufen. Das Volk drängt zu den
Schaschlikbuden. Glocken läuten den Weg hinauf. Die orthodoxe
Kirche pilgert zum Gottesdienst im Grünen. Später wird der Pope
einen Grundstein für ein neues Gotteshaus ganz in der Nähe der
Mamaja legen. Die Presse hat schon die Kameras auf die
Baustelle gerichtet. An einem Baum entdecke ich in einem
kleinen Glaskasten eine Ikone. Dieses Land ist ein Rätsel.
Nach dem Krieg wurde Wolgograd vollkommen neu aufgebaut.
Das Zentrum ließ Stalin im Neoklassizismus rekonstruieren. Nur
ein Haus stand noch. Heute steht daneben das Panorama-
4
Gegorenes Getränk aus Brotteig.
Museum, das wie ein in die Höhe gezogener Schützenbunker
aussieht. Wie ein Raumschiff platzt das Bauwerk in die
Landschaft. In der letzten Etage ist die Schlacht von Stalingrad
nachgestellt. Die Szenerie wirkt echt. Mit Wohlwollen führt eine
alte Dame durch die Ausstellung und deutet auf einen Mann, der
brennend mit einem Molotow-Cockail auf einen deutschen
Panzer rennt. „Dieser Soldat gab sein Leben für die Freiheit
unserer Heimat“, erläutert sie.
Straßen und Stadtbezirke sind im ehemaligen Stalingrad nach
den Helden benannt. Überall finden sich viele signifikante
Zeichen des Großen Vaterländischen Krieges. Die Siegessymbolik
schwebt in der Stadt mit. Die unverständlichste fand ich neben
einem Ehrenfeuer in der Innenstadt. Zwei Mädchen mit Schleifen
im Haar stehen davor, typisch russisch denke ich mir. Ich
entdecke zwei Jungen in grüner Montur mit Gewehren und
erschrecke. „Die stehen meist vormittags in der Woche da. Frage
mich, ob die überhaupt zur Schule gehen“, kommentiert Martin
die Gegebenheit. Nach dem Wachwechsel marschieren sie im
Gleichschritt auf die andere Straßenseite. „Ob das in China auch
so ist?“, überlege ich mir und muß lachen. Ich hatte ja viel
erwartet, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.
Ähnlich ging es mir mit Lenin. Der steht nämlich am Ufer zur
Wolga und schaut auf das Wasser. Der größte Lenin der Welt
steht in Wolgograd. Diese Stadt ist die Heimat der Superlative.
Am Abend genießen wir das Feuerwerk. Am Tag des Sieges hört
man die Nationalhymne im Autoradio. Ich habe an dem heutigen
Tag das Gefühl mir einen ganz anderen Teil russischer
Wirklichkeit erschlossen zu haben.
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Wolgograd ist voller Helden. Meiner heißt Sascha. Um
Mitternacht warte ich vor der Brotfabrik. Umhüllt von Brotgeruch
lasse ich mich in eine Traumwelt tragen. Fleißige Hände patschen
Laibe in die Maschine. Kübel mit Teig werden durch die Gegend
geschoben. Sascha steht mir seinem weißen Lada vor dem Tor.
Er ist der Brotfahrer. Ich bettle in gebrochenem Russisch. „Wat,
habt da bei euch etwa keen Brot?“, gluckst er. Ich träume weiter.
Sascha ist weg. Der Wachhund kläfft. Das Tor öffnet sich. Ich
gehe. Nur ein warmes Brot schützt mich gegen die eisige Nacht.
Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein.
Ende der Aufschrift gegen 2 Uhr morgens
Wolgograd. Freitag, den 10. Mai 2002.
Es regnet. Ich sitze im Zug und nehme Abschied von Wolgograd.
In diese Stadt läßt es sich schnell einleben. Trotz Chemiefabriken
und Plattenbauten hat sie ihren ganz eigenen Charme. Kurios
allein der Hafen und das Operngebäude. Wie eine riesige Torte
wirkt das Gebilde, verbacken zu einer futuristischen Konstruktion.
Ob nun schön oder mutig, ich mag mich gar nicht entscheiden.
Es ist schon grotesk, wie rasant uns doch die Zeit mitnimmt. Wir
begegnen Menschen, hören ihre Geschichten. Sie sind ehrlich.
Wir steigen heimlich in fremde Träume und erleben alles still mit.
Es ist nur die Frage, auf welcher Seite wir stehen.
Die Hitze im Autobus ist unerträglich, als wir uns auf den Weg zu
Luzi machen. Wir kommen direkt vom Staudamm, den wir aus
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der Nähe betrachten wollen. Der Schriftzug „Ehre der Arbeit“ auf
einem Fabrikgebäude verwundern mich gar nicht mehr.
Vergangenheit und Zukunft sind irrelevant, denn sie sind eins.
Kurz nach meiner Ankunft lernte ich Luzi am Hafen kennen. Sie
wartete auf ein Schiff, dass ihr Briefe von Freunden aus
Deutschland mitbringen sollte. Von der Städtepartnerschaft
Wolgograd-Köln erzählte sie schon am Montag. Nun folgen wir
ihrer Einladung. „Bringt bloß keine Blumen mit“, bittet sie uns
vorsorglich. „Die sind so vergänglich. Überhaupt, ich brauche
nichts.“ Lustig sind sie schon die Österreicher. Ich fühle mich
wohl, als wir in Luzis kleinen vier Wänden „guten Kaffee aus
Wien“ trinken, wie sie selbst sagt.
Mit 14 Jahren ist sie von Österreich nach Swetlowsk geflüchtet.
„Das war 1934, als die Nazis uns „Heim ins Reich“ holen wollten“,
erzählt sie. „Ich bin Jüdin, wir mußten fliehen.“ Ihr Bruder
arbeitete schon in Wolgograd, die Familie sollte nachkommen.
An der Technischen Universität hat sie gelernt. Für das
Ingenieurstudium hat sie aber keinen Abschluß bekommen.
Später arbeitete sie als Spezialistin für Hebe- und Neigetechnik
im Traktorenwerk am Reißbrett. „In den Traktorenwerken wurden
früher Panzer gebaut“, weiß Luzi und schenkt Kaffee nach. Nach
Rußland kam sie ohne ein Wort Russisch. „Nur „nitschewo5“
konnte ich sagen“. Das ist übrigens eines der vielen russischen
Universalwörter und heißt so viel wie „gut, schlecht, ich habe
nichts oder das macht nichts“. Es mag an der Betonung liegen,
um es in den entsprechenden Situationen richtig einzusetzen.
5
ничего.
Luzi will hundert werden, das hat sie sich ganz fest
vorgenommen. Eine bekannte Sängerin aus Wolgograd ist 95
Jahre alt geworden. Die will sie schlagen, meint die 81-Jährige.
Vorher wird sie Bürgermeisterin in Wolgograd und räumt auf.
„Die wollen mich ja nicht“, gibt sie spaßend zu. Ihr
österreichischer Akzent ist köstlich. In Rußland will sie bleiben.
„Was soll ich in Deutschland oder Österreich, mein Leben ist
hier“, sagt sie. „Hier habe ich doch alles. Und wenn du hier zu
Besuch kommst, sind die Menschen offen und herzlich. Hier
geben die Menschen für den Gast alles was sie haben. Und was
kostet es? Machen wir uns doch nichts vor, Brot und Käse hat
doch jeder. Dann gibt man es gerne und zählt vorher und
hinterher nicht nach. Ich war einmal in den Staaten, da meinte
meine Freundin noch: Iß gut, bei denen sind die Wurstscheiben
abgezählt. Was soll das, so verklemmt will ich nicht leben.“ Da
hat sie irgendwie recht. Als Gast ist man Freund. Ich hatte und
habe in Rußland immer das Gefühl, willkommen zu sein.
Luzi | Wolgograd
39
40
Kinder am Abend auf der Strasse | Astrachan
Ich hoffe, dass Luzi über hundert wird, und sie bald
wiederzusehen. Es ist mitreißend, solche herzlichen Menschen zu
treffen.
Am späten Abend mache ich mich auf zum Bahnhof. Im Kleinbus
erzählt mir noch ein Mann von seinem Leben in Grozny. Vier
Kinder hat er. Vor drei Jahren sind sie geflüchtet. Die Familie lebt
jetzt in einer Einzimmerwohnung im Randbezirk. Sie haben alles
zurückgelassen. Freunde, Verwandte, das Glück, ihr Leben, alles
hat sich der Krieg geholt. Seine Worte klingen ohne Hoffnung.
Seine braunen Augen blickten in die Leere. Dennoch, seine
Freundlichkeit und Offenheit machen mir Mut, seine
Menschlichkeit scheint unsterblich zu sein. Er klagt nicht.
„Irgendwie muss es ja weitergehen“, sagt er. „Politik ist doch ein
riesiges abgekartetes Vergnügungstheater. Die machen mit uns
was sie wollen.“ Damit hat er Recht, vielleicht ist das ja, was die
Zustände auf der Welt so katastrophal macht. „Freiheit? Ich will,
dass es aufhört und meine Kinder keine Angst haben müssen“,
endet er. Und dann erinnere ich mich noch an eine Begegnung
auf dem Markt am heutigen Morgen. Ich komme mit einem
Obsthändler ins Gespräch. Er ist seit zwei Jahren in Wolgograd,
seine Familie hat er jetzt aus Dagestan nachkommen lassen.
Schon komisch, die Zeit scheint nur die Koordinatensysteme zu
verschieben, die Probleme bleiben im Kern doch beständig.
Es regnet immer noch, als die Zugrädern sich mit uns
quietschend in Bewegung setzen. Auf in Richtung Astrachan.
Wolgograd, du bist eine merkwürdige Stadt. Ich habe mir dich
viel kleiner vorgestellt. Aber nein, die Leute sagen, du hättest
sogar eine Metrostation. Oder gaukelst du uns nur etwas vor?
Das „T“ für Tramwai6 sieht in der russischen Schreibschrift ganz
wie ein „M“ für Metro aus. Verdächtig, verdächtig. Du bist halt
eine Wurst. Man weiß nie was kommt, denn der Zufall pirscht sich
von zwei Seiten auf einen zu. Doch jede Stadt hat seine
Eigenarten. Du hast dazu das Rauschen der Wolga und den Glanz
des Ruhmes. Grüß mir die Stille. Dein Bild bleibt mir ein
Weggefährte auf meiner Reise. Ich sehe dich wieder, sooft ich
will, denn dein Bild lebt in meiner Erinnerung.
Wir bewegen uns rhythmisch zur Melodie der Gleise. Meine
letzten Blicke haften an der Mamaja. Nur das kleine rote Licht auf
ihrem Schwert durchbricht die Nacht. Dieses Monument ist so
überwältigend und wirkt doch wie eine winzige Spielzeugfigur.
Ein kleiner Junge schreit auf: „Da ist sie, da ist sie. Wir kommen
wieder. Mama, wir müssen wiederkommen.“
Astrachan. Sonnabend, den 11. Mai 2002.
Ich sitze wieder im Dunkeln. Stromausfall. Es gibt doch noch
Hoffnung auf dieser Erde. Solche Augenblicke stimmen mich
glücklich. Das Unerwartete liegt doch in den kleinen Dingen des
Lebens. Es ist abend, doch am Morgen fing dieser Tag an:
Da wartete Vera am Bahnhof. Sie, eine lustige Frau, rüstig um die
vierzig. Gelernt hat Vera Modedesign, jetzt ist sie Vikar der
lutherischen Gemeinde in Astrachan. Eduard hat mir die
6
Strassenbahn.
41
Telefonnummer vermittelt. „Vera kennt jeden in Astrachan. Sie
kann dir helfen.“ Astrachan hat das Kaspische Meer vor der Tür
und grenzt an Dagestan, hier sollte ich in puncto Flüchtlinge
doch fündig werden.
In Astrachan sind die Kinder noch mit dem Fahrrad unterwegs.
Hier kann man ohne Herzklopfen die Straße überqueren. Die
Stadt ist das Venedig Rußlands. Kleine Brücken und Kanäle
verschlingen sich gegenseitig. „Wenn wir etwas haben, dann
Fisch. Die Leute werden so immer überleben.“, erzählt Vera. Auf
der Hafenpromenade angeln drei Jungs mit Holzstöcken. Ein
Stückchen Kork haben sie als Pose an die Schnur geknotet. Ein
zottliger Hund tapst um sie herum. Neben ihnen ein alter Mann
mit Schlappmütze, der einen Fisch nach dem anderen aus dem
Wasser zieht. Ausgediente Frachter schwimmen als Restaurants
daher, das Netz und ein Grill direkt auf der Brücke. Frischer hüpft
der Fisch nicht auf den Tisch. Urlauber flanieren an den Booten
vorbei. Ich bin mitten im Wolga-Delta. Die Sumpflandschaften
sind mir schon auf der Zugfahrt am Morgen aufgefallen.
Astrachan ist historisch gedient. „Das Haus ist 180 Jahre alt. Mach
dir keine Sorgen, aber es hat so seine Macken.“, sagt Vera, als sie
eine große Tür aufschließt. Ein Teppich hängt an der Wand, die
Balken knarren, die Luft riecht nach faulem Holz. Eine Brigade
von Ameisen fangen an, die Zuckerdose zu erobern, als wir in
der Küche sitzen und über Nationalitätenkonflikte in Astrachan
sprechen. „Ich habe nur kaltes Wasser. Wir können heute Abend
zu einer Freundin fahren, dann kannst du dich dort duschen.“
Und so sitze ich schon wieder in einer anderen Küche. Der Strom
ist immer noch nicht an. Vera erzählt weiter von den Kosaken.
42
„Bei uns leben alle friedlich zusammen: Russen, Tataren,
Kasachen, Deutsche. Über zwölf Nationalitäten konzentrieren sich
auf einen Fleck. Im Gegensatz zu Krasnodar und Stavropol
kommen hier alle gut miteinander aus.“ Im Fernseher läuft
russischer Humor, den verstehe ich nicht und kann nicht lachen.
Auf dem Tisch steht Fisch, wie sollte es anders sein, ich freue
mich.
Astrachan. Sonntag, den 12. Mai 2002.
Gegen 7 Uhr in der Früh brechen wir zum Gottesdienst auf. Ich
hätte nicht gedacht, dass ich auf meiner Reise mit Kirche zu tun
haben würde. Vera sucht alle Utensilien zusammen, derweil
schaue ich „Dienen in Rußland“. Der Sprecher lobt die
Spezialausbildung von Jugendlichen in Moskau zu Elitekämpfern.
Im Deutsch-Russischen Haus sitzt die Gemeinde. Da werde ich
erstemal in den Deutschunterricht abkommandiert und kritzle
Autogramme in die Schulhefte. Danach geht es auch schon auf
Exkursion durch die Stadt. Die Kinder zeigen mir, wie man es
einem Grashalm eine Tröte bastelt, ich bin begeistert. Wir
schlendern über einen Flohmarkt und lästern im Park über eine
Volkstanzgruppe ab.
Heute ist Muttertag, da hat sich die Jugendgruppe ein
Theaterstück
ausgedacht.
Später
erzähle
ich
vom
nationalsozialistischen Hintergrund des Feiertags. Eine alte Dame
rettet mich aus den Gesellschaftsspielen mit den Jugendlichen
und will alles über Deutschland wissen. Es gibt viele
Russlanddeutsche in Astrachan, die müssen jetzt einen
Sprachtest bestehen, um nach Deutschland zu kommen. Da
wollen alle mit mir Deutsch sprechen, und die Geburtsstadt ihrer
Eltern an der Karte gezeigt bekommen. Man holt Listen von
Hilfspaketen aus Deutschland hervor, alles haben sie ganz genau
notiert.
Erst am späten Abend komme ich aus dem Deutsch-Russischen
Haus los. Vera und ich schlendern durch die Fußgängerzone und
suchen ein Internetcafe. Das verrückte ist, das wir eins finden, da
sage doch noch jemand Rußland sei rückständig. Durch Zufall
trifft Vera eine Bekannte wieder. Sie ist aus Baku und arbeitet am
Blumenstand neben dem Fotoladen. Mit ihren drei Kindern ist sie
gleich nach Ausbruch des Konflikts zwischen Armenien und
Aserbaidschan geflüchtet. Zuerst waren sie obdachlos, dann hat
43
Lenin vor dem Kreml | Astrachan
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Zirkus | Astrachan
ihnen Vera geholfen. Ihr Gesicht ist alt, die Haare kurz, sie steckt
sich eine Zigarette an. Ich schätze sie auf 45 Jahre, dabei ist sie
erst 32. Das kommt vom Streß, erzählt mir Vera später.
Die Gemeinde hat viel zu tun. Ein Problem sind die vielen
Straßenkinder. Wir sprechen über Armut in Rußland und Vera
hat da so eine Theorie beim Betteln: „Schau dir die Leute vorher
ganz genau an, ehe du ihnen Geld gibt’s. Alte Frauen mit
sauberer Kleidung betteln, weil ihre Rente zu niedrig ist und sie
anders nicht überleben können. Straßenkindern mit glasigen
Augen gib nichts, sie kaufen sich davon nur wieder Klebstoff.
Zigeuner auf der Straße betreiben organisierte Kriminalität, für
die ist Betteln ein Geschäft.“ Ich habe mich oft gefragt, wie man
helfen kann. Es mag doch egal sein, wem man hilft oder wie
vielen. Doch so viele leere Hände wurden mir allein heute
hingehalten: vor der Kirche beim Spaziergang mit den Kindern
durch die Stadt; im Geschäft, ein kleines Mädchen brauchte Geld
für Brot. Was sollen wir machen? Natürlich können wir nicht allen
helfen, aber schon einem, dem wir helfen, ist geholfen. Die
Gedankengänge von Vera hatte ich noch nicht bedacht. Rußland
ist ein Mysterium. Bei aller Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die
mir hier entgegengebracht wird, hat dieses Land doch seine
ganz eigenen Probleme, die fernab von unserer westlichen
Alltäglichkeit liegen.
Am Abend sitze ich mit gestütztem Kopf auf der Hand vor dem
Fernseher. Die Berichterstattung läuft. Ich sehe weinende Mütter
und blutverschmierte Soldaten. In einer Stadt in Dagestan wurde
ein Anschlag während der Militärparade verübt. Putin ist
entrüstet. Die Stellungnahmen von Blair und Schröder flimmern
über die Scheibe. Bush spricht von einem „niederträchtigen
Schlag des internationalen Terrorismus“. Es geschah am 9. Mai.
Ich habe seit letzter Woche keine Zeitung gelesen, die
Nachrichten im Fernsehen machen mich jetzt sprachlos. Warum
Dagestan? Was ist genau passiert? Das kann doch nicht wahr
sein, rast es durch meinen Kopf.
Ende der Aufschrift 1 Uhr morgens
Astrachan. Montag, den 13. Mai 2002.
Gegen Mitternacht. Es ist, als wäre es Freitag der 13. Spätestens
mit dem heutigen Abend ist mir klar geworden, dass ich mir mit
meinem Studienthema hier an allen Ecken anstoße. Genau in
diesem Moment fühle ich mich verängstigt. Auch nach einigem
kräftigen Durchatmen gelingt es mir nicht gleich einen klaren
Gedanken zu fassen. Auch wenn ich mir fünfmal ins Ohr zwicke,
werde ich nicht aufwachen können. Ich bin schon viel zu lange
mit wachen Augen in einer erschreckenden Wirklichkeit
angekommen. Es gibt wohl Themen, die man lieber anspricht.
Schon gar nicht dann, wenn man in einem Land lebt, in dem man
sich um seine eigene Antwort fürchten muss. Es ist auch schon zu
spät. Ich würde mich lieber glückseelig in einen süßen Traum
verkriechen. Ich habe aber um so mehr Angst, diesen Punkt,
diese Begegnung und diese Eindrücke nie wieder in meinem
Leben so genau wiedergeben zu können. Ich bin mir nicht sicher,
wann ich diesen Fehler im Interview mit Sira gemacht habe. Doch
spätestens, als sie bat das Band zu löschen, ist mir klar geworden,
45
dass ich es mit irgendwas zu tun habe, dass ich selbst bis zu
diesen Augenblick nicht ganz zu begreifen mag.
Eigentlich lief alles ganz normal. Sie, Inspektorin bei der Miliz
und Major bei der Marine ist heute aus Dagestan
zurückgekommen. Sira zeigt mir Fotos vom Ort des Anschlags in
Kaspisk. Eine Gasbombe wurde während der Militärparade
gezündet. Neun Menschen sind gestorben, es gab 15 Verletzte.
Sira hat dort als Offizier der Flotte den umgekommenen
Astrachaner Soldaten gedacht.
Ich stelle ihr Fragen zu Tschetschenien, Dagistan und den
Zustand der russischen Armee. Klar, man muß bei diesem
Konflikt beide Seiten beleuchten. Aber was wissen wir schon?
Können wir den Nachrichten trauen? Ich frage zu dem Vorfall im
Zug. „Warum bist du überhaupt auf dieser Reise?“, fragt sie mich,
„du willst uns doch nur schlecht darstellen.“ Dabei geht es mir
doch nur darum, den Dingen auf den Grund zu gehen. „Deine
Organisation verfolgt doch damit irgendwas“, wirft sie mir vor.
Dieser Verfolgungswahn verwundert mich. Alles geht mit einem
Male entzwei. Ihre Gesichter verändern sich. Ich erzähle von
Kasbek, der alles verloren hat, und gebe zu, dass ich mich in eine
solche Lage eines Flüchtlings nicht hineindenken kann. Mein
Mitgefühl für Kasbek kann sie nicht verstehen, ich solle
schließlich an die russischen Flüchtlinge aus Tschetschenien
denken. Tschetschenen sind für sie Terroristen. Sie beschwört die
Freundschaft zwischen allen. „Deutschland, ja wir müssen uns
doch verbrüdern. “ Ich habe das Gefühl in einer schlechten
Seifenoper zu stecken, in der sich alle gegenseitig anlügen. Was
will sie? Geht es ihr um die Brüderschaft mit Deutschland? Wir
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sehen Doris Schröder bei einem Jugendwettbewerb von jungen
Russen und Deutschen im Fernsehen. Weitere Fotos kann sie mir
nicht zeigen, die hat sie dem Admiral gegeben.
Dann erzählt mir Sira von ihrem Vater. Der hätte doch Orden
verdient, schließlich saß im Konzentrationslager in Deutschland.
Das hat sie selber erst vor einiger Zeit erfahren, dass er ein Held
ist. Sie hat Angst, dass ich ihre Worte anders auslegen könnte
und sie dann Probleme bekommt. Den gleichen Eindruck hatte
ich auch heute vormittag, als ich in der Uni mit Studenten sprach.
Die gleiche Zurückhaltung sah ich auch bei der Frau aus Baku, die
wir gestern abend auf der Straße trafen. Welche Kontrolle gibt es
in der Stadt? Warum wollen die Leute über solche Themen nicht
mit Ausländern sprechen? Was heißt Freiheit für Bürger in diesem
Land? Wie soll ich Rußland nur verstehen? Heißt verstehen, sich
nur auf eine Seite zu schlagen, die russische? Natürlich, keiner
von beiden hat Recht. Aber was wissen wir schon? Oder geht es
hier um etwas größeres: Geld, Macht, LukOil, den Islam, die USA
oder Bin Laden? Wo steht Rußland? Und warum hat Sira gesagt,
dass Geld für Tschetschenien aus Israel kommt, und sich dabei
selbst auf den Mund gehauen? Welche Rolle spielt Hatab, der
zweitgrößte Terrorist nach Bin Laden, den sie gerade im
Fernsehen für den Anschlag in Kasbisk verantwortlich gemacht
haben? Hier kam auch der Bruch mit Vera, die bis dahin ruhig im
Sessel unser Gespräch verfolgte. Warum haben beide nicht
zwischen Tschetschenen und Terroristen getrennt? Ich hatte ja
schon gesehen, welche Probleme es bei der Vorbereitung für die
Reise nach Inguschetien gab. Diese Probleme haben aber einen
stärkeren Charakter. Um was geht es in diesem Krieg? Geht es
um Mentalitäten? Ist es nun russisch, betrunken auf der Straße
herum zu grölen? Das Gespräch mit den Studenten in der
Universität hatte mir ein ganz anderes Bild auf den Weg
gegeben. Ich hatte das Gefühl, dass in Astrachan alles ruhig und
friedlich ist. Jetzt erzählt mir Sira, dass Putin Astrachan zu einer
halb geschlossenen Stadt erklärt hat, die nun bald völlig
geschlossen wird, wohin man nur auf Einladung hinreisen darf.
Man hat Angst vor Terroristen und weiteren Anschlägen. Die
russische Flotte im Kaspischen Meer liegt ja vor ihnen. „Jeder
Flüchtling könnte auch ein Terrorist sein“, sagt Sira.
Sie steht auf, hebt den Kopf und weist mit ausgestrecktem Arm
nach vorne. „Es gibt einfach Leute, die wollen, dass Rußland
unterentwickelt bleibt; die wollen, dass Rußland ohnmächtig und
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Kirche | Astrachan
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Katze in der Tonne | Astrachan
schwach ist; dass es hier Angst und Panik gibt, und Menschen
sterben. Aber die Leute haben keine Angst. Matrosen sind stark,
heldenhaft und sterben, ohne Schreie und Laute von sich zu
geben. Die anderen, die lebendig sind, haben Wut in den Augen.
Ich weiß, dass sie dieses Gesindel finden. Und sie werden noch
wütender gegen sie kämpfen. Sie werden alle Terroristen
vernichten. Sie werden bald eine nötige Ordnung schaffen. Und
so muß man es machen. Wir sind dort, weil der Europarat,
Johnson, Russel, oder wie sie heißen, die ganze Zeit schreien.
Zehn hat man die Kehle durchgeschnitten, und alles ist gut.“ Sie
lacht. Ich fürchte mich.
Letztlich geht es um den Freiheitsbegriff. Soll ich das Tonband
löschen oder nicht? Was soll man Eindruck von der Gegebenheit
sein? Warum wollen Leute es sich immer so einfach machen?
Am Ende rät mir Sira davon ab, weiter nach Stavropol zu reisen.
„Da lauern überall die Extremisten, die Wahabiten. Du paßt nicht
auf und schon entführen sie dich auf der Straße. Wir machen uns
doch nur Sorgen um dich.“ Gerade das bestärkt mich noch mehr,
dort hin zu fahren. Bei der Art und Weise, wie mit mir
umgegangen wird, kann ich die Worte einfach nicht mehr ernst
nehmen. Ihre weitere Reiseplanung ist eindeutig: ich muß nach
Stavropol und in den Kaukasus, um mich von der Wirklichkeit zu
überzeugen.
Auf dem Heimweg versuche ich, mich mit Vera nicht zu
verstreiten. Sie zweifelt sehr an den Zielen von ZIS. „Die schicken
dich doch nicht so einfach los mit diesem Thema. Die bezwecken
doch etwas damit? Was machen sie nur mit den Ergebnissen?“.
Sie läßt sich nicht abbringen. Rußland ist schwer zu verstehen,
seine Menschen sind noch unverständlicher.
Ende der Aufschrift gegen 2 Uhr morgens
Astrachan. Dienstag, den 14. Mai 2002.
Drei Streifen hocken aufeinander und lassen sich hängen. Weiß,
blau, rot sind die Farben der russischen Flagge. Die steht auf dem
Tisch, an dem über Ketchup gesprochen wird. Drei Männer in
Anzügen trinken Tee, einer von ihnen verstreut Zucker, ein
anderer trommelt mit dem Finger gegen die Tischkante und der
dritte wiederum findet einfach nur die Sonnenbrille in seinem
Haar schön. Wie gesagt, es geht um Ketchup und der soll aus
Astrachan kommen. Deswegen hat man sich getroffen: Zwei
Russen, die Ketchup ganz toll finden und die vielen
Tomatensträucher auf den Feldern kennen, und ein Deutscher,
der für sie die Fabrik bauen und die Rezepte für den Ketchup
rausrücken soll. Ketchup findet der übrigens auch ganz klasse.
Ich habe die Nacht nicht geschlafen und kann nur
Momentaufnahmen auf das Papier bauen. Welch ein
Unterfangen, warum kann ich nicht einfach meinen Kopf nehmen,
alles ausschütten und gemütlich zusehen, wie sich alles, was da
so herausfällt, zu einem sinnvollen Ganzen sortiert? Da ich Blut
aber eh nicht sehen kann, wende ich mich von diesem Irrsinn ab.
Ich kann doch dieses Heft nicht völlig matschig weiter mit mir
herumschleppen. Der Abend steckt mir noch in der letzten
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Synapse. Ich bin mir immer noch völlig im Unklaren, welche
Schlüsse ich daraus ziehen soll. Ist das Studienthema überhaupt
noch zweckmäßig? Was ich einzig und allein liefern darf, ist doch
nur eine Dokumentation der Zustände. Ich will mich nicht auf
eine Seite stellen. Wird die Quersumme aller Antworten der
Gegenwart gerecht?
Es ist wie verhext. Die Flüchtlingsorganisation Sunscha, die ich
über Claudia in Wolgograd herausbekommen habe, ist
umgezogen. Die Auskunft hat keinen Rat. Durch Zufall erinnert
sich Vera an den Namen und schickt mich mit einer Adresse los.
Sunscha ist übrigens die russische Übersetzung des
tschetschenischen Wortes соьлж und ist eigentlich der Name
eines Flusses in Tschetschenien. Ein Stadtteil in Grozny ist
ebenfalls nach diesem Fluss benannt. Anzunehmen ist also gar,
dass diese Flüchtlingsorganisation von Tschetschenen gegründet
wurde. Ich bleibe ratlos. Nach Streifzügen durch Seitenstraßen
finde ich eine kleine Tür mit der entsprechenden
Buchstabenkombination auf einem Hinterhof. Ein großes Schloß
hängt davor. Sunscha arbeitet nur am Wochenende.
Merkwürdig. Auf dem Busbahnhof erkundige ich mich nach dem
Bus nach Stavropol. Ich muss in den Kaukasus. Es ist voll,
verschiedene Nationalitäten wuseln herum. Ich spreche mit zwei
Usbeken, die sind auf der Durchreise, so wie viele hier. Am
Nachmittag stehen Vera und ich auf dem Amt. Nach einem
Aufenthalt länger als drei Tage braucht man eine Registration.
Den Rest des Tages haben mich die Kinder im DeutschRussischen Haus adoptiert. Nach dem Deutschunterricht
schenken sie mir Trockenfische und Salatrezepte, ich solle mich
doch immer an sie erinnern und Rußland nie vergessen.
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Am Abend gehe ich ins Kino. Ich habe die Wahl zwischen „Война
– Krieg”, einem russischen Actionfilm, indem Russische Helden,
Terroristen in Tschetschenien jagen, und einer Komödie. Ich
entscheide mich für die Komödie, das nimmt sich ja nichts.
Astrachan. Mittwoch, den 15. Mai 2002.
In Astrachan werfen die Bäume unscharfe Muster auf manche
Straßen. Sie bewegen sich, und ich frage mich, ob nun der Wind
die Bäume zum Reden bringt oder die Bäume den Wind machen.
Astrachan ist gemütlich und ich habe ein Gesicht, wie ein
Honigkuchen.
Ich begleite Vera zu ihrer Arbeit. Auf einem Markt wollen wir
vorher noch vier Kilo Kekse kaufen. Bei einer Kaukasierin aus
Argun greifen wir zu. Ihr Goldzahn blitzt, als ich das Paket mit
den Haferflockenkeksen, wie ein Kind in den Arm nehme. Dabei
fällt mir eine Unterhaltung vom Vormittag ein. Eine Frau um die
vierzig erklärt mir auf der Parkbank gegenüber der Post, dass die
Leute aus dem Kaukasus doch nur betteln würden, kriminell sind
sie obendrein. Erstaunlich: „Betteln bedeutet etwas schlechtes in
der tschetschenischen Kultur. Bei uns fangen die Kinder schon in
frühen Jahren an zu arbeiten und selbständig zu sein.“, hält die
Tschetschenin am Marktstand dagegen. Wir schlendern weiter, es
ist laut, es ist schmutzig, es wird gehandelt, ein Mann prüft
Ventile, die am Boden auf einer Decke ausgebreitet sind. Eine
Mutter schätzt ihr Kind in ein weißes Pokemon T-Shirt, ihr Sohn
treibt sich am Nachbarstand herum. Hinter dem Hauptweg,
neben dem Zigarettenstand kaufen wir usbekisches Brot gefüllt
mit Käse. Ich tanze.
Auf einer staubigen Straße folge ich Vera, die zielstrebig an den
uralten Holzhäusern mit ihren winzigen Verzierungen im
hölzernen Fensterrahmen vorbei den Weg sucht. Die Sonne
schlägt auf meinen Kopf. In einem Fenster auf der linken Seite ist
eine Flaschenannahme eingerichtet. Als ich die Schreie der
zerdrückten Kekse unter meinem Arm höre, haben wir das
Kinderheim schon erreicht. Das Haus sieht wie ein einziger
Baustein aus Beton aus. In den Fluren windet sich der Geruch
von Gekochtem. Die Räume sind groß und sauber. Eine Schar
Kinder fallen Vera um den Hals: „Vera, Vera, du bist da, das ist
schön. Wir haben dich vermißt!“ Einige von ihnen haben grüne
Flecken im Gesicht. „Das ist ein Desinfektionsmittel. Viele Kinder
sind krank, wenn die Polizei sie
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Staubige Strasse | Astrachan
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Im Kinderheim | Astrachan
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hier abliefert.“, klärt Vera auf. Offizielle Stellen sprechen von
3000 Straßenkindern, Vera schätzt die Zahl auf das dreifache. Ich
warte im Computerraum auf die Chefin und unterhalte mich mit
Julia, die hier für die Kinder Computerkurse gibt. „Wir haben
einfach einen Brief an LukOil geschrieben. Jetzt sind sie unser
Sponsor“, erzählt mir die 20-jährige Juristin, die an einigen Tagen
im Kinderheim aushilft, ehrenamtlich. „Warum die Kinder von zu
Hause abhauen? In vielen Familien gibt es etliche Probleme.
Entweder die Mutter trinkt oder der Vater. Die Kinder fliehen vor
der Gewalt in der Familie. Soziale Probleme und Arbeitslosigkeit
sind meist Auslöser für schwierige Verhältnisse. Für die Kinder ist
es ausweglos, deshalb flüchten sie auf die Straße. Dieses Haus ist
ein Spiegel unserer Gesellschaft. Es sind aber Kinder bei uns, die
keine Eltern haben und als Waisen zu uns kommen. Hier finden
sie ein neues Zuhause.“
„Zwölf Betreuer, unter ihnen Psychologen und Pädagogen
kümmern sich um die 52 Kinder. In drei Gruppen leben die
Kinder, wie Schwestern zusammen“, ergänzt die Leiterin des
Heims. Ein Gesicht blickt um die Ecke und mit einem Satz steht
Nastia im Raum. Ihr schwarzer Pferdeschwanz schwingt lustig.
Sie ist 14 und fängt an zu plappern: „Es ist gut, dass hier nur
Mädchen sind. Der Zusammenhalt ist größer. Jeder sorgt sich um
jeden. Meine Mutter ist im letzten Jahr gestorben. Nun schlage
ich mich allein durchs Leben.“ Sie ist voller Zuversicht, lacht und
wippt mit ihren Füßen. „Mein Bruder ist in Usbekistan. Ich kenne
ihn gar nicht, meine Oma hat mir von ihm erzählt. Er ist 20 und
hat eine Familie, ist das nicht toll. Ich werde ihm schreiben. Ich
habe nur noch keinen Umschlag.“ Das Heim und die Großmutter
haben
die
Adresse
Nastias
Bruder
in
Usbekistan
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herausbekommen. Doch Nastia wird ihrem Bruder keinen Brief
schicken können. „An dem Kuvert scheitert das nicht. Rußland
und Usbekistan haben kein Postabkommen. Wir können keine
Briefe aus Rußland dorthin schicken“, erzählt mir später Julia.
Trotzdem, Nastia bleibt zuversichtlich: „Ich mache ein gutes
Examen in der Schule und dann studiere ich, irgendwas mit
Mathematik, das macht mir Spaß.“ Die Kinder fühlen sich hier
wohl. Ich werfe einen Blick in einen kleinen Raum neben dem
Ausgang: Grüne, rote, kleine, lange, dreckige und saubere
Schuhe liegen da durcheinander geworfen. Die Kinderjacken
zappeln am Haken an der Wand.
Schon erstaunlich, an Straßenkinder hatte ich in Rußland gar nicht
gedacht. „Putin hat das Thema das erste Mal Anfang des Jahres
in einer Fernsehansprache erwähnt. Die Kinder sind nicht weniger
geworden. Die Polizei stopft sie bloß direkt in eines der
überfüllten Kinderheime.“, endet Vera, als wir am Abend eine der
vielen kleinen Brücken in Astrachan überqueren und vor einem
Gully haltmachen. Vera schiebt die angelehnte Metallplatte zur
Seite, deutet auf die Rohre im Dunkeln: „Hier verstecken sie sich.
Im Winter geben die Heizungsrohre den Kindern wenigstens
etwas Wärme. Im Sommer schlafen sie meist unter den Brücken
auf einer Pappe.“ Jetzt konnte ich Vera verstehen. Deshalb
schaute sie den Kindern in die Augen. Was bringt ein Leben,
wenn man nur auf der Suche nach Klebstoff zum Schnüffeln ist?
Das Leben hält alles bereit. Unsere Rolle können wir uns nicht
unbedingt aussuchen. Möglichkeiten sind nur die Grenze des
Machbaren. Oder haben sich diese Kinder ihren Platz auf dieser
Erde ausgesucht? Ich weiß es nicht. Und trotzdem hat alles einen
Sinn?
Wir leben in Widersprüchen. Wie soll ich das ganze noch
verstehen? Am späten Abend treffe ich mich mit der Pianistin der
lutherischen Kirche und ihrem Freund. Sie laden mich in ein
Konzert der Musikhochschule ein. Der Chor ist gehalten gut. Wir
sind die einzigen, die am Ende klatschen und pfeifen. Danach
gibt es wieder eine Priese Orthodoxie. Die Tage gibt es in
Astrachan ein Popen-Seminar. Der Ober-Pope teilt uns ein
weiteres Mal mit, das erst kürzlich Ostern war. „Vo istinu
voskrese“, sage ich leise, schmunzle und schließe die Augen.
Schon wieder eine dieser vielen unbekannten Küchen in Rußland.
Trockenfisch steht auf dem Tisch. Schenja, der Freund der
Pianistin klärt, mich über das Ungetüm auf, das da ganz leblos
und platt, friedlich auf meinem Teller vor mir liegt. „Also Martin,
die Sache ist ganz einfach. Du nimmst den Kopf fest in die Hand,
faßt mit den Fingern unter die Kiemen und reißt das Ding
auseinander.“ Das war es ja nun. Und das zu dieser späten
Stunde. Mit Fisch haben es die Leute hier wohl so richtig in
Astrachan. Gastfreundschaft verlangt viel von seinen Gästen. Ich
lasse mich auf Rußland ein und kaue das salzige Stück Fisch mit
verzweifeltem Blick. Die Mutter meint es gut mit mir und rät mir
zu dem eingetrocknetem Rogen. Fischeier, mit Mut hatte es an
diesem Abend nichts mehr zu tun. Schon der Geruch war
unbeschreiblich. Ich habe drei Tage lang versucht, den
Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Die Eindrücke dieses
Tages werden mich dagegen wohl noch mein Leben lang
begleiten.
Astrachan. Donnerstag, den 16. Mai 2002.
Jeder Versuch ist ein Versuch. Der Dienst für Migrationsfragen
will auch in Astrachan nicht mit mir sprechen. Verabredete ich
mich doch gestern mit dem Roten Kreuz für den heutigen
Morgen, höre mir ihre Arbeit an und lasse mich von einer
Mitarbeiterin zur Administration der Stadt bringen, um wiederum
dann mitgeteilt zu bekommen, dass es von offizieller Seite keine
Stellungnahme gibt. Ergo, keine Zahlen, kein Interview, doch wie
sagen die Russen: Die Hoffnung stirbt nie.
Auf dem Hinterhof des Roten Kreuz werden Kisten für einen
Transport nach Kasbisk gepackt, alle sind die nächsten Tage
beschäftigt. Vor dem Verwaltungsgebäude finde ich dafür eine
Babuschka, sie verkauft Piroschki7 mit Leber, ihr Hund mag mich
irgendwie nicht, heute ist nicht mein Tag. Ich suche das
Historisches Museum, die Geschichte soll mir Antworten geben.
Einige Fetzen der Vergangenheit seien hier wiedergeben:
«Город Астрахань лежит на границе Европы и Азии, на
острове долгом ... Он окружен толстой и каменной стеной,
на которой стоят 500 металлических пушек. В городе
всегда сильный гарнизон для защиты от татар и казаков.»
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Teigtaschen mit Füllung.
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Ян Стрейс, 1669 г.
„Die Stadt Astrachan liegt an der Grenze zu Europa und Asien, auf
einer langen Insel... Sie ist umgeben von dicken und steinernen
Wänden, auf denen, 500 metallene Kanonen stehen. In der Stadt
gibt es immer eine starke Garnison für die Verteidigung vor den
Tataren und Kasachen.“ Jan Strejs, im Jahre 1669
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Haus | Astrachan
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Strasse | Astrachan
«С внешней стороны из-за множества башен и церковных
глаб Астрахань выглядит весьма красивой. Это отличный
торговный город, где торгуют не только бухарские,
крымские, ногайский и калмыцкие приезжающие в
Астрахань по Каспискому морю на кораблях ...» Ян Стрейс,
1669 г.
“Von Außen sieht Astrachan wegen der Türme und kirchlichen
Kuppeln höchst schön aus. Diese ausgezeichnete Handelsstadt, wo
der Handel nicht nur bucharische, krim und kalmückische Tataren,
aber auch Perser, Armenier, Inder, Reisende in Astrachan über das
Schwarze Meer auf den Schiffen anzieht ...” Jan Strejs, im Jahre
1669
«Наши интересы отнюдь не допускают, чтоб какая другая
держава, чья ни была, на Касписком Море утвердулась.»
Пётр I.
„Unsere Interessen lassen wir überhaupt nicht vor, damit
irgendeine andere Macht, wer auch immer, am Kaspischen Meer
Fuß fasst.“ Peter I.
«Хоть ты не велика, но торг тебя прославил и дальних
множество племен к тебе направил ...
Грань луших двух частей вселенной здесь проходит,
«Важное место в политической истории края занимала
восточная политика Русского государства. В 1722-1723 гг.
Петр I. предпринял Персидский поход, одной из задач
которого было развитие торговых отношений России с
Востоком. В результате успешной восточной политики
Россия утвердила свое влияние на Касписком Море.» ...
„Einen wichtigen Platz in der politischen Geschichte des Gebiets
nahm die Ostpolitik des Russischen Staates ein. In den Jahren 1722
bis 1723 führte Peter der Erste den Persischen Feldzug an. Eine der
Aufgaben davon war die Entwicklung der Handelsbeziehungen
Rußlands mit dem Osten. In Folge der erfolgreichen Ostpolitik
verstärkte sich Rußlands Einfluß auf die Region am Kaspischen
Meer. “ ...
И в Астрахань явясь, всяк к обе разом входит.
Он руку здесь Европе может протянуть
И повернувшись, вновь на Азию взглянуть ...» Пауль
Флеминг, 1636 г.
„Selbst du bist nicht groß, aber der Handel hat dich berühmt
gemacht und fern die Mehrheit des Volkes zu dir geschickt ...
Der Rand zweier bester dichter Welten gehen hier hindurch,
Und in Astrachan will jeder zu beiden auf einmal eintreten.
Er kann Europa hier zur Hilfe kommen
Und umgedreht, von neuem nach Asien blicken ...“ Paul Fleming,
im Jahre 1636
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Gegen 20 Uhr abends. Szenenwechsel. Das Rot der Sonne legt
sich auf die gelben Felder. Die Luft ist salzig. Einige Stunden
später sitze ich mitten im Wolga-Delta und trinke heiße Milch mit
Honig. Eine Freundin von Vera hat an einem Seitenarm der
Wolga eine Erholungsbasis. Da fährt ein Kutter zum Fischen auf
die Hochsee, eigentlich wollte ich ja nur einmal im Kaspischen
Meer baden, jetzt wurde hier her verfrachtet und für zwei Tage
eingeladen. Die Sache ging mir zu schnell, schon saß ich im Lada.
Die Kirche veranstaltet in diesem Ort jeden Sommer ein Lager für
obdachlose Kinder aus der Stadt. Zehn Ferienwohnungen warten
hier auf einen riesigen Grundstück auf reiche Moskowiter, die
sich in den Sommermonaten an der Wolga erholen. Jetzt baut
die Familie noch ein Hotel. Ringsherum nichts als Natur, eine
kleine Straße, ein kaputter Traktor und zwischendurch das
Knarren der Grashalme. Hier darf ich also bleiben. Eine JazzGruppe spielt auf der Wiese. Das Gelächter einer Reisegruppe ist
vielstimmig. Ich spreche mit der Chefin über Putins Politik und
Tschetschenien, ihre Meinung ist ehrlich. Was sie weiß, hat sie
aus dem Fernsehen und von dem hält sie nicht viel. Ihre
Vorstellungen vom Leben sind klar: Ihrer Familie soll es gut
gehen, Gäste sollen kommen und glücklich will sie sein. Die
Familie hat ein Feld, das sie bestellen. Die Tochter fährt in die
Stadt, um zu studieren. Die Mutter ist froh, hier in Ruhe
umschlungen von der Natur zu leben. Mehr braucht sie nicht.
Und da werde ich eingeladen, die Welt doch mal mit anderen
Augen zu sehen. Berlin kennt sie auch, Moskau findet sie nur
schrecklich. Ich gehe in der Nacht zum Steg und blicke durch das
Funkeln des Wassers. Hier steht die Welt still.
Wolga-Delta. Freitag, den 17. Mai 2002.
Gedankenmanöver. Ich schlafe, versuche die Interviews zu
übersetzen und höre Putin im Fernseher. Manchmal ist es einfach
nur schön, Gast vom Chef zu sein. Gerade dann, wenn Chef dir
ein Haus mit Terrasse und eine eigene Köchin an die Seite stellt.
Anna trägt lächelnd Essen heran. Danke Anna! Dein warmer
Heidelbeerkuchen ist der leckerste seit Lebzeiten. Jetzt ist auch
der Geschmack vom Trockenfisch endlich gegen das Paradies
eingetauscht. „Halten sie ein, gute Frau“, komme ich ihr entgegen
und muss dabei an das Frühstück denken, dass ich zur Hälfte
unverzehrt im Kühlschrank deponiert habe.
Zwei Wochen sind nicht mehr als ein kurzes Zwinkern der Zeit. In
den nächsten Tagen will ich in Stavropol und Krasnodar sein. Am
Ufer angeln zwei Männer. Die Fähre tuckert gegen die Strömung.
Der Himmel ist rot und blau. Das Fischerboot ist zurück. Der Fisch
glitscht über die Planken. Am Firmament entdecke ich ein riesiges
Sternenzelt.
Der Sterndeuter
Die Nacht brach an, und ich stieg auf den Turm
und begann, den gestirnten Himmel zu betrachten.
Als wäre ich fortgegangen in den Schlaf. Und da vernahm ich
den harmonischen Gang ferner Sterne.
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Ihr kristallenes Licht ist hell und verständlich,
aber etwas Beängstigendes schimmert durch die wirbelnde
Bewegung
der mystischen Nebel und der Flecken hindurch,
die mit einem phosphorfahlen Feuer brennen.
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62
Fischer | An der Wolga
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Vögel in der Abenddämmerung | An der Wolga
Doch jetzt erst recht richte ich meinen Blick tief auf sie,
um in ihm mit eintretendem Dunkel
Schattentheater auf eben jenem gleichen Netz spielt. Wie
friedlich die Welt sein kann. Ich erblicke einen Vogel, der einen
kurzen Bogen fliegt, die Richtung ändert, auf einen Ast zusteuert
und sich mit einer exakten Präzision auf einem dickes grünes
Blatt niederläßt. Eine haarige Raupe hat sich derweil meinen
großen Zeh erkämpft und purzelt nun an ihm herunter. Und
immer wieder Tausend Vogelstimmen, die das Grün der Erde und
das Blau des Himmels auf unerklärliche Weise miteinander
verbinden und alles dazwischen mit reiner Natur füllen.
beim Fortgang in den bodenlosen Schrecken der Leere
Was für einen Streit, was für einen Kampf kann es schon geben
die Sinnlosigkeit und den Schmerz der Existenz zu vergessen.
mit dem unmenschlichen Schicksal?
ich löse mich ab, erkalte, fliege;
als wäre ich von einem Schiff hinuntergesprungen,
sinke ich und vergehe - ich will es ja.
Ich warte auf das nächtliche tote Schweigen,
All das ist Trug und Wahn.
Boris Narcissov
Aber dieser blaue Abend
ist noch mein Besitz.
Wolga-Delta. Sonnabend, den 18. Mai 2002.
Und der Himmel. Rot zwischen den Zweigen,
Es ist der zweite Tag hier im Nirgendwo zwischen Astrachan und
dem Kaspischen Meer. Ein Uhu-Geschöpf versucht mir schon seit
den Morgenstunden etwas mitzuteilen, ständig ruft er mir seine
Uhu-Worte zu. Sein beständiger Rhythmus ist beruhigend. Nein,
mein kleiner Freund, beim besten Willen, ich kann dich nicht
verstehen. Oder willst du mir mitteilen, dass meine Wäsche
schon wieder ins nasse Gras gefallen ist, die gute Handwäsche
schon wieder schmutzig ist? Ein klarer kühler Rausch geht durch
die Bäume, die Sonne siebt sich durch das Fliegengitter auf der
Terrasse. Es ist abenteuerlich, wie sich gleichsam ein
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und perlweiß an den Rändern ...
Eine Nachtigall singt im Flieder,
eine Ameise kriecht durchs Gras:
jemandem ist das von Nutzen.
Vielleicht ist selbst darin ein Nutzen,
dass ich die Luft einatme,
und dass mein alter Mantel
auf seiner linken Seite vom Sonnenuntergang übergossen ist
und auf seiner rechten in den Sternen versinkt.
wuscheliger Engel deinen ganzen Kram auf einem goldenen
Tablett zurückbringt. Ich entscheide mich für das Huhn.
Galgenhumor ist wirklich angesagt.
Gegen 12 Uhr
Georgij Ivanov, 1950
Astrachan. Sonntag, den 19. Mai 2002.
Tag der Pioniere, Karl Marx hat Geburtstag, so ein Pech, ich
werde wieder einmal meinem blauen Halstuch nicht würdig.
Vergesse ich doch meinen Paß, mein Geld und meine deutsche
Gründlichkeit irgendwo in einem Haus im Wolga-Delta. Ich
würde nur dann nichts verlieren, wenn meine Hosentaschen
absolut leer wären. Russischen Vorurteile helfen mir da gar nicht
weiter. Nun gut. Die Herausforderung kommt mit der Entfernung
zum verlorenen Objekt. Kurze Kontrolle: Wo sitze ich? Auf dem
Busbahnhof in Astrachan. Warum sitzt du hier? Ich will mit dem
Bus nach Stavropol. Wie bist du hier her gekommen? Mit dem
Auto der Chefin, die hat mich mitgenommen. Woran denkst du?
Den Paß, meine Zukunft, mein Leben, meine verlorene Seele.
Kennst du den Weg zurück? Nein. Ist jemand da, der den Weg
zurück kennt? Nein. Vera ist nach Saratow gefahren.
Telefonnummer, Adresse? Hab ich nicht. Schach. Wann fährt der
Bus? In acht Stunden. Ok, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder
du läufst wie ein Huhn wild durch die Stadt, oder du bleibst hier
ganz einfach sitzen und wartest bis dir ein kleiner weißer
Gut, gut, das Schicksal schickt mir die gelben Seiten, da müßte
doch die Basis verzeichnet sein. Ich mache mich auf zur Post. In
meinem Hühnerkostüm treffe ich Iwan und Andrej vom
Jugendclub der Gemeinde. Ich atme durch. Die beiden kennen
die Basis bestimmt. Fehlanzeige. Wir verabreden uns im DeutschRussischem Haus, es sollte das Hauptquartier einer legendären
Suchaktion werden. Doch es kam, wie es kommen sollte. Die Frau
von der Auskunft machte einen Strich durch unseren Plan. Sie
quäkt, dass sie keinen Eintrag hat und legt einfach den Hörer auf.
Sauerei. Die müßte mal zu den Schulungsseminaren der
Deutschen Post! Dann läuft das. Irina, die junge Deutschstudentin
unternimmt einen letzten Versuch. Es ist hoffnungslos. Wir
bleiben ratlos. Weder ein Reisebüro, noch die Polizei kennt die
Basis. Habe ich vielleicht alles nur geträumt? Wo bin ich? Hier
oder dort? Wir geben die Suche erstemal auf. Ohne Dokumente
bin ich in Rußland verloren. Da kann ich mir noch nicht mal eine
Bahnfahrkarte kaufen.
Gegen 14 Uhr
Wir essen Kuchen. Andrej hat Geburtstag. Die Sahnetorte gibt mir
den Zuckerschock. Wir singen russische Volkslieder, das
Geburtstagskind fährt morgen für vier Monate zum Studium in
die USA. Jeder darf eine Abschiedsrede halten. Ich schluchze. Der
kleine weiße wuschelige Engel ist immer noch nicht gekommen.
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Ich will nicht mehr das Huhn sein. Die Leiterin des Jugendclubs
hat einen Einfall. Wenige Minuten später sitze ich mit
aufgerissenen Augen im Auto. Nichts soll mir entgehen.
„Erinnere dich, war es hier?“, fragt Ina, die unser Spähfahrzeug
steuert. Ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern, auf der Fahrt
heute morgen habe ich im Auto geschlafen. „Halt, da war eine
Brücke. Das weiß ich noch“, lenke ich ein. In Astrachan sind
Brücken aber eher keine Seltenheit, auch in der Nähe der Stadt
lauern sie förmlich an jedem Finger der Wolga. Auch die Fähre,
an die ich mir erinnere, ist eine von vielen hier im Delta. Und so
fahren wir auf unbekannten Wegen zu einem unbekannten Ziel.
Nach über einer halben Stunde auf einer schnurgerade Straße
gelangen wir in eine Polizeikontrolle. Ich schwitze. Ina macht
kurzen Prozeß: „Hören sie mal, dieser junge Herr hier ist
Ausländer und hat seinen Paß verloren. Irgendwo hier muß es
eine Siedlung mit Ferienhäusern geben, wo die aus der
Hauptstadt absteigen. Haben se nicht eine Idee?“. Ich schaue in
die Augen des Wachtmeisters, die sich im Schatten seiner Mütze
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Im Nirgendwo | In der N ähe von Astrachan
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Fähre | An der Wolga
verstecken, und höre seine Anweisungen: „Das Sie keine
Dokumente dabei haben, gefällt mir schon mal gar nicht. Die
Sache ist sehr unschön - für Sie. Dann fahren Sie mal dort vorne
rechts, nehmen den Abzweig. Am Ende der Straße ist die
Siedlung, die Sie suchen. Nun holen Sie Ihren Paß schon. Und
gucken Sie nicht weiter so, Sie sehen ja elend aus. Schöne Fahrt.“
Wunder geschehen, wenn man alle Hoffnung verloren hat.
Russischen Polizisten sind manchmal einfach klasse. Die
Schnitzeljagd sollte aber noch nicht gleich ihr Ende finden.
Angekommen bei der Basis fällt mir ein, dass ich den Schlüssel
für das Haus der Chefin im Auto gegeben habe und die ist zu
ihrer Kranken Mutter unterwegs ist. Ich krame nach dem
Hühnerkostüm. Einen Zweitschlüssel gibt es nicht, wie mir die
Tochter mitteilt. Ich warte also.
Gegen 16 Uhr
Und ich bin, wo ich schon immer war. Auf dem Busbahnhof halte
ich nach dem Omnibus nach Stavropol Ausschau. Alles ist gut
gegangen, auch wenn ich nicht an Engel glaube. Vor mir stehen
fünf Soldaten, ihre Freundinnen rücken ihnen die Uniform
zurecht. Zwei beleibte Zigeunerfrauen fragen nach Geld. Ein
Engländer kauft am Schalter einen Talon für sein Gepäck. Dann
geht es los, durch Kalmückien will ich über Elista zu den Bergen.
Schon wieder regnet es. Der Bus trieft von Benzin, die Scheiben
sind beschlagen. Poka8 Astrachan, deine Farben sind
außergewöhnlich.
8
Tschüss.
Ende der Aufschrift gegen 20 Uhr
Stavropol. Montag, den 20. Mai 2002.
Die Wolken sind grau. Kleine, dicke Tropfen prasseln auf die Erde
herab. Mir ist warm, eingepackt in meiner Jacke schaue ich aus
dem Busfenster auf die nassen Straßen einer schlafenden Stadt.
Stavropol liegt im Morgenhellen. Wie durch Zauberhand bohrt
jemand ein Loch in den verwaschenen Schleier, als ich aussteige.
Das Sonnenlicht badet sich in den Pfützen. Ich staune, welch eine
schöne Stadt lag da im Verborgenen. Natascha macht einen
Schritt auf mich zu, eine Stunde hat sie im strömenden Regen
gewartet. Wir hatten Verspätung. Mit verschlafenden Augen folge
ich Natascha, wir haben nur kurz am Telefon miteinander
gesprochen, ihre Adresse habe ich von einer Freundin in Moskau
bekommen. Natascha war auf einem Toleranzseminar der Quäker
in Moskau, da habe ich gleich Fotos für sie mitgebracht. Ihr
Haarschnitt ist flott und kurz, ich schätze sie auf Mitte dreißig.
Natascha hat einen Sohn und arbeitet als Psychologin mit
Flüchtlingskindern. Der Leninplatz ist leergefegt. Wir sind die
einzigen, die zur dieser frühen Stunde an der Haltestelle am Dom
Knigi9 warten. Im Trolleybus, ein Mädchen, dass mindestens so
müde ist, wie ich. Mit Schulranzen und gesenktem Kopf wankt sie
bei jeder Bewegung des Buses. Da wacht sie kurz auf, als die
Türen sich öffnen und neue Fahrgäste einsteigen.
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Haus des Buches.
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Frühstücken tun wir erstemal bei Ina. Sie ist in Dagestan
geboren, kam zum Studium nach Stavoropol, lernte ihren Mann
kennen und blieb hier. In zwei Tagen kommt ihre Mutter zu
Besuch. Dann kann sie mir über das Kultur in der Region
erzählen. „Das Leben ist ganz normal. Meine Eltern wohnen in
einem kleinen Dorf. Warum sollte es gefährlich sein? Nein, das
stimmt doch alles nicht, was sie in den Medien bringen. Wir
haben keine Angst. Der Anschlag in Kasbisk hätte auch überall
anders in Rußland passieren können“, kommentiert Ina meine
Gedanken zu Dagestan.
Und da sitzen wir nun,
helfen mir die Woche
Stadtrand kann ich
Einraumwohnung über
ausgehandelt.
Natascha und Ina sind freundlich und
zu organisieren. In einer Platte am
unterkommen. Natascha hat die
eine Bekannte einen günstigen Preis
Der Tag ist vollgepackt, wie mein Reiserucksack: Ich spreche
beim Danish Refugee Council (DRC) vor und lasse mir
Ansprechpartner von Flüchtlingshilfen aus der Region geben.
Der DRC konzentriert sich selbst auf Trainingsseminare, um die
Organisationen untereinander zu vernetzen. Die Leiterin des
Büros ist hilfsbereit, ihre rote Nadel mit dem Schriftzug der
Dänen blitzt an ihrem dunkelblauen Kostüm, sie gibt mir weitere
Hinweise: „Unsere Verbindung zu staatlichen Einrichtungen hält
sich in Grenzen. Der Migrationsdienst wird gerade umorganisiert,
daher werden Sie wohl auch hier keine offiziellen Daten über
Flüchtlinge und Migranten bekommen.“ Angewiesen ist der DRC
auf den Russischen Staat wohl eher nicht, die Organisation
vergibt selbst Mikrokredite für Projekte, das Geld kommt aus dem
Ausland.
Schon haben wir wieder vier Räder unter den Füßen, Natascha
arbeitet noch bei der Flüchtlingssorganisation Alter Vita, von dort
telefoniere ich die Liste vom DRC ab. Alter Vita sitzt in einem
alten Verwaltungsgebäude einer Fabrik. Der Lackgeruch ist ein
aufdringlicher Begleiter beim Gang auf dem Flur. An der Tür
hängt ein Plakat mit einem Kindergesicht. In Stavropol sammelt
eine Jugendgruppe Kleidung für Flüchtlingskinder in
Tschetschenien und Inguschetien.
Voller Wollmützen und Strickhosen ist auch ein kleines Zimmer
bei der Bürgerhilfe Orden, die seit elf Jahren humanitäre Hilfe
ausgibt und Nachmittage organisiert, an denen Pädagogen mit
Kindern basteln. Aber auch praktische Dinge, wie Anleitungen zur
Ersten Hilfe und Strickmuster halten sie bereit. Die alltäglichen
Probleme macht Olga Iwanowna klar: „24.000 Flüchtlinge hat der
Amt für Migration im Januar 2002 gezählt. Inoffiziell wird aber
vom Zehnfachen gesprochen. Mittlerweile hat das Amt die
Registrierung der Flüchtlinge ausgesetzt.“ Sie berichtet über die
spezielle Situation in Stavropol: „Kasachstan, Georgien,
Aserbaidschan und Tschetschenien. Wir waren einfach darauf
vorbereitet. In den letzten Jahren haben wir unser bestes
gegeben. Wir suchen Arbeit für die, die zu uns kommen. Ein
großes Problem dabei ist eine Propistka10 für die Leute zu
erhalten.“ Und dann zeigt Olga Iwanowna noch einen Brief vom
Migrationsdienst, der ihre Wohltätigkeit anerkennt und sich für
10
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Arbeitsgenehmigung, Aufenthaltserlaubnis.
die Arbeit bedanken. „Was die machen, können wir nicht sagen.“,
legt sie nach.
Trotz alledem, komisch kam mir die ganze Situation bei „Orden“
schon vor. Kekse, Varenije11 und Tee sind ja normal, die Auftritt
der Leiterin war etwas künstlich. Ständig streichelte sie sich ihre
Fingernägel und scheuchte ihre Mitarbeiterin hin und her.
Vielleicht sind das aber auch einfach nur typische russische
Eigenarten.
Natascha bleibt skeptisch: „Auf dem Papier sieht alles immer gut
aus. Da werfen sie mit Broschüren um sich. Du mußt selber
sehen.“ Ich entschließe mich die Eindrücke wirken zu lassen und
freue mich über die mißtrauische Reaktion Olga Iwanownas, als
ich ihr am Ende noch einige Fragen zu Rußland stelle. „Früher
war es besser. Warum fragen sie?“, antwortet sie mit leiser
Stimme.
Schon gut, dass ich das Schreiben von ZIS nicht bekommen
habe, so bekommt jedes Gespräch einen naiven Charakter.
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Eingekochte Früchte.
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Paradeplatz | Stavropol
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Wohnort | Stavropol
Fragen über Politik so von Mensch zu Mensch einfach aus
Interesse sind hin und wieder unbekannt.
ausgesprochen.“ Sie zeigen mir Fotos, ich bin beeindruckt, so
hatte ich mir Rußlands Jugend gar nicht vorgestellt.
Ich erinnere mich an Sira in Astrachan, die mich davor warnte, in
Stavropol von Terroristen auf der Straße entführt zu werden.
Welch ein Trug, die Stadt ist herrlich. Kleine Hügellandschaften
und Berge zieren das Tal. Überall grünt es. An einigen Ecken
haucht mir das Flair vom Mittelmeer entgegen. „Wie in Italien!“,
staune ich. In einem Panoramabus, der wie eine Schildkröte
aussieht, brumme ich an weißen dicken Lehmmauern vorbei.
Eine Babuschka hütet ihre Ziegen am Rand eines Fußballplatzes,
auf dem die Jungs in der Abendsonne das Leder über das Feld
kicken.
Natascha hört, dass ich über Flüchtlinge schreibe. Die eine 21jährige Physikstudentin schildert mir ihre Lebensgeschichte: „Ich
bin Russin. Im November 1995 sind wir aus Usbekistan nach
Tscherkessien12 geflüchtet. Alles war nur noch auf Usbekisch, ich
habe gar nichts mehr verstanden. In der Schule mußten wir doch
nicht Usbekisch lernen. Jetzt studiere ich in Stavropol, weil es mir
hier gefällt. Unser Leben in Usbekistan war gut, jetzt gibt es dort
keine Zukunft mehr für uns. Wir hatten alles verkauft, mit einer
Kiste sind wir losgezogen. Erst haben wir bei unserer Oma
gewohnt, dann konnten wir uns eine Zwei-Raumwohnung vom
Migrationsdienst aussuchen. Alles ging so schnell. Im Sommer
1995 habe ich noch mit Freunden Musik gemacht und auf der
Wiese vor dem Haus getanzt; als meine Eltern mir sagten, dass
wir gehen, habe ich es für einen Witz gehalten. Ich mußte alles
zurücklassen. Ich kam in eine neue Klasse, es war schwierig neue
Freunde kennenzulernen. Am Anfang habe ich mit niemanden
gesprochen, jeden Tag Briefe geschrieben und nach Usbekistan
telefoniert. Sie haben mir immer gesagt, dass sie mich nicht
vergessen. Das gab mir Mut. Wo meine Heimat liegt? In
Tscherkessien, dort gibt es Berge, Schnee und viele Ausländer. In
Tscherkessien ist alles gut. Auch möchte ich mal nach Petersburg
fahren, ich habe gehört, dass es dort sehr schön ist. Und
Usbekistan? Ich würde gerne schauen, wie es dort so ist, was sich
jetzt verändert hat.“
Jugendliche machen in Stavropol aber noch ganz andere Dinge.
Am späten Abend bin ich wieder bei Alter Vita und treffe
Studenten, die Kleiderspenden für Flüchtlingskinder organisieren.
Ein Benefizkonzert ist auch geplant, die Jugendgruppe dahinter
nennt sich „Junges Europa“. „Wir suchen uns Themen, die uns
interessieren und versuchen etwas zu bewegen. Umweltschutz
steht bei uns auch ganz groß auf der Tagesordnung“, erzählt mir
Tanja, eine 19-jährige Studentin, die nebenbei in Stavropol für
eine Zeitung schreibt. Ich erinnere mich an eine Aktion vor dem
Kreml, bei der Jugendliche mit weißen Plastikanzügen zur
Turmuhr gerobbt sind. „Genau das waren wir.“, stellt Tanja fest.
„Nach fünf Minuten war alles vorbei. Die Miliz kam und die
Kameramänner sind über den Roten Platz gerannt. Später hat
man ihnen alles abgenommen. Wir wurden erstemal alle
mitgenommen, vor Gericht haben sie uns dann eine Verwarnung
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74
Karatschai-Tscherkessien, Region im Kaukasus, Rußland.
In der Nacht suche ich meinen Hauseingang in dem Wald von
Hochhäusern. Tatjana hat mich noch in die richtige Maschrutka
gesetzt. Nach einigen mißglückten Versuchen mit meinem
Schlüssel an fremden Türen rette ich mich vor dem Regen in
meine vier Wände.
zum „Djetskij Fond – Kinderfond“, um mit einer Juristin über den
rechtlichen Stand von Flüchtlingen zu sprechen und lande
schließlich bei Solidarnost, einer Flüchtlingsorganisation am
anderen Ende der Stadt. Vorher sollte ich aber noch als Statist
herhalten.
Ende der Aufschrift gegen 1 Uhr morgens.
Am Denkmal von Lermontov vorbei hole ich mir weitere
Informationen aus dem NGO-Zentrum in der Innenstadt, eile
Wieder einmal verzweifele ich an Rußland. Auf der Fahrt mit dem
Trolleybus Nummer 17 erlebe ich den Wahnsinn des russischen
Alltags. Wenn man mit dem Bus fährt, muss man bezahlen. Das
haben wir früh gelernt. Engels schrieb gar einmal, das ein
kostenloser öffentlicher Nahverkehr der erste Schritt zum
Sozialismus sei. Selbst in der DDR mußte man für seine
Papierfahrkarte zehn Groschen hinlegen. Engels wird leider nicht
mehr gelesen. Bezahlen muss man überall auf der Welt. Das ist
aber nur der Prolog zum eigentlichen Schauspiel. Drücke ich
doch dem Konduktor14 fünf Rubel in die Hand und schnappe
nach dem Haltegriff über meinem Kopf, da schnarrt die
Fahrkartenverkäuferin los: „Ja, das geht doch nicht. So etwas
mache ich nicht mit. Und überhaupt, so etwas muss ich mir nicht
bieten lassen“, und so weiter und so fort, im Fluchen scheinen die
Russen Weltmeister zu sein. „Was ist denn nun los?“, denk ich
mir. Eine junge Russin um die 20 will bezahlen. In ihrem
Kleingeldsortiment haust aber ein kleiner Rubel, der sich mit einer
Delle von den anderen Münzen unschuldig hervortut. Das mag
die Fahrkartenverkäuferin gar nicht gerne. „Ja, so etwas nehme
ich nicht an. Bezahlen sie mit ordentlichem Geld. Bringen sie das
Ding zur Bank. Das nimmt mir doch später niemand ab. Geben
sie mir einen richtigen Rubel“, stöhnt sie herum. Die junge Russin
13
14
Stavropol. Dienstag, den 21. Mai 2002.
Auf zu den Dänen! Am frühen Morgen will ich näheres über die
Mikrokredite erfahren. Stanislav, der Programmleiter, ein
aufgeschlossener Russe im Wollpullover faßt die Vergabe kurz
zusammen: “Zur Zeit laufen 600 Projekte in mehreren
Republiken Rußlands. Wir funktionieren wir eine kleine Bank. Wir
geben 20.000 Rubel13 für maximal ein Jahr. Zu uns kommen
Flüchtlinge, die mit dem Geld z.B. Tiere kaufen oder ein Geschäft
aufmachen. Grundsätzlich kann jeder einen Kredit erhalten. 75
Prozent unserer Klienten sind Russen. Mit der Arbeit haben wir
vor vier Jahren begonnen. Probleme gibt es meist bei der
Rückzahlung der Summe.“, er lacht. Wir verabreden uns für den
morgigen Tag, um Interviews mit zwei Flüchtlingsfamilien zu
machen.
1 Euro sind ungefähr 30 Rubel.
Der Schaffnerin.
75
ist verzweifelt, hat sie doch kein weiteres Münzstück und will eine
Fahrkarte kaufen. Solche eine hartnäckige Passagierin hat man
lange nicht gesehen: „Jetzt nehmen Sie das Geld schon an, der
Rubel ist doch nur etwas verbogen, das ist doch kein Problem“,
versucht sie zu beruhigen. „Ich will doch nur eine Fahrtkarte!“
Der Fahrkartenverkäuferin reicht es, sie nimmt den Rubel, hebt
den Arm, holt weit aus und schleudert den kleinen Rubel auf den
harten Holzboden des Trolleybusses. Der Mop hält inne. Die
junge Russin rückt näher zu ihrem Freund ans Fenster. Der
Busfahrer peilt gar nichts. Eine alte Dame räkelt ihren Kopf in
Richtung Gang. Ich staune. Der Rubel klimpert. Die
Fahrkartenverkäuferin verschnauft. Damit hat sie es uns allen
bewiesen. Ein junger Offizier mit Aktentasche und faltenloser
grüner Uniform steht auf. „Nun mal halblang gute Dame“,
brummt er, „Dieses Münzstück ist immer noch ein offizielles
Zahlungsmittel. Sie sind dazu verpflichtet diese Frau zu
befördern, der Rubel ist völlig korrekt.“ Die Fahrkartenverkäuferin
ist bockig. Sie hängt sich ihr schwarzes Geldtäschchen im den
Hals, rückt ihre
76
Wolkenfluten | Stavropol
blaue Rüschenschürze zurecht und setzt sich auf ihren
Konduktersessel neben der Tür. Der Bus hält an, die Leute
steigen aus, es ist wieso Endstation. Ich bin zu weit gefahren. Hat
die Frau mir doch in dem ganzen Theater vergessen, bei der
richtigen Station Bescheid zu sagen. So was. Ich hebe den Rubel
auf und lege ihn auf einen Sitzplatz. Ruhe sanft kleiner Rubel,
ruhe sanft.
Das Ziel meiner Wege ist eine kleine Wohnung im Erdgeschoß
eines gewöhnlichen Mietshauses. Vor mir steht ein freundlicher
Mann um die fünfzig. Vasili Petrowitsch schafft Brot und Butter
heran und tischt mir seine Meinung auf. Die Organisation
„Solidarnost“ hat gegründet, als er selber aus Grozny geflohen
ist. Vasili ist Russe und hat durch Bekannte nach Stavropol
gefunden. Sein Standpunkt scheint unumstößlich: „Dass Stalin
die Tschetschenen nach Kasachstan deportiert hat, war richtig.
Anders hätte man die Region nicht kontrollieren können. Die
Ethnien muss man trennen. Natürlich ist das schmerzhaft, aber
politisch pragmatisch. Als die Tschetschenen zurückkamen,
begannen doch erst die Probleme.“ Da muss ich erstemal
durchatmen und höre ihm weiter zu: „Den ersten
Tschetschenienkrieg habe ich vorhergesagt. Völlig unnötig war
der, Jelzin hat einen großen Fehler begangen. Der zweite Krieg
dagegen ist richtig, Anarchie herrschte zu der Zeit in
Tschetschenien. Aber sollen sie doch frei sein und unabhängig
werden, dann müssen sie alleine sehen, wir sie weiterkommen.“
Er greift zu Papier und Bleistift und rechnet mir vor, wieviel Geld
Moskau in die Region steckt. „Die Tschetschenen wollen doch
nicht arbeiten, die sind faul. Ich kenne die Leute, ich habe doch
selber dort gelebt“, setzt er nach. Ganz abstrus wird es, als er mir
von der tschetschenischen Mafia erzählt: „Du kennst doch
sicherlich das Rossija am Roten Platz oder das Kaufhaus am
Manegenplatz in Moskau, der Hausherr ist ein Tschetschene. Die
Avto-Bank ist auch in ihren Händen. Das ist wie mit den Juden.
Hier in Stavropol haben die auch einen riesigen Supermarkt.“
Leider merke ich erst im Nachhinein, dass mein Tonbandgerät
stehengeblieben ist und das Gespräch nicht aufgezeichnet hat.
Mir ist kalt, der Wind hat das Fenster aufgestoßen. Die gelben
Heftzettel an der Schreibtischlampe flattern. Er nennt mir seine
Fakten für den Krieg in Tschetschenien: „Die Religion von Russen
und Tschetschenen ist zu unterschiedlich. Die haben Gesetze, die
sich von unseren komplett unterscheiden. Sie rauben Frauen und
haben keine Moral. Hitzig sind sie obendrein. Die Tschetschenen
sind reich, sie leben bei weitem besser als wir Russen“. Aus einer
Schublade holt er Fotos von einem zerstörten Haus in Grozny
hervor: „Hier schau. So sieht es aus. Und auf dem Foto, ist alles
neu und in Ordnung. Die Tschetschenen haben sich schnell ihre
Häuser aufgebaut. Die haben Geld und verstehen Geld zu
machen. Denen geht es gut.“ Vasili Petrowitsch gestikuliert und
läßt seinen Emotionen freien Lauf: „Und jetzt? Moskau und alle
anderen Regionen finanzieren Inguschetien und Tschetschenien.
Das ist doch nicht richtig. Dennoch, wir helfen allen, die unsere
Hilfe brauchen, tschetschenischen und russischen Flüchtlingen“,
erklärt Petrowitsch. Ich bin zwischen den Fronten von Wahrheiten
geraten. Kann man diese Diskussion losgelöst von gut und böse
führen? Wohin werde ich treiben?
Es pocht an der Tür, ein Mann mit einer viel zu großen Hose und
gekämmtem Seitenscheitel steht auf einmal im Raum. Serjoscha
ist vor vier Jahren aus Grozny geflüchtet, er ist Russe, seine Frau
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hat ihn verlassen, jetzt schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs
durchs Leben. Ob jemand Zigaretten kaufen will, fragt er. Ich
versuche mit ihm über seine Erlebnisse im Krieg und seine
Gegenwart zu sprechen; er sitzt zusammengekauert auf dem
Stuhl, die Schultern vornüber, die Hände zusammengefaltet auf
dem Schoß. Serjoscha sagt nicht viel: „Es geht schon, so stehen
die Dinge“, wiederholt er monoton.
Eigentlich habe ich heute Geburtstag. Ina und Natascha haben
das irgendwie herausbekommen. Zum Feiern ist mir nicht zu
Mute, trotzdem gibt es „aus Anlaß des Tages“, wie Ina sagt,
Tomatensalat mit Kapern, Birnenbrause und Sekt aus Dagestan.
„Runde Geburtstage zeigen die Zukunft für ein Jahrzehnt“, sagte
meine Russischlehrerin in Moskau. Ich seufze, dann werde ich
wohl bis dreissig auf Reisen sein, in Trolleybussen frustrierten
Frauen um die vierzig begegnen und mir
Verschwörungstheorien von unrasierten Herren um die fünfzig
anhören müssen. Alles Gute für Dich.
Als mein Opa anruft, kommt Stimmung auf: „Mensch Junge, geht
es Dir gut? Hast Du denn auch immer genug zu essen? In
Rußland ist det doch sicher nicht einfach“, fragt er fürsorglich, ich
nicke und flüstere leise: „Ja, ganz schön schwierig hier“, in den
Hörer.
Ende der Aufschrift 1 Uhr morgens
78
Stavropol. Mittwoch, den 22. Mai 2002.
Holländer schubsen mich aus der Reihe. Der Termin mit Stanislav
platzt. Eine Gruppe Journalisten kommt, da hat der Chef am
Morgen alle Pläne umgeworfen und das Auto geordert. Stanislav
wird jetzt meine Tour mit den orangen Zeitungsleuten machen.
Meine Tagesplanung ist für die Katz. Die Vorfreude auf die
Fußballweltmeisterschaft ist dann das einzige, was so einem
Morgen Süße gibt.
Ich fahre in die Stadt und entdecke ein weiteres Mal Kinder mit
Gewehren. In einem harmlosen Park halten sie Wache vor einem
steinernen Denkmal. Diesmal ist das Mädchen auch bewaffnet.
Die drei stehen sich regungslos gegenüber und blicken sich an.
Ich drücke ab, sie zucken noch nicht mal eine Wimper, als ich ein
Foto von ihnen mache. Ein kleiner Junge planscht mit seinen
Händen in einem Springbrunnen neben den Treppenstufen, seine
Mutter schwatzt mit einer Freundin auf der Parkbank. Der Wind
ist weich. In einem Internetcafe plaudere ich mit dem
kasachischen Besitzer. Vor fünf Jahren ist er nach Stavropol
gekommen, jetzt arbeiten sein jüngerer Bruder und sein Vater mit
im Geschäft. Mit dem Internet kann man Geld verdienen, noch
mehr bringen aber die Computerspiele, bei denen sich
Jugendliche in LAN-Sessions den Thrill geben. „Die sitzen den
ganzen Nachmittag hier, in den Ferien ballern sie den ganzen
Tag auf dem Computer durch die Gegend“, erzählt er mir. Er
schüttelt mir die Hand, freut sich über meinen Besuch,
verabschiedet mich und eilt zum Tisch einer Studentin, die ihr
Textverarbeitungsprogramm zum Absturz gebracht hat.
In einem Telefonamt zwei Querstraßen weiter gehe ich dem
Hinweis einer Email nach. Ich telefoniere nach Wladikawkas.
Durch Zufall bekomme ich die Nummer eines Deutschen, der im
Kaukasus eine Spedition betreibt. Ich spreche mit seiner Frau, die
einer Übernachtung bei ihnen zustimmt. Ich korrigiere alle
Gedankengänge und ändere meine Reiseroute. Diese Chance ist
einmalig. Dann geht es fix. Ich zahle eine hohe Summe Rubel bei
der Kassiererin ein und telefoniere nach Nord-Ossetien. Über
einen Kontakt bei UNICEF15 gelange ich zum UNHCR16. Eine
aufgeschlossene Frauenstimme sucht mir zwei Telefonnummern
von Flüchtlingsorganisationen in Wladikawkas raus. Mein erster
Anruf
schlägt
fehl,
ich
lande
beim
Ossetischen
Außenministerium.
Der
zuständige
Mitarbeiter
für
Flüchtlingsfragen ergänzt meine Liste mit Telefonnummern.
Nach einer halben Stunde habe ich die ersten Termine für
nächste Woche vereinbart. Ich denke an den Philip Reis und das
erste Telefon, niemand hat damals geglaubt, dass die Welt durch
Kupferdraht und Glasfaser auf ein Dorf zusammenschrumpfen
würde.
Es ist immer noch hell, als ich Maxim am Abend treffe. Wir
überreden einen Besitzer hinter seiner geschlossenen Ladentür
noch schnell zwei Kassetten für mein Tonbandgerät zu verkaufen
und machen uns auf den Weg zum Studentenwohnheim. Maxim
erzählt mir von seinem ersten Studium in Moskau. Kurz vor dem
Abschluß als Ingenieur hat er alles hingeschmissen. Jetzt ist er
wieder in Stavropol und arbeitet als Versicherungsvertreter.
15
16
Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.
Hoher Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen.
Nebenbei studiert er Wirtschaft. Maxim rückt seine Brille zurecht,
schwenkt nach rechts, und wir stehen vor einem dieser gelbbraunen Backsteinhäuser, die eigentlich mehr gelb als braun sind
und an den Frühversuch erinnern, Lego in die Wirklichkeit zu
holen. Auf zwölf Etagen schlurfen Studenten mit Badelatschen
durch die Gänge, bringen in einer improvisierten Küche
Makkaroni gemeinsam zum Kochen oder rauchen einfach nur
stumm in der Hocke eine Zigarette auf dem Flur. Zwölf
Quadratmetern, Natascha und Olga leben in einem Zimmer
zusammen. „Hier ist die Gemeinschaft groß. Wer nicht im
Studentenwohnheim gelebt hat ist kein echter Student gewesen“,
erklärt Natascha. „Das Leben könnte besser sein. In Rußland muß
man bezahlen, wenn man studiert. Wer Geld hat, geht zum
Studium nach Moskau. Stavropol ist die größte Stadt in der
Gegend, deswegen sind wir hier.“ Und dann reden sie alle
durcheinander. Maxim und Natscha haben Kommilitonen auf der
Etage eingeladen. Von den elf, die gekommen sind, will ich mehr,
über ihr Bild von Rußland erfahren. Vorher nehmen sich mich
aber noch auseinander: „Warum macht Du überhaupt einen
Alternativen Dienst in Rußland? Welches deutsche Bier ist das
Beste? Gibt es auch Straßenbahnen bei Euch in Berlin? Und sag
mal, wie viele Buchstaben hat das deutsche Alphabet?“, wollen sie
wissen. Ich berichte davon, wie schwierig es ist mit
Flüchtlingsorganisationen in Kontakt zu kommen, halte Krieg für
die einfachste Antwort und mache klar, dass man in Berlin 13
Jahre zur Schule geht und nicht wie in Rußland zehn. Weißwürste
ißt man übrigens traditionell in Bayern, und nicht alle Deutschen
laufen auf der Straße mit Seppelhosen herum oder stemmen
Bierkrüge, wehre ich mich mit Berliner Akzent. Sie fallen aus allen
Wolken. Wir sprechen über Tschetschenien, Putin, das Klonen, die
79
Globalisierung, ihre Träume und Wünsche. „Es geht voran, wir
bauen Rußland auf. Mit Rußland geht es nach oben. Wir werden
alles selbst in die Hand nehmen“, sind sie sich einig. „Wir werden
unsere Wirtschaft verbessern, aber in der Gegenwart sind alle
gegen uns“, ist der Tenor des Abends. Ein 19-jähriger
Mathematikstudent antwortet auf die Frage, ob es noch ehrliche
Leute gibt, mit einem russischen Sprichwort: „Es gibt sie, aber es
ist nicht möglich, weil alles abgesprochen ist. Wenn du einen
würgen wirst, wird der Rest dich würgen.“ Amerika bedeutet für
eine Studentin nichts gutes. Die Mehrheit bleibt sicher: „Rußland
ist der Bauchnabel der Welt.“ „Alle haben Angst vor Rußland,
weil wir so viele Waffen haben. Wir haben immer noch ein
schwarzes Kästchen mit einem roten Knopf“, sagt gar eine junge
Stundentin, die mit Schlappen auf dem Bett sitzt. „Es ist genug,
immer der letzte zu sein“, wirft ein Junge mit Schnurrbartansatz
vom Stuhl gegenüber ein.
Ein Kühlschrank singt in der Küche. Über die Gänge tappen Füße.
Gelächter prallt gegen die Wände. Die Nacht ist schon
stockfinster. Im Zimmer nebenan läuft der Fernseher. Bis zum
letzten Bus sitze ich im Obtscheschitije17. Eindringlich bleibt mir
die Verzweiflung in
Studentenwohnheim | Stavropol
17
Studentenwohnheim.
80
Ehre der Arbeit | In der Nähe von Stavropol
81
der Stimme eines Mädchens im Gedächtnis. Ihr Bruder ist in
Grozny stationiert. Was sie davon hält, frage ich sie. „Ich denke
gar nichts“, sagt sie still.
Reiner Sonnenschein leuchtet durch das Weiß der Zeitung eines
Mannes. Der sitzt auf einer langgezogenen Steinbank, und löst
sich aus Zeit und Raum.
Ende der Aufschrift gegen Mitternacht
Vor dem Kulturpalast schwatzen Frauen mit Kopftüchern und
Männer in Anzügen. Die Stadtverwaltung und der Djetskij Fond
werden zwei Stunden lang in einem Plenum Fragen von
Flüchtlingen beantworten. Anna, die Juristin vom Djetskij Fond,
hat mich Dienstag eingeladen mitzukommen. Olga Iwanowna
und ihre Mitarbeiterin von der Organisation Orden sind ebenfalls
angereist. Einmal im Monat gibt es eine solche Veranstaltung,
diesmal sind sie nach Novoaleksandrovsk gekommen. Ein Hahn
kräht in der Ferne. Wir warten noch auf den Mann vom
Migrationsdienst. Es ist schon kurz nach elf. Ein Junge ringt mit
seinem Fahrrad, das viel zu groß für ihn ist. Den schwarzen
Geigenkasten hat er über den Lenker gekrempelt. Der
Samtbezug glänzt. Sicherheitshalber lehnt er sich zwischen eine
Bank und sein Gefährt. Er findet halt und guckt sich in der
Gegend um.
Stavropol. Donnerstag, den 23. Mai 2002.
Mit dem Barkas geht es raus aus Stavropol. Zwischen saftigen
Wiesen und flachen Felder finden sich Spuren von kleinen
Dörfern. Astrachan kommt jetzt dagegen wie eine Sandwüste
vor. Das Schild am Ortseingang hält sowjetische Insignien bereit.
Ein Zahnrad, eine Gerstenehre, die Sichel, in dem Dorf wird
gearbeitet, hier wird der Pflug noch mit der Hand geführt. Am
Wegesrand immer wieder Schulklassen, die Unkraut jäten. Die
Lehrer packen mit an. Eine Frau in Turnhose sägt an einem Ast
herum. Eine Kollegin kehrt das Laub zusammen. Vier Jungen
wandern mit der Harke auf der Schulter lässig an einer Gruppe
Mädchen vorbei.
Wir parken gegenüber dem Stadion „Freundschaft“. Lenin winkt
uns in Bronze gegossen zu. Rote Buchstabenklötze stehen vor
dem Kulturzentrum: „Ehre der Arbeit“, heißt es wieder einmal.
Die Farbe ist frisch, eine Frau mit Kinderwagen zieht zügig an
dem Schriftzug vorbei. Ein älterer Herr mit Baskenmütze radelt
zur Dorflitfaßsäule. Zierrahmen aus in blassen grau schmücken
die Informationstafel. Morgen lädt der Folkloreverein zum
Tanzen ein, gute Laune bitte mitbringen. Der Himmel ist blau.
82
Ich bin es ja schon gewöhnt. Von der Stadtverwaltung werde ich
nicht gerne gesehen, mein Tonbandgerät versagt leider wieder
einmal bei der Aufzeichnung der Veranstaltung. „Liebe
Genossen“, beginnt der Vertreter des Migrationsdienstes, „hiermit
möchte ich allen Organisationen Dank aussprechen.“ Dann rattert
er in einer Tour seinen Text herunter. Von 4000
Zwangsvertriebenen haben nur acht einen Status zuerkannt
bekommen. Das Amt baut an neue Strukturen. Die
Entschädigung für Zwangsvertriebene scheitert an den fehlenden
Finanzmitteln. Die Saal ist gefüllt, wie in einem Kino sitzen wir auf
harten Klappsesseln und verzweifeln an der schlechten Akustik.
Sechzig Leute sind gekommen, in der Überzahl Mütter und
Pensionäre. Eine Frau aus Grozny klagt an: „Kein Geld, nichts
haben wir bekommen. Wie Hunde leben wir. Sie gaben uns ein
Buch, na toll, mir reicht es.“ Die humanitäre Hilfe vom Roten
Kreuz ist für sie keine Lösung. Eine Mitarbeiterin vom
Migrationsdienst rechtfertigt sich: „Die Frist für Ihren Antrag auf
Kompensation war abgelaufen, da konnten wir nichts machen.“
„Ich habe zwei kleine Kinder, mein Mann ist gestorben. Der
Russische Staat kümmert sich um nichts. Sehen Sie, was der
Krieg aus uns gemacht hat.“, resigniert die Frau aus
Tschetschenien. Die Stimmung ist angeheizt. Etliche Arme ragen
nach oben. Jeder will sich Luft verschaffen, ein Mann um die
siebzig im verschlissenen grauen Sacko hält es nicht mehr aus:
„Zwei Jahre haben Sie nichts gemacht. Immer wieder haben Sie
uns vertröstet. Putin macht doch nichts. Jelzin hat diesen Krieg
angefangen. Warum hilft uns niemand? Was soll das?“. Er
gestikuliert, seine Hände und seine Stimme zittern: „Viermal
habe ich Ihre Bescheinigung eingereicht. Tun Sie doch endlich
etwas.“ Er ist ganz außer Atem, die Schweißperlen sind
unübersehbar. Eine Frau aus der ersten Reihe steht auf: „Wir
haben alle Dokumente verloren. Wir haben schon viel versucht,
um eine Bestätigung zu bekommen. Man nimmt uns nicht ernst“,
erklärt sie. Der alte Mann hat derweil mit gesenktem Kopf den
Saal verlassen. Er weint. Die zierliche Frau vom Migrationsdienst
zieht Akten aus der Tasche, schlägt ihr buntes Halstuch zur Seite
und versucht gegen die allgemeine Gemütslage anzukämpfen.
Dennoch, Emotionen sind stärker als Beschwichtigungsversuche.
Anna, die Studentin vom Kinderfond, berät nach dem Plenum
juristisch. Eine Frau aus Kasachstan ist nicht als Flüchtling
anerkannt, Anna hilft ihr. „Eigentlich müßte das ja alles der Staat
machen“, kommentiert sie nüchtern. „Flüchtlinge sind schutzlos
der Bürokratie ausgeliefert. In Rußland ist jeder auf sich allein
gestellt. Es ist ein Handel und Schieben der Fälle zwischen dem
Staat und den NGOs18. Den ganzen Nachmittag geben wir hier
noch Kleidung an Flüchtlinge und hilfsbedürftige Familien aus.
Die Liste haben wir von der Stadtverwaltung, die können das
selbst gar nicht leisten.“
Ich streife durch das Dorf. Birkenblüten schweben durch die Luft
und kitzeln unerhört meine Nase. Kinder spielen Fußball auf der
Straße. Zwei Frauen tragen ihre Stoffbeutel nach Hause. Der
Mann mit der Baskenmütze ist wieder da. Er tritt genüßlich in die
Pedale. Es ist wie an einem Sonntag im August. Auf einem
Hinterhof spielen sechs Männer Karten. Eine gescheckte Katze
schleicht um die Beine der Altherrengesellschaft. Der Wind weht
frisch. Blütenflocken aus den Bäumen schweben über den
Holztisch. Niemand stört sich. Ein Kamerad mit Pfeife tritt in die
Geselligkeit. Ein Mann mit Hornbrille und Zigarre teilt neu aus.
Wieder begegnet mir eines dieser unbeschreiblichen Wunder.
Wir besuchen eine Familie mit 13 Kindern. Die Enten watscheln
aus dem Tor. Wir laden Nudeln und Kleidung aus dem
Kofferraum aus. Die Altesten hieven die Säcke mit Hühnerfutter in
den Schuppen aus Wellblech. Die Mutter sucht Hosen und Jacken
aus der großen Tüte heraus. Ein kleines Kindergesicht versteckt
sich hinter dem Treppengeländer. Ich blinzle ihm zu, es kichert
18
Nicht Regierung Organisationen, Non Governmental
Organisations.
83
und verschwindet im Haus. „Hab keine Angst“, ruft mir die
Mutter zu, „geh ruhig ins Haus und schau dich um. Du sollst
doch schließlich wissen, wie wir leben. Wir haben nichts zu
verbergen.“ Ich ziehe die Schuhe aus. In der Küche werkeln die
Jungs mit den mitgebrachten Wasserflaschen herum. Das Haus
ist nicht groß, aber sauber.
Ich stolpere über einen Plüschelefanten. Ich fühle mich wohl, die
Kinder hopsen eifrig an mir vorbei. Im Wohnzimmer sitzen die
leiblichen Töchter. „Unsere Eltern haben vor drei Jahren
angefangen Kinder aufzunehmen - Kinder, die ihre Eltern
weggestoßen haben, weil sie körperliche Mißbildungen haben.“,
erzählt die älteste Tochter. Der Vater geht den ganzen Tag
arbeiten, die Mutter kümmert sich um die Kinder. Jede Kopeke
sparen sie für kostspielige Operationen der Kinder.“
84
85
Dorfleben | Stavropol
Vorschule für Flüchtlingskinder | Stavropol
86
Das Leben ist improvisiert. Vor dem Haus steht ein Plumpsklo
aus Holz. Eine Ziege, Hühner, Ente, die Familie versorgt sich mit
dem Einfachsten. Die Nachbarn bringen Gemüse. „Ich liebe jedes
meiner Kinder“, sagt mir die Mutter ins Ohr und umarmt ihre
Schützlinge. In diesem kleinen Dorf irgendwo im Süden Rußland
leben stille Helden der Gegenwart.
wir die Geschichte „Das Rübchen“21, die Lehrerin ist nett“, so der
kleine Aljoscha aus der ersten Reihe. Die Tische und Stühle haben
Zwergenformat. Für die Kinder muß ich wie ein Riese wirken. Ich
spreche langsam, um die herausgeputzten Wesen nicht
umzupusten. An den Wänden hängen Buchstaben aus Papier,
eine grüne Rechentafel steht neben dem Tisch der Lehrerin.
Ende der Aufschrift gegen 10 Uhr abends
Die Mütter auf dem Flur reden Klartext. „Ohne Dokumente
bekomme ich keinen Paß, ohne Paß keine Arbeitserlaubnisse,
ohne Arbeit keine Wohnung - es ist ein Teufelskreislauf“, weiß
eine Frau aus Abchasien. Ein Mädchen bringt die Tochter einer
Freundin zur Schule, sie sind zu spät. „Krieg ist nie richtig“, sagt
Milana, die sechs Kilometer von Grozny geboren wurde. „Die
gegenwärtige Situation in Tschetschenien wird sich nicht schnell
verbessern. Die russische Regierung birgt nichts Gutes. In der
tschetschenischen Regierung streiten sie sich alle nur.
Tschetschenien ist meine Heimat. Ich möchte zurück in das Haus,
in dem ich gelebt habe. Meine Freunde sind verschollen; ich habe
lange nichts von ihnen gehört, nachdem wir von Inguschetien
nach Stavropol geflüchtet sind“, reflektiert sie. „Ich bin keine
Terroristin. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass die Leute so
urteilen. Russische Soldaten töten unsere Väter und verschleppen
unsere Brüder. Von denen sind viele nicht normal. Sie töten
Menschen, ohne Rechtfertigung haben sie unsere Häuser
durchsucht und nahmen alles mit, was ihnen gefiel. Einen Freund
aus der Nachbarschaft haben Soldaten bei einer der
Säuberungen mitgenommen. Er war 16, niemand weiß, wohin sie
Stavropol. Freitag, den 24. Mai 2002.
Neben dem Kiosk mit frischen Bulotschki19 gibt es eine Vorschule
für Flüchtlingskinder. Hinter dem Torbogen mit den
mitgenommenen Stuckverzierungen in einem Raum auf der
dritten Etage. Vor den weiß gestrichenen Fensterrahmen warten
die Mütter. 300 Rubel20 kostet ein Platz für ein Kind in einer
Vorschule: „Ich habe drei Kinder. Wir sind vor einem Jahr aus
Aserbaidschan geflüchtet. Unser Geld reicht gerade für das
Nötigste“, erzählt mir eine Mutter, die froh über diese kostenfreie
Möglichkeit für die kleinste Tochter ist. Vor zwei Jahren wurde
die Schule von der Heilsarmee gegründet, die zwölf Kinder sind
im Alter von sechs bis sieben Jahren, mit acht geht es in Rußland
in der Grundschule weiter. „Wir tanzen und singen, heute lesen
19
Süße Brötchen, manchmal mit Rosinen, Mohn oder Zimt.
Zu Erinnerung: Ein Euro sind ungefähr 30 Rubel. Zum
Verständnis: Natascha verdient im Monat als Psychologin in
einem Therapiezentrum in Stavropol 2100 Rubel.
20
21
Russische Erzählung, bei der eine Familie vom Opa bis zur
Hausmaus versuchen eine Rübe aus den Erdboden zu ziehen.
87
ihn gebracht haben, ob er lebt. Immer und immer wieder
verschwinden Menschen; Wochen später werden Leichen
gefunden. Das Leben in Tschetschenien ist schrecklich, mein
Vater hat es mir verboten wieder dort hin zu fahren.“ „Nach dem
Krieg will ich zurück.“, bekennt die 20-Jährige. „Wie lange wird
dieser Krieg noch dauern? Solange sie es wollen, wird es so
weitergehen. Wer weiß schon, wohin Rußland geht?“ Milana
wünscht sich, dass alles gut wird, träumt von einem normalen
Leben, um keine Angst mehr zu haben: „Wenn die Kinder ein
Flugzeug hören, verstecken sie sich. Ich beruhige sie dann und
sage, dass sie hier sicher sind.“
„Gerade Kinder nehmen ihre Umwelt viel intensiver wahr, als
Erwachsene. Der Krieg traumatisiert sie. Lernschwächen,
Schwierigkeiten sich zu konzentrieren sind unmittelbare Folge.
Auch die fluchtartigen Veränderungen ihrer Lebensumstände
sind für Kinder eher unbekannt, und können zu Ängsten führen“,
legt Natascha dar, als ich sie am späten Nachmittag bei ihrer
Arbeit in einem Rehabilitationszentrum besuche, in dem sie
Kinder psychologisch betreut. „Krieg schafft viel größere
Probleme, als dass er etwas löst“, schlußfolgert sie. Der Schatten
der Platanen fällt durchs Zimmer. Im Garten spielen Kinder mit
Bällen und tollen in der Gegend herum.
Ende der Aufschrift gegen 11 Uhr abends
Wladikawkas. Sonnabend, den 25. Mai 2002.
In den frühen Morgenstunden nehme ich den Bus von Stavropol
nach Wladikawkas. Auf der Fahrt mit dem Taxi verabschiede ich
mich von der mitreißenden Schönheit dieser Stadt. Die Straßen
sind überzogen mit Nebel, die Bäume schlafen, nur in einigen
Fenstern brennt Licht. Der Busfahrer ist ruppig. Sein schwarzer
Schnauzer paßt zu den markanten Zügen seines Gesichtes. Für
einige Rubelscheine nimmt er zwei Kisten von einem Mann mit,
der kurz vor Abfahrt mit seinem Moskwitsch angeprescht kommt.
Sie laden um, schnell, schnell, die letzten steigen ein. Im Bus:
Soldaten, Frauen dunklen Kleidern und bunten Kopftüchern,
sechs Männer mit kaukasischem Blick und ein Deutscher. Vor der
Grenze zu Nord-Ossetien gibt es die ersten Polizeikontrolle.
Stopps solcher Art sind gewöhnlich auf den Straßen Rußlands. In
Nevinnomissk, Mineralnije Vodi, Pjatigorsk und Novopawlowsk
überprüft uns die Miliz. Wir vertreten uns kurz die Füße. Nazran,
Grozny, Machatschkala steht auf einem blauen Schild neben
unserer Haltestelle. Die Schrift ist verwaschen, neben einer Bank
wirbt eine Frau mit bunter Schürze für ihre Tschebureki22. Wir
kaufen Eis. Ich unterhalte mich mit dem jungen
Fallschirmspringer, der vor mir im Bus sitzt und ein Handbuch zur
islamischen Kultur liest. „Ich komme gerade von einem Seminar in
Stavropol, jetzt geht es wieder zurück zu meiner Einheit“, erzählt
er und zeigt mir stolz ein Foto: „Im Armdrücken habe ich den
ersten Platz belegt, schau mal.“ Als ich ihn zur seiner Arbeit in
22
Fritierter Teig mit Hammelfleischfarce oder Käse, sieht aus wie
ein Halbmond mit Zacken.
88
Tschetschenien befrage, antwortet er unbefangen: „Ich weiß,
dass es eine schlechte Sache ist, aber jemand muss sie ja
machen.“ Neben uns stehen zwei Panzerfahrer und rauchen. Sie
sind bei weitem älter, als der junge Russe mit dem breiten Kreuz,
der in meinem Alter sein könnte.
Von der Zugfahrt nach Wolgograd habe ich gelernt. Am Abend
vorher rolle ich die Filme und Tonbänder in meinen Schlafsack
ein. Fotoapparat und Bücher verpacke ich in dreckige Wäsche.
An der Grenze werden die Pässe kontrolliert. Allein drei mal im
Abstand von 200 Metern steigen Uniformierte mit ihren
Schirmmützen ein. Auf die Fragen antworte ich, dass ich Student
bin und Freunde besuche. Alles andere wäre zu kompliziert.
89
90
Stadtpanorama | Wladikawkas
91
Berge | Nord-Ossetien
An einer Straßensperre gibt es Ärger. Ein Georgier muss
aussteigen. Wir fahren rechts auf einen Seitenstreifen und
warten. Ich spaziere auf einer Wiese, vor mir erhebt sich das
Gebirge aus der Erde und entfaltet seine Schöhnheit. Ein Bauer
zieht mit seinem Heuschober querfeldein vorbei. Das ist der
Kaukasus. Ich habe das Gefühl endlich angekommen zu sein.
Der Busfahrer und der Georgier sind zurück. Beide grummeln,
wir haben Verspätung, der Georgier mußte 1500 Rubel Strafe
zahlen. Wir fahren weiter. “Wir sind mit dem russischen Volk
verbrüdert“, steht in großen Buchstaben mit Kalk auf einem
Berghang geschrieben. Auf einer langen Asphaltstreifen ziehen
wir durch das Land. Die Ebene ist flach, unwirklich scheint sich
das Gestein in der Ferne in die Wolken zu bohren. Am
Nachmittag gegen vier Uhr erreichen wir Wladikawkas.
Frank und seine Frau Elina holen mich ab. Er war bei der Nato,
sie ist Dolmetscherin. Jetzt leben sie mit Oma, Tochter, Hund
und Katze in einem Haus am Fluss mitten im Zentrum. Frank hat
zwei Lkw mit Obst und Gemüse zu laufen. Ohne Atmen zu holen,
stürtze ich mich in ein weiteres Abendteuer. Wir stellen nur kurz
die Sachen ab und fahren mit dem Jeep in die Berge. Elina will
wilden Knoblauch stechen, die Oma braucht eine Wurzel für eine
kranke Freundin, die gibt es nur an einer bestimmten Stelle im
Gebirge. Ossetien ist eine kleine Region im Kaukasus, in
Wladikawkas leben ungefähr 400.000 Einwohnern. „So viele
Menschen wohnen auch an einer Hauptstraße in Moskau.“,
scherzt Elina. Früher hieß die Republik übrigens früher „Alania“,
so nannten die Georgier „die aus dem Norden“.
92
Durch Gisel hindurch, kreuzen wir eine Allee und nehmen galant
die Kurve auf eine Sandweg. Wir verlassen das Tal und sind die
einzigen auf der Straße. Vor dem Abzweig in die Berge, neben
einem Baum wieder ein Polizeiposten. Frank winkt ihm freundlich
zu. Links und rechts neben uns Felder mit gelben Gräsern. In
Fiagdon steht ein Kalb vor der Schule. Kinder mit weißen Hemden
und roten Schleifen sitzen auf den Treppen. Ein großes LeninEmblem hängt über dem Eingang. Das Kalb muht und frißt weiter
dreist Gras durch den Zaun. Im dem Marktplatz verkauft eine
Frau Tomaten, Gurken und Zwiebeln aus dem Kofferraum ihres
Autos. Zwei Omas und ein Opa laufen vor uns auf dem
Bürgersteig. Es staubt. Die drei debattieren heftig. Wir steigen
weiter in die Höhe. Vor den Bergschluchten: Abgestellte Ladas,
Leute im Gras sitzen und Schaschlik machen, das Wetter ist
herrlich. Auf einer kleinen Holzbrücke überqueren wir einen
reißenden Fluß. Zwei Männer mit hohen Gummihosen angeln in
der Strömung Forellen, eine Mutter und ihre Tochter hocken am
Rand in den Sträuchern und sammeln Blaubeeren.
Es ist, als hätte Gott in die Berge gepustet. Sanft und leicht legt
sich das Grün auf das Gebirgsmassiv. Ich blicke wie verzaubert
auf die braunen Felsen, die mit blühenden Auen und üppigem
Buschwerk verflochten sind. Elina sucht Blumen für ihren Garten,
die Oma sammelt Kräuter für einen Tee, Frank versucht mit dem
Spaten die Staude mit der Heilwurzel aus dem harten Boden zu
graben. Ich werde süchtig von der reinen Luft der Berge. Frank
holt das Fernglas heraus und zeigt mit dem Finger in die Wälder:
„Hier gehe ich sonst im Winter auf die Jagd. Mit dem Krieg in
Tschetschenien sind die ganzen Bären und Bergziegen nach
Inguschetien und Ossetien geflüchtet. Es gibt ein Rudel mit
Wölfen, das jetzt in den Bergdörfern das Vieh und Hühner reißt.“
Ein Gewitter überrascht uns, wir kehren um.
Es ist der Geruch nach einem Regen, der das Paradies auf Erden
schafft. Mit Elina klettere ich einen kleinen Weg einer
Bergschneise entlang, die vom Gletscherwasser ausgespült
wurde. Das Wasser ist glasklar. „Ringsum war es still, so still, dass
man nach dem Summen einer Mücke ihren Flug hätte verfolgen
können. Links war eine schwarze und tiefe Schlucht, hinter ihr und
vor uns ragten die dunkelblauen, zerklüfteten Berggipfel; von
reichlichem Schnee bedeckt, standen sie gegen den blassen
Himmelsgrund, der noch immer Spuren der erlöschenden
Abendröte aufwies. Am dunklen Himmel flimmerten bereits die
ersten Sterne, und es kam mir eigentümlicherweise so vor, als
stünden sie viel als bei uns im Norden.“23 Ich denke an
Lermontov. Auf den Auen weiden Kühe und Schafe.
Auf dem Rückweg durch Fiagdon fallen mir Löcher in den
Felswänden auf. Ganze Häuser mit Fenstern und Treppen sind da
in den Stein geschlagen. „Das ist die Totenstadt“, weiß Elina. „Im
17. Jahrhundert haben dort Menschen gelebt. Bei Gefahr hat
man die Familien und das Vieh in dem Höhlensystem versteckt.
Die kleinen Öffnungen sind Schießscharten.“ Die Häuser aus
Steinplatten mit kleinen Schächten erklärt sie anders: „Die Leute
waren sehr arm und haben in den Feldern geschlafen. Als die
Pest kam, sind viele Menschen gestorben. Später sind die Leute
einfach in die Kammern gekrochen und dort gestorben. So
konnten die Hunde die Leichen nicht fressen.“
23
Lermontov, S. 9
Der Kaukasus ist der Kaukasus. Am Abend gehen wir am Flußufer
vor dem Haus mit dem Hund spazieren. Prompt lädt uns der
Vetter von Frank zum Schaschlik ein, den besten soll es am Ende
der Stadt geben. Ein Taxi wird angehalten. Der Fahrer des kleinen
viereckigen Ladas ist hilflos, als Adür angeheitert auf ihn einredet:
„Ist das nicht ein schöner Tag? Den Preis kann man mal etwas
drücken. Wir wollen was essen, willst du nicht mitkommen?“. Die
Stimmung ist großartig, Ossetien nimmt mich an seine Hand.
„Gib Gott, dass uns noch viele Gäste besuchen und Frieden auf
Erden herrscht“, betet Adür in der Landessprache. Dann spricht er
ein Gebet für mich und hält mir einen großen Fladen hin. Von
dem soll ich als erster abbeißen. „Pizza“ nennen die Ossieten
diese nationale Spezialität, die mit einer Mischung aus Käse,
Kräutern, roter Beete oder Kartoffeln gefüllt ist. Allein der Duft ist
köstlich, der Teig fettig mit Butter bestrichen. Und dann folgt eine
Rede nach der anderen, wir stoßen mit Wodka an. Die Gläser
klirren. Die Kellnerin wird herangerufen, die soll schließlich auch
auf den Besuch trinken. Erst bei Sonnenaufgang schenkt mir die
Gastfreundschaft die Freiheit.
Wladikawkas. Sonntag, den 26. Mai 2002.
„Der Morgen war frisch und schön. Goldene Wolken ragten über
die Berge wie eine Kette von Zauberbergen; vor dem Tore lag ein
breiter Platz; auf dem Markt dahinter wogte das Volk, denn es war
ein Sonntag; barfüßige Ossetenknaben, die ihre Quersäcke mit
Wabenhonig auf dem Rücken trugen, schwirrten um mich
93
herum.“24 Am Eingang kontrolliert die Miliz die Rucksäcke und
Taschen. Die Angst vor Bomben ist groß. Im April gab es den
letzten Anschlag. „Die Russen wollen, dass wir uns immer wieder
bekriegen“, erzählt Elina und macht klar: „Inguschen und
Tschetschenen sind in Ossetien eher unbeliebt. Sie sind aggressiv
und stiften Unruhe. Blutrache und Mädchenraub sind im
Kaukasus althergebracht, doch die Banditen haben den Krieg
gebracht.“ Wir sind auf dem Hauptmarkt in Wladikawkas. Unter
Dächern aus Leinentüchern suchen wir Trockenpflaumen und
Walnußkerne aus.
24
Lermontov, S. 61
94
95
Alter Mann in den Bergen | Nord-Ossetien
96
Moschee | Wladikawkas
Die Tochter hat morgen Geburtstag, da kauft man gerne Konfekt
in grellen Papierschachteln. Das Blumenmotiv lächelt unter dem
glänzenden Zellophan. Säbel aus Glas gefüllt mit Weinbrand sind
ebenso traditionell. Mit einem Weidenkorb schlendern wir an
Säcken voll Reis und Hirse, frischem Gemüse und Bottichen mit
Ziegenkäse vorbei. An einem Stand kaufen wir Oliven mit
Knoblauch. Ein Junge baut mit flinken Fingern eine Pyramide aus
Datteln im Schatten eines dickbäuchigen Händlers. Ein Zipfel
Asien scheint hier auf dem Boden zu liegen. Und überhaupt, der
Markt ist sauber und offen. Niemand drängt durch die Reihen, es
ist viel mehr ein genüßliches Treiben und Feilschen. Ich fühle
mich sicher.
fürchten sie nicht, Terroranschläge gibt es schließlich überall.“
Wladikawkas wirkt friedlich, in der Universität studieren die
besten Mediziner und Techniker Rußlands. „Die Stadt hat sich
verändert, schrittweise wird die Industrie aufgebaut, wir haben
jetzt sogar eine Tankstelle im Zentrum. Ringsum bauen sie neue
Häuser.“ Es gibt viel zu tun: „Allein der Schlacke neben der Fabrik
dort ist einige Millionen Dollar wert, nur die Anlage zur
Rückgewinnung der Edelmetalle läuft noch nicht“, weist Frank auf
einen schwarzen Berg hinter einem Fabrikzaun.
Auf der Suche nach Luftballons landen wir im ZUM25. In dem
größten Kaufhaus an der Hauptstrasse von Wladikawkas haben
früher Touristen gegen Devisen handbestickte Ledergürtel und
feine Seidentücher gekauft. „Heute sind alle verängstigt. Grozny
liegt 90 Kilometer entfernt. Das Fernsehen hat das Bild von der
Region verklärt. Die Leute in Moskau glauben, dass hier überall
Krieg herrscht“, klagt Elina. Die Russische Föderation hat ein
Bataillon am Ausgang zu Stadt stationiert. Ein weitläufiges
Gelände ist da mit Stacheldraht abgesteckt. „Gleich in der Nähe
gibt es einen Bezirk, indem vor zwei Jahren vorwiegend
Tschetschenen und Inguschen gelebt haben“, berichtet Frank, als
wir mit dem Auto eine Rundfahrt machen. „Das war ein
Umschlagplatz für Banden und Schiebereien. Die Miliz hat fast
nie etwas gefunden. Als man die Häuser abgerissen hat, haben
sie ganze Waffenlager in den Kellern entdeckt. Die Menschen
Eine Straßenbahn flitzt über die Brücke. Junge Paare sitzen
umschlungen in der Nachmittagssonne. Auf Uferpromenade
wirbt eine Biermarke auf einem Zeltdach. Ein kleines Mädchen
läuft mit einer Kugel Eis über die Wiese. Zwei Jungen im AdidasLook halten mich für einen Finnen. Das Panorama hinter den
Mauern der Stadt ist gigantisch. „Amphitheatralisch aufgebaut,
immer blauer und immer nebliger erheben sich die Berge, und fern
am Horizont erstreckt sich die silberne Kette der Schneegipfel,
beginnend mit dem Kasbek und endend mit dem doppelten Gipfel
des Elbrus.“26 Die Kulisse bietet Raum für ein kraftvolles
Reiterstandbild. Ein Mann mit Pelzkappe holt Anlauf zum Sprung
über die Giebel der Dächer. Der Stadtpark ist nach dem
Nationalheld Kosta Ketagurov benannt. Der berühmte Dichter ist
Elinas Onkel. Die Adelsfamilie gehört zu einer der Größten in
Ossetien. „Ich habe mit dem Kulturminister gesprochen. Die
stellen eine Eskorte, dann fahren wir übermorgen noch einmal ins
Gebirge und lassen uns von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter
das System der steinernen Wachtürme im Kaukasus erklären“,
25
26
Zentrales Warenhaus.
Lermontov, S. 91
97
schlägt Elina vor. Wir machen vor einer Moschee halt.
Orientalische Ornamente schmücken den spitzen Fensterrahmen
zwischen den Minaretten. Die Keramikfarben funkeln in blau,
braun, rot und gelb. Der Innenraum ist mit weichen
Perserteppichen ausgelegt. „Anfang des Jahrhunderts heiratete
ein armenischer Erdölmagnat aus Baku eine Ossetin. Aus Dank
baute er dem Ossetischen Volk diese Moschee“, erzählt mir ein
Student, der kurz den Koran zu Seite legt.
Der Kaukasus ist einzigartig. Unzählige Kulturen und kleine
Stämme leben auf kleinstem Raum zusammen. Jede kaukasische
Sprache ist ein Unikum, gemeinsam bilden sie eine
Sprachgruppe. Ossetisch baut zwar auf dem kyrillischen
Alphabet auf, streut aber noch ganz eigene Schriftzeichen unter.
Wissenschaftler entdeckten vor zwei Jahren eine Sensation,
danach lassen sich Ursprünge der deutschen Sprache im
Ossetischen finden. Das ossetische Wort für einen Berg, zum
Beispiel, heißt „hoch“27. Schnittpunkte finden sich aber auch mit
Irland. Die Kirchen und Gräber erinnern steinerne Bauwerke auf
der grünen Insel. Für die Osseten waren rote Haare typisch.
Ossetische Tänze ähneln ebenfalls irischen Pendants. Heute ist
das mit den Traditionen auch in Ossetien so eine Sache. Elina
spricht mit ihrer Tochter zu Hause absichtlich nur die
Landessprache. Nach zehn Minuten gibt sie es auf, die jungen
Leute reden so wie in der Schule viel lieber Russisch.
Im Kaukasus mißversteht man sich nicht nur von der Sprache her.
„Um einen Streifen Land zwischen Inguschetien und Ossetien
27
Хох.
98
gibt es schon lange Streit; Stalin schenkte es nach der
Deportation aufmüpfiger Bergvölker den Osseten. 1992 wollten
die Inguschen ihr Gebiet zurück. Sie kauften Waffen und fielen in
Wladikawkas ein. Interessant ist, dass drei Tage zuvor sämtliche
inguschische Familien die Republik verlassen. Die Leute waren
ahnungslos, als eines Morgens Lastwagen in die Stadt rollten und
Scharfschützen von den Dächern auf Bevölkerung schossen. Die
Süd-Osseten kamen den Nord-Osseten zur Hilfe. Sie hatten die
Kriegserfahrung und die Gewehre vom Krieg gegen Georgien,
und lebten als Flüchtlinge in Nord-Ossetien. Die Inguschen
wurden innerhalb einer Woche bis weit nach Inguschetien hinein
zurückgeschlagen. Eine Groteske, denn mehrfach hatte das
inguschische Volk um die Rückgabe des umstrittenen Gebiets
gebeten. Bei dem Alleingang der Inguschen wollte Rußland
wegschauen, nun griffen russische Truppen ein, um Inguschetien
zu sichern“, berichtet mir die Oma am Abend beim
Mitternachtstee. Interessant auch, dass die Inguschen den Vorfall
ganz anders darstellen: Ausgangspunkt für den Krieg war ein
Mädchen, das bedrängt wurde. Geschichte war ja schon immer
eine lose Blättersammlung mit unzählig farbigen Seiten.
Der Zerfall der Sowjetunion brachte aber noch einen ganz
anderen Konflikt an den Tag. „Nord- und Süd-Ossetien sind
durch einen Bergkamm und eigenständige Kulturen getrennt.
Süd-Ossetien fiel zu Georgien, wollte aber zurück zu Rußland.
Visa beschränkten die Familien, die auf beiden Seiten verstreut
lebten, und einen Besuch problematisch machten. Vielleicht war
auch das ein Auslöser für einen Krieg gegen Georgien“, erfahre
ich von Elina weiter. Dann schimpft sie über den Einfall der
Wahabiten in das christliche Dagestan. Das war der Auslöser für
den zweiten Tschetschenienkrieg. „Ossetien gehört zu Rußland.
Wir sehen doch was in Mittelasien, wie Armenien, passiert ist.
Tschetschenien strebt nach Unabhängigkeit; uns geht es gut, bei
uns hat jeder ein Stück Brot.“
Wladikawkas. Montag, den 27. Mai 2002.
„Einen so blauen und frischen Morgen hatte ich noch nie erlebt!
Die Sonne blickte noch kaum über die grünen Wipfel, und die
Vereinigung ihrer ersten warmen Strahlen mit der vergehenden
kühlen Nacht versetzte alle Gefühle in den Zustand einer süßen
Erschlaffung.
99
100
Ehrenmal | Wladikawkas
101
Kinder, UNICEF | Wladikawkas
Wie neugierig betrachtete ich jeden Tautropfen, der auf den
breiten Weinblättern bebte und Millionen regenbogenfarbiger
Strahlen in die Welt schickte! Wie gierig versuchte mein Blick, die
neblige Ferne zu durchdringen! Dort wurde unser Weg immer
enger, die Klippen ragten immer blauer und gefahrvoller und
schienen endlich zu einer undurchdringlichen Wand zu
verschmelzen. Schweigsam ritten wir dahin.“28
Wir legen mit einem Faden ein Bild. Das hellblaue Wollknäuel
geht weiter. Ich besuche ein Integrationszentrum für
Flüchtlingskinder. In einem der mit Platten verbauten
Außenbezirke hocke ich ohne Socken in einem Kreis auf dem
Boden. „Zweimal in der Woche bringen wir 28 Kinder mit einem
Bus aus den Zeltlagern nach Wladikawkas. Psychologen
versuchen spielerisch ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Nach
zwei Monaten wechselt die Gruppe, die Kinder haben meist ihre
Eltern verloren und leben in den traurigsten Bedingungen in
Inguschetien“, murmelt mir Natascha zu, die das Projekt
koordiniert. Das Wollknäuel ist wieder da, jetzt versuchen wir uns
eine Geschichte zu den einzelnen Bildern auszudenken. „Über
8.000 Kinder leben in Flüchtlingslagern in Inguschetien. UNICEF
finanziert das Projekt bis Ende des Jahres, danach müssen wir
weiter sehen.“ Das zweite Spiel ist aktionsgeladener, jeder stellt
eine beliebige Figur dar. Als ich mir aus Versehen am Kopf
kratze, haben das die Kinder längst aufgegriffen, drehen sich,
kichern oder klatschen in die Hände. Dann machen wir uns
gegenseitig Komplimente. Eine dieser seltenen Tugenden
unserer Zeit kommt an. Wir loben uns gegenseitig, und all die
28
Lermontov, S. 175
102
Nettigkeiten rufen ein Lächeln in den Gesichtern hervor. Die
Kinder sind aufgeweckt, die Pädagogen liebevoll.
Vergessen werde ich wohl nie das Gespräch im Spielzimmer vor
dem Mittagessen. Wieder einmal sind die Stühle viel zu klein. Ich
bin umzingelt von buntem Plastik. Gerade noch hat eine Ärztin
mit den Kindern über Sauberkeit und das zu lange
Fernsehgucken gesprochen. Übrig geblieben sind die 50-jährige
Russin im weißen Kittel, ein zwölf-jähriger tschetschenischer
Junge und ein Kriegsdienstverweigerer aus Deutschland. Aadm
trägt eine weiße Tjubetejka29 und sinnt über die Frage nach, die
die Ärtzin vorhin gestellt hatte: „Was darf man alles im Fernsehen
schauen?“. Klar, Gewaltfilme dürfen die Kleinen nicht sehen, da
waren wir uns noch vor zehn Minuten mit allen Kindern einig.
Aadm beschäftigt aber ein ganz anderes Problem: „Im Fernsehen
stellen sie Tschetschenen immer nur schlecht da. Alle denken,
dass wir Terroristen sind.“ Und da sitzen wir nun und wissen auch
nicht weiter. Die Weißbekittelte versucht zu überzeugen, dass es
ja auch Wahabiten unter den Tschetschenen gibt; ich stimme für
den Frieden; mir ist es einfach nicht möglich die Gedanken und
Gefühle zu beschreiben, die mir bei dieser Diskussion durch den
Kopf gingen. Diese Runde, dieser Junge mit seinen
kompromißlosen Fragen gehört zu den tiefgreifendsten
Erlebnissen meiner Studienreise.
Auf der Fahrt mit dem Bus zum Mittagessen unterhalte ich mich
weiter mit Aadm. Er hat zwei jüngere und eine ältere Schwester.
Sein Vater wurde von russischen Soldaten vor seinen Augen
29
Moslemische Kappe, die nur von Männern getragen wird.
umgebracht. Die Mutter kann seit der Flucht keine Nacht ruhig
schlafen. Aadm will eine gute Welt mit einer friedlichen Zukunft.
„Aber wie lange wird das noch dauern? Dieser Krieg kann doch
noch Jahre so weiter gehen.“
Die Menschen werden ihre Erlebnisse vom Krieg in die
Erinnerung mitnehmen. Es ist eine Perversität der Mächtigen.
Eldat, ein Zwölf-jähriger erzählt mir von der Situation in den
Flüchtlingcamps: „Wir wohnen zu sechst mit noch einer Familie
in einem Zelt in einer Zeltstadt in Aki Yut. Die Wände wackeln.
Trinkwasser gibt es aus großen Kanistern. Gas und Strom gibt es
selten. Nachts rascheln die Kakalaken. Ich will zurück in mein
altes Dorf in Tschetschenien, doch es ist Krieg“, sagt er traurig.
Mir wird mulmig, wir sind mit den Kindern im Zoo, ich höre ein
Knattern in der Luft. Zwei Kampfhelikopter in voller Montur
fliegen über unsere Köpfe hinweg. Gott sei Dank, drücken sich
die Kinder gerade die Nasen am Affengehege platt, ich werde
den Anblick wohl nie vergessen, die beiden Helikopter waren auf
den Weg nach Tschetschenien. Beim Mittagessen mampfen die
Kinder die Tische leer. Nach Hause wollen sie nicht so schnell.
Aus Sicherheitsgründen werde ich sie im Bus nicht begleiten
können. Zum Abschied hebt Aadm den Zeigfinger: „Аллах
один, Аллах един. - Allah ist einer, Allah ist einzig“, winkt er mir
zu.
Gedicht eines 13 Jahre alten Jungen aus einem Flüchtlingscamp
in Inguschetien
Минам – нет!
Припав к земле,
Побелевшими губами
Плачет мать
Над убитым сыном.
Седые головы склонив,
Вытирают слезы мужчины,
Боль невыносимо сердце жжет.
Как же материнскому
Горю помочь?
Пришла беда в ее дом,
Не смогла она сына от мин уберечь.
Маленькая девочка
К ней подбежала,
Ручонками слезы ей вытирая.
Двух братьев своих
Ей отдать обещала,
Материнскому горю
По-детски она помогла.
Давайте, ребята,
Чтоб не было бед,
Юнисефу экзамен сдадим
Мы на «пять»!
Все вместе скажем «нет!»
Мы минной войне.
Пусть мамы и дети
103
Не плачут во сне.
Амаев Магомед – 13 лет
Май 2002, палаточный городок «Сацита».
Keine Minen!
Abgeworfen zur Erde,
Mit erblaßten Lippen
Weint die Mutter
Über ihren toten Sohn.
Mit geneigten grauen Köpfen
Trocknen sich die Männer die Tränen,
Ein unerträglicher Schmerz brennt im Herzen.
Wie kann man dem Kummer
der Mutter helfen?
Das Unheil kam zu ihrem Haus,
Sie konnte ihren Sohn nicht vor den Minen bewahren.
Ein kleines Mädchen
Flüchtete zu ihr,
Mit den Händen wischte sie ihr die Tränen hinfort
Zwei ihrer Söhne
Versprach sie ihr zu geben,
Den Kummer der Mutter
In einer kindlichen Weise half sie.
Los, Leute,
Auf dass es kein Unheil mehr gibt,
Für UNICEF werden wir das Examen
mit einer Eins bestehen!
Alle zusammen sagen wir “Nein!”
104
Zum dem Krieg der Minen.
Mögen die Mütter und Kinder
Nicht weinen, wenn sie schlafen.
Amaev Magomed – 13 Jahre
Mai 2002, Zeltlager “Sazita”.
Als ich mich am Nachmittag mit der Leiterin des Djetskij Fonds
treffe, kann ich mir nur schwer konzentrieren. Die Organisation
vermittelt Waisenkinder an neue Familien, hilft bei der
Finanzierung von Operationen und organisiert humanitäre Hilfe.
Als sie mir Fotos von angeschossenen Kindern in Krankenhäusern
mit blutverschmierten Verbänden zeigt, muss ich an die frische
Luft.
Ich werde zu einer Ausstellung im Kulturministerium eingeladen:
„Мир на земле – Frieden auf der Erde”, “Конец войне! – Ende
des Krieges!”, “Мы дети мира! – Wir sind die Kinder des
Friedens!”, “Нам нужен мир – Wir brauchen Frieden”, “Мы все
равно! – Wir sind alle gleich!”, “Нет терроризму! – Kein
Terrorismus!”, “Мир и любовь! – Frieden und Liebe” haben da
Schulkinder aus den Flüchtlingslagern mit Tusche auf das Papier
gebannt. Sie haben die Botschaft längst verstanden. Die Bilder
des Malwettbewerbs wollen die Veranstalter in die Duma30
bringen. Auf einer Zeichnung schaukelt ein Mädchen auf einem
Gewehr in einem verdorrten Wald, auf einer anderen zieht ein
Mann mit einem Kind im Arm durch eine kalte Wirklichkeit.
Die Nacht ist sternenklar. „Schauen Sie nur die Tscherkessen an,
wenn die sich auf einer ihrer Hochzeiten oder Beerdigungen an
ihren Busa toll und voll trinken, gibt’s immer eine
Messerstecherei.“31 Bei den Osseten ist es wohl nicht so. Wir
feiern aber auch nur einen Geburtstag. Das Glanzpapier ist längst
der Konfektschachtel gewichen. Spielen Nardi, ein kaukasisches
Brettspiel. Drei Männer heben Trinksprüche. Zusammen stehen
sich auf und stoßen auf Gott, die Gäste und die Frauen an. Die
Oma hat schon letzte Woche Bier aus wildem Hopfen gemacht.
Im Gegensatz zu dem Feldwebel in Lermontovs Buch bleiben wir
nüchtern. Anders wäre es mir heute nicht mehr zu Mute.
„Über dem gezackten Dächerhorizont ging voll und rot der Mond
auf wie der Widerschein eines Brandes; ruhig schienen die Sterne
am dunkelblauen Firmament, und ich mußte lachen, als ich daran
dachte, dass es einstmals überkluge Leute gegeben hat, die der
Ansicht waren, die himmlischen Gestirne nähmen Anteil an
unsern kleinlichen Streitigkeiten, um ein paar Stückchen Erde oder
um irgendwelche erdachten Rechte! ... Doch wie? Diese Lampen,
ihrer Ansicht nach nur zu dem Zweck angezündet, ihren Kämpfen
und Siegen Licht zu geben, brennen immer noch mit dem vorigen
Glanz, die Leidenschaften und Hoffnungen jener Leute jedoch sind
30
„Gedanke, Rat“ - bezeichnet das Russische Parlament.
31
Lermontov, S. 13
längst mit ihren Trägern erloschen wie ein Feuerlein, das am
Waldrande von einem sorglosen Wanderer angesteckt wurde. Und
dennoch, wieviel Willenskraft verlieh ihnen die Überzeugung, dass
der ganze Himmel samt seinen unzöhligen Bewohnern mit wenn
auch stummer, so doch unwandelbarer Teilnahme auf sie
herabschaue! ...“32
Wladikawkas. Dienstag, den 28. Mai 2002.
„In den schlichten Herzen lebt das Gefühl für Schönheit und
Majestät der Natur viel stärker, ja hundertmal lebendiger, als in
uns, den begeisterten Erzählern in Worten und auf dem Papier.“33
Der Geruch von Schwefel liegt in der Luft. Wir sind auf den Weg
zu einer versteckten Quelle in der Nähe zur georgischen Grenze.
Vor uns ein Schwerlaster mit Kies. Die Steine spielen lustig unter
den Rädern. Der Staub ist undurchdringlich. Neben einem
Abhang liegen die Reste einer gewaltigen Eislawine. Die Brücke
hat es im Winter zerfetzt. Das Weiß hat sich bis in den Frühjahr
auf den Anhöhen gehalten. Eine kleine Fähre aus einem
Metalltrog schaukelt über ein Seil von der einen Seite zur
anderen Seite der Kluft. Der Wind ist frisch. Bergbau hat die
Hochhäuser ins Gebirge gebracht. Hier wohnen die Familien,
wenn die Kumpel in der Zeche Buntmetalle abbauen. Ein Arbeiter
hastet an der rot-weißen Absperrung vorbei. Seine orange
32
33
Lermontov, S. 201
Lermontov, S. 34
105
Schutzweste flattert, den weißen Plastikhelm hält er lieber mit
angezogenem Arm fest. Tunnel und Straßen wurden von
deutschen Kriegsgefangenen gebaut. Ein georgischer Reisebus
fegt auf ein Betonplateau neben dem Bauhäuschen zu.
Motorschaden. Sein Heck qualmt. Fiagdon und Saramag haben
wir hinter uns gelassen. Eins mit den Mooswiesen der Bergen
schlängeln wir durch die Landschaft. Über einen Pfad finden wir
eine Siedlung aus drei klapprigen Häusern. Wir sagen Hallo.
Elinas Cousins wohnen hier autark. Bei Minusgeraden kommen
sie mit den Kühen und Eingewecktem aus. Eine Satelitenschüssel
für den Fernsehempfang baumelt auf dem Dach der Scheune.
Ein verschlafener Hahn kräht. Wir rollen ganz langsam den
Berghang hinauf. Hinter einer Schneise liegt die Burg Toborscha.
Hier hat früher die Familie gewohnt. Übrig geblieben ist der
Turm, die Häuser ruhen in Ruinen. Elinas Oma hat hier zuletzt
gelebt. Als kleine Kinder sind Elina und ihre Schwester mit den
Pferden hinaufgestiegen, im Winter gab es kein Durchkommen.
Die Steinklötze haben sich wacker gehalten. Damals haben sie
auf dem Dach gespielt. Die Holzbalken waren auch schon zu
jener Zeit mit einem Fell aus Gras zugedeckt. Die Wind war
sicher nicht minder schneidig. Bei eisiger Kälte wurde das Vieh in
den Keller gebracht, um das Haus zu wärmen. Neben dem
Torbogen gibt es einen alten Dreschplatz. Der Wachturm späht
von einem Steinvorsprung auf die Berge. Je höher der Ausguck,
um so angesehener war die Familie. Elina und Frank wollen die
Burganlage rekonstruieren, um Freunde und Touristen im
Sommer ins Gebirge einzuladen. Ich streife durch ein Meer aus
Enzian. Ein Frosch hüpft, der Tau wirbelt. Die Festung liegt auf
einer Anhöhe, der Blick vom Wall ist wunderschön: Auf der einen
Seite erstreckt sich ein breites, von einigen Schluchten
106
durchzogenes Gelände, das von einem Wald begrenzt wird, der
sich bis zum Gebirge hinzieht; hier und da steigt Rauch von
Dörfern auf, hier und da weiden Herden; auf der anderen Seite
rieselt ein kleiner Bach, der von dichtem Gebüsch eingefaßt ist,
das die ganzen steinigen Anhöhen bedeckt, die sich in der Ferne
mit der Hauptgebirgskette des Kaukasus vereinigen. Mutter Erde
greift in den Himmel und trägt uns auf ihren Fingerkuppen.
Heiter brennt das satte Gelb auf dem Schnee, dass einem
unwillkürlich der Gedanke kommt, hier sollte man für immer
bleiben; hinter einem dunkelblauen Berg, den nur das geübte
Auge von einer Wetterwolke unterscheiden kann, erhebt sich
unmerklich die Sonne.
Die Berge sind voller Geschichten. Eine erzählt mir Elina: „Mein
Großvater wurde über 90 Jahre alt. Trotz seines schon hohen
Alters brauchte er keine Brille, und konnte er sehr gut sehen. Alle
wunderten sich, nur mir verriet er das Geheimnis. Jeden Tag sollte
ich frische Blätter von einem dicken Kraut pflücken, das vor dem
Tor zwischen den Steinen wächst. Dann schlief ich für einige
Minuten, und als ich wieder kam, lief eine weiße Flüssigkeit aus
seinen Augen. Er hatte sich die Blätter unter die Augenlieder
geschoben, die sie vom Dreck reinigten. Erst kürzlich habe ich in
einem Lexikon nachgeschlagen, die Heilpflanze heißt “Молодила
- ewig Jung“ und wächst nur hier im Kaukasus.
Wir begannen den Abstieg, rechts ragte die Felswand, links
dagegen gähnte eine so tiefe Schlucht, dass ein ganzes
Ossetendorf, das auf ihrem Grunde lag, nur wie ein kleines
Schwalbennest aussah. Auf einem Ausläufer einer Bergzunge
wacht Kosta Ketagurov. Einen dicken Wollmantel hat er sich über
die steinerne Schulter geworfen. Eine Brücke, die zwei Hänge
miteinander verbindet, trägt seine Worte:
Весь мир – мой крам,
любовь – моя святыня,
Вселенная – отечество мое.
(«Я не пророк»)
Die ganze Welt – mein Gebiet,
die Liebe – mein Heiligtum,
Das Weltall – mein Vaterland.
(„Ich bin kein Prophet“)
Die Felswände sind wie Blätterteig. Schieferplatten schneiden
senkrecht durch die Luft und liegen zerplatzt in Waagerechten
auf dem Boden. Bis zur Quelle Haschite Schuar ist es nicht mehr
weit. Eine Hürde gilt es noch zu nehmen – von der Brücke über
den Fluss ist nur noch eine Ahnung übrig. Wir halten. „O dieses
Asien! Auf nichts kann man sich verlassen – weder auf seine
Menschen noch auf seine Flüsse.“34 Neben einem Engpass gibt es
eine Senke. Ohne Vorwarnung lenkt Frank in die Stromschnellen.
„Das ist ein Diesel, der säuft nicht ab. Martin, mach mal das
Fenster zu.“ Ich schlucke. Das Wasser klatscht gegen die
34
Frontscheine. Der Jeep frisst sich sukzessiv den Flusslauf hinauf.
Auf einmal knackt es unter der Karosserie. Ein Loch. Wir stecken
fest. Vom Rauschen auf der anderen Seite der Glasscheibe ist
nichts zu hören. Die nächste Welle nimmt uns mit. Wir rutschen.
Der Motor bleibt ruhig. Die Räder krallen sich fest. Mit einem
Ruck reißt sich der Jeep mit dem Kopf aus dem Flussbett. Mein
Herz klopft wieder. Der Rest ist einfach, über ein bißchen Geröll
hoppeln wir bis zu kleinem Bachlauf. Dicke Wattewolken
schlummern im blauen Himmel. Eine Eidechse huscht an meinen
Sandalen vorbei. Hinter einer Steinplatte tauchen wir unsere
Plastikflaschen in die schwefelsaure Quelle. Das Kohlendioxid
sprudelt. Die reine Nass wurde durch den ganzen Berg gespült.
Die Mineralien sind gut für Nieren, Leber und Magen. In
Frankreich macht Diognes Creme aus dem Wasser aus dem
Kaukasus. Das Wasser ist blumig. Der saure Geruch kommt aus
der Bergöffnung. In Sichtweite schimmern die weißen Zelte des
russischen Grenzposten. Auf der Heimfahrt blökt uns eine Herde
Schafe an. Auf einem braunen Pferd reitet ein Cowboy mit
seinem gerollten Lasso vorüber.
In den Abendstunden mache ich mich zum UN-Gebäude in der
Innenstadt auf. In einem weißen Hochhaus sitzen die
internationalen Organisationen. Der Wachmann ist freundlich, ich
spaziere durch die Kontrolle hindurch. Auf der dritten Etagen will
ich zu Rudi Luchmann, dem Leiter der UNICEF-Mission im
Kaukasus. Seit 1999 ein Mitarbeiter des UNHCR umgekommen ist,
wird das Personal der Vereinten Nationen 24 Stunden bewacht.
Es ist schon merkwürdig, als ich von Rudi erfahre, das Frank gar
nicht bei der UN gearbeitet hat. Auch Nachfragen beim FSB
Lermontov, S. 38
107
ergaben nichts weiteres. Nach dem Abendessen mit Rudi bin ich
völlig verwirrt.
Ende der Aufzeichnung 23 Uhr
Wladikawkas. Mittwoch, den 29. Mai 2002.
Der Hase, der Bär und der Igel haben sich gern. Die drei
drolligen Gesellen erklären, warum Minen gefährlich sind.
Freilich, die Dinger lieber erst gar nicht anfassen und den Eltern
Bescheid sagen. Zweihundert Kinder schauen ihnen mit großen
Augen zu. UNICEF hat das Stück beim Russischem Theater in
Auftrag gegeben. Mit sechs Bussen hat ein Konvoi die Kinder aus
den Flüchtlingslagern gebracht. Kunterbunt wimmeln die Kleinen
durch die Gänge. Die Tapeten sind aus roten Samt. Es ist ein
riesiges Spektakel.
Ähnlich erging es mir am heutigen Morgen. Ein weiteres Mal
wollte ich in dem Integrationszentrum etwas über Methoden bei
der Arbeit mit Kindern lernen. Das Verhalten einer Lehrerin kam
mir erst suspekt vor. Mit ernster Miene ließ sie uns Zeitungen
zerreißen. Nun gut, viel Sinn sah ich in der Sache ja noch nicht.
Dann sollten wir die Schnipsel zu einem großen Berg in der Mitte
des Raumes anhäufen. Da kam schon einiges zusammen, die
junge Dame hatte wohl ihren ganzen Restbestand an Altpapier
mitgebracht. Die Kinder wußten noch nicht so recht, was das
werden sollte. In einem Kringel standen wir um den Haufen
herum und hielten die Spannung. Bislang tat sich nichts. Der
108
Gesichtsausdruck der Pädagogin wurde nicht freundlicher. Das
Kuriose passierte aber, als sie sich herunter beugt, eine riesige
Handvoll der Papierfetzen nimmt, sie wild in die Luft wirft und
uns auffordert unverzüglich mitzumachen. So viel Spaß hatte
keiner von uns seit langem erlebt. Ausgelassen kugeln wir uns auf
dem Boden und genießen den Regen aus Zellulose. Der Turm
aus Bauklötzern, den wir noch vorher mühsam gemeinsam in die
Höhe gestapelt haben, fliegt als erstes auseinander. Auf
kolossalen Hüpfbällen jagen wir uns durch den Raum. Wonnig,
gar vortrefflich ist die Atmosphäre.
109
Papierspiel | Wladikawkas
Wartesaal | Wladikawkas
110
Hin und her gerissen bin ich dagegen beim Zeichenunterricht.
Wir schließen die Augen und denken an etwas, was uns Angst
macht. Danach muss die Knete herhalten. Ein Junge fragt, ob er
auch einen Panzer machen darf. Eine Gänsehaut bekommen die
Kinder, als die Lehrerin ihnen mit ihrer Plastilinfigur bei
geschlossen Augen über die Hand fährt. Und so hocken
Schlangen, Panzer, ein Igel und Flugzeuge auf dem Fensterbrett.
Nur ein Mädchen hat eine Blume geformt. Sie guckt ganz
traurig, aber sie hat eine Allergie gegen Blütenstaub. Manchmal
funkeln solche Sternstunden wie ein Licht in dunkler Nacht.
die Weide und auf einmal machte es Bum. Die Kuh und mein
rechtes Bein hat es weggerissen. Ich bin froh, dass ich noch lebe.“
Der Krieg ist erbarmungslos. Die Unschuldigen holt er sich als
Erste. Aber wem sag ich das.
Zurück zu den Zuschauerplätzen. Die Brüstung ist gepolstert. Wir
lehnen uns weit hinüber und wollen den Hasen, Igel und Bären
tanzen sehen. Zu spät. Schon ausgetauscht. Jetzt suchen der
Löwe und das Nilpferd einen besten Freund. Und na klar, wie
sollte es anders sein, die Geschichte geht gut aus. Sie finden sich
selbst, schließlich waren sie ja auch die ganze Zeit in der Nähe
und haben miteinander rumgehangen.
So saßen wir lange. Die Sonne verbarg sich bereits hinter den
kalten Gipfeln, und ein weißlicher Nebel kroch über die Täler.“35
„10.000 Minenopfer hat der Krieg in Tschetschenien bereits
geholt. Kinder und Erwachsene mit verstümmelten Gliedmaßen
sind Realität. 100 Kindern konnten wir bis jetzt helfen“, schildert
Aida, eine Mitarbeiterin von UNICEF in einem Krankenhaus für
Minenopfer. „Viel Arbeit liegt in der gerade psychologischen
Nachbetreuung. Dieser plötzliche Einschnitt in ein Leben ist nur
schwer zu bewältigen.“ Und so linse ich die Prothesenwerkstatt.
Jede Stütze muss individuell angefertigt werden.
Ein 72-jähriger Bauer im Wartesaal erzählt mir seine Geschichte:
„Es war ein ganz normaler Morgen. Ich ging zu den Kühen auf
Wieder einmal regnet es in Strömen. Meine Studienreise geht zu
Ende. Am Abend sprinte ich durch Pfützen nach meinem Zug
Richtung Moskau.
„In meinen Gedanken nahm ich Abschied von den Bergen: es tat
mir leid, sie verlassen zu müssen ...
Zugfahrt. Donnerstag, den 30. Mai 2002.
Die Berge sind verschwunden. Im Zug ist der Alltag eingekehrt.
Taube legen stumm Zeitungen und Bücher ins Coupe. Für sie ist
es oft die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen. „Moroschenoje,
Moroschenoje, Piwo, Mineral!“36, gellt an den Bahnhöfen. Jede
Station hält ihre einheimischen Produkte bereit. In Rostov gibt es
Trockenfisch. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Ich kaufe
eine große Tüte Zedernüsse. „Bald kommt der goldene
Honigbahnsteig“, meint meine Mitreisende im Abteil. Sie fährt die
35
Lermontov, S. 57 ff.
Eis, Eis, Bier, Mineralwasser – «Мороженое, мороженое,
пиво, минерал!».
36
111
Strecke zweimal in der Woche. Die kennt sich aus, denke ich mir,
für den Honigkauf organisieren wir uns aber einen Experten. Der
kommt vom Coupe nebenan und hat selber eine Königin mit
ihrem Reich bei sich im Garten hinter dem Schuppen.
Schon wieder eine Schwangere! Eine Studentengruppe aus
Georgien adoptiert mich, als ich ihrer Kommilitonin die untere
Liege anbiete. Im Juni kommt das Kind auf die Welt. Ein
Mädchen soll es werden. Die sechs sind auf den Weg zu einem
Seminar der Adventisten in der Nähe von Moskau. Bereits den
letzten Abend haben wir uns köstlich amüsiert. Diese Bande ist
göttlich, zwischen Gurken, Tomaten, die nicht tomatiger sein
könnten, rundem Brot, fetten Käse und gelbe Limonen lerne ich
Georgien kennen. „Wai, wai, wai“ kann man praktisch in allen
Lebenslagen sagen. Auf dem Flur, ein junger Russe in
Flecktarnhose. Wodka soll ich mit ihm trinken, das KaukasusVerdienstkreuz baumelt an seiner Uniform. Ich habe genug.
„Der Mond war noch nicht aufgegangen, und nur zwei Sternchen
schimmerten am dunkelblauen Himmel wie zwei rettende
Leuchtturmfeuer.“37
Moskau. Freitag, den 31. Mai 2002.
Ankunft Moskau gegen 6 Uhr morgens. Alles so wie immer.
Oder doch nicht?
37
Lermontov, S. 87
112
Moskau stinkt. Ich will zurück.
Habe mehr Fragen, als Antworten mitgebracht.
Ende.
113
Berge | Wladikawkas
Nachwort
Wenn einer eine Reise macht, muss er an viel gedacht haben.
Erste Hindernisse genommen, lässt man sich auf das Unbekannte
ein. Das Leben ist bunt.
Reisen bildet. Die Begegnung mit Menschen ist ein einmaliger
Schatz. Ihre Lösungen sind längst ein Teil von mir.
Die Welt verzaubert seine Eroberer und belegt sie mit dem Bann
der Verwunderung.
Forschen, enträtseln hin und her, nach einem Monat Studienreise
fällt es mir schwer, die Dinge in ihrer Gesamtheit erfassen zu
wollen. Bilder haben die Theorie ersetzt, Worte eine Ahnung von
der Wirklichkeit geschaffen. So ist doch jede Antwort der Beginn
einer neuen Frage.
Danke für den Versuch,
Der Autor
Moskau, 2002
114
115
Anhang
1. Rezept, Osterspeisen
Hier das Rezept für den Osterkuchen, das ich aus einem
russischem Backbuch in der Bibliothek der lutherischen
Gemeinde abschrieb:
Die Russen servieren den Kulitsch, indem sie erst die Haube
abschneiden und auf die Mitte eines großen Kuchentellers legen.
Dann wird der übrige Kuchen der Länge nach halbiert und
schließlich quer in dicke Scheiben geschnitten. Diese Scheiben
werden um die Haube herum angeordnet. Eine traditionelle
Beilage
ist
Pascha.
Кулич | Kulitsch (runder Hefekuchen)
Пасха | Pascha (Pyramide aus Quark)
Zutaten: Hefe, 250 g Zucker, ¼ lauwarme Milch, 700 bis 900 g
Mehl, 250 g Butter, 10 Eigelb, Eier, Puderzucker, Früchte, Rosinen,
Mandeln, Kardamom, 2 TL Salz
Zutaten: 2 Pfund Quark, 2 bis 3 Eier, ½ Pfund Butter, 200 g
Zucker, Rosinen, Vanille
Die Hefe mit dem Zucker verkrümeln und mit wenig Wasser zu
einer Paste verrühren. Die Milch und die Hälfte des gesiebten
Mehls zufügen und zu einem geschmeidigem Teig schlagen. 30
Minuten zugedeckt an einem warmem Ort gehen lassen, bis sich
die Masse gut verdoppelt hat. Die zerlassene Butter, Eier, Zucker,
kandierte Früchte, Rosinen, abgezogene, gehackte Mandeln,
Kardamoms, Salz und das restliche Mehl zufügen und so lange
durcharbeiten, bis sich der Teig gut von den Rändern löst.
Zugedeckt 30 Minuten gehen lassen. Einen Springformrand (ca.
23cm) in eine gleich große Springform stecken, damit der Rand
höher wird. Ausfetten und den Teig hineinfüllen. Ein Band aus
mehrfach gefalteter Alufolie um den Rand legen, damit er
insgesamt etwa 15 cm hoch wird. Abermals zugedeckt gehen
lassen. Bei 175°C ca. 75 Minuten backen. Abkühlen, mit weißem
oder rosa Zuckerguß begießen, bunten Zuckerperlen und
Mandeln verzieren.
116
Den Quark über nacht in einem Handtuch aufhängen, damit die
Molke abtropft und der Quark trocken wird. Den Quark mit den
oben genannten Zutaten versehen. Alles durch ein engmaschiges
Sieb drücken oder mit einem Mixer gut verrühren. Das Ganze
unter Rühren einmal aufkochen. Danach in eine offene Form
geben, damit der noch vorhandene Saft abfließen kann und alles
fester
wird.
Traditionell wird Пасха pyramidenartig aufgetürmt und mit dem
kyrillischen Buchstaben XB, den Anfangsbuchstaben des
Auferstehungsgrußes, und einem Kreuz verziert.
2. Zitate über Ossetien
Осетин я знаю хорошо. Это народ гордый, умеет постоять
за Родину в любой обстановке и с большим достоинством.
И. Сталин
Die Osseten kenne ich gut. Das ist ein stolzes Volk, das sich für
seine Heimat in jeder beliebigen Lage und mit großer Würde
einsetzt.
I. Stalin
Чем в рабстве жить нам и позор терпеть, уж лучше всем со
славой умереть!
Из послания нартов к Богу
Schon besser, dass wir alle mit Ehre sterben, als dass wir in
Sklaverei sterben!
Aus einem Schreiben mit einem Hundeschlitten zu Gott
117
3. Auszüge von Kostai Hetagurov
Die Werke des Schriftsteller der Nord-Osseten haben mich auf
meiner Reise begeistert, da sie doch ein Bild von der Kultur eines
Volkes wiedergeben.
Einige Übersetzungen sollen hier gegeben sein.
Ich habe nie mit meinen Wörtern gehandelt, niemals nicht für
eine meiner Zeile nie von jemanden Geld bekommen. Und ich
schreibe nicht dafür, zu schreiben und veröffentlichen, weil das
viele tun.
Nein! Nie Lobeeren dafür das Schreiben das brauche ich nicht,
nie die Vorteile über es. Ich schreibe /das/ deswegen, weil ich
schon nicht in der Stärke vorkomme (etwas) in meinem
erkrankten Herzen festzuhalten.
А стихи я пишу только в такое время, когда
потребность высказаться всецело охватывает все мое
существо. Над многими стихотворениями я рыдал, как
нервная институтка, когда я их писал.
Коста Хетагуров, 1859-1906
Kosta Hetagurov, 1859-1906
К. Л. Хетагуров (28, с. 165-166)
Я никогда своим словом не торговал, никогда ни за
одну свою строку ни от кого не получал денег. И пишу я не
для того, чтобы писать и печататься, потому что и многие
это делают.
Нет! Ни лавры такого писания мне не нужны, ни
выгоды от него. Я пишу то, что я уже не в силах бываю
сдерживать в своем изболевшем сердце...
К. Хетагуров (122, с. 144)
118
Und Gedichte schreibe ich nur in /jener/der Zeit, wann sich ein
Bedürfnis äußert ganz und gar alles meines Wesens umfaßt. Über
vielen Gedichten schluchzte ich, wie eine Pensionatschülerin, als
ich sie schrieb.
4. Auszüge aus Gedichten von Kosta Hetagurov
Завещание
Vermächtnis
Прости, если отзвук рыданья
Услышишь ты в песне моей:
Чье сердце не знает страданья,
Тот пусть и поет веселей.
Entschuldige, wenn der Widerhall des Schluchzens
Du in meinem Liedern hörst:
Wessen Herz nicht Leid kennt,
Der möge ein fröhlicher Poet sein./Der moege lustiger singen/
Но если б народу родному
Мне долг оплатить удалось,
Тогда б я запел по-другому,
Запел бы без боли, без слез.
Aber wenn der Heimat des Volkes
Mir die Pflicht der Verwegenheit bezahlt,
Dann fange ich für jemand anderen an zu singen,
Singe ohne Schmerzen, ohne Tränen
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Горе
Kummer
Горы родимые, плачьте безумно.
Лучше мне видеть вас черной золой.
Судьи народные, падая шумно,
Пусть вас схоронит обвал под собой.
Heimatgebirge, weine irrsinnig.
Besser ich sehe Sie als schwarze Asche.
Richter des Volkes, stürzend laut,
Mögt Ihr unter einem Erdrutsch begraben werden.
Пусть хоть один из вас тяжко застонет,
Горе народное, плача, поймет.
Пусть хоть один в этом горе потонет,
В жгучем страданье слезинку прольет.
Цепью железной нам тело сковали,
Мертвым покоя в земле не дают.
Край наш поруган, и горы отняли.
Всех нас позорят и розгами бьют.
Мы разбрелись, покидая отчизну,Скот разгоняет так бешеный зверь.
Где же ты, вождь наш? Для радостной жизни
Нас собери своим словом теперь.
Враг наш ликующий в бездну нас гонит,
Славы желая, бесславно мы мрем.
Родина-мать и рыдает и стонет...
Вождь наш, спеши к нам – мы к смерти идем.
(Перевод с осетинского)
(Übersetzung aus dem Ossetischen)
120
Möge wenigstens einer von Euch schwer aufstöhnen,
Kummer volksverbindener, weinend, verstehen.
Mögen nur einer von Euch in Kummer sinken,
Im brennenden Leid eine Träne vergießen.
Eine Eisenkette fesselte unseren Körper,
Man gibt den Toten in der Erde keine Ruhe.
Es wurde unser Gebiet geschmäht, und das Gebirge genommen.
Allen von uns stellen sie an den Pranger und schlagen uns mit der Gerte. /
Wir waren auseinandergelaufen, das Vaterland verlassend,Das Vieh auseinandertreiben wie ein tollwütiges Tier.
Wo bist du schon, unser Führer? Für ein glückliches Leben
Nimm uns mit deinen Wörtern heute.
Feind treibt uns jubelnd zum Abgrund ,
Den Ruhm wünschend, ruhmlos sterben wir.
Mutter-Heimat und schluchst und stöhnst...
Unser Führer, eile zu uns – wir gehen zu Tode.
Как честь страны, свободу края
Ценить умеет осетин.
Твои страданья – капля в море.
(«Когда тебя, мой друг...»)
(«Плачущая скала»)
Wie die Ehre des Landes, Freiheit der Regionen
Schätzen kann der Ossete.
(“Weinende Felsen”)
Wenn Dich der Kummer ergreift,
Erinnerst Du Dich nur an das Volk,Umwelt seines Mißgeschickes
Dein Leiden – ein Tropfen im Meer.
(”Wenn dir, mein Freund..”)
Лучше умереть народом
Свободным, чем кровавым потом
Рабами деспоту служить.
(«Плачущая скала»)
Besser stirbt das Volk
Frei, als mit blutigem Schweiß
Als Sklaven dem Despoten dienen.
(“Weinende Felsen”)
Весь мир – мой край, любовь – моя святыня,
Вселенная – отечество мое.
(«Я не пророк»)
Die ganze Welt – mein Gebiet, die Liebe – mein Heiligtum,
Das Weltall – mein Vaterland.
(“Ich bin kein Prophet”)
Когда тебя постигнет горе,
Ты вспомни лишь народ,Среди его невзгод
Как долга беспросветная ночь!..
Как ещё далеко до восхода!..
Но... и днём не могу я помочь
Безысходному горю народа...
(«Зигзаги мысли в бессонницу»)
Wie lange undurchdringliche Nacht!..
Wie lange noch bis zum Sonnenaufgang!..
Aber... und am Tage kann ich nicht helfen
Dem ausweglosem Kummer des Volkes...
(“Zickzack der Gedanken in der Schlaflosigkeit”)
Оставьте! Слепому кумиру
Как вы, я не стану служить...
Laß es sein! Blindes Abgott
Wie Sie, habe ich nicht die Gestalt zu dienen...
Мне вашего счастья не нужно,В нем счастья народного нет...
121
Dich, heimatliche Aul und unser armes Volk.
(“Glaube nicht, dass ich den Kummer unseres Volkes vergessen
habe...”)
В блестящих хоромах мне душно,
Меня ослепляет их свет...
Их строило рабство веками,
Сгорают в них стоны сирот,
В них вина мешают со слезами...
Нет, будьте вы счастливы сами,
Где так обездолен народ!
(«Друзьям-приятелям...»)
Ich brauche Ihr Glück nicht,In ihnen liegt das Glück des Volkes nicht...
In den gläzenden Gemächern ist es mir stickig,
Mich blendet ihr Licht...
Sie bauten Sklaven jahrhundertelang,
Verbrennen in ihren Stöhnen der Waisenkinder,
In ihr vermischt sich man die Weine mit Tränen...
Nein, werdet Ihr selbst glücklich,
Wo so ein Volk ist elend!
(“Freunden-Kameraden”)
Люблю я целый мир, люблю людей, бесспорно,
Люблю беспомощных, обиженных, сирот,
Но больше всех люблю, чего скрывать позорно? –
Тебя, родной аул и бедный наш народ.
(«Не верь, что я забыл родные наши горы...»)
Ich liebe die ganze Welt, die Menschen, zweifellos,
Ich liebe die Hilflosen, Beleidigten, Waisen,
Aber mehr als alle liebe ich, die sich schwächlich verstecken? –
122
Как знать,– и этот стих несчастного поэта
Не есть ли только бред, не есть ли только стон
И страстный, дикий вопль прощального привета
Всему, что он любил, чему молился он?...
О, если это так, то все мои страданья
Теперь, о родина, признаньем искуплю:
Все помыслы мои и все мои желанья
Одну имели цель – снискать любовь твою.
(«Перед операцией»)
Wie weiß man,– und dieses Gedichte eines unglücklichen Poeten
Gibt es nicht nur Fieberwahn, gibt es nicht nur Stöhnen
Und leidenschaftliches, wildes Schreien eines abschiednehmenden
Grußes
Alles, was er liebte, betete er an?...
Oh, wenn diese so, so alle meine Leiden
Heute, oh Heimat ich werde durch Anerkennung sühnen:
Alle meine Gedanken und alle meine Wünsche
Hatten ein Ziel – Deine Liebe erwerben.
(“Vor der Operation”)
Я не боюсь разлуки и изгнанья,
Предсмертных мук, темницы и цепей...
Везде, для всех я песнь свою слагаю,
Везде разврат открыто я корю
Ich habe keine Angst vor der Trennung und Vertreibung,
Letzte Qual, des Kerkers und der Ketten...
Überall, für alle dichte ich mir Lieder,
Überall werfe ich offen Unzucht vor
Und mit eigenem Leibe begegne ich der Gewalt,
Und tapfer spreche ich mit allen über die Wahrheit.
(“Ich bin kein Prophet...”)
И грудью грудь насилия встречаю,
И смело всем о правде говорю.
(«Я не пророк...»)
An welche ich mich gewöhnte, wie ein Glück, zu schätzen,
Zurückgeben für einen Schritt, der für das Volk
Konnte ich irgendwann zur Freiheit anlegen.
(“Ich fürchte den Tod nicht...“)
Я смерти не боюсь,– холодный мрак могилы
Давно меня манит безвестностью своей,
Но жизнью дорожу, пока хоть капля силы
Отыщется во мне для родины моей...
Я счастия не знал, но я готов свободу,
К которой я привык, как счастьем, дорожить,
Отдать за шаг один, который бы народу
Я мог когда-нибудь к свободе проложить.
(«Я смерти не боюсь...»)
Ich fürchte den Tod nicht,– kalte Finsternis des Grabes
Lange hat mich dein Unbekanntes angelockt,
Aber das Leben schätze ich, wenigsten einen Tropfen Stärke gibt es
vorläufig
in mir für mein Volk...
Ich kannte das Glück nicht, aber ich bin bereit für die Freiheit,
123
5. Gedicht Michael Lermontov
Кавказ, Михаил Лермонтов
Хотя я судьбой на заре моих дней,
О южные горы, отторгнут от вас,
Чтоб вечно их помнить, там надо быть раз;
Как сладкую песню отчизны моей,
Люблю я Кавказ.
В младенческих летах я мать потерял,
Но мнилось, что в розовый вечера час
Та степь повторяла мне памятный глас.
За это люблю я вершины тех скал,
Люблю я Кавказ.
Я счастлив был с вами, ущелия гор;
Пять лет пронеслось: весь тоскую по вас.
Там видел я пару божественных глаз;
И сердце лепечет, воспомня тот взор:
Люблю я Кавказ!...
124
Kaukasus, Michael Lermontov
Obwohl ich des Schicksals im Morgenrot meiner Tage,
Oh südliche Berge, abgetrennt von euch,
Um sich ewig an sie zu erinnern, muß man nur einmal dort
gewesen sein;
Wie ein süßes Lied meinem Vaterland,
Ich liebe den Kaukasus.
In den Kinderjahren habe ich meine Mutter verloren,
Aber es dünkte mir, dass mir in der rosafarbenen Stunde des
Abends; Jene Steppe eine erinnerte Stimme wiederholte.
Dafür liebe ich die Gipfel jener Felsen,
Ich liebe den Kaukasus.
Ich war glücklich mit euch, Schluchten der Berge;
Fünf Jahre sind verflogen: ich sehne mich ganz nach euch.
Dort sah ich ein Paar der göttlichen Augen;
Und das Herz murmelt, sich an jenen Blick erinnernd:
Ich liebe den Kaukasus.
125
Literaturnachweis

Das Gedicht von Georgij Ivanov und das Gedicht «Der
Sternendeuter» von Boris Narcissov sind aus dem
Sammelbuch Russische Lyrik vom Reclam Verlag entnommen:
Kay Borowsky und Ludolf Müller: Russische Lyrik, Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, Reclam, Seite 488 f. und Seite 552
f.

Lew N. Tolstoj: Hadschi Murat, Eine Erzählung aus dem Lan der
Tschetschenen, Insel Verlag, Seite 38

Michail Lermontov: Ein Held unserer Zeit, Reclam

Казбек Сергеевич Челехсаты: Осетия у осетины,
Ассоциация творческой и научной интеллигенции
«ИР», Владикавказ

Коста Хетагуров: Стихотворения и поэмы, Сост. А.
А. Дзантиев, Ассоциация творческой и научной
интеллигенции «ИР», Владикавказ, 1994 – 232 с.
(Осетинская лира)
126
Weitere Informationen und Fotos sind im
Internet abrufbar unter:
http://mwaehlisch.narod.ru/zis/ !
Fragen und Hinweise jederzeit per Email an [email protected] !
Martin Wählisch
Moldaustraße 47, 10319 Berlin, Tel. 030-512389
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