Planung und Durchführung einer Klassenfahrt

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Planung und Durchführung einer
Klassenfahrt nach Russland (Moskau und Waldaihöhen)
mit
Schülern einer 10.Klasse der Max-Reinhardt-Oberschule (Gymnasium).
Darstellungsschwerpunkt:
ENTWICKLUNG VON INTERKULTURELLER KOMPETENZ
Schriftliche Prüfungsarbeit zur Zweiten Staatsprüfung
für das Amt der Studienrätin
vorgelegt von
Nina Ahrens
- Studienreferendarin 3. Schulpraktisches Seminar Hellersdorf (S)
Berlin, den 30.09.2002
Inhalt
1.
EINLEITUNG
1. 1.
Relevanz des Themas
1. 2.
Das russische Kinderdorfprojekt „Monino“
1. 3.
Aufbau der Arbeit
2.
THEORETISCHER HINTERGRUND
2. 1.
Geschichte des Begriffs Interkulturelle Kompetenz
2. 2.
Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht
2. 3.
Veränderte gesellschafts-politische Situation
2. 4.
„Eigenes“ vs. „Fremdes“
3.
ANSATZ FÜR DIE REISE
3. 1.
Mögliche Ansätze für das interkulturelle Lernen
auf einer Schülerreise
3.1.1. Ansatz von NICKLAS
3.1.2. Ansatz von CHRIST
3.1.3. Ansatz von THOMAS
3.1.4. Arbeit mit Fragebögen
3.1.5. Das Problem der Messbarkeit
3. 2.
Konkreter Ansatz für die Reise
3.2.1. Analyse von Situationen
3.2.2. Vermittlungsarbeit
3.2.3. Schülergemäße Besichtigungen
3.2.4. Projektarbeit
3.2.5. Nachbereitung
3. 3.
Tabellarischer Überblick über den geplanten Ablauf
4.
DIE VORBEREITUNGSZEIT
4. 1.
Organisatorische Voraussetzungen
4. 2.
Konkrete inhaltliche Vorbereitung
5.
DARSTELLUNG UND ANALYSE
5. 1.
Tabellarischer Überblick der durchgeführten Reise
5. 2.
Analyse ausgewählter Situationen
5.2.1. „Offenheit für das andere, das Fremde,
das Ungewohnte“
5.2.2. „Das andere als anders akzeptieren“
5.2.3. „Fähigkeit zu experimentierendem Verhalten“
5.2.4. „Angstfreiheit vor dem Fremden“
5.2.5. „Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen“
5.2.5.1. „Gemischtkulturelles Kochen“
5.2.5.2. „Dorfdisco“
5. 3.
Weitere Situationen
5.3.1. Das Lagerfeuer
5.3.2. Der Stadtspaziergang
5. 4.
Die besondere Rolle der Vermittlung
5.4.1. Zugfahrten
5.4.2. Kartenspielen
5. 5.
Die Reflexionstreffen
5.5.1. Reflexionstreffen I
5.5.2. Reflexionstreffen II
6.
DIE NACHBEREITUNGSZEIT
6. 1.
„Verbesserungstipps für eine nächste Reise“
6. 2.
Gemütlicher Ausklang mit den Eltern und Geschwistern
6. 3.
Erlebnisberichte
6. 4.
Wirkungen/ Folgen der Fahrt
6.4.1. Kurzvortrag auf der Gesamtkonferenz
6.4.2. Niederschlag im Sprachunterricht
6.4.3. Geplanter Inforaum am Tag der Offenen Tür
6.4.4. Planung einer erneuten Fahrt nach Monino
2
7.
GESAMTREFLEXION
8.
Literaturverzeichnis
3
„Wenn du hinkommst, ist es erst mal schrecklich,
aber wenn du wieder da bist, ist es irgendwie voll cool.“1
1.
EINLEITUNG
1.1. Relevanz des Themas
Die heutige Gesellschaft stellt sich als zunehmend multikulturell dar. Es finden
vielfältige Migrationsprozesse statt und die globalisierten Welt, in der wir
heute leben, verschiebt die Perspektive zunehmend von der nationalen auf die
internationale Ebene. Die Bedeutung von interkultureller Kompetenz für die
Verständigung zwischen Vertretern verschiedener kultureller Zusammenhänge
und für die friedliche Kommunikation in Konfliktsituationen wächst, für das
gesellschaftliche Zusammenleben im Inland sowie für die internationale
Kooperation der verschiedenen Staaten und Staatengemeinschaften
untereinander.
Die Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport fordert
Lehrerinnen und Lehrer zum Engagement für die „Herausbildung
interkultureller Kompetenz in der Schule“ auf und weist darauf hin, dass „der
Erfolg in der interkulturellen Bildung /.../ einen wichtigen Bestandteil der
Präventionsarbeit für Toleranz und gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit
darstellt.“2
Die
SVS
definiert
interkulturelle
Kompetenz
als
Schlüsselqualifikation und nennt sie kein Unterrichtsfach, sondern ein
„fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip“3, das es in (fast) allen Fächern zu
berücksichtigen gilt.
1.2. Das russische Kinderdorfprojekt „Monino“
Aufgrund meiner langjährigen persönlichen Kontakte zu dem russischen
Kinderdorfprojekt „Monino“ entstand die Idee, dorthin eine Klassenfahrt zu
organisieren. „Monino“ ist ein kleines, abgelegenes Dorf in den Waldaihöhen
(ca. 400 km nordwestlich von Moskau), wo zwei Moskauer Erzieherinnen vor
15 Jahren eine Initiative für betreutes Wohnen gegründet haben. In vier
Familien leben aufgenommene Kinder und Jugendliche mit den eigenen
Kindern der Familien zusammen bzw. einige ehemals betreute Jugendliche
leben inzwischen selbständig in einem kleinen Blockhaus und haben teilweise
eine eigene Familie gegründet. Bei den Aufgenommenen handelt es sich vor
allem um elternlose Jugendliche oder Sozialwaisen (Alkoholismus der Eltern),
1
Ein Schüler zu einem Mitschüler, der nicht mitgefahren ist, nach der Reise über Monino.
Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport des Landes Berlin: „Handreichung für
Lehrkräfte an Berliner Schulen. Interkulturelle Bildung und Erziehung“, 2001, S.6. Die
Handreichung bezieht sich auf die KMK-Empfehlung vom 25.Oktober 1996 „Interkulturelle
Bildung und Erziehung in der Schule“. (Im Folgenden: SVS)
3
Vgl. ebd. S.7
2
4
es sind aber auch ein leicht geistig retardiertes Mädchen, Marina, und ein stark
autistischer, taubstummer Junge, Kirjuscha, dabei.
Insgesamt leben in Monino zehn junge Menschen, die kein anderes Zuhause
hätten. Die vier Hausgemeinschaften haben jeweils ihren eigenen Tagesablauf
(vielfach mit eigenen Kleinkindern), sind aber als Dorfgemeinschaft
miteinander verbunden.
In Monino gibt es eine lange Tradition von großen Sommerlagern, bei denen
bis zu hundert Menschen aus Moskau (und anderen Städten) in Monino
zusammenkommen, um einerseits das Projekt zu unterstützen und
mitzuarbeiten und andererseits, um sich von der Stadtluft zu erholen und sich
in gemeinsamen Workshops künstlerisch und musisch zu betätigen.
Seit einigen Jahren nehmen auch immer wieder internationale Gäste an den
Sommerlagern teil oder arbeiten eine längere Zeit als Praktikant in Monino mit.
So waren schon mehrfach deutsche Schülergruppen für 2-3 Wochen in Monino
und Gäste aus Holland, der Schweiz, aus Irland, Frankreich und sogar aus
Neuseeland.
Insbesondere russisch-deutsche Jugendlager sollen in Zukunft noch mehr
ausgebaut werden. Dabei soll es einerseits um die Begegnung der Jugendlichen
gehen, andererseits um die Unterstützung des Projektes. Die Mitarbeit in
Monino bezieht sich weniger auf soziale Aufgaben wie die Betreuung von
Kindern, als vielmehr auf handwerkliche Arbeiten (Häuser renovieren, Zäune
bauen, Feuerholz hacken, Gartenarbeit, Heuernte etc.), die die russischen und
deutschen Jugendlichen gemeinsam bewerkstelligen sollen.
1.3. Aufbau der Arbeit
Im ersten Teil der Arbeit geht es um die Definition des Begriffes
Interkulturelle Kompetenz. Verschieden theoretische Modelle werden
aufgezeigt, aus denen der konkrete Ansatz für diese Klassenfahrt abgeleitet
wird. Es folgt die Darstellung der Vorbereitungszeit mit der organisatorischen
und inhaltlichen Planung. Daran schließt sich eine tabellarische Übersicht über
die durchgeführte Reise an.
Die Darstellung und Analyse der durchgeführten Reise betrifft ausgewählte,
interkulturell relevante Situationen. Als Analyseinstrumentarium fungieren
dabei Teilfähigkeiten, die zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz
gehören.
Darauffolgend werden die Nachbereitungszeit und die direkten Folgen der
Klassenfahrt geschildert, abschließend erfolgt die Gesamtreflexion.
2.
THEORETISCHER HINTERGRUND
5
2.1.
Geschichte des Begriffs Interkulturelle Kompetenz
Der heutzutage allgemein übliche Begriff des „interkulturellen Lernens“ bzw.
der „interkulturellen Bildung“ stellt die Weiterentwicklung der sogenannten
„Ausländerpädagogik“ der 50er und 60er Jahre dar.
Ab der Mitte der 50er Jahre wirbt die BRD ArbeitnehmerInnen aus Italien,
Portugal, Jugoslawien, Spanien, der Türkei und aus Griechenland an. Der
Aufenthalt ist zunächst begrenzt geplant und die sogenannten
„GastarbeiterInnen“ kommen ohne Familienangehörige. Mit der Phase der
Familienzusammenführung kommen die Kinder der angeworbenen
Arbeitskräfte in die Schule und die „Ausländerpädagogik“ entsteht.4 Sie ist
ausschließlich für die ausländischen Kinder gedacht und basiert auf dem
defizitären Ansatz, dass den Immigrantenkindern Deutschkenntnisse fehlen,
die sie ausgleichen müssen. Der Integrationsdruck liegt einseitig bei den
„Ausländern“ und ihren Kindern, die dadurch als Sondergruppe stigmatisiert
werden.
Seit den 70er Jahren wird das Konzept der „Ausländerpädagogik“ aufgrund der
einseitigen Defizit-Sichtweise zunehmend kritisiert. Für die Eltern der
inzwischen in der BRD geborenen Kinder wird eine Rückkehr in ihr
Herkunftsland zunehmend unrealistisch und das Selbstbewusstsein der
Immigrantinnen und Immigranten wächst. So tritt in den 80er Jahren der
Begriff der „interkulturellen Erziehung“ auf, der dann von dem des
„interkulturellen Lernens“ abgelöst wird. Hierbei wird – im Unterschied zur
„Ausländerpädagogik“ – die Beidseitigkeit des Lernprozesses in den
Vordergrund gestellt. Es findet eine Neubewertung der verschiedenen Kulturen
statt, die gleichberechtigt von einander lernen können und müssen. Zunehmend
wird vom Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen gesprochen. Die
Fähigkeit, die aus dem interkulturellen Lernen erwächst, wird als
interkulturelle Kompetenz bezeichnet.
2.2.
Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht
Seit der „pragmatischen Wende“ in der Sprachforschung in den 70er Jahre5, ist
der Fremdsprachenunterricht zunehmend „kommunikativ“ ausgerichtet. D.h.
der Fremdsprachenunterricht an der Schule soll dazu befähigen, sich im Land
4
Vgl. SVS, S.28ff.
Die Entwicklung der Sprechakttheorie nach den Sprachphilosophen Searle und Austin führte
dazu, dass sprachliche Äußerungen als sprachliche Handlungen begriffen wurden. Die
entstehende Pragmatik als Teilgebiet der Linguistik widmet sich dem angemessenen Gebrauch
der Sprache in konkreten Kommunikationssituationen (Sprecher, Hörer, soziale und
kontextuelle Faktoren). Vgl. die Zusammenfassung der Entwicklung der Sprechakttheorie bei
Nina Nixdorf (2002): „Höflichkeit im Englischen, Deutschen, Russischen. Ein interkultureller
Vergleich am Beispiel von Ablehnungen und Komplimenterwiderungen“, S.17ff.
5
6
der Zielsprache verständigen zu können. Spätestens seit den 90er Jahren
erkennt die Sprachforschung jedoch, dass „kommunikative Kompetenz“ nicht
isoliert von dem kulturellen Hintergrund der Sprecher des Ziellandes betrachtet
werden kann. Die im Fremdsprachenunterricht zu vermittelnde Sprache
transportiert gleichzeitig Elemente der Kultur des Ziellandes D.h. eine
Verständigung zwischen den Sprechern zweier Sprachen bedeutet auch immer
eine Vermittlung zwischen zwei unterschiedlichen Kulturkreisen. Hierbei
handelt es sich allerdings nicht um die reine Wissensvermittlung von
landeskundlichen Fakten über das Zielland, sondern um eine darüber
hinausgehende ‚interkulturelle Vermittlung’. So ist es einerseits für den
Fremdsprachenunterricht wichtig, die Zielkultur zu vermitteln, und
andererseits, die Schülerinnen und Schüler anzuregen und zu befähigen, mit
der Zielkultur umzugehen. Besonders gut geeignet für die ‚interkulturelle
Erprobung’, für das sprachliche und interkulturelle Üben ist der direkte
Kontakt mit VertreterInnen einer anderen Kultur, z.B. bei einem
Schüleraustauschprogramm, bei Studien- oder Projektfahrten.
2.3. Veränderte politisch-gesellschaftliche Situation
Wie die SVS6 beschreibt, handelt es sich nicht nur um einen
Paradigmenwechsel aufgrund der Defizite der „Ausländerpädagogik“, sondern
um das Ergebnis einer gesellschaftlichen, politischen Entwicklung. Der
interkulturelle Dialog stellt eine Notwendigkeit gegen eine wachsende
Ausländerfeindlichkeit dar. Zu den in der BRD lebenden ehemaligen
„GastarbeiterInnen“ kommen seit den 70er Jahren Asyl Suchende hinzu und
seit Mitte der 80er Jahre gibt es eine Migrationswelle aus Osteuropa. Aus
Russland immigrieren viele jüdische Familien und Russlanddeutsche, wodurch
z.B. in Berlin die jüdisch Gemeinde wächst. Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf
leben nach Angaben einer russischen Bezirksabgeordneten der CDU circa
25.000 russische EinwanderInnen. Der Anteil der Bevölkerung nichtdeutscher
Herkunft betrug 1998 in beiden Teilen Berlins 13%, wobei der Anteil von
Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache in Hellersdorf bei 1%, in
bestimmten Weddinger und Neuköllner Einzugsgebieten bei 50%, in
Kreuzberg bei über 60% und dort an manchen Schulen nahezu bei 80% lag.7
Nach den schlechten Ergebnissen der PISA-Studie und dem Amoklauf von
Erfurt ist die Bildungssituation in der BRD verstärkt in der öffentlichen
Debatte. Im Zusammenhang mit der neuerlichen „Bildungskatastrophe“ wird
6
Vgl. ebd. S.29
Prozentangaben aus: „Schilfblatt“, Heft 7/8, 1998, herausgegeben vom Berliner Institut für
Lehrerfort- und –weiterbildung und Schulentwicklung (BIL), S.16
7
7
endlich benannt, dass die BRD ein Einwanderungsland ist.8 Wir leben
heutzutage in einer multikulturellen Gesellschaft. Die SVS9zitiert den Begriff
der „Transkulturalität“:
„Heute gilt es, die Kulturen (...) jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und
Fremdkultur zu denken (...) Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr
die unterstellte Form der Homogenität und Separiertheit. Sie weisen vielmehr
eine neuartige Form auf, die als transkulturell zu bezeichnen ist, sofern die
heutigen Lebensformen durch die traditionellen Kulturgrenzen wie
selbstverständlich hindurchgehen. (...) Wir sind kulturelle Mischlinge.“10
Der Begriff der Kultur wird in der globalisierten „Einen Welt“ zunehmend
dynamisch, vermeintlich klare Trennlinien zwischen verschiedenen Kulturen
verfließen. Wir werden mehr und mehr zu „Weltbürgern“ mit den
verschiedensten kulturellen Einflüssen.
2.4. „Eigenes“ vs. „Fremdes“
Bei der Entwicklung des Konzepts des „interkulturellen Lernens“ wurde die
oben erwähnte Defizithypothese in den 80er Jahren von der Differenzhypothese
abgelöst. Damit wurde auf die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen
abgehoben, die „Fremdheit“ sollte als solche anerkannt werden. Der
Fremdsprachenunterricht wurde als „Ort der systematischen Begegnung der
Lernenden mit der Fremdkultur“11 gesehen. Die traditionelle Landeskunde,
deren Blick nur in einer Richtung verlief, da sie sich auf die Vermittlung von
landeskundlichen Informationen über das Zielland beschränkte, wurde
erweitert um einen kulturvergleichenden und kulturrelativierenden Ansatz, bei
dem der Blick ausdrücklich in beide Richtungen gelenkt werden sollte, d.h. es
sollte eine Beziehung hergestellt werden zwischen der „eigenen“ und der
„fremden“ Kultur.12 Durch den Kulturvergleich und den Bezug auf die
„eigene“ Kultur sollten Vorurteile und stereotype Vorstellungen abgebaut
werden.
Wie
KRUMM13
jedoch
bereits
im
Handbuch
Fremdsprachenunterricht von 1995 zu bedenken gibt, legt die
Differenzhypothese, die These also von der kulturellen Differenz verschiedener
Vgl. SPIEGEL 20/2002, S.99: Sieben Thesen zur „neuen deutschen Bildungskatastrophe“,
Erste These: „Zu wenig Integrationsdruck auf nichtdeutsche Schüler“. „Die fatale Entwicklung
begann, erstens, mit der Weigerung konservativer Politiker, dem Volk einzugestehen, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist.“
9
siehe SVS, S.30
10
ebd., dort zitiert aus: „Schilfblatt“, Heft 2, 1996, S.57: Wolfgang Welsch: „Transkulturalität
– Zur Verfassung heutiger Kulturen“.
11
Vgl. „Handbuch Fremdsprachenunterricht“ (1995), H.-J. Krumm: „Interkulturelles Lernen
und interkulturelle Kommunikation“, S.156ff.
12
Vgl. ebd., S.157
13
Vgl. ebd. S.157f.
8
8
Menschen, Personen auf vermeintlich klar abgrenzbare, „kulturelle“ Merkmale
fest und macht auch die Differenzhypothese „die Fremden“ letztendlich zum
Problem.
CHRIST14 warnt vor einer „Verdinglichung“ der Kultur. Es sei zwar richtig,
dass man bei dem Erlernen einer fremden Sprache auch eine „fremde Kultur“
kennen lerne, aber nur unter der Bedingung, „dass man mit der fremden Kultur
nicht ein geschlossenes Ganzes, sondern nur eine angenommene kohärente
Realität meint, als welche sie den Lernern erscheint“.15
HU16 verweist auf die mit dem Begriff des „Fremden“ verbundenen Gefahren:
„...indem das ‚Fremde’ fremd belassen werden soll, erfährt es eine noch
wesentlich radikalere Bedeutung, es wird zu etwas Nicht-Annäherbarem, das
unwiederbringlich isoliert, eben unverstanden bleibt. Das ‚Fremde’ wird hier –
überspitzt gesagt – als ein Wert gefeiert.“
BREDELLA et al.17 geben zu bedenken, dass es sich bei dem „Fremden“ und
„Eigenen“ stets um „relationale Kategorien“ handelt, die sich jeweils nach der
eingenommenen Perspektive verändern. SCHÄFTER18 beschreibt „Fremdheit“
nicht als Eigenschaft, sondern als „Beziehungsmodus“.
In diesem Zusammenhang möchte ich den oben zitierten Begriff der
Transkulturalität nochmals bemühen; in der heutigen gesellschaftlichen
Situation erscheint es als weitaus angemessener von einer Vielheit von
„transkulturellen Identitäten“19 zu sprechen, die geprägt sind von der
Durchdringung
verschiedener
Lebensentwürfe,
Denkformen,
Handlungsweisen, Wertvorstellungen, Haltungen etc. und sich endlich von der
Vorstellung eines vermeintlich „Eigenen“ als immer wieder auftauchenden,
festen Bezugspunkt, zu verabschieden. Es gilt ein komplexes, ständig in
Bewegung begriffenes Phänomen als solches zu denken und die damit
einhergehende Auflösung von vermeintlichen Fixpunkten bzw. vermeintlich
klaren Grenzen auszuhalten.
SCHÄFTER spricht von der „konfliktträchtigen Zeitgenossenschaft von
unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen“, in der wir alle mehrere
Herbert Christ: „Fremdverstehen und interkulturelles Lernen“, 1996, In: Zeitschrift für
Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (Online), 1(3), S.2
15
ebd.
16
Adelheid Hu: „Warum Fremdverstehen? Anmerkungen zu einem leitenden Konzept
innerhalb eines ‚interkulturell’ verstandenen Sprachunterrichts“, In: Bredella et al. (1997):
„Thema Fremdverstehen“, S.36
17
ebd., S.11
18
Schäfter (1997): „Das Eigene und das Fremde. Lernen zwischen Erfahrungswelten.“, zitiert
in: „Interkulturelles Lernen. Arbeitshilfen für die politische Bildung“, Bundeszentrale für
politische Bildung, 2000 (1998), S.20. Im Folgenden: „BPB“
19
Welsch (1996), zitiert in SVS, S.30
14
9
Kulturen miteinander verbinden müssen und „Identitätsarbeit“ leisten
müssen.20
„Moderne Individuen müssen /.../ ihre Identität selbst herstellen oder sichern.
D.h. sie müssen ihr Verhältnis zu sich selbst und zur Gesellschaft klären. In
der einen Dimension bedeutet das: Stellungnehmen zur eigenen
Lebensgeschichte und Zukunftsentwürfe machen, in der anderen: sich sozial
verorten. Und dabei kommt man nicht darum herum zu entscheiden: Was aus
den mir verfügbaren kulturellen Symbolwelten ist mir für mein
Selbstverständnis und meine Selbstdarstellung wichtig?“21
In der „sozialen Verortung“ geht es also um unser Selbstverständnis in der
„transkulturellen“ Gesellschaft. Die Schaffung unserer – ob gewollt oder
ungewollt – „transkulturellen“ Identität ist unsere Aufgabe. Auch der Versuch
der Ausblendung der Vielfalt, in der wir leben, stellt eine Verortung dar.
3.
ANSATZ FÜR DIE REISE
3.1. Mögliche Ansätze für das interkulturelle Lernen auf einer
Schülerreise
3.1.1. Ansatz von NICKLAS
NICKLAS22 unterscheidet in seinen „Thesen zum interkulturellen Lernen“
zwischen dem „Lernen als Treppe“ und dem „Lernen als konzentrische
Kreise“. Dem ersten ordnet er das aufeinander aufbauende Lernen von
kognitiven Inhalten und logischen Strukturen zu. Das Lernmodell sei
weitgehend das der Schule. Bei dem zweiten Lerntyp hingegen geht es um
komplexe Lernprozesse, wie sie beim sozialen Lernen notwendig sind, die als
„Anreicherungs- und Kristallisationsprozesse“ verstanden werden müssen.
NICKLAS sieht das interkulturelle Lernen als eine Form des sozialen Lernens
an, mit dem Ziel der „Erhöhung der sozialen Kompetenz und der
zwischenmenschlichen Fähigkeiten“.23
Als zentrales Problem des interkulturellen Lernens kennzeichnet der Autor den
Umgang mit dem „Anderssein“. Zunächst ist es notwendig, die kulturellen,
ideologischen und politischen Unterschiede zu betonen, da erst die
Konfrontation mit anderen Gewohnheiten, anderen zwischenmenschlichen
Beziehungen, das Erleben anderer Räume, den Blick für mögliche
Gemeinsamkeiten schärft.
20
BPB, S.21
BPB, S.22
22
Hans Nicklas: „Thesen zum interkulturellen Lernen“ (1998), In: Lucette Colin, Burkhard
Müller (Hg.): „Europäische Nachbarn – vertraut und fremd; Pädagogik interkultureller
Begegnungen.“ S.40
23
siehe ebd.
21
10
„Andersartigkeiten wahrzunehmen und mit ihnen zu leben, erfordert die
Bereitschaft, den anderen als Herausforderung zu akzeptieren und die
Herausforderung seines Andersseins anzunehmen. Andersartigkeit hat immer
auch Rückwirkungen auf das Selbstverständnis. Wird die Begegnung mit der
Andersartigkeit einer fremden Kultur als existentielle Bereicherung gelebt und
erlebt, dann öffnet sich ein neuer Blick auf den anderen und sich selbst.“24
NICKLAS warnt vor zwei Fehlhaltungen beim Umgang mit Andersartigkeit:
a) Wird Andersartigkeit absolut gesetzt, wird die Kommunikation zur
Konfrontation und weitere Lernprozesse sind blockiert.
b) Wird dagegen Andersartigkeit geleugnet, verschwimmen Grenzen und
verwischen Konturen. Die kulturelle Identität schlägt um in Indifferenz, und
Lernprozesse können ebenfalls nicht mehr stattfinden.25
Eine Absolutsetzung von Andersartigkeit liegt z.B. vor, wenn man von „dem
Fremden“ als fester Kategorie spricht, also „dem Russen“ bestimmte Merkmale
zuschreibt, die nur auf ihn zuträfen und vermeintlich unveränderlich sind.
Unter b) kann man sich eine ‚Gleichmacherei’ vorstellen des Typs „Ach, die
französischen Jugendlichen sind doch genauso wie wir“ oder auch „Ach,
Ostdeutsche und Westdeutsche sind alle Deutsche, da gibt es keine
Mentalitätsunterschiede“. Werden Unterschiede nicht benannt, findet keine
Annäherung und kein Dialog statt.
NICKLAS formuliert folgende zwölf Stufen des interkulturellen Lernens:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Offenheit für das andere, das Fremde, das Ungewohnte
Erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit für Fremdes
Das andere als anders zu akzeptieren
Ambivalenz ertragen können
Fähigkeit zur Empathie
Die Fähigkeit zu experimentierendem Verhalten
Angstfreiheit vor dem Fremden
Die Fähigkeit, unsere eigenen Normen in Frage stellen zu können
An der Utopie des herrschaftsfreien Diskurses festhalten
10.
11.
Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen
Den eigenen Ethnozentrismus und Soziozentrismus erkennen und
relativieren können
Die Fähigkeit, übergreifenden Loyalitäten und Identitäten zu
entwickeln26
12.
24
ebd. S.41
ebd. S.42
26
ebd. S.43-45, fettgedruckt sind jeweils die, die bei der durchgeführten Reise relevant waren.
25
11
NICKLAS führt diese Punkte als Ziele des interkulturellen Lernens an.
Zusammengefasst werden die verschiedene Ziele für die vorliegende Arbeit als
Komponenten von interkultureller Kompetenz betrachtet .
Einige dieser Teilfähigkeiten könnten übertragbar sein auf die geplante
Schülerreise, wobei es sich im Rahmen einer einzigen Schülerreise nur um die
Entwicklung von ersten Ansätzen von interkultureller Kompetenz handeln
kann, die sich immer weiter entwickelt muss, als ein lebenslanger Lernprozess.
3.1.2. Ansatz von CHRIST
Ein weiteres Modell zum interkulturellen Lernen bzw. zur interkulturellen
Begegnung liegt bei CHRIST27 vor. Er spricht bei der Begegnung mit „dem
Anderen“ von einer doppelten Blickrichtung bzw. von einem sich kreuzenden
Blick. Der Blick des Lernenden schaut das Andere/ den Anderen an, der aber
zurückblickt, den Lernenden seinerseits in den Blick nimmt und als Anderen
wahrnimmt. So werde der Lernende auf sich selbst zurückgeworfen, muss sich
selbst in die Betrachtung einbeziehen. Im Kontakt mit anderem wird die
Selbstreflexion herausgefordert. Empathiefähigkeit bedeutet die Fähigkeit zum
Perspektivwechsel.
CHRIST (ebd.) plädiert für eine lernerorientierte Betrachtungsweise. Meist
werde nur nach objektiven Gegebenheiten, nach Gegenständen des Lernens
gefragt, nicht aber nach dem Lernprozess selbst, und ebenso wenig nach den
Lernern, wo sie stehen, woher sie kommen, welches „kulturelle Gepäck“ das
ihre ist.
Bei den „objektiven Gegebenheiten“ würde es sich im Fall einer Russlandfahrt
etwa um die Vermittlung von vermeintlich objektivem Wissen über das Land
handeln, z.B. über bestimmte Sitten und Bräuche „der Russen“. Eine so als
vermittelbares Faktenwissen verstandene „Kultur“ führt zu der oben skizzierten
Festlegung einer „Kultur“ auf bestimmte Merkmale, die zu leicht zu
Klischeevorstellungen über die Menschen aus dem Kulturkreis führt.
Hintergrundwissen über die geschichtliche Bedingtheiten der heutigen
Situation und Informationen zur heutigen wirtschaftlichen und sozialen Lage in
Russland erleichtern selbstverständlich das Verständnis bestimmter
Phänomene. Ein derartiges Hintergrundwissen sollte aber eben nicht als
vermittelbare „Kultur“ missverstanden werden (wie in der traditionellen
„Landeskunde“, als Kunde über ein als Objekt begriffenes Land).
Die eindeutig anderen kulturellen Zusammenhänge sind in Bewegung
begriffene, komplexe Gefüge, denen man sich allmählich annähern, sich in sie
einfühlen kann, die man mit der Zeit kennen lernen kann, indem man
27
Vgl. Christ (1996) ebd., S.2ff.
12
vielfältige Erfahrungen der Begegnung, des Austausches, der Zusammenarbeit
macht.
Im Rahmen der geplanten Schülerreise wird es also darum gehen, die
SchülerInnen zu möglichst vielfältigen interkulturellen Erfahrungen anzuregen.
Dabei wird es sich
eher um eine „beobachtenden Studie“ handeln müssen, bei der ich die
SchülerInnen begleite und versuche zu beobachten, wie sie interkulturelle
Erfahrungen machen (können).
3.1.3. Ansatz von THOMAS
Die „Methode der teilnehmenden Beobachtung“ in Form von BeobachtungsProtokollen und Tagebüchern wurde von THOMAS28 zur Untersuchung des
interkulturellen Lernens in Schüleraustauschprogrammen zwischen der BRD
und Frankreich und England angewendet. Dabei wurde anhand folgender
Fragestellungen beobachtet:
1. Welche Möglichkeiten zum interkulturellen Lernen bieten sich?
2. Welche Grenzen für interkulturelles Lernen sind in den laufenden
Programmen vorhanden?
3. Welche Möglichkeiten bestehen, die Programme so zu organisieren und
pädagogisch zu betreuen, dass ein intensives interkulturelles Lernen
stattfindet?29
Diese Fragestellungen würden sich, obwohl es hier nicht um ein
Schüleraustauschprogramm, sondern um eine einzelne Schülerfahrt geht, zur
Beobachtung anbieten.
THOMAS schreibt weiter:
„Ein Schüleraustausch sollte ein Maximum an interkulturellen
Erfahrungsmöglichkeiten bieten, und die Interaktionsprozesse der Schüler
untereinander, der Schüler zu den Schülern des Gastlandes und der Schüler zu
den begleitenden Lehrpersonen sollten so beschaffen sein, dass sich daraus für
den einzelnen Schüler Möglichkeiten zum Verständnis der fremden respektive
der eigenen Kultur ergeben. Die pädagogische Aufgabe der Lehrpersonen
besteht vornehmlich darin, zu Beobachtungen und Erfahrungen anzuregen und
die
fremdkulturellen,
zunächst
unverständlich
erscheinenden
Beobachtungsinhalte und Erlebnisse mit den Schülern zu reflektieren und
ihnen Hilfestellungen zum Verständnis des fremdkulturellen Verhaltens
anzubieten.“30
Von THOMAS wurde die Methode der teilnehmenden Beobachtung bewusst
gewählt, um den „natürlichen“ Ablauf der Gruppenfahrt ins Ausland
Alexander Thomas (Hg.) (1988): „Interkulturelles Lernen im Schüleraustausch“, S.80
ebd. S.89
30
ebd. S.90
28
29
13
„möglichst wenig zu beeinträchtigen“.31 Das erscheint mir einleuchtend, auch
ich möchte, dass die Schülerinnen und Schüler diese ihre erste Reise nach
Russland als „natürliche“ Fahrt erleben, d.h. dass sie sich nicht wie
‚Versuchskaninchen’ für meine Examensarbeit fühlen oder mit meinem
interkulturellen Anspruch überfrachtet werden dürfen. Sie sollen ihre
authentischen Erfahrungen machen und sich unbeobachtet fühlen.
3.1.4. Arbeit mit Fragebögen
Ein anderer möglicher Untersuchungsansatz wäre: die SchülerInnen vor und
nach der Reise einen Fragebogen ausfüllen zu lassen, z.B. zu ihren Vorurteilen
über Russland. Nach der Reise könnten sie dann entweder ihre Angaben von
vor der Reise bearbeiten oder aber einen anderen Fragebogen zu ihren
gemachten Erfahrungen ausfüllen. Da allerdings Untersuchungen von
Schüleraustauschprogrammen32 ergeben haben, dass die persönliche Erfahrung
im Land mitnichten Vorurteile quasi automatisch abbaut, sondern im Gegenteil
sogar vielfach Klischeevorstellungen noch verfestigt hat,33 werde ich bei
meiner Untersuchung nicht so verfahren. Beim interkulturellen Lernen handelt
es sich nicht um abfragbares Wissen, sondern um einen allmählichen
Entwicklungsprozess, der hier nur in Gang gesetzt werden kann. Die zu
erwartenden Erfahrungen werden nicht punktuell abfragbar sein. Deshalb
erscheint mir die Methode mit Fragebögen ungeeignet.
3.1.5. Das Problem der Messbarkeit
Damit ist das Problem der Messbarkeit von „interkulturellen Erfolgen“ generell
angesprochen. Wie sollen „Resultate“ von interkulturellem Lernen getestet
oder nachgewiesen werden? Wie auch THOMAS in seiner Studie betont,
könnten tatsächlich nur breit angelegte Langzeitstudien Auskunft über
Ergebnisse von interkulturellem Lernen geben.34 Als Resultate seiner
Beobachtungsstudie hält er fest:
-
-
Die Wirkung zeigt sich vor allem in der Zunahme von Selbstverstrauen, der
Erweiterung der Interessen und Sprachfähigkeit, wobei alle drei Faktoren
einander ergänzen und bedingen.
Ob das Ziel der Völkerverständigung erreicht wird, ist eine offenen Frage, da
Langzeitstudien fehlen und Vorurteile sich unter dem Einfluss der
eigenkulturellen Umgebung leicht wieder aufbauen.(ebd.)
31
ebd. S.80
Keller 1979, zitiert bei Krumm ebd. S.158
33
Vgl. auch Thomas, S.79: „Die Kulturkontakt-Hypothese, nach der angenommen wird, dass
Menschen verschiedener Kulturen, die sich häufig begegnen, ihre gegenseitigen Vorurteile
abbauen und gleichsam von selbst zu einem besseren Verständnis der jeweils fremden Kultur
finden, wird allgemein als erwiesen angesehen, obwohl sozialpsychologische Studien aus dem
Bereich der Vorurteils- und Stereotypenforschung erhebliche Zweifel an ihrer Gültigkeit
aufkommen lassen.“
34
Vgl. Thomas, S.93ff.
32
14
Zum Problem der Messbarkeit von interkulturellem Lernen schreibt
MÜLLER35, in seinem Artikel: „Was bleibt hängen? Alltagserfahrungen und
internationale Begegnungsprogramme“, dass meist große Erwartungen an
interkulturelle Begegnungen geknüpft werden (wie „Abbau von Vorurteilen,
politische Bildung, Entwicklung eines europäischen Bewusstseins“ etc. vgl.
ebd.). In vielen Fällen kämen allerdings sehr viel kleinere Ziele der
Wirklichkeit näher (wie „Spaß mit anderen Jugendlichen haben, günstige
Reisemöglichkeiten nutzen“ etc.). Der Autor ist der Auffassung, dass die
Evaluation von interkulturellen Begegnungen über die Frage: „Hat es Euch
gefallen – wenn nein, warum nicht?“ nicht hinausgekommen sei. Auf der
anderen Seite schreibt er, dass jeder, der an solchen Begegnungen teilnimmt,
erzählt, dass er nicht unberührt geblieben ist, dass da sehr viel geschehen kann,
auch wenn es sich „nicht in Bildungsgütern oder Einstellungsänderungen
messen lässt“ (ebd.). MÜLLER schlägt deshalb vor, dass Problem auf etwas
andere Weise zu betrachten: „nicht mehr nach den Wirkungen zu fragen“,
sondern eher „die Erfahrungen von jungen Teilnehmern besser beschreiben zu
lernen“. Wobei er betont, dass nicht nur die Erfahrungen in der
Begegnungssituation gemeint sind, sondern die Erfahrungen im
„Lebenskontext“, d.h. im ‚normalen’ weiteren Leben der TeilnehmerInnen.
Anhand zweier Berichte von Teilnehmern versucht er zu zeigen, „dass
Wirkungen solcher Begegnungen etwas anderes sind, als das was sich als
Lernerlebnis schwarz auf weiß festhalten lässt“(ebd.).
3.2. Konkreter Ansatz für die Reise
Aus den dargestellten verschiedenen Modellen erscheint mir folgender
konkreter Ansatz für unsere geplante Reise sinnvoll:
Insgesamt kann es nur um das erste Kennenlernen eines anderen kulturellen
Zusammenhangs gehen, um das Erfahren von anderen Deutungsmustern,
sozialen Codes, Lebensentwürfen und Handlungsweisen in einer anderen
Sprache als der deutschen. Die Haltung sollte dabei eine offene sein, die sich
zunächst auf „das Andere“ einlässt und es als andere, weitere Normalität
akzeptiert, es als selbstverständlich hinnimmt. Erfreulich wäre, wenn es
gelänge, „das Andere“, also die russische Realität, insoweit zu verstehen, dass
von einem Perspektivwechsel gesprochen werden könnte, wenn die
SchülerInnen es also schaffen würden, sei es auch nur einige wenige
Situationen, aus russischer Sicht wahrzunehmen und zu begreifen. Besonders
erfreulich wäre es, wenn die SchülerInnen in ihrem nicht hinterfragten
Burkhard Müller (1998): „Was bleibt hängen? Alltagserfahrungen und internationale
Begegnungssituationen“, In: Colin/ Müller (Hg.) ebd. S.177f.
35
15
Selbstverständnis erschüttert würden und sich erste Relativierungen des
Selbstbildes einstellen würden.
3.2.1. Analyse von Situationen
Einzelne Situationen, entweder Konfliktsituationen oder Situationen, in denen
den SchülerInnen etwas besonders aufgefallen ist, sie von etwas begeistert
waren oder ihnen etwas sonderbar vorgekommen ist, sollen als Anlass für eine
gemeinsame Analyse genutzt werden.36 Gleichzeitig werde ich versuchen, die
SchülerInnen so gut wie möglich zu beobachten und Beobachtungsprotokolle
zu schreiben. Dabei sollen folgende Fragen im Vordergrund stehen:
- Was scheint den SchülerInnen als besonders (anders) aufzufallen,
worüber regen sie sich auf/ sind sie begeistert/ fühlen sie sich unwohl?
-
Was passiert beim Kontakt mit Russinnen und Russen (im Zug, auf der
Straße, in Kiosken, in der Schule, in der U-Bahn, in Monino etc.)?
- Welche erlebten Situationen eignen sich zur gemeinsamen Analyse? An
welche Erlebnisse lassen sich Reflexionen in Richtung interkulturelles
Lernen anschließen?
- Wie kann man interkulturelles Lernen überhaupt bewirken?
3.2.2. Vermittlungsarbeit
THOMAS (S.40ff.) betont die Wichtigkeit der Vermittlung durch den
Begleiter. Er schreibt, dass „Verarbeitungshilfen, /.../ z.B. kulturspezifische
Erklärungen für fremde Verhaltensweisen nur in einem pädagogischen
Gespräch mit den Lehrern vermittelt werden können“, und dass es ein
großes Bedürfnis danach seitens der SchülerInnen gibt. Es gilt also in
meiner Rolle als Begleiterin zu prüfen:
Wie kann ich vermittelnd tätig sein zwischen russischen
Gegebenheiten und deutschen Gewohnheiten?
3.2.3. „Rückzugsmöglichkeiten“
In einigen Aufsätzen zum interkulturellen Lernen wird die Wichtigkeit von
„Rückzugsmöglichkeiten“ genannt (vgl. THOMAS S.41f.), um die vielfältigen
Eindrücke bei interkulturellen Begegnungen zu verarbeiten. Häufig wird bei
sehr organisierten Austauschprogrammen mit vielen Exkursionen,
Stadtrundfahrten, Museumsbesuchen, Sehenswürdigkeiten etc. kaum Raum
gelassen zum „Verdauen“ der Eindrücke, zum Nachdenken über das Gesehene,
um evtl. gemeinsam ins Gespräch zu kommen über Wahrgenommenes.
3.2.4. Schülergemäße Besichtigungen
THOMAS (S.34) schreibt, dass der Besichtung von Kirchen,
Museumsbesuchen
und
Exkursionen,
die
bei
den
meisten
36
Thomas (1988) betont, dass Verarbeitungshilfen durch den Lehrer nur lernwirksam sind,
wenn sie zeitlich kurz nach dem Erlebnis erfolgen. Vgl. S.40f.
16
Austauschprogrammen eine zentrale Rolle spielen, „insgesamt nur ein geringer
Lerneffekt zukommt“. Denn die Schüler haben hier keine Notwendigkeit und
Möglichkeit, aus ihrer eigenkulturellen Gruppe Kontakt zu den Bewohner des
Gastlandes aufzunehmen. Eine tiefgehendere geschichtliche wie kulturelle
Einordnung der zu besichtigenden Bauwerke müsste dann einen eigenen
inhaltlichen Schwerpunkt in der Vorbereitung und während der Fahrt
darstellen. THOMAS (ebd.) schlägt deshalb schülergemäße Besichtigungen in
kleinen, gemischt-kulturellen Gruppen mit gemeinschaftlich zu leistenden
Entdeckungsaufgaben vor. Die Besichtigung von Bauwerken und touristisch
bedeutsamen Plätzen ist nach THOMAS (S.35) „für den Schüler nur insofern
wichtig, als er nach seiner Rückkehr „stolz“ berichten kann, auch dort gewesen
zu sein.“
Deshalb möchte ich bewusst den Aufenthalt in Moskau nicht völlig mit
Programmpunkten durchorganisieren, sondern eher absichtlich Freiräume
lassen, in denen die SchülerInnen unter sich sein können, in Kleingruppen
durch die Stadt ziehen oder einfach nur in einem Park oder an einem Denkmal
in der Sonne sitzen können, und die Stadt und das Leben in ihr auf sich wirken
lassen können.
Zur Bedeutung von eingeräumten Freiräumen bzw. zu „selbst-entdeckendem
Lernen schreibt THOMAS (ebd.):
„Hier lassen sich am ehesten Aktivitäten selbst-entdeckenden,
fremdkulturellen Lernens beobachten, die mit großem persönlichem Engagement
durchgeführt und mit einem hohen Grad emotionaler Betroffenheit erlebt werden.
Ähnlich wie beim „Familienbesuch“ wird die selbständige Bewährung in fremder
Umwelt erfahren, allerdings ist hier der erlebte Freiheitsgrad noch höher. Wie viel
Geld man tauscht, was man dafür kauft, wo man einkauft, wen man dazu mitnimmt,
was und wie viel man dabei mit den Einheimischen spricht usw. sind alles selbst
initiierte und selbstbestimmte Aktivitäten, bei denen die Schüler sich einmal nicht
nach Erwachsenenvorschriften richten müssen, sondern „nur“ an dem orientieren, was
die anderen Schüler unternehmen. Wenn solche Aktivitäten noch in gemischtkulturellen Gruppen erfolgen können, ist mit einem hohen interkulturellen Lerneffekt
zu rechnen, der wegen des hohen Anteils an Eigeninitiative von nachhaltiger Wirkung
ist.“
Um einen Kontakt mit Gleichaltrigen und ein schülergemäßes Kennenlernen
der Stadt mit besagter „Selbstbewährung“ zu ermöglichen, plane ich eine
Stadtrallye. Die SchülerInnen sollen zusammen mit russischen Jugendlichen
Entdeckungsaufgaben bewerkstelligen, indem sie in Kleingruppen jeweils mit
ein, zwei russischen Jugendlichen die Stadt erkunden. Damit verbinde ich die
Hoffnung, dass sie sich durch die gemeinsame Aufgabe näherkommen, als
wenn sie sich einfach nur „begegnen“ würden, ohne eine verbindende Aufgabe.
3.2.5. Projektarbeit
17
THOMAS (S.25) unterscheidet verschiedene Typen von Schülerfahrten:
Typ 1: Internationale Schülerbegegnung mit Klassenfahrtcharakter und
Schullandheimaufenthalt im Gastland.
Typ 2: Internationaler Schüleraustausch mit Aufenthalt in Gastfamilien und mit bzw.
ohne vorherigen Kontakt zum Austauschschüler und zur Gastfamilie.
Typ 3: Internationaler Schüleraustausch mit Aufenthalt in Gastfamilien und
gemeinsamer Projektarbeit.
Auf unsere geplante Fahrt trifft keiner der Typen zu, es handelt sich eher um
eine Mischform: Eine Schülerfahrt (mit einem Teil der Klasse) ins Ausland mit
geplanter interkultureller Begegnung mit Jugendlichen und gemeinsamer
Projektarbeit, mit dreitägigem Aufenthalt in einer Moskauer Schule und
Unterkunft auf dem Land in einem Kinderdorfprojekt.
THOMAS (S.26) ist der Meinung, dass die interkulturellen Lernmöglichkeiten
von Typ 1 zu Typ 3 zunehmen, weil die Dauer und Intensität des Kontaktes
zunimmt. Obwohl er zu bedenken gibt, dass die Qualität des Kontaktes und
viele weitere Faktoren eine Rolle spielen. „Hervorragende interkulturelle
Lernmöglichkeiten“ konstatiert THOMAS (S.44) bei Begegnungen mit einem
gemeinsamen Arbeitsprojekt (in seinem Beispiel: Film drehen), die die Schüler
auch intensiv genutzt hätten. So haben sich französische und deutsche
Jugendliche über ihre unterschiedlichen Herangehensweisen, Auffassungen
über die Filmdialoge etc. auseinandergesetzt und verständigt.
Ein gemeinsames Projekt kann das verbindende Dritte zwischen zwei
Menschen oder zwei „Kulturen“ darstellen und als dauernder Sprechanlass
dienen, da man sich über die gemeinsame Gestaltung des Projektes permanent
verständigen muss.
Mit der Einbindung der SchülerInnen in das Kinderdorfprojekt und die
dortigen Arbeiten verbindet sich die Hoffnung, dass die Kontakte zu den
russischen BewohnerInnen des Dorfes und zu den anwesenden russischen
Jugendlichen intensiver werden bzw. dass die gemeinsame Arbeit die
interkulturelle Verständigung fordert und so interkulturelles Lernen stattfindet.
3.2.6. Nachbereitung
In der Nachbereitung der Klassenfahrt wird es dann darum gehen müssen, mit
den SchülerInnen weitergehende Reflexionen zu versuchen, sei es in Bezug auf
konkrete interkulturelle Kontaktsituationen, sei es bezüglich ihrer ganz
persönlichen Eindrücke, ihrer Erfahrungen beim Erzählen von der Reise nach
der Rückkehr (etwa mit den Eltern)37, um das Erlebte zu verarbeiten und die
Abgesehen von dem Phänomen des „Kulturschocks“ gibt es auch eine Erscheinung, die als
„Re-entry-schock“ bezeichnet wird. Damit sind die u.U. viel größeren Schwierigkeiten
gemeint, die das Wiedereinleben nach einem (längeren) sehr eindrucksvollen
Auslandsaufenthalt mit sich bringen kann, da man sich von Familie und Freunden
37
18
Erfahrungen
mit
in
das
hiesige
Leben
„hinüberzunehmen“,
Anknüpfungspunkte zum alltäglichen Leben zu finden, um klar zu machen,
dass der Lernprozess andauert, es sich nicht um eine isolierte Erfahrung
handeln soll, sondern um immer weitergehendes Lernen und Reflektieren. Bei
der Nachbereitung ist es wichtig zu versuchen, eine offene
Gesprächsatmosphäre zu schaffen, damit sich die SchülerInnen auch
tatsächlich trauen, sich auszusprechen, damit sie auch Persönliches erzählen.
3.3.
Tabellarischer Überblick über den geplanten Ablauf
Datum
Unternehmung
17.Juni 02
18.Juni 02
19.Juni 02
20.Juni 02
Zugfahrt Berlin - Moskau
Ankunft Moskau, Übernachtung in einer Schule
Stadtrallye mit russischen Jugendlichen, evtl. Kneipenbesuch
Weitere Stadterkundungen,
abends: Zug nach Monino
Ankunft Monino, Zelte aufbauen, Einleben
Projektarbeit in Monino (verschiedene Arbeiten)
Sonntag: keine Arbeit, diverse gemeinschaftliche Aktivitäten
Projektarbeit
Projektarbeit
Projektarbeit; evtl. das erste gemeinsame Reflexionstreffen
Projektarbeit
Projektarbeit
Letzter Tag, Abschied, Zelte packen,
abends: Zug nach Moskau
morgens: Ankunft Moskau, Gepäck in die Schule bringen, weitere
Stadterkundungen, Übernachtung in der Schule
morgens: Zug Moskau - Berlin
vormittags: Ankunft Berlin
21.Juni 02
22.Juni 02
23.Juni 02
24.Juni 02
25.Juni 02
26.Juni 02
27.Juni 02
28.Juni 02
29.Juni 02
30.Juni 02
1.Juli 02
2.Juli 02
4.
DIE VORBEREITUNGSZEIT
4.1. Organisatorische Voraussetzungen
Die Entscheidung für diese Reise fiel auf freiwilliger Basis. Nachdem ich vor
der 10.Klasse einen Diavortrag über Monino gehalten hatte, entschieden sich
14 der 32 SchülerInnen für die Russlandfahrt. Die freiwillige Entscheidung war
mir dabei wichtig, da es sich aufgrund der ländlichen Verhältnisse in Monino
(kein fließendes Wasser, keine sanitären Anlagen, Kochen auf der Feuerstelle
etc.), der mit dem Projekt verbundenen körperlichen Arbeit und dem Anspruch
von sozialem Engagement seitens der SchülerInnen um eine ungewöhnliche
Klassenfahrt handelte.
(Die zweite, größere Gruppe fuhr fünf Tage nach Italien).
unverstanden fühlt, weil man die gesammelten vielen neuen Erfahrungen nicht in Worte fassen
kann.
19
So entstand eine Gruppe von 14 SchülerInnen, 8 Jungen und 6 Mädchen, wobei
zwei Mädchen Muttersprachlerinnen waren. Über ihre Entscheidung
mitzukommen freute ich mich besonders, da ich mir von ihnen ein wenig
zusätzliche Vermittlung zwischen Russen und Deutschen versprach. (Beide
sprechen sehr gut Deutsch bzw. besser Deutsch als Russisch, weil sie schon
lange in der BRD leben und sind meiner Einschätzung nach sehr gut in der
Klasse integriert.)
Ich organisierte einen Elternabend (für Eltern und Schüler), um auch die
Eltern (auch mit Diavortrag) über das Projekt und die geplante Reise genauer
aufzuklären und um für ihre Fragen zur Verfügung zu stehen. Viele ihrer
Fragen bezogen sich auf die organisatorische Seite der Reise (Reisepass,
Visum, nötige Impfungen, Auslandskrankenkasse etc.), einige auf die in
Monino lebenden behinderten oder „schwierigen“ Jugendlichen und die
Situation von Waisenheimen/ Behindertenheimen/ Sonderschulen in
Russland.38 Einige Fragen der Eltern bezogen sich auch auf die berühmte
russische Mafia; derartige Sorgen konnte ich zerstreuen, indem ich erklärte,
dass ich in meinen zehn Jahren Russlandreiseerfahrung noch keinen Kontakt
mit „der Mafia“ hatte.
Mit den SchülerInnen der Gruppe veranstaltete ich zehn Extratreffen, in
denen die Reise organisatorisch und inhaltlich vorbereitet wurde.
4.2. Konkrete inhaltliche Vorbereitung
Bei der Vorbereitung handelte es sich um eine einerseits informative,
andererseits affektive Einstimmung auf die bevorstehende Fahrt, mit dem
Zweck, eine positive Erwartungshaltung bei den SchülerInnen zu schaffen.
So ließ ich die SchülerInnen bei einem der Vorbereitungstreffen „lockere“
Fragebögen ausfüllen mit folgenden Fragen:
- Was ist deine erste Assoziation, wenn Du an Russland denkst?
- Was erhoffst Du Dir von dieser Reise?
- Worüber würdest Du dich besonders freuen?
-
Was fändst Du nicht so schön/ was bereitet dir eher Sorgen/ wovor hast
du ein wenig Angst?
Sie antworteten auf die erste Frage etwa mit: „Vodka, Mafia, Kalaschnikow“
etc., auf die zweite mit: „Russland kennen lernen, andere Jugendliche kennen
lernen, die Sprache verbessern, Spaß haben, das Kinderdorf kennen lernen“
38
Diese Unterscheidung gibt es in Russland nicht, eher werden alle Menschen, die irgendwie
der sozialen Norm nicht entsprechen in sogenannte „Internaty“ gesteckt, in denen untragbare
Verhältnisse herrschen (barfuss im Schnee stehen als Strafe, Verabreichung von weltweit
verbotenen Tranquilizern etc.). Aus dieser Erfahrung heraus hatten die beiden Russinnen
Aljona und Mascha vor 15 Jahren das Projekt eines alternativen Kinderdorfes „Monino“
gegründet.
20
etc., auf die dritte Frage kamen etwa folgende Antworten: „wenn ich hinterher
in Russisch eine Eins hätte, russische Jugendliche kennen zu lernen, wenn wir
im See baden gehen können und das Wetter gut ist“ etc. und zur vierten Frage
kamen Antworten wie: „dass ich nicht genug Russisch kann, ich mich nicht
verständigen kann, dass das Wetter schlecht ist“.
Mit der Fragebogenaktion wollte ich nur einen ersten Eindruck bekommen
darüber, ‚wo die SchülerInnen’ stehen, was ihre Erwartungen und evtl. Ängste
sind.
Die Antworten fielen nicht sehr überraschend aus: die erste Assoziation zu
„Russland“ ist wahrscheinlich bei den meisten Menschen auf der Welt „Vodka,
Mafia, Kalaschnikow“. Wenn man so allgemein und pauschal fragt, erhält man
auch solche klischeehaften Antworten. Ich denke, dass sich hier bestätigt, dass
man Vorwissen, Voreinstellungen, emotionale Assoziationen etc. zu Vertretern
einer bestimmten Kultur schlecht so punktuell abfragen kann und dass sich
derartige „Vorurteile“ (oder Vorstellungen, Bilder) nur schwer anhand einer
Klassenfahrt widerlegen oder revidieren lassen, da sie pauschalisiert sind.
Schon bei dieser Fragebogenaktion wurde mir klar, dass man das, was ich mit
so einer Klassenfahrt bezwecken möchte, nämlich interkulturelles Lernen bzw.
erste Schritte zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz, nicht anhand
von Fragebögen abfragen kann. Es handelt sich bei diesem Ziel, wie bereits
dargestellt, um persönlichkeitsverändernde Schritte, mindestens um eine
Horizonterweiterung, die schwer nachzuweisen ist.
Bei einem weiteren Treffen zeigte ich den RusslandfahrerInnen mein
persönliches Fotoalbum von den letzten zehn Jahren meiner Russlandfahrten.
Bei dem Treffen war eine Freundin von mir, Katja, aus Moskau dabei, die
häufig den Sommer in Monino verbringt und zu dem großen Freundeskreis um
das Kinderdorfprojekt in Moskau gehört. Sie ist auf vielen meiner Fotos zu
sehen. Bei dem Treffen saßen die SchülerInnen und ich in einem kleinen
Stuhlkreis und sahen uns die Fotos gemeinsam an und Katja und ich erzählten
Hintergründe zu den einzelnen Fotos. Katja erzählte auf Russisch, die beiden
Muttersprachlerinnen oder ich übersetzten auf Deutsch. Teilweise sprachen die
Muttersprachlerinnen auch mit Katja direkt auf Russisch. Das Treffen war sehr
persönlich und durch die Anwesenheit von Katja besonders authentisch.
Eine weitere vorbereitenden Maßnahme, die der affektiven Einstimmung
diente, war das gemeinsame szenische Lesen und Darstellen einzelner Szenen
eines russischen Theaterstücks, «Сюрприз» („Überraschung“). Dabei geht
es um einen deutschen Studenten, Hans, der als Überraschungsgast nach
Moskau fliegt und bei fremden Leuten einfach vor der Tür steht. Wegen der
berühmten russischen Gastfreundschaft, ‚muss’ das russische Ehepaar Hans
21
natürlich aufnehmen. Später macht er noch die Bekanntschaft des Sohnes und
seiner Freunde und feiert mit ihnen im Studentenheim (mit Bier und dem
obligatorischen Vodka).39 Von der Suche nach dem Taxistand auf dem
Flughafen bis zur richtigen Wohnungstür im Hochhaus passieren Hans einige
‚interkulturelle Situationen’, d.h. Situationen, in denen interkulturelle
Unterschiede vorliegen, die für Hans ungewohnt sind oder die zu
Missverständnissen führen.40
In dem Theaterstück sind einige charakteristische russisch - deutsche
Unterschiede, wie ich finde, sehr gelungen verarbeitet, denen man sich so auf
spielerische Weise nähern kann. Abgesehen vom szenischen Lesen, haben die
SchülerInnen die Szene des Klingelns an der Wohnungstür abgewandelt und in
drei Gruppen eigene Szenen geschrieben und vorgespielt, die sehr originell
und lustig waren. Sie hatten augenscheinlich sehr viel Spaß beim Erarbeiten
und Darstellen.
In der Klassenarbeit wurde neben dem Résumé des Theaterstücks auch eine
kleine Reflexion verlangt über die Szene im Taxi. Sie SchülerInnen sollten (auf
Russisch) versuchen, die Unterschiede zwischen russischen und deutschen
Vätern zu erklären in Bezug darauf, ob ein Auto geschenkt oder selbst verdient
werden sollte. Da die inhaltliche Anforderung relativ hoch war für die eher
geringeren Russischkenntnisse der meisten SchülerInnen, fielen die Antworten
sehr knapp aus. Interessant war allerdings, dass ich einen Unterschied in den
Antworten der Muttersprachlerinnen zu den anderen SchülerInnen ablesen
konnte. Sie betonten nämlich, dass russische Väter so ihre Großzügigkeit
zeigen. Die ausschließlich deutsch sozialisierten SchülerInnen hingegen hoben
Klett Verlag (1997): »Сюрприз» („Surprise, Überraschung“), «Книга для чтения», Полина
Роскошная („Lesebuch“, Polina Roskoschnaja).
40
So begrüßt Hans etwa den Taxifahrer erst mal höflich und fragt, wie es ihm geht,
wohingegen der Fahrer gleich zur Sache kommt und wissen will, wohin Hans fahren möchte.
Auf der Fahrt sprechen sie über die Tatsache, dass in Moskau jetzt auch BMW, Mercedes und
Volvos zu sehen sind und alle russischen Jugendlichen am liebsten so ein Auto von ihrem
Vater geschenkt bekommen möchten. Hans entgegnet, dass sein Vater der Meinung ist, er
müsse sich ein Auto selbst verdienen. Bei dem russischen Ehepaar dann füllt die Frau Hans
besonders viel Essen auf den Teller und fordert ihn auf: „Iß, iß, mein Junge!“ und Hans fragt
verwundert, ob das bei den großen Mengen ein Frühstück sein soll. Die Russen fragen ihn über
seine Wohnsituation aus und sind verwundert zu erfahren, dass Hans eigenständig in einer
Wohngemeinschaft wohnt und in den Semesterferien jobben geht, um die Miete zu finanzieren.
(In Russland wohnen Studenten weiterhin mit ihren Eltern in den staatlich zugeteilten
Wohnungen, da neu gemietete Wohnungen zu teuer sind und Neuzuteilungen nur bei
Familiengründung erfolgen.) Das russische Elternpaar lobt Hans als besonders selbständigen
jungen Mann. Später unterhält Hans sich mit dem Sohn, Mischa, der ihn über das „Business“
in Deutschland ausfragt, ob er ihm nicht irgendetwas verkaufen könne, das Hans dann in
Deutschland weiterverkaufen könnte. Der erstaunte Hans versucht ihm zu erklären, dass seine
Bekannten und Freunde eigentlich alles hätten, was sie bräuchten und er ihnen deshalb nichts
verkaufen könne. Mischa kann nicht glauben, dass es Menschen gibt, die alles haben, was sie
brauchen.
39
22
das pädagogische Moment hervor, nämlich dass deutsche Väter ihre Söhne
(und Töchter) so zu mehr Selbständigkeit erziehen wollen.
Beim Lesen und Spielen der einzelnen Szenen schlossen sich manchmal
Fragen seitens der SchülerInnen und Erklärungen meinerseits an über
Unterschiede in Russland und Deutschland. Ein direkter Bezug zu unserer
Fahrt wurde nicht hergestellt, da es sich bei der Fahrt nicht um einen
Schüleraustausch mit Aufenthalt in einer Gastfamilie handelte. Eine
weiterreichende Reflexion auf der Metaeben über interkulturelle Unterschiede
zwischen Russland und Deutschland wurde von mir an dieser Stelle nicht
angestrebt, weil ich Sorge hatte vor zu festen Zuschreibungen wie: „die Russen
sind so und so, die Deutschen hingegen so und so“, da sie meiner Meinung
nach zu leicht zu klischeehaften Vorstellungen führen. Außerdem fürchtete ich
eine zu starke ‚Theoretisierung’, bevor die SchülerInnen jemals selbst in
Russland gewesen waren und gewusst hätten, wovon ich spreche. Ich wollte,
dass sie erst ihren eigenen, möglichst ‚natürlichen’ Eindruck gewännen, um
dann anhand von konkreten Erlbenissen zu reflektieren.
Hierbei handelte es sich eher um einen ‚vorbewussten Ansatz’; die
SchülerInnen haben sich quasi halb bewusst, halb unbewusst in die Thematik
„interkulturelle Missverständnisse“ eingeübt.
Eine weitere Vorbereitung, die gezielt der interkulturellen Reflexion dienen
sollte, war die Beschäftigung mit zwei Schülerinnenberichten über einen
russisch-deutschen Schüleraustausch.41Die deutsche Schülerin Nicole und die
russische Schülerin Tanja berichten jeweils von ihren Erfahrungen während
des Auslandsaufenthaltes. Zur Verdeutlichung sollen hier jeweils einige Sätze
aus den Berichten wiedergegeben werden (Übersetzung des russischen
Berichtes von mir):
Nicole
Tanja ist eingebildet, verwöhnt und desinteressiert. Bei Tisch hat sie kaum was
gegessen von dem, was wir angeboten haben. /.../ Anschließend hat sie zugeguckt, wie
ich abgeräumt und gespült habe, statt mir zu helfen. Auf unsere Vorschläge für
morgen (Zoo oder Museum) hat sie nicht reagiert. Ich scheint alles egal zu sein. Wenn
ich bedenke, was wir in Russland für ein langweiliges Pflichtprogramm vorgesetzt
bekommen haben! /.../
Таня
Николь совершенно не старается, хотя я у нее в гостях. Вместо того, чтобы
дать мне что-нибудь поесть, она меня только спрашивает, что я хочу –
откуда же я знаю, что мне понравиться? /…/ Потом целый час я сидела и
смотрела, как она моет посуду. Наверное завтра мы никуда не поедем, потому
что они ждут от меня, что я им сама предложу куда-нибудь поехать, а мы
ведь в России организовали для них отличную культурную программу. /…/
Entnommen aus dem Artikel: „Interkulturelles Lernen im Russischunterricht“ von Martin
Schneider, In: Fremdsprachenunterricht (fsu) 41/50 (1997), S.162-165.
41
23
Nicole gibt sich überhaupt keine Mühe, obwohl ich bei ihr zu Gast bin. Anstatt mir
irgendetwas zu essen zu geben, fragt sie mich immer nur, was ich denn essen möchte,
woher soll ich denn wissen, was mir schmeckt? /.../ Danach musste ich dann eine
ganze Stunde lang zusehen, wie sie abwäscht. Morgen fahren wir wahrscheinlich
nirgendwo hin, weil die hier von mir erwarten, dass ich selber vorschlage wohin,
dabei haben wir ihnen in Russland doch so ein interessantes Kulturprogramm
organisiert. /.../
Bei diesem Vorbereitungstreffen handelte es sich um einen Termin außerhalb
der Unterrichtszeit, bei dem ich eine lockere Gesprächsatmosphäre bewirken
wollte. Die SchülerInnen haben die Gegenüberstellung der (laut Autor)
authentischen Äußerungen gelesen und die Muttersprachlerinnen haben bei der
Übersetzung des russischen Berichtes geholfen. Danach sind wir tatsächlich
‚locker’ ins Gespräch gekommen, indem die SchülerInnen – durch das
inhaltliche Niveau bedingt leider fast ausschließlich auf Deutsch – sofort ihre
Reaktionen zu den gegensätzlichen Darstellungen äußerten. Besonders eine
Schülerin, Inka, ein tatkräftiges, begabtes Mädchen, das sich immer gerne und
rege am Unterricht beteiligt und manchmal auch fast vorlaut wirkt, bot mir ein
gutes Stichwort, um eine ‚interkulturelle Reflexion’ anzuknüpfen. Sie sagte
nämlich: „Also, die Tanja da, ist ja wirklich’n bisschen unselbstständig, oder?!
Wenn die noch nicht mal weiß, was sie will!“ Auf meine Aufforderung hin,
doch noch mal darüber nachzudenken, womit es zusammenhängen könnte,
dass Tanja auf sie ‚unselbstständig’ wirke, kam Inka buchstäblich ins Stottern.
Im gemeinsamen Gespräch, durch Vermutungen der Muttersprachlerinnen und
Erklärungen von mir, haben wir herausgearbeitet, dass dahinter
unterschiedliche Handlungsweisen stehen: in Russland ist es üblich, für einen
Gast alles zu machen, so abzuwaschen, dass er es am besten gar nicht
mitbekommt, Programmpunkte werden eher ‚vorgelegt’ und Speisen werden
ohne Nachfrage großzügig aufgefüllt, was aus deutscher Perspektive leicht als
aufdringlich empfunden werden kann. In Deutschland hingegen hält man es für
‚demokratischer’, wenn man verschiedene Möglichkeiten anbietet und zur
Wahl lässt, was aus russischer Perspektive leicht als zurückhaltend, unsicher
bzw. halbherzig interpretiert werden kann. In Deutschland ist es üblich, dass
ein Gast beim Abräumen und Abspülen hilft, in Russland darf das ein Gast auf
keinen Fall.
Dieses ‚lockere’ ca. halbstündige Gespräch mit den SchülerInnen ist, besonders
durch Inkas Einwurf, meines Erachtens ‚geglückt’: erste Ansätze zu einer
interkulturellen Reflexion haben hier stattgefunden. Auf meine Frage hin, wie
man denn solchen interkulturellen Missverständnissen entgegenwirken könne,
sagten mehrere SchülerInnen, dass man darüber eben ins Gespräch kommen
24
müsse, dass man versuchen müsse, solche Punkte zu erkennen und zu klären.
Das war ein gutes Ergebnis dieser ersten Reflexion.
Bei der konkreten Programmplanung für Moskau wurden die SchülerInnen
einbezogen: sie sollten jeweils auf Zettel schreiben, was sie in Moskau gerne
machen würden. Einige nannten Sehenswürdigkeiten, vor allem den Kreml und
Roten Platz, viele schrieben aber auch, dass sie kein „durchgeplantes, straffes
Programm“, „nicht die ganzen Kirchen ablatschen“ und „nicht den ganzen
Tag in Museen gehen“ wollten, dass sie „einen allgemeinen Stadteindruck“
und „selbstständige Erforschung Moskaus“ und „abends ausgehen, Bars,
Discos“ wollten. Diese Wünsche trafen sich gut mit meinen Vorstellungen und
bestärkten mich in meiner Planung mit der Stadtrallye mit den russischen
Jugendlichen, dem Kneipenbesuch und den größeren Freiräumen zur
eigenständigen Gestaltung.
Zur Dokumentation der Reise wurde ein gemeinsames Reisetagebuch
verabredet und fast alle SchülerInnen wollten Fotoapparate mitnehmen, ein
Schüler, Julian, sogar eine Videokamera.
5.
5.1.
DARSTELLUNG UND ANALYSE
Tabellarischer Überblick der durchgeführten Reise
Datum
Unternehmung
17.Juni 02
Abfahrt mit dem Zug Berlin/Lichtenberg - Moskau
18.Juni 02
Spät abends Ankunft in Moskau; Zugfahrkarten nach Monino
kaufen, mit der Metro in die Schule zur Übernachtung (Kakerlaken)
Ausschlafen, Frühstück in der Schule, um 12 h Treffen mit vier
russischen Jugendlichen, Lera, Mitja, Jegor, Sonja, im Zentrum
zum Stadtspaziergang; abends gemeinsamer Kneipenbesuch und
Spaziergang durchs nächtliche Moskau; mit der letzten Metro (ca.
1.00h) zur Schule
Weitere Stadterkundungen, versuchter Kremlbesuch (geschlossen),
einige S sind allein gebummelt, andere mit mir und russ. Freundin in
den Gorkipark gegangen; um 17h zurück zur Schule, Sachen packen,
abends Abfahrt Nachtzug nach Monino mit Igor
Früh morgens Ankunft Bahnstation, Abholservice mit zwei Autos
Fahrt nach Monino; auf dem Weg: echte russ. Lebensmittel in einem
echt russ. Dorfladen einkaufen; in Monino: Zelte aufbauen, sich
einrichten, Feuerkochstelle bereiten, Kochen, Einleben, Schlafen, im
See baden, über die vielen Insekten beschweren etc.
Erster Arbeitstag: zum großen Protest der Schüler: gemeinsames
Unkraut jäten bevor der Regen kommt; Kochen, Kartenspielen,
Lagerfeuer und gemeinsames Singen mit Gitarre mit den Russen,
Tee und Torte am Lagerfeuer, da Maikl Geburtstag hatte, bis tief in
die Nacht, die gar nicht ganz dunkel wurde (Weiße Nächte...)
Da Sonntag war, abgesehen von Kochdiensten, freier Tag mit Beeren
sammeln, See baden, Fußballspielen etc.
19.Juni 02
20.Juni 02
21.Juni 02
22.Juni 02
23.Juni 02
25
24.Juni 02
25.Juni 02
26.Juni 02
27.Juni 02
28.Juni 02
29.Juni 02
30.Juni 02
1.Juli 02
2.Juli 02
Arbeit in zwei Gruppen: Bäume fällen im Wald mit zwei Russen
und Zaun f. Kuh- und Pferdekoppel abreißen und neu bauen mit mir;
Kochdienste von Annuschka in die Hand genommen
Zaunbau, durch Regen teilweise unterbrochen; Fahrt nach
Andrejapol: Lebensmittel einkaufen
Zaunbau, Banjatag, die ersten SchülerInnen werden krank...; 18h
„Reflexionstreffen“, abends: Dorfdisko
Zaunbau, teilweise mit Kirjuscha, Eintreffen von Sonja (eine der
vier Jugendlichen vom Moskauer Stadtspaziergang), Nachmittags:
große „Hochzeit“ von zwei SchülerInnen; abends: weitere
SchülerInnen krank
Zaunbau, die gesunden SchülerInnen gewöhnen sich endlich an die
Arbeit, weitere werden krank; Mittags um 12h weiteres
„Reflexionstreffen“ mit Sonja, abends: Lagerfeuer bis tief in die
helle Nacht mit Russen und Deutschen.
Der letzte Tag verschwamm im Dauerregen: Zelte einpacken,
Fußballfeld wieder abbauen etc. Abfahrt mit den zwei Autos über
sehr rutschige und matschige Sandwege... Zugfahrt nach Moskau
Früh: Ankunft Moskau, Fahrt zur Schule, Duschen und Schlafen;
Mittags ins Zentrum: Kremlbesuch und/ oder „McDoof“
(McDonalds); WM Finale auf dem Roten Platz, gemeinsamer
Bummel mit Sonja, Lera und Mitja über den Arbat, abends
wieder Kneipenbesuch; alle ziemlich müde...
Morgens um 10h: Abfahrt Zug Moskau – Berlin/ Lichtenberg;
Auf der Zugfahrt: Verbesserungsvorschläge der SchülerInnen
eingeholt
Pünktliche, heile Ankunft Berlin/ Lichtenberg um 11h47, Begrüßung
durch einige Eltern und MitschülerInnen (der Italiengruppe).
5.2.
Analyse ausgewählter Situationen
Nach der Durchführung der Reise erweisen sich die zwölf Stufen des
interkulturellen Lernens von NICKLAS für die Analyse einzelner Situationen
als geeignet. So erfolgt die Darstellung und Analyse der relevanten Situationen
anhand von fünf der zwölf Stufen. Die Auswahl der fünf Teilfähigkeiten von
interkultureller Kompetenz richtet sich dabei nach den auf der Reise
ansatzweise entwickelten Fähigkeiten.
Die Reihenfolge der einzelnen Fähigkeiten bedeutet eine stufenweise Zunahme
an Handlungsorientiertheit, d.h. die Eigenaktivität der SchülerInnen wächst
von Stufe zu Stufe.
In der Nachbereitung haben die SchülerInnen Erlebnisberichte verfasst42, in
denen sie einige der hier dargestellten Situationen ihrerseits beschreiben. Zur
Die Aufgabe lautete: „Schreibt einen Erlebnisbericht über eine bestimmte Situation oder ein
Erlebnis der Reise. Das darf ruhig emotional sein und ihr könnt das auch z.B. als fiktiven Brief
aus Monino an eine Freundin/ einen Freund schreiben.“ Die Aufgabe war bewusst so locker
und weit gestellt, damit die SchülerInnen möglichst frei und authentisch aus ihrer Perspektive
schreiben. Die Ergebnisse sind tatsächlich sehr individuell, teils sehr persönlich, teils mit
ironischen Übertreibungen. Alle haben zu meiner großen Freude über unterschiedliche
Situationen geschrieben. (Einige haben sich wohl auch abgesprochen, welche Situationen
schon beschrieben wurden und welche noch fehlen).
42
26
Illustration der Schülerperspektive werden teilweise Berichte zu den jeweiligen
Situationen zitiert (jeweils kursiv als Schülerbericht gekennzeichnet).
5.2.1. „Offenheit für das andere, das Fremde, das Ungewohnte“
Der erste Kontakt mit russischer Realität begann direkt im Zug, da das gesamte
Zugpersonal russisch war. In russischen Zügen ist es üblich, dass jeder Wagon
seine/n eigene/n SchaffnerIn bzw. ZugbegleiterIn hat (oder zwei), die sich in
der kleinen Küche an einem Ende des Wagons aufhalten, wo man sich jeder
Zeit „Kipitok“ (kochend heißes Wasser), Tee, Kaffee, das Bettzeug etc.
abholen gehen kann. Der eine unserer beiden Schaffner, Mischa, war schon
bei Reisebeginn stockbetrunken. Als die wegen der großen Hitze leicht
bekleidete Inka im Gang an ihm vorbeigehen wollte, hat er sie angegrabscht,
was Inka mir dann im Abteil sehr aufgeregt und auch leicht verstört erzählte.
Hier bestand also der erste ‚Vermittlungsbedarf’ an mich. Ich erklärte ihr, dass
der Schaffner sehr besoffen sei, russische Frauen im Zug eher nicht so wenig
bekleidet herumlaufen würden und dass man sich irgendwie selbstbewusst zur
Wehr setzten, den Schaffner deutlich in seine Grenzen weisen müsse. Als ich
dann ebenfalls an dem rotnasigen Mischa im Gang vorbei gehen wollte und er
keine Anstalten unternahm, den Weg frei zu machen, forderte ich ihn relativ
barsch auf Russisch auf, in sein Abteil zur Seite zu treten. Das hatte dann
gesessen, Inka hat sich schnell wieder beruhigt und ist wieder selbstbewusster
im Umgang mit ihm geworden. Das war keine sehr schöne erste
Kontaktsituation mit einem Russen, doch der ‚Konflikt’ konnte recht leicht und
schnell wieder gelöst werden.43
Ferner war im Zug zu bemerken, wie die SchülerInnen sich zunehmend
trauten, mit dem Schaffner russisch zu kommunizieren, also sprachlich auf ihn
zuzugehen. So fragten sie mich oder die Muttersprachlerinnen immer wieder,
wie man den auf Russisch nach „Noch etwas Wasser/ Tee/ Kaffee bitte“ etc.
fragt. Allmählich trauten sich immer mehr SchülerInnen immer längere Sätze
zu. Es war schön zu beobachten, wie bereits im Zug die ersten Hemmschwellen
überwunden wurden, sich mit „echten Russen“ zu verständigen.
Die zunehmende „Offenheit für das andere, das Fremde, das Ungewohnte“ war
im Zug deutlich zu beobachten.
5.2.2. „Das andere als anders zu akzeptieren“
Hierbei hat es sich zwar um eine „deutsch-russische Situation“ gehandelt, aber der
Unterschied ‚älterer Mann – junges Mädchen’ hat hier natürlich eine mindestens genauso große
Rolle gespielt. Aber Inka hat den Schaffner sicher vor allem als ‚besoffenen Russen’
wahrgenommen.
43
27
Eine Schülerin, Zsofie, die schon drei Wochen früher an dem Schüleraustausch
mit Wolgograd teilgenommen hatte und also schon Erfahrung hatte mit den
russischen Zügen, regte ich über die Staubigkeit der Bettbezüge auf. Darauf
erwiderte Katja, eine der beiden Muttersprachlerinnen: „Wieso, das sind ganz
normale russische Betten. Ich bin hier in den Zügen schon so oft gefahren, das
ist immer so!“ Diese Situation habe ich nur still beobachtet und nichts dazu
gesagt und mich innerlich über Katjas Antwort gefreut. Denn darin zeigte sich,
dass Katja eine andere Realität als weitere Normalität auffasste, worauf sie
Zsofie auf ganz natürliche Art aufmerksam machte, ohne dass Zsofie das als
Bevormundung auffassen musste.
Schon an dieser kleinen Situation kann man ablesen, dass Katja hier
„interkulturell kompetenter“ war als Zsofie, wahrscheinlich bedingt durch
Katjas ‚bi-kulturelle’ Sozialisation zwischen Russland und Deutschland. Zsofie
blieb nichts anderes übrig, als das andere als solches zu akzeptieren.
Bei unserer nächtlichen Ankunft in der Schule in Moskau mussten wir die
Direktorin, die in der Schule wohnt und schlief, wach klopfen, damit sie uns in
die verschlossene Schule einlässt (in Russland geht das Schuljahr nur bis Mai).
Nach der langen Zugfahrt wollte die Jugend natürlich unbedingt vor dem
Schlafen in der Turnhalle noch duschen. Hier fand der erste Kulturschock statt:
die aus deutscher Sicht sehr brüchigen, improvisiert wirkenden, über die
verschiedenen Flure in kleinen Kammern verteilt liegenden Duschen waren
bevölkert von den in fast allen Moskauer Haushalten vorhandenen
Kakerlaken. Die Ausrufe bei deren Anblick, insbesondere der Schülerinnen,
kann man sich vorstellen. Ich erklärte und vermittelte, indem ich sagte, dass
das in Moskau eben normal sei, dass es „nicht so schlimm“ sei, die Kakerlaken
einem auch nichts antun würden und dass die SchülerInnen da jetzt eben
„durch müssten“. Ob meine Erklärung überzeugte oder der Wunsch, sich zu
duschen überwiegte, letztendlich haben alle SchülerInnen geduscht und sich
über die Teilnahme der Insekten dabei dann nicht weiter beschwert. Am Ende
der Reise, wo wir nochmals in der Schule übernachteten, sagten einige
SchülerInnen sogar, dass sie die Schule sehr schön gefunden hätten (sie ist
etwas ‚alternativ ausgerichtet’, d.h. es gibt viel handwerklich-künstlerischen
Unterrichten, dessen Ergebnisse über all im Gebäude zu betrachten waren und
die Schule liegt in einem alten Haus und hat einen schönen großen Neuanbau,
es war also kein typisch sowjetischer Plattenbau). Auf meine Nachfrage hin
nach den Kakerlaken, sagten mehrere Schülerinnen nur, dass sie das nicht
(mehr) so schlimm gefunden hätten.
28
An dieser Situation kann man sehen, dass die SchülerInnen hier erste
Fremdheitsgefühle überwunden und die andere, russische Realität als andere
Normalität akzeptiert haben.
5.2.3. „Die Fähigkeit zu experimentierendem Verhalten“44
Nach einigen Tagen des Lebens in Monino wurde bekannt, dass die
SchülerInnen vorhatten, „eine Hochzeit“ zu feiern. Es handelte sich hierbei um
eine Idee, die von den SchülerInnen ausging. Um aufzuzeigen, wie aus dem
ursprünglichen Spiel ein wahrhaft ‚interkulturelles Happening’ wurde, folgen
längere Ausschnitte aus dem Erlebnisbericht von Kevin: 45
Die Hochzeit
Vorwort: Im Nachhinein kann man eigentlich mehr oder weniger behaupten, dass dies
doch eine sehr kindische Idee war und man von Jugendlichen im Alter von 16-17
Jahren etwas mehr Ernsthaftigkeit erwartet. Aber na ja, was passiert ist, ist halt
einfach mal passiert. (...)
Story: Es begann alles mit dem Mittagessen, als wir schon längere Zeit in Monino
waren. Wir saßen alle bei Tisch und haben genüsslich gespeist. Nachdem ich mit
meinem Mittag fertig war, stießen die einheimischen Dorfbewohner zu uns an den
Tisch, um sich ihre Portion abzuholen. Neben mir auf der Bank war noch frei und eine
Frau, der Name von ihr ist mir leider entfallen, saß plötzlich neben mir (so schnell
konnte ich gar nicht gucken). Nach kurzer Zeit wurde auch schon ihr Essen von
unseren freiwilligen Küchen- und Essensausgabeleuten rüber gereicht.
Diese Frau hatte ein süßes Baby auf ihrem Schoss (ihr eigenes, nehme ich an). Sie
war damit beschäftigt die heiße Suppe langsam kühl zu pusten, damit es auch das
Baby essen konnte ohne sich den Mund zu verbrennen. Als das Baby gesättigt war
versuchte die Frau nun selbst etwas zu essen, doch ihr Kind zappelte so sehr, dass sie
keine Ruhe mehr hatte. Sie hatte schon bemerkt, dass ich die beiden eine Weile
beobachtet hatte und drehte sich plötzlich in meine Richtung, drückte mir ihr Baby in
den Schoss und wandte sich ohne einen weiteren Blick ihrem Essen zu. Ich fand das
einfach toll, da ich kleine Kinder (aber auch nur auf bestimmte Zeit) recht gut leiden
konnte. Da ich schon eine Menge Erfahrung mit Kleinkindern hatte, begann ich mit
ihm zu spielen und schnitt lustige Grimassen. Es gefiel ihm und er lächelte.
Die ganze Zeit aber drehte ich mich vom Tisch weg und hoffte bloß, dass mich
niemand sah, wie ich mich wie eine „Mutter“ mit ihm beschäftigte. Aber daraus
wurde leider nichts. Mein Freund Philipp „Aua“ Heyder fing plötzlich an
rumzubrüllen: „Boah! Kevin? Wie bist du denn plötzlich Vater geworden? Was für ein
süßes Paar? Süüüß!“ Tja, und das war’s dann wohl mit dem Geheimnis, denn nun
wusste auch der Rest am Tisch bescheid.(...)
(Jemand nahm Kevin das Kind wieder ab und Zsofie tröstete ihn wohl mit den
Worten, dass sie ja auch bald ein Kind bekommen würden. sic.)
NICKLAS (S.44) zur Erläuterung der Fähigkeit: „Wir wollen immer Rezepte, genau
festgelegte Regeln. Nur dann fühlen wir uns sicher. Neue Erfahrungen sind aber nur möglich,
wenn wir uns experimentierend dem anderen nähern.“
45
Außerdem lässt sich an diesem Bericht gut ablesen, wie der Kontakt zu einer Russin
entstanden ist.
44
29
Natürlich zog dieses Benehmen die Aufmerksamkeit der Gruppe manchmal auf sich
und man hörte doch des öfteren mal: „Na wann ist denn die Hochzeit?“ und „Wollt
ihr nicht noch heiraten?“(...)
Nun verbreitete sich die Nachricht im ganzen Dorf und mir kam zu Ohren, dass sich
die Nachricht auf Dörfer hier im Umkreis verbreitet haben soll. Die Vorbereitungen
begannen, aber ich will noch erwähnen, es war ein hin und her.(...)
Janek und Maik bastelten den Altar, Maik bereitete sich zudem als Pfarrer vor mit
einer grünen Decke als Umhang und das Gummiband der Isomatte als ziemlich
unglaubwürdiger Heiligenschein. Julian checkte seine Kamera, Katja und Janine
waren die Blumenmädchen. Matthias bereitete sich auf seinen Auftritt als Trauzeuge
vor und Svetlana ebenfalls für ihren Teil als Begleiterin der Braut. Ich wurde von
Frau Ahrens mit einem alten Jackett, von Hacki mit einem weißen T-Shirt ausgestattet.
Dazu trug ich noch eine schwarze lapprige Jogginghose und meine üblichen
Turnschuhe. Tja, so bin ich! Ich war ziemlich aufgeregt, denn es waren viele da, vor
denen ich mich kräftig hätte blamieren können. Dann wollte Frau Ahrens wissen, ob
ich so etwas besitze wie „Ringe“. Häää? „Oh Scheiße, dass habe ich voll vergessen,
ich wollte noch welche basteln, nun ist es aber zu spät!“ sagte ich. Doch Frau Ahrens
wusste Rat und wir gingen in den Werkzeugraum. Dort durchsuchte sie die
Schubladen, schließlich fand sie nach einiger Zeit einen Dichtungsring und ich
probierte ihn an. (...)
Nun ja, nach einigem Überlegen und Diskutieren kamen wir auf den Entschluss, dass
es einfach mal süßer wäre, wenn ein kleines Mädchen mir die Ringe auf einem Teller
(alt russische Tradition) übergeben würde. Ich begab mich auf unser Fußballfeld, wo
der Altar aufgebaut war und ein Radio für die Heiratsmusik stand. Annuschka brachte
mir noch schnell eine braune Krawatte und sagte ihrer kleinen Tochter bescheid, mir
später die Ringe zu übergeben.
Nach ein paar (nicht unbedingt wenige, so kam’s mir vor) Minuten hatten sich alle
versammelt und es konnte beginnen. Ich durfte natürlich nicht gucken, wie Zsofie auf
dem Pferd angeritten kam, aber ich kann es mir sehr graziös bei Zsofie vorstellen.
Schließlich hatte jeder seine Position eingenommen und Zsofie stand neben mir. Sie
hatte sogar einen alten, weißen, von Motten zerfressenen Schleier (ich nehme an, dass
das mal eine Gardine war) an, aber sie sah wunderschön aus.(...)
Dann kam die Stelle, wo das kleine Mädchen kommen sollte, doch ich musste leider
selbst gehen, denn das Mädchen verstand ja kein Deutsch und wusste noch nicht, dass
es schon so weit war.(...)
Nun war es soweit, der Punkt vor dem ich mehr oder weniger (eigentlich mehr bzw.
ganz schön) Schiss hatte. Der Kuss! (...)
Nun drehten wir uns um und gingen unter Applaus und Beschuss mit Reis zur
„Mensa“ hinunter. Wo uns gratuliert wurde und Fotos von uns gemacht wurden. Jetzt
holten die nette Frau Ahrens und Annuschka den Sekt raus, womit wir diesen Tag
anstießen und Maik und Janek holten den Hochzeitskuchen (Hochzeitstorte), der aus
Eierkuchen und Heidelbeersoße bestand.(...)
Aus dem Bericht geht hervor, wie aus einer spielerischen Idee fast ‚Ernst’
wurde. Man muss dazu sagen, dass Kevin und Zsofie kein Pärchen waren oder
sind. Die Idee ging von den SchülerInnen aus und wuchs über mehrere Tage.
Dabei beflügelte das ‚Spiel’ nicht nur zunehmend die Phantasie der
SchülerInnen, sondern auch die RussInnen in Monino gingen mehr und mehr
auf das Spiel ein und entwickelten ihrerseits weitere Ideen, was man dem Fest
alles noch hinzufügen könnte. So kam es zu der Idee, dass die Braut auf einem
Pferd herangeritten kommen müsse, und Marina, eine der Betreuten aus
Monino, bereitete das Pferd vor. Annuschka improvisierte den Schleier aus
30
ihrem Moskitonetz und mehrere russische Mädchen pflückten Blumen auf den
umliegenden Feldern und flochten aufwendige Blumengirlanden, womit der
‚Altar’ (das Tor des Fußballfeldes) geschmückt wurde. Annuschka besorgte die
‚Hochzeitsmusik’, Igor besorgte den ‚Sovejtskoe Schampanskoe’, die kleinen
Mädchen zogen ihre schönsten Kleider an und waren ganz aufgeregt und
jemand sagte auch den Bewohnern der Häuser am Rande von Monino
bescheid. So kamen tatsächlich fast alle RussInnen, die man sonst nie alle auf
einmal zu Gesicht bekommen hat, aus ihren Häusern heraus und versammelten
sich alle zu diesem merkwürdigen Happening auf dem Feld. Wobei meines
Eindruck nach gerade eine gewisse Spannung darin lag, das man nicht so
genau wusste, ob ‚die Hochzeit’ nun ernst oder nur ein Spiel sei. Insbesondere
die meist orthodoxen RussInnen schienen zunächst verunsichert, was sie von
dieser komischen Inszenierung halten sollten, aber schließlich sind sie alle mit
auf dieses Spiel eingestiegen.
Ohne so recht zu wissen, was sie da eigentlich machen, haben die SchülerInnen
hier durch ihr intuitives experimentierendes Verhalten ein interkulturelles
Ereignis kreiert, das eine integrative Wirkung hatte, von den deutschen
SchülerInnen mit den RussInnen, aber sogar auch von den Moninoern
untereinander (da sie sonst nur bei größeren, ‚echten’ Festen alle
zusammenkommen). Hier hat eine spielerische Annäherung zwischen den
SchülerInnen und den Moninoern stattgefunden, die ganz von den
SchülerInnen ausging.
5.2.4. „Angstfreiheit vor dem Fremden“
Beim Einstieg in diesen ‚sehr russischen’ Zug fand der zweite große
Kulturschock statt: bei den russischen Zügen, die zwischen Moskau und
Monino (bzw. „Zapadnaja Dvina“, die Station in der Nähe von Monino)
verkehren, handelte es sich um „platzkartnye Wagony“. Das sind Züge, in
denen der Wagon nicht durch geschlossene Abteile unterteilt ist, sondern alle
„Abteile“ mit je sechs Liegepritschen offen sind, wie ein
„Großraumliegewagen“. Durch die jahreszeitliche Hitze und die relative Enge
und Fülle der Züge, sind intensive menschliche Gerüche charakteristisch. Bei
den Fahrgästen handelt es sich vor allem um die russische Landbevölkerung,
die zwischen den kleinen dörflichen Ortschaften reist oder die in Moskau zu
Besuch war und nun wieder nach Hause kehrt.
Unsere Zugfahrkarten hatten wir nicht zusammenhängend kaufen können,
sondern wir waren auf zwei Wagons verteilt, der uns begleitende Russe (ein
Freund von mir), Igor, war mit einer Schülergruppe in einem, ich in einem
anderen Wagon, damit wir für Probleme, Vermittlung, Hilfe zur Verfügung
31
stünden. Jeweils in den Wagons waren wir auch über verschiedene „Abteile“
verteilt, so dass immer 2-3 SchülerInnen mit RussInnen gemischt saßen.
Intuitiv ging ich, nachdem der Zug angefahren war, durch den ganzen Wagon
und sprach mit den RussInnen und SchülerInnen (russisch und deutsch) der
einzelnen „Abteile“ und sorgte dafür, dass alle Rucksäcke unter den Bänken
verstaut würden, Bettverteilungsfragen geklärt würden, erzählte den
RussInnen, wann wir (nämlich früh morgens) aussteigen müssten, damit wir
die richtige Haltestelle nicht verpassten, man klärte, wer früher, wer später
aussteigen müsste, ich sagte den RussInnen, dass die SchülerInnen „sehr gut“
Russisch sprächen und sie ruhig mit ihnen sprechen könnten etc.
Erst hinterher wurde mir klar, dass ich dadurch instinktiv die ersten
Berührungsängste auf beiden Seiten etwas zerstreuen konnte und sich
tatsächlich zwischen einigen Gespräche ergeben haben. Denn nachts kamen
immer wieder SchülerInnen zu meinem „Abteil“ (an meine Liege) und
erzählten mir ganz aufgeregt: „Frau Ahrens, da hinten redet jetzt schon das
ganze Abteil miteinander! und wir verstehen uns sogar irgendwie, auf
Russisch, auf Deutsch, auf Englisch!“ Ein anderer Schüler, Kevin, ein zunächst
eher still und zurückhaltend wirkender, netter junger Mann, erzählte mir später
in der Nacht:
„Frau Ahrens, wissen Sie was, ich hab mich da gerade mit einem Russen
unterhalten, und der kannte mein Lieblingscomputerspiel! Das kennt in
Deutschland sonst kaum einer, das war auch sein Lieblingsspiel!“
Worauf ich sagte:
„Da kann man mal sehen, da denkt man doch als Deutscher immer eher, dass
die Leute in Russland rückständiger seien, und hier kann man sehen, dass die
sich in Computer und Internet Sachen sehr gut auskennen, besser als viele
Deutsche. Mich hat früher auch immer erstaunt, dass meine russischen
Freunde genau die gleiche Musik hören wie ich, dass sie neue Musik genauso
schnell wie wir kennen lernen...! Ich habe den Eindruck, dass meine russischen
Freunde das Internet viel mehr nutzen und sich besser auskennen, als meine
deutschen Freunde. Vielleicht hängt das ja damit zusammen, dass das Internet,
nach der langen Zensur zu Sowjetzeiten, als Informationsbeschaffung aus aller
Welt mit uneingeschränkten Möglichkeiten für Russen besonders reizvoll
ist...?“
Kevin ging dann wieder in sein „Abteil“ zurück und unterhielt sich weiter mit
dem Russen.
Kevin hat hier die interkulturelle Erfahrung von grenzüberschreitenden
Gemeinsamkeiten gemacht, worauf ich ihn nur indirekt aufmerksam gemacht
habe. Ich habe ihm eine Verarbeitungshilfe angeboten, das Überraschende auf
eine Weise einzuordnen, die offenbar funktioniert hat, da er danach
‚zufrieden’ wieder in sein „Abteil“ zurück ging. Die Tatsache, dass er
offensichtlich das Bedürfnis hatte, mir (oder jemandem) das neu Erfahrene
mitzuteilen, spricht dafür, dass es ihn überrascht oder bewegt hat, da er das
32
u.U. von einem Russen (in dem Zug) nicht erwartet hätte. Da es sich um sein
Lieblingsspiel handelte, dass wohl auch kaum jemand der MitschülerInnen
kennt, handelte es sich hier um eine individuelle interkulturelle Erfahrung, die
vielleicht ‚irgendetwas’ in Kevins persönlicher Weiterentwicklung bewirkt.
Für die Aufarbeitung persönlich bewegender Erlebnisse ist es wichtig, dass die
SchülerInnen die Begleitung auch als Anlaufstelle wahrnehmen und sich
trauen, sich an sie zu wenden, sich mitzuteilen. Meines Eindrucks nach ist mir
das recht gut gelungen. (Zur besonderen Rolle der Vermittlungsarbeit: siehe
späteres Kapitel)
Der Erlebnisbericht von Katja, der einen Muttersprachlerin, handelt von der
Rückfahrt Monino - Moskau in dem gleichen Zug. Sie und Svetlana, die
zweite Muttersprachlerin, haben sich hier „deutsch gestellt“, damit die anderen
MitschülerInnen im Gespräch mit den RussInnen auch einmal zum Zuge
kommen.
Erlebnisbericht Katja:
Liebe Anna,
ich möchte dir von einer der lustigen Begebenheiten berichten, die sich auf der
diesjährigen Klassenfahrt nach Moskau - Monino begeben haben. Wie so oft haben
wir mal wieder eine Zugbekanntschaft gemacht und zwar auf der Rückfahrt von
Monino nach Moskau. Da versammelte sch nun die Hälfte von uns in einem „Abteil“
(es gab nicht wirklich Abteile im Zug; es waren eher Wagonabschnitte ohne Türen)
und lernten 2 ca. 20jährige Russen kennen. Jedenfalls war Zsofie schon in einem
Gespräch mit ihnen (mehr oder weniger), da kamen Sveta und ich dazu. Um die
Sprache zu üben bat Zsofie uns, nicht den Übersetzer zu spielen. Somit hielten wir
„Muttersprachler“ uns zurück, bis wir auf die Idee kamen Nicht-Muttersprachler zu
werden. So versuchten wir uns eben in gebrochenem Russisch zu verständigen, was
sehr amüsant war, da wir uns sehr das Lachen verkneifen mussten und die Jungen
bzw. Männer nichts mitbekamen. Mittlerweile waren es schon 4, von denen mir die
anderen beiden Moldawisch beibrachten. Diese begrüßten mich am nächsten Morgen
auch schon wieder fröhlich mit einer Fahne. Wie auch immer wollten sie dann unsere
Pässe sehen, da dachte ich schon, na ja jetzt müssen sie ja merken, dass ich
wenigstens russische Abstammung habe, wegen dem Namen und Vatersnamen. Doch
nein – sie fragten mich ob ich Polin bin! Ich erklärte ihnen dann, dass meine Mutter
Russin ist (was ja stimmt), ich da aber nie gelebt habe (was auch stimmt) und deshalb
kein Russisch kann. Gesagt – geglaubt. So ging das dann weiter, bis wir zu müde
waren und keine Lust mehr hatten. Von unserem anfänglichen Vorhaben, sie am Ende
aufzuklären, ließen wir dann auch ab und gingen schlafen.
Auf der Rückfahrt waren die Mitreisenden im Zug offenbar gar nicht mehr
fremd. Berührungsängste schienen gar nicht mehr zur Diskussion zu stehen,
sondern Katja, Zsofie und Sveta haben sich sogar ein kleines ‚Spiel’ mit den
Russen erlaubt, die natürlich ihrerseits sehr kontaktfreudig waren in dieser
Situation, insbesondere bei so hübschen jungen ‚deutschen’ Mädchen.
Ich hielt mich dabei am anderen Ende des Wagons auf und bin nur selten an
dem „Abteil“ der Gesprächsrunde vorbeigelaufen (um Teewasser o.ä. zu
33
holen). Ich hielt mich bewusst zurück und ließ sich die Schülerinnen allein
bewähren, was auch sehr gut geklappt hat.
Auf der Rückfahrt Monino - Moskau habe ich den ersten Kontakt zwischen
SchülerInnen und RussInnen nicht mehr – wie auf der Hinfahrt – vermittelt,
sondern die SchülerInnen sind selbstständig mit den Mitreisenden in Kontakt
getreten. Im Vergleich von Hin- und Rückfahrt von und nach Monino hat sich
deutlich mehr „Angstfreiheit vor dem Fremden“ eingestellt.
Ein weiteres Beispiel für die Überwindung von Berührungsangst mit
‚Fremdem’ wird von Inka in ihrem Erlebnisbericht geschildert. Hier zeigt sich,
dass das Gefühl von ‚Fremdheit’ nicht nur durch einen anderen kulturellen und
sprachlichen Hintergrund bedingt sein kann, sondern auch durch eine andere
physische und psychische Verfassung. Ilka schildert hier, wie sie sich dem
autistischen, taubstummen Kirjuscha genähert hat.
Erlebnisbericht Inka:
Grüße aus Monino!
Na meine Liebe, ich kann dir gar nicht von allem berichten, was ich hier erlebe. Aber
gestern hatte ich ein wirklich einprägendes Erlebnis. Es gibt im Dorf doch
verschiedene Behinderte. Der auffälligste unter ihnen ist Kirjuscha. Er ist autistisch,
taub und kann kaum sehen, weswegen er eine sehr klobige Brille tragen muss. Er war
mir immer ein wenig unheimlich, weil er dir beim Kochen ständig über die Schulter
schaut und auch nicht gerade vertrauenserweckend aussieht. Na jedenfalls war ich
gestern mit Tobias Holz holen und da fand ich doch tatsächlich seine Brille, die er seit
ein paar Tagen vermisste. Wir haben ihn dann gleich aufgesucht und sie ihm gegeben.
Er hat sich so gefreut und in diesem Moment war er mir gar nicht mehr so unheimlich.
Annuschka meinte, dass er mir als Dank auf ewig treu sein wird.
Als wir am selben Tag wieder an unserem Zaun arbeiteten, kam Kirjuscha auch dazu
und wollte helfen. Ich war gerade dabei, Bretter zu zersägen und brauchte jemanden,
der das Brett festhält. Da von unseren Herren der Schöpfung keine Hilfe zu erwarten
war, dachte ich mir, dass Kirjuscha solche Arbeit sicher auch hinbekommt. Doch wie
zeigt man einem tauben Menschen, was er tun soll? Frau Ahrens hat uns erklärt, dass
man ihm einfach auf die Schulter tippen kann und ihm vormachen muss, wie er einem
helfen kann. Das tat ich dann auch und war ganz stolz wie er sofort begriffen und
umgesetzt hat. Von da an war er mein „kleiner Helfer“: er hat die Bretter gehalten,
sie durchgebrochen, zusammen mit mir zersägt und das Holz anschließend zur
Feuerstelle gebracht.
Ich hätte nie gedacht, dass er so schnell begreift, so hilfreich sein kann und ihm die
Arbeiten auch noch solchen Spaß machen. Ich habe ihm dann Süßigkeiten geschenkt
und er ist quietschvergnügt gegangen. Mir ist dann erst aufgefallen, dass er im Dorf
eine große Hilfe darstellt. Beim Kochen hilft er zuzubereiten, er hilft bei Bauarbeiten
am Haus, bringt den Müll weg, holt ständig frisches Wasser und kann auch sonst viele
Arbeiten verrichten. Alles in allem ist Kirjuscha bleibendste und beeindruckendste
Erfahrung aus Monino.
Nicht nur Inka hat ihre Angst gegenüber Kirjuscha überwunden. Die anderen
SchülerInnen beobachteten zunächst einige Tage, wie die RussInnen und ich
mit ihm umgehen, wie wir mit ihm kommunizieren (alle sprechen trotz seines
Taubseins auch verbal mit ihm) und ihn bei der Essensvorbereitung und beim
34
Essen integrieren. Nach einigen Tagen trauten sich dann immer mehr
SchülerInnen, mit Kirjuscha zu kommunizieren und ihn beim Kochdienst und
beim Abwaschen mit einzubeziehen.
Hier war zunehmende Angstfreiheit vor dem Fremden auf einer zusätzlichen
Ebene zu beobachten.
Außerdem zeigt sich an diesem Beispiel, dass Komponenten von
interkultureller Kompetenz mit denen von sozialer Kompetenz ineinander
greifen. In sozialer Hinsicht sind die SchülerInnen an Kirjuscha gewachsen.
5.2.5. „Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen“
5.2.5.1. „Gemischtkulturelles Kochen“
Das von den SchülerInnen selbst organisierte Kochen auf der Feuerstelle hat
mehrere Tage lang weniger gut geklappt und sie hatten Schwierigkeiten, die
gekauften Lebensmittel sinnvoll einzuteilen, so dass sie für acht Tage reichen
würden und nicht z.B. alle (nur mit zweistündiger Autofahrt in Andrejapol zu
kaufenden) Eier schon an den ersten beiden Tagen verbraucht waren. Da unser
Hauptaufenthaltsort, die Stolovaja, zunehmend doch auch für immer mehr
RussInnen zu einem Anziehungspunkt wurde, da hier „immer etwas los war“,
kam von Annuschka, einer russischen, langjährigen Freundin von mir, die mit
einem Deutschen verheiratet ist und mehrere Jahre mit ihm und Familie in
Monino fest gelebt hat, der rettende Vorschlag, dass sie die Hauptmahlzeit und
deren Zubereitung, das Mittagessen, in die Hand nehmen könnte. Das hieß,
dass sie sich zur Verfügung stellte, jeden Tag mit zwei SchülerInnen (oder
BegleiterIn) die Essenszubereitung zu organisieren. Ich klärte dann mit den
SchülerInnen, ob sie damit einverstanden wären, dass Annuschka das
Mittagessen in die Hand nimmt und ob wir die RussInnen aus Monino aktiv
zum Mittagessen einladen wollen, da das eine gute Kontaktmöglichkeit
darstellen würde. Die SchülerInnen waren einverstanden. Sie erstellten dann
einen Essensdienstplan für die verbleibenden sechs Tage und Annuschka einen
Essensplan nach Maßgabe der vorhandenen und kaufbaren Lebensmittel.
Dadurch wurden die Mittagessen zu ‚echt russischen’, d.h. es gab immer Suppe
als ersten Gang („Pjervoe“) und meist gebratenes Gemüse mit Reis/ Nudeln/
dem berühmten russischen Getreidebrei „Kascha“ oder Kartoffeln als zweiten
Gang („Vtoroje“). Zunächst fanden die SchülerInnen das noch interessant,
später beschwerten sie sich zunehmend über die relative Eintönigkeit und
Fleischlosigkeit. Ich versuchte vermittelnd zu erklären, dass es in Monino eben
schwierig sei, überhaupt Lebensmittel zu beschaffen und das die, die man in
den umliegenden Dörfern und in der Kreisstadt Andrejapol kaufen kann, eben
35
russisch seien, und dass die Fleischversorgung dort auf dem Land insgesamt
sehr schwierig sei.
Da „unsere“ Stolovaja mehr und mehr zum Hauptpunkt des Gemeinschaftslebens von Monino wurde (sonst leben die einzelnen Familien oder
Hausgemeinschaften eher ihr separates Leben), kamen einige RussInnen nicht
nur zum verabredeten Mittagessen, sondern auch zum Abendessen. Da der
Kochdienst für das Abendbrot aber davon ausgegangen war, dass er nur für uns
Deutsche kochen müsse (also für 17 anstatt für 27 Personen), reichte das Essen,
bei dem sich die SchülerInnen zudem besondere Mühe gegeben hatten, es
möglichst ‚deutsch’ zu machen (Bratkartoffeln für alle der Reihe nach in drei
Pfannen) nicht für alle. Nach dem Abendessen kam es zu einer
Auseinandersetzung. Es entstand in der Stolovaja ein Gespräch, an dem Igor,
Annuschka und eine weitere Russin, Jana, teilnahmen. Gemeinsam wurden die
Probleme ausgetauscht, meist auf deutsch (Annuschka und Jana, die fast zwei
Jahre in Deutschland gelebt hat, sprechen ‚leider’ beide sehr gut deutsch): die
SchülerInnen wollten abends „auch mal unter sich“ sein, nicht so viel Abwasch
machen müssen, mehr deutsch kochen können, da weniger Portionen etc. Ich
hielt entgegen, dass es aus russischer Sicht wahrscheinlich weniger
nachvollziehbar, wenn man eine so strikte Trennung macht zwischen Mittagund Abendessen, d.h. wenn sich die Moninoer mittags gerne dazugesellen
dürften, abends hingegen auf einmal ungebeten seien (was aus russischer Sicht,
wie ich glaube, tatsächlich sehr ‚typisch deutsch’ wirkt). Annuschka und Jana
schlugen vor, dass die mitessenden RussInnen in den Essendienstplan
mitaufgenommen würden, dass sie also selbstverständlich genauso viel kochen
und abwaschen müssten.
Das Bemerkenswerte an dieser Situation war die Tatsache, dass Jana und
Annuschka hier große interkulturelle Kompetenz zeigten, da sie beide über
intensive, persönliche interkulturelle Erfahrung verfügen. ZEUTSCHEL46
schreibt zu „Angehörigen der Gastgeberkultur, die selbst über fremdkulturelle
Erfahrung verfügen“:
„Sie haben meist einen höheren Bewusstheitsgrad über eigenkulturelle
Besonderheiten erlangt als ihre Landsleute und wissen um die kulturelle
Relativität von Grundwerten und Überzeugungen, die ohne fremdkulturellen
Erfahrungshintergrund meist als naturgegeben und unabdingbar betrachtet
werden.“
Die Hauptvermittlungsarbeit wurde hier von Annuschka und Jana geleistet.
Das Angebot der Mithilfe beim Koch- und Abwaschdienst von russischer Seite
Ulrich Zeutschel (1988): „Die Rolle von Mentoren im interkulturellen Lernprozess“, In:
Thomas (ebd.), S.183
46
36
wurde von den SchülerInnen dankend angenommen (alles was die Verkürzung
von Arbeitszeiten versprach war den SchülerInnen stets sehr willkommen).
Dies Angebot, das Argument, dass eine strikte Trennung von ‚Mittagessen mit
Moninoern’ und Abendessen aber ‚ohne Moninoer’ aus anderer Sicht wenig
nachvollziehbar sei und das Argument, dass die gemeinsamen Mahlzeiten eine
gute Kontaktmöglichkeit darstellen überzeugten schließlich die SchülerInnen
und führten zu dem Beschluss, „gemischt kulturell“ zu kochen und mittags und
abends gemeinsam zu essen. (Das Frühstück nahmen die RussInnen mit ihren
kleinen Kindern lieber zuhause ein.)
Ein konkreter Konflikt – das Abendbrot, das nicht für alle reichte – wurde hier,
vermittelt durch Annuschka, Jana und mich, gemeinsam mit den SchülerInnen
in einer russisch-deutschen Diskussion ausgetragen. Die SchülerInnen konnten
hier üben, einen russisch-deutschen Konflikt auszutragen und gemeinsam zu
einer Lösung zu kommen.
5.2.5.2. „Dorfdisko“
Die Milch für unseren allmorgendlichen Frühstückbrei musste aus dem
Nachbardorf (zwei km zu Fuß) jeden Abend um die gleiche Zeit bei einem
Bauern geholt werden. Da Annuschka Kevin am ersten Abend mitnahm, um
ihm den Weg zu zeigen, traf das Los Kevin auch an folgenden Abenden, da er
als einziger den Weg kannte. So ging er jeden Abend gegen neun Uhr mit ein
oder zwei weiteren Schülern nach „Spiridovo“ zu dem Bauern. Sogar wenn es
regnete, trugen die Schüler die zwei Drei-Liter-Gläser bis nach Monino (über
ihre Einsicht in die Notwendigkeit dieser Aufgabe freute ich mich). Die jungen
Mädchen aus Spiridovo haben natürlich nach kürzester Zeit mitgekriegt, dass
da jeden Abend immer so interessante ausländische junge Männer durch ihr
Dorf laufen und sich ‚unauffällig’ zur richtigen Zeit an die Stelle gestellt, wo
Kevin und seine Begleiter vorbeikamen. (Mir wurde die Situation nicht nur von
den Schülern, sondern auch von meinen russischen Freunden, die ihrerseits in
Spiridovo gewesen waren und mit dem Bauern gesprochen hatten und sich
köstlich amüsierten. (Natürlich wissen alle umliegenden Dörfer immer ganz
genau Bescheid, wenn wieder einmal ausländische Gäste da sind; alle Dörfer
sind so klein und jeder kennt jeden.) So haben die deutschen Jungen und
russischen Mädchen sich dann also kennengelernt. Wenn die Schüler vom
„Milchholen“ zurückkamen (das sich merkwürdigerweise zunehmender
Beliebtheit erfreute), erzählten sie immer ganz stolz und begeistert, wie viel sie
auf Russisch ausdrücken konnten, und dass sie tatsächlich eine kleine
Unterhaltung hinbekommen haben. Sie berichteten auch, dass die Mädchen
auch ein bisschen Deutsch konnten. (Was bei der Abgeschiedenheit von
37
Spiridovo überraschte.) Am fünften Abend schließlich luden die russischen
Mädchen die deutschen Jungen zur Dorfdisko im Nachbardorf „Chotilize“ ein.
Ganz aufgeregt kamen die Jungen zurück nach Monino und baten um die
Erlaubnis, auf die Einladung einzugehen. Ich ließ mich von meinen russischen
Freunden beraten und wir beschlossen, dass es dabei kein Problem geben
dürfte.47
Als Vorbereitung für mögliche Kontaktsituationen mit alkoholisierter
Dorfjugend griff ich Igors Tipp auf, den Schülern eine „Deeskalationsstrategie“
zu empfehlen: wenn betrunkene, minderbemittelte Dorfjugend angriffslustig
würde, sollten die Schüler freundlich lächeln, nett grüßen und die Dorfjugend
ggf. zu einem Getränk einladen, um den Konflikt so friedlich zu lösen. Auf
dem Rückweg von der Dorfdisko – ein längerer Fußmarsch „durch die Pampa“
(über die Sandstrassen) – ergab sich dann tatsächlich eine potentielle
Konfliktsituation. Es folgt der Erlebnisbericht von Matthias:
Disco
Als Maik, Philipp H., Kevin und ich erneut Milch holen musste haben wir
zufälligerweise zwei Russinnen getroffen, mit denen wir uns dann mit unseren
exzellenten Russischkenntnissen perfekt unterhalten konnten. Als wir nach ca. 20 – 30
min durch Einsatz von Händen und Füßen und mehrmaligem Sagen von: „Повтори
пожалуйста“ („Wiederhole bitte“, sic.) mitbekommen haben, dass sie uns und
unsere Sippe in eine sogenannte Schuldisco eingeladen haben, konnten wir das
natürlich nicht ablehnen und haben somit zugesagt, nicht wissend, dass die Disco sich
noch mal 1,5 Std. Fußmarsch weg vom Dorf befindet.
Als wir uns dann abends alle (die bis dahin noch nicht krank waren) mit den Mädels
getroffen hatten, machten wir uns also auf den Weg in das „Nachbar“- Dorf. Dort
angekommen war es bereits tiefste Nacht. Nachdem wir uns dann ca. 10 min in der
Disco aufgehalten haben und uns klar wurde, dass der 1,5 Std. Weg dahin sinnlos
war, wollten wir uns wieder auf den Rückweg machen, zu unserem Bedauern sind wir
nicht alleine losgegangen. Nachdem uns ein paar Russen mit ihren tollen Mopeds und
dem tollen Lada ein paar mal überholt hatten und sich vor uns quer hingestellt hatten,
wurde es uns langsam unheimlich. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese bloß
eine „gepflegte Konversation“ mit uns Deutschen halten wollten als unser „Held“ in
dieser Situation, Kevin, auf die Russen zugegangen ist und mit den legendären
Worten: «Привет! Меня зовут Кевин!» („Hallo, ich heiße Kevin!“ sic.) und damit
die Situation entschärft hat. Nachdem sich jeder in der Runde mal vorgestellt hat,
durften wir uns dann auch wieder auf unseren schön langen Rückweg freuen, um mit
den Gedanken schon wieder der Freude des nächsten Arbeitstages beizuwohnen.
Kevin „der Held“ hat in dieser Situation genau das befolgte, was wir ihm
aufgetragen hatten: Er ging freundlich auf die zwei betrunkenen,
47
Da die Gegend von Monino, Chotilize etc. sehr abgelegen und einsam ist, sind in der
„Dorfdisko“ von Chotilize wahrscheinlich noch nie irgendwelche Ausländer gewesen, die
Bewohner von Monino, die RussInnen aus Moskau und ich selbst auch nicht. Die Moskauer
und Moninoer würden auch niemals auf die Idee kommen, dorthin zu gehen, da der
Bildungsunterschied, das soziale Gefälle etc. zwischen den ‚normalen’ Dorfbewohnern aus der
Umgegend und den sozial engagierten (Moskauer) Moninoern sehr groß ist. Über die Jahre
sind freundschaftliche Kontakte gewachsen, aber zur ‚Dorfdisko’ würden die Moninoer nicht
gehen.
38
augenscheinlich angriffslustigen Russen aus Chotolize zu, streckte ihnen die
Hand entgegen (eine in Russland eher unübliche Geste der Begrüßung, die aber
trotzdem jeder kennt) und sagte die legendäre Begrüßung. Damit war offenbar
das Eis sofort gebrochen und die Russen reagierten ihrerseits freundlich und
gaben dann vor, dass sie sich nur „nett mit den Deutschen unterhalten“ wollten.
Hier muss man sagen, dass Kevin – mit der Vorbereitung durch Igor und mich
– tatsächlich erste Ansätze von interkultureller Kompetenz gezeigt hat. Er hat
die Angst vor ‚dem Anderen’ überwunden (siehe Matthias Bericht: „es wurde
uns langsam unheimlich“) und hat den ersten Schritt auf die Russen zu
gemacht, die freundliche Begrüßung wurde von der anderen Seite als
Freundschaftsangebot richtig verstanden. Nach Kevins erstem Schritt aus der
deutschen Gruppe heraus haben sich wohl auch weitere MitschülerInnen
getraut, etwas Russisches zu sagen. Dann ist auch Sveta (die
Muttersprachlerin) vermittelnd tätig geworden und hat den Russen erklärt, wer
sie seien und was sie hier in der Gegend machen.
Von russischer Seite aus ist zu vermuten, dass es sich bei den beiden russischen
Jugendlichen wahrscheinlich ihrerseits um einen Annäherungsversuch
gehandelt hat an ‚das Fremde’. Für sie sind Deutsche und überhaupt Ausländer
tatsächlich gänzlich fremd, weil sie ob der Abgelegenheit wahrscheinlich noch
nie welche getroffen haben! Ihre Methode der Annäherung erscheint aus
deutscher (anderer) Perspektive recht fragwürdig, da sie aggressiv wirkt. Das
war offenbar die einzige Möglichkeit, die diese Dorfjugend sah, einen Kontakt
zu diesen ‚fremden Eindringlingen’ in diese abgelegene Gegend herzustellen.
Ich vermute, dass es sich bei den beiden Russen um eine Mischung aus
‚Verteidigung des eigenen Reviers’, Angst vor ‚dem Fremden’ und gleichzeitig
aus Neugierde und Interesse an diesen Fremden gehandelt hat. Wären die
(gebildeteren) deutschen Schüler nicht freundlich auf sie zugegangen, hätte
diese Situation leicht eskalieren können. So müssen diese russischen
Jugendlichen das Bild gewonnen haben, dass zumindest diese deutschen
Jugendlichen keine „deutschen Faschisten“48, sondern ganz normale
Jugendliche sind wie sie, die also auch Probleme in der Fremdsprache haben,
die auch nachts in Diskos gehen und sich ebenfalls für Mädchen (bzw. Jungen)
interessieren.
Mit dem mutigen Beispiel von Kevin haben die SchülerInnen hier unter
Beweis gestellt, dass sie eine interkulturelle Konfliktsituation friedlich auflösen
können.
5.3. Weitere Situationen
5.3.1. Das Lagerfeuer
48
Zu „deutsche Faschisten“ und Hitlergruß vgl. Kapitel „Reflexionstreffen“.
39
Als eine weitere interkulturell relevante Situation, die aber nicht direkt den
Teilfähigkeiten interkultureller Kompetenz zuzuordnen ist, sei das fast
allabendliche Lagerfeuer erwähnt. Auf dem Hügel an der dafür vorgesehenen
Stelle machten die Schüler fast jeden Abend eigenständig ein Lagerfeuer,
spielten Gitarre und sangen englische, deutsche und russische Lieder. Die
Moninoer gesellten sich immer wieder locker dazu. Vor allem an den beiden
Wochenenden unseres Aufenthaltes kamen zusätzlich Freunde aus Moskau
vorbei (leider meist nicht im Alter der SchülerInnen). Dann wurde das
abendliche Lagerfeuer zum Hauptversammlungsort. Ein Abend wurde der
Geburtstag eines Russen, „Maikl“, gefeiert. Dazu wurde am Lagerfeuer Tee
und Torte gereicht und die Gitarre ging nach alter russischer Tradition im
Kreis, d.h. jeder ist einmal an der Reihe mit spielen und singen. Dabei waren
die SchülerInnen überrascht und beeindruckt, dass nahezu jeder Russe und jede
Russin Gitarre spielen und singen kann („Die können ja alle Gitarre spielen
und singen!“). Allerdings konnten vier deutsche Schülerinnen sehr gut
vierstimmig und im Kanon singen, was dann wiederum die RussInnen
begeisterte, wo sie sagten, dass ihre Jugendlichen so etwas nicht könnten.
Da unsere Fahrt um den 21. Juni stattfand, waren fast „weiße Nächte“, d.h. es
wurde die ganze Nacht nicht richtig dunkel, sondern man konnte die Sonne
direkt unterm Horizont weiterwandern und dann gleich wieder aufgehen sehen.
So saßen wir manches mal bis tief in die Nacht bzw. in den frühen Morgen
hinein gemeinsam am Lagerfeuer und tauschten uns – Russen und Deutsche,
jung und alt – auf Russisch und auf Deutsch über Gott und die Welt aus.
5.3.2. Die „Stadtrallye“
Aus der geplanten Stadtrallye in Moskau ist ein Erkundungsspaziergang
geworden. Im Vorfeld der Reise telefonierte ich mehrfach mit den russischen
Jugendlichen (19-20jährig) bzw. mit Sonja, mit der ich die Stadtrallye
organisierte. In den Gesprächen wurde mir klar, dass eine Stadtrallye offenbar
etwas ‚typisch westliches’ darstellt, auf jeden Fall aus russischer Perspektive
eher absurd wirkt. RussInnen können sich auch einfach so mit Interesse eine
Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten ansehen, ohne dass diese Handlung durch
ein Rahmenprogramm mit lustigen Aufgabenstellungen, Wettlauf der
verschiedenen Mannschaften etc. einer Rallye „aufgepeppt“ werden müsste. So
beschlossen Sonja und ich also, die gemeinsame Unternehmung, die dem
Kontakt und der Erkundung der Stadt dienen sollte, zu einem Stadtspazierung
in verschiedenen Gruppen umzufunktionieren.
So trafen wir uns also an unserem ersten Tag in Moskau mittags am
Puschkindenkmal mit Sonja, Jegor, Mitja, Lera und mit der Moskauer
40
Freundin von mir, Katja, die die SchülerInnen schon aus der Vorbereitungszeit
kannten. Die vier Erstgenannten gingen dann mit den SchülerInnen ohne mich
auf den gemeinsamen Spaziergang. Später teilten sie sich (auf meinen
Vorschlag hin, damit sie eher miteinander ins Gespräch kämen) in zwei
russisch-deutsche Gruppen und gingen weiter auf Erkundung durch die Stadt.
Da es ein sehr heißer Tag war, führten die RussInnen die SchülerInnen zu
einem großen Springbrunnen, in dem man „baden“ konnte.
Abends kehrten die SchülerInnen begeistert von Moskau und den russischen
jungen Leuten zu unserem Treffpunkt zurück. (vgl. die positiven
Rückmeldungen im Reflexionstreffen). Wir luden die RussInnen dann noch mit
uns in eine Kneipe ein, wo später ein Jazzkonzert stattfinden sollte. Bei dieser
Einladung erwies sich übrigens einer der Schüler als interkulturell kompetenter
als ich: nachdem ich den RussInnen gegenüber zweimal die Einladung in die
Kneipe ausgesprochen hatte und sie sich immer noch nicht so recht entscheiden
konnten (in Russland muss man eine Einladung schon sehr deutlich und
mindestens dreimal wiederholt, aus deutscher Sicht fast aufdringlich,
aussprechen...) handelte Philipp ‚intuitiv interkulturell’ richtig und überredete
Jegor, Mitja und vor allem Lera (die ihm nämlich besonders gefallen hatte)
richtiggehend, wonach sie dann sehr gerne mitgekommen sind! In der
gemütlichen, schummrigen Kneipe ergaben sich dann die verschiedensten
Gespräche, auf Russisch, Englisch und Deutsch. (Mitja sprach ‚leider’ viel zu
gut deutsch, mit Lera musste Philipp dann schon russisch oder etwas englisch
reden.) Katja, die Muttersprachlerin, unterhielt sich wiederum angeregt mit
Mitja auf Russisch. Es kamen dann sogar noch weitere Freunde von mir vorbei,
so dass sich eine bunte, große, russisch-deutsche Runde ergab.
Daran schloss sich noch ein gemeinsamer Spaziergang durch das nächtliche,
erleuchtete Moskau, durchs Zentrum, über den Roten Platz und über eine der
vielen großen Brücken über den Fluss Moskwa an, von dem wir alle ganz
berauscht mit der letzten Metro in die Schule fuhren.
5.4. Die besondere Rolle der Vermittlungsarbeit
5.4.1. Zugfahrten
Bedingt durch die stets längeren Zugfahrten in (und nach) Russland, ergaben
sich in den Zügen außerhalb der Abteile im Gang und am Ende des Wagons
häufig auf lockere und natürliche Weise kleinere Gesprächsrunden zwischen
den SchülerInnen und mir. Dabei ging es meistens um russisch-deutsche
Unterschiede, wobei ich durch Erklärungen und Hintergrundinformationen
eigentlich permanent ‚interkulturell vermittelnd’ tätig war. So erzählten mir
bei dieser Gelegenheit z.B. einige Schüler ganz aufgeregt von ihrer Begegnung
41
mit einigen weißrussischen (oder russischen) Arbeitern auf einem Bahnhof, die
sie nämlich fotografiert hatten (Julian immer mit seiner Videokamera!!), die
dann ihrerseits 5 Euro dafür haben wollten. Daraufhin seien die Schüler schnell
in ihr Abteil geflüchtet und hätten sich mutig eingeschlossen... Ich erklärte
ihnen, dass Arbeiter in Weißrussland wie Russland sehr arm seien,
wahrscheinlich nicht mal 50 Euro im Monat verdienen und dass sie, die
Schüler, im Vergleich zwangsläufig als reich erscheinen müssen und dass
Fotografieren dann immer ein geeigneter Anlass ist zu versuchen, ein wenig
Geld dazu „zu verdienen“.
Hier zeigt sich, wie zweckmäßig die „Pausen“ auf dem Gang im Zug waren, da
ich dabei eine neutrale ‚Anlaufstelle’ darstellte, der die SchülerInnen alle
möglichen neuen Eindrücke erzählen konnten. Extra in mein Abteil wären sie
sicher nicht hineingekommen, um mir all ihre Erlebnisse und Eindrücke zu
erzählen, da wäre eine zu große Hemmschwelle gewesen. Hingegen bei dem
Gang oder dem „Raum“ zwischen den Wagons handelt es sich um ‚neutrales
Terrain’ (nicht um ‚das Abteil des Lehrers’), auf dem man sich eher
gleichberechtigt treffen kann, wodurch sich die SchülerInnen sicherlich eher
trauen, auch persönliches zu erzählen, preiszugeben, was sie bewegt.
ZEUTSCHEL (1988)49 zur Rolle des „Mentors“ (der pädagogischen
Begleitung) im interkulturellen Lernprozess:
Außerdem bietet der individuelle Kontakt mit Mentoren gute Möglichkeiten,
sehr gezielte Rückmeldungen über die eigene Verhaltensangemessenheit zu
erhalten, die sonst nur indirekt aus den Reaktionen anderer zu erschließen
sind. Bei Gruppenprogrammen sollten den Teilnehmern zu diesem Zweck
individuelle Kontaktgelegenheiten ermöglicht werden. (ebd.)
Auch wenn die SchülerInnen ihre Eindrücke bei mir nur loswerden konnten,
war das eine Art der Eindrucksbewältigung. Und bei Unklarheiten konnte ich
so, ohne dass es wie ein pädagogisches Gespräch wirkte, eingreifen und
vermitteln, um der Verarbeitung zu helfen. Wie THOMAS (S.38f.) betont,
muss Andersartiges nicht nur als solches festgestellt werden, sondern „die
Eindrücke müssen zu widerspruchsfreien, stimmigen, den kulturellen
Besonderheiten des Landes gerecht werdenden Bildern zusammengefügt
werden“. Die Verarbeitung erfolgt nicht nur auf rationaler Ebene, sondern auch
emotional. Insbesondere bei deutlichen Diskrepanzen bedürfen die
SchülerInnen der Verarbeitungshilfen durch die/ den Begleiter/in.
ZEUTSCHEL (S.198) weist außerdem darauf hin, dass es wichtig ist, dass
„Rückmeldungen auf nichtbedrohliche und selbstwerterhaltende Weise“
Ulrich Zeutschel (1988): Zur Rolle von „Mentoren“ im interkulturellen Lernprozess, In:
THOMAS (ebd.), S.197f.
49
42
gegeben werden. Dazu eignete sich das ‚neutrale Terrain’ der Zuggänge
besonders gut.
5.4.2. Kartenspielen
Auch das gemeinsame Kartenspielen in Monino in der „Stolovaja“ - unser
großer Holztisch mit Bänken bei der Feuerstelle, der zu unserem Hauptaufenthaltsort wurde (ein anderer Gemeinschaftsort
stand nicht zur
Verfügung) - fungierte als „Anlaufstelle“ für alle möglichen Sorgen und
Mitteilungen. Das Kartenspielen ging von den SchülerInnen aus, wozu sie
mich einluden. Dadurch, dass es sich hier wiederum um „neutrales Terrain“
handelte (anders als etwa in mein Zimmer im Haus kommen zu müssen, um
mir etwas mitzuteilen oder mich etwas fragen zu können) und dadurch, dass
das Kartenspiel ihre Initiative war, stellte diese Situation häufig die
„Verarbeitungsstelle“ von interkulturellen Erfahrungen und Eindrücken dar.
Die SchülerInnen wunderten sich nach einigen Tagen des regelmäßigen
Kartenspielens in der „Stolovaja“ – und nachdem klar wurde, dass sich der
Kontakt zu den in Monino lebenden RussInnen langsamer einstellte als
erwartet -, warum die RussInnen denn nie zu ihnen zum Kartenspielen
dazustießen. Ich erklärte ihnen, dass die meisten dazu gar keine Zeit hätten,
dass sie mit ihren Kindern und den verschiedensten Arbeiten mehr oder
weniger den ganzen Tag beschäftigt wären und dass man RussInnen ansonsten
direkt und explizit einladen müsste zum gemeinsamen Kartenspielen, da sie
sich sonst so einfach nicht trauen würden, sich u.U. aufdringlich fühlen würden
und dass so eine Gruppe deutscher Jugendlicher nach außen wahrscheinlich
eher wie eine geschlossene Gruppe wirke, an die man sich auch nicht heran
traut. (Was Sonja im Reflexionstreffen später aus ihrer Sicht bestätigte.)
5.5. Die Reflexionstreffen
5.5.1. Reflexionstreffen I
Am fünften Tag in Monino berief ich ein Treffen mit allen deutschen
SchülerInnen ein. Mit erschien der Zeitpunkt günstig, da schon genügend viel
passiert war, die SchülerInnen also viele Erfahrungen gemacht hatten, über die
man sich austauschen könnte. Ich deklarierte es vor den SchülerInnen als
Treffen „für eine erste Zwischenbilanz“ im Allgemeinen; hierbei wollte ich
eine erste allgemeinere Rückmeldung seitens der SchülerInnen bekommen und
schon mal ein bisschen in Richtung interkulturelle Erfahrungen lenken.
(Unmittelbar an ein konkretes interkulturelles Erlebnis angeschlossen war dann
das zweite Reflexionstreffen, nämlich nach dem Dorfdiskobesuch.)
Zunächst beantworteten die SchülerInnen in Einzelarbeit folgende Fragen:
43
1.)
2.)
3.)
4.)
Was regt mich besonders auf?
Was hat mir viel Spaß gemacht/ was hat mich besonders gefreut?
Was hat mich in Russland total überrascht?
Was ist mir beim Kontakt mit Russen besonders aufgefallen?
Die gegebenen
ausgespart):
Antworten waren folgende
(Wiederholungen werden
1.) Was regt mich besonders auf?
Insekten/ Arbeit (Unkraut, Zaunbau,)/ Wetter/ Essen/ dreckiger See/ zu selten Banja
(russ. Sauna-Waschhaus)/ Krankheit/ das Rumgenöle der anderen (z.B. übers Essen)/
keine Jugendlichen/ das ständige Rumgepöbel wer nun mehr oder weniger arbeitet/
rummeckernde Jungs/ zu wenig Freizeit/ dass die russischen Jugendlichen uns
Faschisten nennen/ Abwasch/ Talkrunden (= das Reflexionstreffen sic.).
2.) Was hat mir viel Spaß gemacht/ was hat mich besonders gefreut?
“Kochen/ Zelten/ Kartenspielen/ Gruppenzusammenhalt/ Moskau/ der hauptsächlich
lustige Kontakt mit Russen/ große Selbständigkeit in Moskau/ Zugfahrt/ Freunde von
Ahrens/ Kommunikation mit Russen/ am Lagerfeuer sitzen/ die Arbeit/ dass sich
Freunde von Fr. Ahrens bereit erklärt haben, uns zu begleiten/ die Rundgänge in
Moskau (einzeln mit den Russen)/ der Jazzabend/ die Banja/ alle zusammen an einem
Tisch/ in Monino ankommen/ im Stall wohnen/ die Landschaft/ anfangs noch das
Essen überm Feuer kochen/ dass man sich selbst versorgen muss/ Baden im Fluss/
über die Dusche in Moskau und die Schule in Moskau allgemein.
3.) Was hat mich in Russland total überrascht?
Monino hat Schnurlostelefon/ dass so viele krank werden/ kaum Behinderte (dachte es
wären mehr!)/ viele Russen in Monino nehmen kaum Kontakt auf (grüßen nie zurück)/
große Armut/ dass Russen relativ gut Deutsch sprechen/ Hitlergruß/ dass es die
versprochene Arbeit nicht gibt (Zaun anstatt Hausbau, sic.)/ jeder 10. hat eine viel zu
große Mütze auf/ alles recht militaristisch (Moskau)/ Hygienezustand (Monino)/
„Massen“ an Kleinkindern (Monino)/ „Effektivität“ ihrer Gartenarbeit (=
rückständig)/ McDonalds/ die Unfreundlichkeit der Leute/ die Preise (Unterschied
Moskau - Monino)/ dass Moskau so schön ist, und Monino so unschön (= Insekten,
Hygiene)/ alles ist sooo billig/ die Plumpsklos sind besser als ich dachte/ es gibt sehr
viele Kinder im Dorf und viele können gut Deutsch/ das Essen ist sehr einseitig/
nachts wird es kaum dunkel/ saubere Strassen (Moskau)/ ich hab mir Monino als ganz
einsames Dorf ohne Nachbardörfer und sowieso ganz anders vorgestellt, bin aber
nicht negativ überrascht/ dass die Leute so freundlich sind/ Nichts/ dass man hier so
schnell krank wird/ die hygienischen Umstände (habs mir zwar schlimmer als bei uns
vorgestellt aber nicht so schlimm...)/ das Essen...(habs mir besser vorgestellt)/ der
dreckige See (durch die Kühe).
4.) Was ist mir beim Kontakt mit Russen aufgefallen?
vergleichen Deutsche sofort mit Hitler/ gehen sofort auf uns zu/ wollen Zigaretten
haben/ sehen uns wirklich als reich an!/ begaffen einen erst mal/
Verständigungsprobleme/ viele bringen Deutsche mit Hitler in Verbindung – der Rest
ist freundlich und zuvorkommend/ freundlich / aggressiv (Heil Hitler)/ hilfsbereit/
mütterlich (die Frauen)/ herzlich/ nett/ redefreudig/ aufgeschlossen/ Unfreundlichkeit/
gastfreundlich/ zu schnell beim Reden/ manchmal aggressiv/ einige haben Vorurteile/
Kontaktfreudig (Zugfahrt), kaum Kontaktaufnahme (Monino)/ unfreundlich (die
meisten)/ trinken zu viel (im Dorf und auch im Zug)/ dass ich kein Russisch kann/ sie
müssen lange warm werden bis sie von alleine auf einen zugehen/ sie sorgen sich sehr
um die Kranken und sind hilfsbereit (besonders die Kinder beim Abwasch)/ sehr
höflich/ dass einige Leute hier so freundlich sind im Zug nach Monino: da gab mir die
44
eine Frau ein Laken und war total nett, in der Turnhalle (in der Moskauer Schule,
sic.): der Hausmeister war auch sehr lieb und hat uns Mittag angeboten, in Monino:
Dass die Leute sich hier alle um einen kümmern, wenn man krank ist/ etwas
schüchtern aber sehr gastfreundlich/ sie sind auf jeden Fall anders als Deutsche/ viel
arbeitsamer/ reden nicht so viel und die Russen, die hier sind, scheinen auch eher
etwas reservierter zu sein. Aber das ist ja verständlich, immerhin kennen sie Deutsche
schon und zweitens sind wir nicht in ihrem Alter. Die Leute aus der Disco wollten
hingegen unbedingt Kontakt mit uns, und belästigten uns regelrecht. Im Zug nach
Monino habe ich mich nachts bis zum frühen Morgen mit einem Jungen in meinem
Alter unterhalten, wobei wir auch schnell auf das Thema Alkoholkonsum kamen.
Ehrlich gesagt bin ich von den männlichen Russen hier positiv überrascht, denn im
Gegensatz zu der Männerwelt in Wolgograd, die wirklich so unerträglich waren, dass
ich meinte, meine Meinung über russische Männer nie wieder ändern zu können, hat
man hier eher den Eindruck, hier gäbe es gar keine Machos!
Nach dem Ausfüllen in Einzelarbeit tauschten sich die SchülerInnen zunächst
in Partnerarbeit aus (Partnerwahl nach Losprinzip, damit zusätzlich Austausch
stattfindet auch mit denen, mit denen sie sonst weniger reden), um dann die
Antworten des/der NachbarIn im Plenum (Stuhlkreis in einem der
Blockhäuser) vorzustellen. Diese Gesprächsrunde war eine sehr schöne, weil
die PartnerInnen jeweils sehr behutsam umgingen mit dem, was sie auch an
persönlicheren Auskünften über den anderen mitteilten. (Von sich selbst und
seinen Erfahrungen und Eindrücken direkt zu berichten wäre mit Sicherheit
schwieriger geworden.)
Insgesamt muss man allerdings sagen, dass die SchülerInnen noch nicht
besonders reif sind, vor allem nicht die Jungen, die taten sich insbesondere
schwer mit so einer Reflexionsrunde; die meisten Mädchen waren so einer
Diskussionsrunde gegenüber aufgeschlossener und schienen auch selbst
Interesse an so einem Austausch zu haben, auch an ersten ‚interkulturellen
Reflexionen’.
Da sich aus diesem ersten Reflexionstreffen ergeben hatte, dass einige „die
Russen“ (die, denen sie bisher begegnet waren) „freundlich/ gastfreundlich/
höflich/ nett“ etc., andere sie aber „unfreundlich, reserviert, aggressiv,
zurückhaltend“ etc. fanden, hier also offenbar ganz unterschiedliche
Erfahrungen gemacht wurden (bzw. unterschiedlich wahrgenommen wurde,
Eindrücke unterschiedlich gewichtet wurden, an verschiedene Situationen,
Moskau – Monino gedacht wurde), und mehrfach der Hitlergruß etc. berichtet
wurde, beschloss ich, das als Anlass für ein zweites Reflexionstreffen zu
nehmen und gab drei weitere Fragen als „Hausaufgabe“ (zum Nachdenken bis
zum nächsten Tag) auf. (siehe zweites Reflexionstreffen).
5.5.2. Reflexionstreffen II
45
Nach dem ersten Reflexionstreffen fand dann abends auch noch der legendäre
Dorfdiskobesuch statt, so dass das dann zum zusätzlichen Anlass wurde für
eine zweite gemeinsame Analyse und Reflexion. Inzwischen war Sonja, eine
der russischen Jugendlichen vom Moskauer Stadtspaziergang, in Monino
angekommen. Sie erfuhr natürlich gleich von dem Diskobesuch des
Vorabends, worüber ich mit ihr ins Gespräch kam, auch über die Frage, warum
die russische Dorfjugend uns tatsächlich immer noch mit Hitler, Faschismus
etc. in Verbindung bringt. Deshalb lud ich sie ein, an dem zweiten
Reflexionstreffen teilzunehmen und so gewissermaßen die russische Seite zu
vertreten. Sie nahm die Einladung gerne an. Die drei Fragen, über die die
SchülerInnen nachdenken sollten, lauteten:
1.) Warum bringen die Russen uns mit Hitler in Verbindung?
2.) Warum erscheinen die Russen als reserviert, zurückhaltend, schüchtern,
wenig kontaktfreudig?
3.) Warum finden einige von uns die Russen freundlich, andere unfreundlich?
(wobei darauf hingewiesen wurde, dass es nur um die RussInnen gehen kann,
denen man begegnet ist und man aufpassen muss, nicht sofort zu
verallgemeinern).
Hierbei bearbeiteten die SchülerInnen die Fragen direkt in Partnerarbeit
(wiederum nach Losprinzip) und schrieben die Ergebnisse ihres
Partneraustausches als Antworten auf. Es wurden folgende Antworten
gegeben:
1.) Warum bringen die Russen uns mit Hitler in Verbindung?
- Vergangenheit noch nicht verarbeitet
- Russen denken Deutschland ist faschistisch → wollen Eindruck machen mit
Hitlergruß
- Wegen den früheren Erlebnissen (2.Weltkrieg)
- Sind meistens nur die jungen Leute, da sie es in der Schule lernen
- 2. Weltkrieg, große Auseinandersetzung zwischen Russen – Deutschen,
Jugend → sieht Russland als Sieger
- Vorgeschichte mit Hitler 2.Weltkrieg
- Auseinandersetzung mit Stalin und Hitler
- Aus geschichtlichem Anlass
2.) Warum erscheinen die Russen als reserviert, zurückhaltend, schüchtern, wenig
kontaktfreudig?
- für die Russen hier ist es nichts besonderes, ausländische Gäste zu
empfangen, demzufolge sind sie nicht so euphorisch wie die Dorfleute im
Umkreis uns kennen zu lernen
- meistens nicht in unserem Alter
- kann nichts dazu sagen, weil ich nur freundliche Russen getroffen habe
- haben hier viel zu tun ? kann die Aussage nicht ganz bestätigen.
- Weil sie die deutsche Sprache nicht gut beherrschen
- Weil es uninteressant ist, mit den Deutschen zu kommunizieren
- Üblich, im Dorf hat jeder selbst in seinem Haushalt genug zu tun, Sprache?
→ Verständigungsprobleme, kein großes Interesse
- Sprache, außerdem gibt es Menschen, die nicht so offen usw. sind
46
-
Gehört evtl. zur Grundmentalität
Wir sprechen zu wenig Russisch
Müssen sich an uns gewöhnen
3.) Warum finden einige von uns die Russen freundlich, andere unfreundlich?
- einige können die Sprache, andere nicht?
- Einige fallen unangenehm auf?
- Weil einige von uns auch (un)freundlich sind!
- Sprachverständnis, Kulturunterschiede, Mentalität
- Weil einige die Sprache schlecht verstehen
- Abgesehen davon gibt es Antipathien
- Besoffen → aggressiv
Nach der Vorstellungsrunde der Ergebnisse ergab sich ein längeres,
allgemeiner werdendes Gespräch zwischen Sonja, den SchülerInnen und mir
(teils auf Russisch, teils auf Deutsch – ggf. Übersetzung von den
Muttersprachlerinnen und mir). Zur ersten Frage bestätigte Sonja die
Einschätzung der SchülerInnen, dass die jungen Leute in der Gegend in der
Schule lernen, dass Deutschland faschistisch war bzw. dass „Hitler und der
Faschismus deutsch sind“. Sonja wies außerdem darauf hin, dass das
Bildungsniveau auf diesen Dörfern sehr niedrig ist. Auf meine Frage hin, was
nach Einschätzung der SchülerInnen der Grund sein könnte, dass sich dieses
einseitige, geschichtliche Bild von Deutschland und den Deutschen hier so
lange gehalten habe, erarbeiteten die SchülerInnen im Gespräch ziemlich
schnell, dass das daran liege, dass die Dorfjugend hier gar keinen Kontakt zu
ausländischen (deutschen) Jugendlichen habe. Das bestätigte Sonja auch. Die
SchülerInnen sagten, dass man zum Abbau von Vorurteilen eben reisen müsse
bzw. Kontakte haben müsse zu Ausländern und dass ohne konkrete
Begegnungen z.B. solche Bilder von Deutschen als Faschisten wie hier auf
dem Dorf bestehen blieben.
In den Antworten zur zweiten Frage findet sich nur eine Antwort, die von
„Grundmentalität“ spricht, alle anderen gehen dem Erscheinungsbild auf den
Grund, hinterfragen den Eindruck. D.h. dass die SchülerInnen hier offenbar
nicht vorschnell geurteilt haben, dass sie eben nicht bei einem „ach, sie sind
eben so“ oder „ die sind wohl so“ oder „typisch russisch“ stehen geblieben
sind. Es werden hier also keine Zuschreibungen vermeintlich fester Merkmale/
Eigenschaften unternommen, sondern es wird nach den kontextuellen und
situativen Faktoren gefragt. In Antworten wie „haben im eigenen Haushalt viel
zu tun“, „haben hier viel zu tun“ und „müssen sich an uns gewöhnen“ zeigt
sich die Fähigkeit zur Empathie seitens der SchülerInnen. Sie können sich auch
in die Lage der Moninoer versetzen.
47
Die Antworten zur dritten Frage zeigen wiederum nur einen Fall, bei dem in
Kategorien wie „Kulturunterschiede, Mentalität“ gedacht wird, wobei in der
Antwort auch das „Sprachverständnis“ enthalten ist. Diese Antwort ist nicht
sehr logisch, denn auf die Frage, warum „einige von uns die Russen freundlich,
andere sie unfreundlich finden“ ergibt der Verweis auf Kulturunterschiede oder
„Mentalität“ keinen rechten Sinn, denn das hieße, dass zwischen uns
Deutschen Kulturunterschiede und Mentaltiätsunterschiede vorhanden sind.
(Im Sinne der eingangs beschriebenen „transkulturellen Identität“ in der
heutigen Gesellschaft könnte man das auch behaupten, aber das hat der Schüler
hier mit Sicherheit nicht gemeint.) Die anderen Antworten zeigen, dass sich
einige SchülerInnen „an die eigene Nase fassen“. Sie suchen das Problem bei
sich selbst, indem sie ihre mangelnden Sprachkenntnisse und ihr eigenen
Auftreten (selbst unfreundlich zu sein) ansprechen. D.h. hier haben sie sich
offenbar in die russische Sicht hineinversetzt und sich gefragt, wie sie ihrerseits
auf die Russen wirken (mit denen sie zutun hatten). Im Sinne des
Perspektivwechsels nach CHRIST könnte man hier sagen, dass die
SchülerInnen den Blick des Anderen auf sich mit in die Betrachtung
einbezogen haben; man kann hier einen ersten Funken im Hinblick auf
kritische Selbstreflexion herauslesen.
Insgesamt kann man den Gesprächsverlauf und die einzelnen Antworten als
erstes Anzeichen der Entwicklung von interkultureller Kompetenz bewerten:
die SchülerInnen zeigten hier
- dass sie nicht gleich feste Zuschreibungen machen (=Vorurteile fällen)
- dass sie empathiefähig sind
- dass sie auch selbstkritisch sein können
6. DIE NACHBEREITUNGSZEIT
6.1. „Verbesserungstipps für eine nächste Reise“
Der erste Schritt zur Nachbereitung begann bereits auf der Rückfahrt im Zug
von Moskau nach Berlin, wo ich den sich als sehr günstig erweisenden Einfall
hatte, die SchülerInnen direkt nach möglichen Verbesserungsvorschlägen für
die nächste Organisation einer Russlandklassenfahrt meinerseits befragte.
Günstig war dieses Vorgehen deshalb, weil ich so (die lange Zeit der Zugfahrt
nutzend) die Frische der Eindrücke ausnutzen konnte. (Der nächste Tag nach
der Ankunft in Berlin war der letzte Schultag vor den Sommerferien, so dass
eine andere Möglichkeit der direkten Rückmeldung durch die SchülerInnen
nicht bestand.) Als günstig erwies sich außerdem meine allgemein gehaltene
Formulierung: „Gebt mir bitte mal eure Tipps, wie ich so eine Reise das
nächste Mal besser organisieren könnte!“. Hätte ich die SchülerInnen mit
48
„Wie hat euch die Reise gefallen?“ befragt, wären mit Sicherheit nur sehr
allgemeine Auskünfte gekommen wie „Joa, war ganz gut, ja, war schön, war
anstrengend aber interessant“ etc. Durch meine – spontan gewählte –
Formulierung, hinter der außerdem das aufrichtige Interesse stand, wie man
eine derartige Reise besser organisieren könnte, hingegen kamen sehr konkrete
Verbesserungen und damit auch indirekt sehr aufschlussreiche Rückmeldungen
über die erlebte Reise. Ihre erste Reaktion auf meine Bitte um
Verbesserungsvorschläge war: „Oh ja, fahren wir nächstes Jahr wieder mit
Ihnen nach Russland?!“ Obwohl die Frage von mir gar nicht so gemeint war,
fassten die SchülerInnen sie so auf. Worauf ich sagte, dass wir das gerne
machen könnten. Daraufhin begann die Planung der nächsten Reise quasi
direkt. (Daran hat sich auch in der weiteren Nachbereitung nach den
Sommerferien nichts geändert; die meisten SchülerInnen und ich planen,
nächsten Sommer wieder nach Monino zu fahren.)
Als Verbesserungsvorschläge für eine wiederholte Reise nach Monino (und
Moskau oder Sankt-Petersburg) nannten die SchülerInnen verschiedene
Aspekte:
a)
b)
c)
d)
e)
f)
bessere „Ausrüstung“ mitzunehmen: eigenes Geschirr, Gummistiefel,
„richtige“ Regenjacken, Arbeitshandschuhe, mehr eigene Medikamente,
Fleischkonserven aus Deutschland
mehr russische Jugendliche nach Monino einladen, mehr mit RussInnen
zusammenarbeiten, direkt etwas für sie bauen (nicht einen Zaun für die
Pferde und Kühe, eher einen Spielplatz oder Fußballplatz, oder in einem
Haus renovieren) ihnen direkter helfen.
länger in Monino bleiben, länger in Moskau bleiben (oder das nächste
Mal über Sankt Petersburg fahren und dort länger bleiben).
Ein richtiges großes Fest machen, wozu die Nachbardörfer alle
eingeladen werden, mit Volkstänzen oder so!, richtig geplant und
eingeladen!
Mehr sportliche Aktivitäten, z.B. große russisch-deutsche Fußballspiele
(wovon es eins gab und ein zweites geplant war, auch auf Vorschlag der
Russen, das dann aber wegen des Regens ins Wasser gefallen ist) oder
Volleyballspielen (was den SchülerInnen angeboten wurde, es war sogar
ein Netz und Ball vorhanden, aber dazu hatten sie dann doch nicht
genügend Eigeninitiative...)
Sprachlich besser vorbereitet sein; im Unterricht würde man nicht das
lernen, was man im Land zur Verständigung brauche (Wegbeschreibung,
Lebensmittel, Zahlen, Begrüßung, sich vorstellen etc.) (selbstverständlich
sind genau das die Unterrichtsinhalte jedes modernen Lehrbuchs, so auch
von „Okno“ mit dem die SchülerInnen seit Jahren arbeiten; aber da
kannten sie noch nicht die authentische Kommunikationssituation und
hatten also offenbar dementsprechend weniger Motivation, so dass sie die
Inhalte sogar schon völlig vergessen haben...)
6.2. Gemütlicher Ausklang mit den Eltern und Geschwistern
Nach den Sommerferien, nachdem die ersten zwei Unterrichtswochen vorbei
waren, organisierten die SchülerInnen und ich einen „gemütlichen Abend“ in
49
der Schule für die Eltern und Geschwister. Es gab ein russisch-deutsches
Büffet, russische Musik (die die Schüler in Moskau gekauft hatten), der
Videofilm, den ein Schüler gemacht hatte, wurde gemeinsam angeschaut, alle
hatten ihre Fotoalben dabei, zwei SchülerInnen haben auch ein Fotoplakat
gestaltet. Der Abend war bewusst ‚locker’ und ‚offen’ gestaltet von mir. So
habe ich beispielsweise zwei Schülern die einleitenden Worte überlassen, und
die Tische wurden absichtlich „in Kleingruppen“ arrangiert. Damit wollte ich
es ermöglichen, mit den Eltern (und SchülerInnen) jeweils zu persönlicheren
Gesprächen zu kommen, und nicht eine große Runde zu bilden. So habe ich
mich dann im Verlauf des Abends immer wieder zu anderen Tischgruppen, d.h.
Elternpaaren mit an den Tisch gesetzt und habe von dem einen oder anderen
erfahren, was die SchülerInnen zuhause von der Reise berichtet haben. So
erfuhr ich beispielsweise von Roberts Mutter, dass sie beim Waschen der
Reisewäsche von Robert ein paar Socken entdeckt hat, dass in einer Extratüte
verpackt war. Auf ihre Nachfrage hin erzählte er ihr dann die Geschichte der
russischen Fieberheilmethode (Zitronenscheiben an den Fersen in die Socken
zu stecken), die er an eigenem Leibe erfahren hatte. Inkas Mutter erzählte mir
auf meine Nachfrage hin, was Inka „denn so zuhause“ zuhause erzählt hätte:
„Ach, die kriegt ja schon Tränen in die Augen, wenn sie nur „Monino“ hört!“
Und Julians Mutter war ganz begeistert darüber, dass Julian tatsächlich die
Musik in Moskau ausfindig machen und kaufen konnte, die ihm sein älterer
Bruder vor der Reise empfohlen hatte („dass das dann so geklappt hat,
toll!“).50
6.3. Erlebnisberichte
In mehreren Unterrichtsstunden (ich unterrichte die SchülerInnen weiterhin in
einer Gruppe) fand zunächst ein lockerer Austausch von gemeinsamen
Erinnerungen an all die Erlebnisse der Fahrt statt. Einige Ereignisse sind
inzwischen schon zu fast legendären Geschichten avanciert, andere Anekdoten
wurden immer wieder gerne aufgewärmt. Die gesamten ersten Nachtreffen
zeichneten sich durch eine große Emotionalität seitens der SchülerInnen aus.
Sie waren so überschwänglich, aufgedreht, fast euphorisch, dass sie gar nicht
wussten, wohin mit ihrer ganzen Erzählenergie bzw. sie wirkten so, als ob sie
verbal nicht hinter dem Erlebten ‚hinterher kommen’, als ob sie nicht genügend
oder die richtigen Worte für ihre ganzen Eindrücke finden.
Einerseits freute ich mich zwar über so viel Emotionalität, andererseits sah ich
keine Möglichkeit, eine reflektorischere Ebene mit den SchülerInnen zu
50
Diese spezielle Band war auch der Mutter ein Begriff, weil der ältere Bruder für die Band (in
Berlin) in einer Medienfirma ein Video produziert hatte.
50
erreichen. Aber ich sah auch, dass sie offenbar fast so etwas wie einen
‚angestauten Gefühlsberg’ hatten, u.U. bedingt durch die Sommerferien direkt
im Anschluss an die Reise. Ich war der Meinung, dass sie den ‚Gefühlsstau’
auch irgendwie loswerden können müssten. Um aber dennoch in irgendeiner
Weise eine wenigstens etwas reflektorischere Ebene zu erreichen, versuchte ich
bei einem Treffen die SchülerInnen freie Assoziationen auf im Raum
aufgehängte Plakate zu den interkulturell relevanten Situationen der Reise
schreiben zu lassen. Das hat überhaupt nicht funktioniert, sie haben nur alberne
Witze auf die Plakate geschrieben. Diese Schüler – vor allem die Jungen –
wirken für ihr Alter noch recht unreif und taten sich ja auch schon bei dem
Reflexionstreffen in Monino schwer, sich auf eine ernsthafte Diskussion in der
Gruppe einzulassen. So kam ich auf die Idee, die SchülerInnen, wenn entweder
der Zeitpunkt oder das Alter noch nicht reif genug war für eine
Gruppendiskussion, persönliche Erlebnisberichte schreiben zu lassen über ein
Erlebnis/ eine Situation ihrer Wahl. Dabei sind teilweise sehr persönliche,
ernsthafte Erlebnisberichte entstanden. In dieser individuellen, schriftlichen
Form hatten die Schüler offenbar weniger Probleme, ‚etwas von sich
preiszugeben’, etwas persönliches von sich zu zeigen. Abgesehen von den in
der Arbeit bereits zitierten Erlebnisberichten, wurden von mehreren Jungen
Erlebnisberichte von der handwerklichen Arbeit geschrieben, die Mädchen
berichten über Verschiedenes.51
6.4.
Wirkungen/Folgen der Fahrt
6.4.1. Kurzvortrag auf der Gesamtkonferenz
Drei Schüler hielten einen Kurzvortrag (ca. 15 min) über die Reise. Das soll
hier nur deshalb Erwähnung finden, weil einige LehrerInnen mich hinterher
ansprachen und sagten, sie wären ganz positiv überrascht gewesen von Maik
und Janek, dass die sich nämlich so selbstbewusst da vorne hingestellt und vor
versammelter Lehrerschaft (ca. 85 Personen) frei vorgetragen hätten. (Ihr
Vortrag war recht vergnüglich ausgefallen, da sie absichtlich mehrere
Anekdoten der Reise erzählt haben.) Man könnte die Vermutung wagen, dass
diese Reise mit ihren interkulturellen und sozialen Komponenten einen
51
Tobias: wie er sich im Wald beim Bäume fällen mit der Axt ins Bein gehackt hat; Julian: wie
er sich freiwillig den halben Nachmittag an einem nicht aus der Erde kommen wollenden
Zaunpfahl abgemüht und ihn dann doch „besiegt“ hat; Robert bezweifelt in seinem Bericht die
Sinnhaftigkeit und Haltbarkeit des nur halb fertig gebauten Zaunes; Janek und Maik berichten,
wie sie die Trinkwasserquelle von Gebüsch und Steinen befreit haben und einen großen
Kanister voll mit Wasser den Berg raufgeschleppt haben. Svetlana schreibt begeistert über die
russische Banja (das Sauna-Waschhaus); Janine berichtet, wie die Direktorin in der Moskauer
Schule Zsofies und ihr lautes Singen in der Turnhalle mitangehört hat und ihr das peinlich war;
und Zsofie hat eine „Spuk-Geschichte“ fantasiert über eine Suppe mit magischen Kräften...
51
Zuwachs an Selbstvertrauen bewirkt habt, der sich bei Maik und Janek hier
unmittelbar bemerkbar machte.
6.4.2. Niederschlag im Sprachunterricht
Es ist ein deutlicher Zuwachs an Motivation im Russischunterricht bemerkbar.
Den Wunsch aus den Verbesserungsvorschlägen der SchülerInnen nach
„besserer sprachlicher Vorbereitung“ für einen Auslandsaufenthalt und nach
der Wiederholung der grammatikalischen Grundlagen (die der Rahmenplan für
die elfte Klasse sowieso vorsieht) bin ich bei der Unterrichtsplanung
nachgekommen: die SchülerInnen erarbeiteten sich selbstständig in
Gruppenarbeit die verschiedenen grammatikalischen Gebiete und hielten
didaktisierte (!) Vorträge von jeweils 45 min (!). Die Gruppe, die sich das
Thema „Sprechen“ gewählt hat, griff Situationen der Reise auf, in der sie
sprachlich nicht zurecht kamen („kennen lernen/ Smalltalk“, „Einkaufen/
Handeln“,“ im Restaurant/ in der Kneipe etwas bestellen“ und „Hören/
Verstehen“). Die SchülerInnen arbeiteten engagiert und motiviert in den
Gruppen und hielten sehr gute Vorträge, was ganz sicher vor der Reise nicht
gewesen wäre.
6.4.3. Geplanter Inforaum am Tag der Offenen Tür
Im Januar 2003 findet an der Max-Reinhardt-Oberschule ein Tag der Offenen
Tür statt, bei dem die SchülerInnen und ich einen Informationsraum über die
Russlandfahrt planen. Julian will bis dahin den Videofilm professionell
schneiden, damit er dann öffentlich gezeigt werden kann, es soll eine richtige
Fotowand entstehen, bei der man die Chronologie der Reise nachvollziehen
kann, und es werden Informationen über das Kinderdorfprojekt und die Fahrt
gegeben.
6.4.4. Planung einer erneuten Fahrt nach Monino
Die meisten SchülerInnen der Fahrt und ich planen im nächsten Sommer eine
erneute Reise nach Monino, die dann in den Sommerferien stattfinden soll,
damit wir mehr Zeit zur Verfügung haben, da das Einleben in Monino alleine
fünf Tage dauert. Bei dem Elternabend haben zwei Elternpaare Interesse
bekundet, auch mit fahren zu wollen, und der ältere Bruder von Tobias, der
eigentlich schon dieses Jahr mitgefahren sein wollte, will beim nächsten Mal
auch unbedingt dabei sein.
7.
KRITISCHE GESAMTREFLEXION
52
Zunächst muss konstatiert werden, dass die Theorie weit hinter der Praxis
zurückbleibt. Bei einer ersten Fahrt nach Russland von zwei Wochen kann
nicht davon gesprochen werden, dass Interkulturelle Kompetenz entwickelt
wurde.
ABER: kleine erste Schritte, aufgezeigt anhand des Stufenmodells von
NICKLAS, sind auf dem Weg zur Entwicklung von Interkultureller
Kompetenz doch feststellbar. So war eine Offenheit für „das Fremde“ auf jeden
Fall vorhanden, die Andersartigkeit wurde als solche akzeptiert, und es haben
sich erste Ansätze von Empathie und Perspektivwechsel gezeigt.
Sehr deutlich bestätigte sich die These von NICKLAS, dass interkulturelles
Lernen eine Form des sozialen Lernens ist: die soziale Kompetenz ist nicht nur
durch der Auseinandersetzung mit Kirjuscha, sondern auch innerhalb der
Gruppe gewachsen. Anfangs dachten die SchülerInnen vor allem an ihren
eigenen Vorteil und rechneten beispielsweise ihre verschiedenen
Arbeitsleistungen gegeneinander ab. Am Ende des Aufenthaltes in Monino
zeigten sich die SchülerInnen hingegen als zusammengewachsene Gruppe mit
sozialem Bewusstsein für einander. Arbeitsabläufe (Kochdienst, Zaunbau)
funktionierten gut und ergänzten sich und gesunde SchülerInnen kümmerten
sich um die zwischenzeitlich erkrankten. Eine „Erhöhung der sozialen
Kompetenz und der zwischenmenschlichen Fähigkeiten“ (NICKLAS, S. 40)
hat definitiv stattgefunden.
Die eingangs zitierte, von THOMAS als Resultat von interkulturellen
Begegnungen beobachtete, „Zunahme von Selbstvertrauen“ hat sich nicht nur
bei Maik, Janek und Julian bei der Gesamtkonferenz gezeigt. Auch bei anderen
SchülerInnen habe ich den Eindruck, dass sie durch diese weitreichende
Erfahrung persönlich gewachsen sind. Die von mir als weiteres Ziel
formulierte „Erschütterung des nicht hinterfragten Selbstverständnisses“ kann
vor allem bei Inka vermutet werden. Ihr Bericht von der Erfahrung mit
Kirjuscha (und die Auskunft ihrer Mutter, sie bekäme Tränen in die Augen,
„wenn sie nur Monino höre“), weisen darauf hin, dass Inka auf der Fahrt
einschneidende Erfahrungen gemacht hat. Ähnliches lässt sich bei Kevin mit
seiner Erfahrung von der Zugfahrt, der Hochzeit, dem ‚Milchholen’ und von
der ‚Dorfdisco’ vermuten.
Die für die Nachbereitung geplanten „weiteren Reflexionen“ haben bisher
kaum stattgefunden. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die
SchülerInnen, vor allem die Jungen, noch relativ unreif wirken. Andererseits
erscheint der Zeitpunkt für eine „Anhebung“ der gemachten Erfahrungen auf
eine Metaebene als zu früh. Die SchülerInnen sind noch so emotional
betroffen, dass eine verallgemeinernde Reflexion erzwungen wirken würde.
53
Der Zeitpunkt muss später liegen, die intensiven Erfahrungen müssen meines
Erachtens nach noch länger ‚verdaut’ werden. Das Verhältnis von Metaebene
und ‚interkulturellem Input’ sollte nicht asymmetrisch verlaufen; es ist fraglich,
ob eine einzelne Fahrt überhaupt ausreicht, um interkulturelle Reflexionen zu
unternehmen.
Ferner ist ZEUTSCHEL der Auffassung, „dass ein solcher Lernprozess auch
weitgehend unbewusst vollzogen werden kann“ (S. 187), und es einer in vielen
Modellen zum interkulturellen Lernen als notwendig beschriebenen
Metakommunikation nicht unbedingt bedürfe (vgl. ebd.). Seiner Meinung nach
vollzieht sich „die Tätigkeit von Mentoren dementsprechend zwischen
bewusster und gezielt einsetzender pädagogischer Intervention einerseits und
dem bloßen „Vorhandensein“ als fremdkulturelles Verhaltensmodell
andererseits.“ (ebd.) Die Erfahrung der besonderen Bedeutung von der
‚interkulturellen Vermittlung’ habe ich als Begleiterin auf dieser Fahrt
gemacht. Ich war fast ständig vermittelnd tätig und mein Verhalten wurde von
den SchülerInnen vielfach als Beispiel übernommen.
Als Organisator der Fahrt schuf ich den Rahmen für interkulturelle
Lernmöglichkeiten seitens der SchülerInnen; welche Erfahrungen sie allerdings
tatsächlich machten, lag in ihren eigenen Händen. In dem Maße, wie sie sich
öffneten und auf die andere Lebenswelt einließen, stieg die Intensität ihrer
Erfahrungen.
Auf die eingangs gestellte Frage, wie man überhaupt interkulturelles Lernen
bewirken kann, muss ich sagen, dass die TeilnehmerInnen intensivere
Erfahrungen des interkulturellen Austausches gemacht hätten, wären in
Monino mehr gleichaltrige RussInnen gewesen, mit denen sie die Hauptzeit in
gemischt-kulturellen Gruppen verbracht hätten (Arbeit, Kochen, Lagerfeuer
etc.). Das ist bei der Organisation einer nächsten Schülerreise ins Ausland
unbedingt zu versuchen.
Aber auch ohne die tägliche Zusammenarbeit in russisch-deutschen
Gleichaltrigengruppen haben die SchülerInnen auf dieser Fahrt einen
hautnahen Einblick in das russische Alltagsleben auf dem Land gewonnen und
sich selbst bewiesen, dass sie in diesen gänzlich anderen Lebensbedingungen
zurecht kommen. Sie haben regelrecht eine Bewährungsprobe bestanden. Ich
denke, dass in jedem Fall eine Horizonterweiterung stattgefunden hat.
Interkulturelle Lernerfolge sind nicht direkt messbar, aber mit den
Erlebnisberichten der SchülerInnen ist eine Form gefunden worden, die es
vermag, „die Erfahrungen von jungen Teilnehmern besser zu beschreiben“
(MÜLLER, S. 178), da sie individuelle Rückmeldungen der verschiedensten
Art zulassen.
54
Das „selbst-entdeckende“ Kennenlernen der Stadt Moskau hat sich als
erfolgreiche Planung erwiesen: die SchülerInnen haben „großes persönliches
Engagement“ aufgebracht und zeigten einen „hohen Grad emotionaler
Betroffenheit“. Zeichen, die für THOMAS (S. 35) auf die Nachhaltigkeit der
Wirkung interkultureller Lerneffekte schließen lassen. Wie stark die
emotionale Beteiligung fast drei Monate später bei den SchülerInnen noch ist,
zeigt sich fast in jeder Russischstunde. Immer wieder werden Begebenheiten,
Anekdoten, Sprüche etc. von der Reise angeführt. Bei Nachfragen seitens der
SchülerInnen, die nicht in Monino waren, werden Erklärungsversuche
unternommen, die häufig mit den Worten enden: „ach, das kann man
irgendwie nicht erklären“.
Auf dieser Fahrt wurden die ersten kleinen Schritte zur Entwicklung von
interkultureller Kompetenz gemacht. Als lebenslanger Lernprozess sind auf
diesem Weg noch viele Schritte zu gehen.
55
8.
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