Schriftsatz vom 20. Juli 2011 an das Verwaltungsgericht München

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DR. REINHARD MARX
- Rechtsanwalt RA Dr. Reinhard Marx - Mainzer Landstr. 127a – D- 60327 Frankfurt am Main
Bayerisches Verwaltungsgericht München
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Bei Antwort und Zahlung bitte angeben.
20. Juli 2011
In der
Verwaltungsstreitsache
Andre Lawrence SHEPHERD, *21. Mai 1977, Cleveland
gegen
Bundesrepublik Deutschland
M 25 K 11.30288
wird die Klage begründet:
Der angefochtene Bescheid versagt dem Kläger zu Unrecht die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 AsylVfG). Er kann deshalb keinen rechtlichen Bestand
haben. Vielmehr ist die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen. Soweit im angefochtenen Bescheid Ausführungen zur Asylberechtigung und in
diesem Zusammenhang zum Begriff der „politischen Verfolgung“ (Art. 16a Abs. 1 GG)
gemacht werden (Bescheid, S. 7 bis 13), sind diese im anhängigen Verfahren nicht relevant,
weil eine Verpflichtung zur Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter im Klageverfahren
nicht beantragt wird.
Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse von 1822 (BLZ 50050201) Kto.-Nr. 668 702
Gerichtsstand für Streitigkeiten aus Anwaltsvertrag ist Frankfurt am Main
I.
Keine Anwendung des Begriffs der politischen Verfolgung
Bereits im Ansatz krankt der angefochtene Bescheid an einem Rechtsfehler, weil er die
Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft durch das Sieb des Asylrechts nach Art. 16a Abs.
1 GG filtert. Insoweit wird ausgeführt: „Die in den Ausführungen zu Artikel 16a Abs. 1 GG
aufgestellten Grundsätze zur Problematik von Desertion, Militärdienstverweigerung und
daraus
resultierenden
Sanktionen
gelten
gleichermaßen
auch
im
Bereich
der
Flüchtlingsanerkennung“ (Bescheid, S. 14).
Diese Bewertung mag durch § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG veranlasst sein, wonach Art. 7 bis
10 RL 2004/83/EG für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen einer Verfolgung
im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, also von Art. 1 A Nr. 2 GFK, vorliegen,
„ergänzend“ Anwendung finden. Damit werden die unionsrechtlichen Voraussetzungen der
Flüchtlingsanerkennung
jedoch
nicht
sachgerecht
und
vollständig
umgesetzt.
Die
Voraussetzungen des Verfolgungsbegriffs der Konvention werden für die Union zwecks
einheitlicher Anwendung im Unionsgebiet durch alle Mitgliedstaaten in Art. 9 RL
2004/83/EG definiert. Der ergänzende Anwendungsbefehl in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist
mit Unionsrecht unvereinbar, weil der Gesetzgeber hiermit seine Aufgabe der Umsetzung im
Bereich des Flüchtlingsschutzes verfehlt. Vielmehr ist für die Umsetzung der Richtlinie und
damit auch für die Rechtsanwendung im anhängigen Verfahren von folgender Rechtslage
auszugehen:
Bestehen Zweifel, ob das nationale Recht einen Rechtsakt des Sekundärrechts zutreffend
umsetzt, ist entsprechend dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung unmittelbar auf die
Richtlinie 2004/83/EG zurückgreifen (so auch BVerwG, NVwZ 2008, 1241 (1245), Rdn. 32 =
InfAuslR 2008, 474). Die Richtlinie ihrerseits muss im Zweifel in Übereinstimmung mit der
GFK ausgelegt werden (vgl. Erwägungsgrund Nr. 17 RL 2004/83/EG). Entsprechend den
völkerrechtlichen Vorgaben ist § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG Umsetzungsnorm für die
Auslegung und Anwendung des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Nr. 2 GFK (vgl. auch
Erwägungsgrund
Nr. 17,
Art. 2
Buchst. c)
RL
2004/83/EG).
Dabei
stellt
die
Verweisungsregel in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sicher, dass bei der Auslegung und
Anwendung des Flüchtlingsbegriffs des Art. 1 A Nr. 2 GFK die entsprechenden
Bestimmungen der Richtlinie berücksichtigt werden.
2
Die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht erfordert zwar nicht unbedingt eine
förmliche und wörtliche Übernahme ihrer Bestimmungen in eine ausdrückliche, besondere
nationale Rechtsvorschrift. Ihr kann durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge
getan werden, wenn dieser tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend
klar und bestimmt gewährleistet (EuGH, Rechtssache C-217/97, § 31 – Kommission gegen
Bundesrepublik Deutschland). Daraus folgen nicht nur die Verpflichtung zur Umsetzung von
Richtlinien, sondern für den Fall der Kollision auch der Anwendungsvorrang des
Unionsrechts und eine Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nationaler
Rechtsvorschriften. Eine lediglich ergänzende Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG ist mit
diesen Grundsätzen unvereinbar. Dem Rechtsanwender wird dadurch nämlich bedeutet, er
solle zunächst deutsche Rechtsvorschriften anwenden, dabei deren spezifischen Sinngehalt,
den im deutschen Recht vorgegebenen Gesetzeszusammenhang sowie den Zweck der
deutschen Norm ermitteln und lediglich bei Zweifeln, ergänzend einen Blick auf die
Qualifikationsrichtlinie werfen. So verfährt die Beklagte im angefochtenen Bescheid mit dem
Hinweis auf Art. 16a Abs. 1 GG (Bescheid, S. 14). Wenn auch eine Richtlinie nicht wörtlich
umzusetzen ist, muss doch durch die Art der Umsetzung gewährleistet werden, dass ihr
systematischer Zusammenhang sowie ihr Zweck und ihr Ziel die Auslegung und Anwendung
der nationalen Umsetzungsnormen bestimmen.
Unzutreffend ist im Blick auf den Flüchtlingsschutz darüber hinaus die ausschließliche
Fixierung auf den Begriff der »Verfolgung« in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG.
Dementsprechend ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsbegriffs auf den Begriff der
Verfolgungshandlung
bei
gleichzeitiger
Vernachlässigung
des
Begriffs
der
Verfolgungsgründe fixiert (vgl. BVerwGE 134, 221 (227) = NVwZ 2009, 1167 = InfAuslR
2009, 363; krit. hierzu Marx, ZAR 2010, 1; VGH BW, InfAuslR 2008, 97 (98); Hess.VGH,
EZAR NF 62 Nr. 17; s. auch BVerwG, NVwZ 2011, 755 Vorabentscheidungsersuchen zu
dieser Frage an den EuGH nach Art. 267 AEUV). Die Richtlinie enthält indes ein auf Art. 1 A
Nr. 2 GFK beruhendes Konzept, das auf der Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG) dem Wegfall
des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG) und der Anknüpfung an
Verfolgungsgründe (Art. 10 RL 2004/83/EG) beruht. Entsprechend der Staatenpraxis zur
GFK
und
dem
Zweck
der
GFK
steht
am
Ausgangspunkt
der
Prüfung
die
Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG). Alle für die Entscheidung wesentlichen
Tatsachen und Umstände sind aufzuklären (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Art. 2
3
Buchst. b) RL 2004/83/EG verweist für die Auslegung und Anwendung der Richtlinie auf die
GFK und das New Yorker Protokoll und bezeichnet in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG den
in Art. 1 A Nr. 2 GFK enthaltenen Flüchtlingsbegriff. Für die nachfolgenden Bestimmungen
der Art. 4 bis 14 RL 2004/83/EG ist daher der Flüchtlingsbegriff der GFK zugrunde zu legen.
Ferner wird bei der dritten Prüfungsphase der Kausalzusammenhang zwischen der
Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und den Verfolgungsgründen (Art. 10 RL
2004/83/EG) ermittelt. Zwar besteht zwischen der Verfolgungshandlung und den
Verfolgungsgründen ein Kausalzusammenhang (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Zunächst
sind jedoch die jeweiligen spezifischen Voraussetzungen beider Begriffselemente
festzustellen. Dabei darf bei der Ermittlung der Verfolgungshandlung die Prüfung nicht nach
Maßgabe der Verfolgungsgründe erfolgen. Dies verdeutlicht etwa der weitaus umfassendere
Diskriminierungsansatz der Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG
gegenüber den fünf enumerativen Verfolgungsgründen nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG.
Umgekehrt darf bei der Feststellung des Verfolgungsgrundes nicht die Verfolgungshandlung
in die Prüfung einbezogen werden. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf den
Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Vielmehr ist nach
der Ermittlung beider Begriffselemente zu prüfen, ob ein spezifischer Kausalzusammenhang
festgestellt werden kann (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG).
II.
Maßgeblichkeit der Furcht vor begründeter Verfolgung
Im angefochtenen Bescheid wird festgestellt, Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG setze
voraus, dass „eine völkerrechtswidrige Tat objektiv“ vorliegt. Es reiche nicht aus, wenn der
Verweigerer das fragliche Handeln nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne oder für
ethisch nicht vertretbar erachte (Bescheid, S. 14). Die Beklagte wendet damit im Bereich des
Flüchtlingsschutzes nicht die verfahrensrechtlichen Regeln für den Flüchtlingsschutz, die auf
dem Begriff der begründeten Verfolgungsfurcht beruhen, sondern völkerstrafrechtliche
Grundsätze an, wonach dem Verweigerer die Flüchtlingseigenschaft nur zuerkannt wird,
wenn er „jenseits vernünftiger Zweifel“ (objektive völkerrechtswidrige Straftat) nachweisen
kann,
dass
er
sich
beim
Verbleib
in
den
Streitkräften
der
Begehung
eines
4
völkerstrafrechtlichen Delikts schuldig gemacht hätte. Es wird damit nicht der im
Flüchtlingsschutz maßgebliche, auf dem präventiven Schutz des Einzelnen beruhende
Nachweis der begründeten Furcht vor Verfolgung, sondern eine repressive strafrechtliche
Nachweispflicht gefordert. Soll im ersten Fall der Eintritt eines Erfolgs abgewendet werden
(Prävention), wird im zweiten nachträglich festgestellt, ob ein bestimmter (strafrechtlicher)
Erfolg eingetreten ist. Bereits diese Überlegungen verdeutlichen, dass der beweisrechtliche
Ansatz der Beklagten nicht nur nicht mit dem präventiv ausgerichteten Flüchtlingsrecht
unvereinbar ist, sondern aus rechtlicher Sicht unhaltbar ist. Denn im Voraus kann nicht
beurteilt werden, ob ein Erfolg jenseits vernünftiger Zweifel eintreten wird. Dem Einzelnen
wird damit abverlangt, darzutun, dass er in der Zukunft mit nahezu an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit zum völkerstrafrechtlichen Täter geworden wäre. Damit werden die
Nachweispflichten in unerfüllbare Höhen geschraubt und dem Flüchtlingsrecht durch
verfahrensrechtliche Beweisregeln das Lebenslicht ausgeblasen.
Unzutreffend weist die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf hin, nach der
Kommissionsbegründung lägen nur „fundierte“ Gründe (für die Dienstverweigerung) vor,
„wenn die geforderte Beteiligung an militärischen Aktionen tatsächlich den Grundregeln
menschlichen Verhaltens“ widerspreche oder die militärischen Aktionen von der
internationalen Gemeinschaft „verurteilt worden“ seien (Bescheid, S. 14). Nach Auffassung
der
Beklagten
kann
danach
einem
Kriegsdienstverweigerer
nur
dann
die
Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden, wenn der von ihm geforderte Einsatz „tatsächlich“
mit Völkerrecht unvereinbar ist. Konsequent wird dieser Ansatz in der weiteren
Bescheidbegründung weiterverfolgt, indem dem Kläger die Nachweispflicht auferlegt wird,
dass ein „zukünftig noch zu leistender Militärdienst die Begehung von Handlungen und
Verbrechen,“ die mit Völkerrecht unvereinbar sind, „umfasst“ (Bescheid, S. 15). Er habe mit
anderen Worten nachzuweisen, dass er bei einer Fortsetzung seines Militärdienstes
„zwangsläufig in Handlungen oder Taten im Sinne des Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83EG
verwickelt worden wäre“ (Bescheid, S. 18).
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Kommission in ihrem ursprünglichen Entwurf
die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern im Asylverfahren wie folgt begründet:
„In Kriegs- oder Konfliktsituation kann eine strafrechtliche Verfolgung oder Bestrafung
wegen der Weigerung der allgemeinen Wehrpflicht nachzukommen, per se eine
Verfolgung darstellen, wenn der Betreffende nachweisen kann, dass der Wehrdienst
5
seine Teilnahme an militärischen Aktionen erfordert, die er aufgrund echter und tief
empfundener moralischer, religiöser oder politischer Überzeugung oder aus sonstigen
berechtigten Gewissensgründen strikt ablehnt. Solche Gewissensgründe lassen sich
leichter nachweisen, wenn die militärischen Aktionen, an denen sich der Betreffende
beteiligen soll, den Grundregeln des menschlichen Verhaltens widersprechen und/oder
von der Völkergemeinschaft verurteilt worden sind. Dies ist jedoch keine
unentbehrliche Voraussetzung, denn auch wenn die militärischen Aktionen generell im
Einklang mit dem Kriegsrecht erfolgen, kann der Betreffende berechtigte
Gewissensgründe für die Verweigerung haben. Das kann der Fall sein, wenn er einer
ethnischen Minderheit angehört und von ihm verlangt wird, sich an militärischen
Aktionen gegen diese Minderheit zu beteiligen“ (Vorschlag für eine Richtlinie des
Rates über Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen und
Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz
benötigen, KOM(2001) 510endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drucks. 1017/01, S. 22,
Hervorhebungen nicht im Original)
Ersichtlich passt die Beklagte durch verkürzte Wiedergabe der Kommissionsbegründung den
weiten Ansatz der Kommission ihrer verengten Konzeption an. Man mag zwar eine enge
Rechtsansicht
vertreten.
Nicht
akzeptabel
ist
jedoch,
bei
der
Auslegung
der
Entstehungsgeschichte durch Verzerrungen den Eindruck hervorzurufen, grundlegende
Materialien im Rahmen der Entstehungsgeschichte stützten die eigene Auffassung. Vielmehr
ist für die Kommission zunächst der subjektive Gewissenskonflikt Ausgangspunkt der
Entscheidung. Der Verweigerer muss nachweisen, dass der Militärdienst seine Teilnahme an
militärischen Aktionen erfordert, die er aufgrund echter und tief empfundener moralischer,
religiöser oder politischer Überzeugung oder aus sonstigen berechtigten Gewissensgründen
strikt ablehnt. Erleichtert wird ihm dieser Nachweis, wenn die betreffenden Aktionen den
Grundregeln
des
menschlichen
Verhaltens
widersprechen
und/oder
von
der
Völkergemeinschaft verurteilt worden sind. Zwingend ist dies jedoch nicht, wie die
Kommission ausdrücklich hervorhebt. Die weiteren Ausführungen sind hier nicht relevant,
weil der Kläger sich für seine Desertion nicht auf die dort bezeichneten Umstände, sondern
darauf beruft, dass er nicht in völkerrechtswidrige Verbrechen verwickelt werden wollte. Da
die Kommission diese Gründe nur beispielhaft anführt, wird zugleich deutlich, dass es ihrer
Ansicht nach zuallererst auf den subjektiven Gewissenskonflikt ankommt. Dieser muss gut
begründet sein. Das bedeutet aber nicht, dass die die Gewissensentscheidung leitenden
Gründe auch tatsächlich objektiv vorliegen müssen.
6
III.
Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG
Der Kläger erfüllt nach seinen bisherigen Ausführungen und vorgebrachten Beweismitteln die
Voraussetzungen des Verfolgungsbegriffs, insbesondere des Regelbeispiels des Art. 9 Abs. 2
Buchst. e) RL 2004/83/EG. Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG stellt die
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Militärdienstverweigerung eine Verfolgung dar, wenn
der Antragsteller mit dem angeordneten Kriegsdienst zu Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG
zuwiderlaufenden militärischen Einsätzen gezwungen würde oder für den Fall der Rückkehr
hierzu gezwungen werden wird.
1.
Drohende Verfolgung wegen Militärdienstverweigerung
a) Der Asylsuchende muss den Militärdienst verweigert haben oder darlegen, dass er im Falle
der Rückkehr den Militärdienst verweigern wird und ihm deswegen Strafverfolgung oder
Bestrafung droht. Am rechtlichen Ausgangspunkt steht die Furcht vor Verfolgung wegen der
Desertion. Diese steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Verwaltungsverfahren
fest. Dass der Kläger wegen seiner Desertion bestraft werden wird, wird von der Beklagten im
angefochtenen Bescheid nicht mehr in Zweifel gezogen. Dem im Verwaltungsverfahren
zunächst erhobenen Einwand, der Kläger hätte durch einen Antrag auf Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerer nach den innerdienstlichen Verfahrensvorschriften die drohende
Bestrafung abwenden können, wurden konkrete und sachbezogene Gegenvorstellungen
entgegen gehalten (vgl. Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 6 ff.). Im angefochtenen Bescheid
wird an diesem Einwand nicht mehr festgehalten. Es steht damit fest, dass dem Kläger wegen
seiner Desertion strafrechtliche Verfolgung und andere erhebliche Sanktionen drohen.
b) Nach der im Verwaltungsverfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes ist von
einer abgestuften Sanktion je nach Dauer der Abwesenheit von der militärischen Einheit, der
Intention des Abwesenden und des Ermessens des Kommandeurs auszugehen. Sei ein Soldat
mehr als 180 Tage von seiner Einheit und mit dem Ziel abwesend, einen potenziell
7
gefährlichen Einsatz – wie zum Beispiel einen Kampfeinsatz im Irak - zu vermeiden, sei ein
Kriegsgerichtsverfahren wegen Desertion wahrscheinlich.
Es ist evident, dass diese Voraussetzungen auf den Kläger zutreffen. Er ist inzwischen seit
vier Jahren und drei Monaten von seiner Einheit abwesend. Die Publizität des Asylantrags des
Klägers in der Öffentlichkeit, insbesondere auch in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten,
die durch Presseberichte und Fernsehstationen über den Fall des Klägers informiert wurde,
macht die Intention seiner Abwesenheit für die zuständigen militärischen Sanktionsorgane
offensichtlich. In diesem Zusammenhang hat der Kläger in der Anhörung auch darauf
hingewiesen, dass die US-Behörden bereits drei Tage nach seiner Meldung bei der
Aufnahmeeinrichtung in Gießen über sein Asylgesuch in Deutschland und die hierfür
maßgeblichen Motive informiert gewesen seien (Anhörungsniederschrift, S. 28). Es ist nach
der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes deshalb mit einem längeren
Gefängnisaufenthalt und anschließender unehrenhafter Entlassung aus der Armee der
Vereinigten Staaten zu rechnen. Bezüglich des Umfangs der Freiheitsstrafe ist nach der
Auskunft des Auswärtigen Amtes von fünfzehn Monaten auszugehen.
Die Freiheitsstrafe erfüllt offensichtlich die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung
nach Art. 9 RL 2004/83/EG. Die „unehrenhafte Entlassung“ aus der Armee der Vereinigten
Staaten erfüllt die Voraussetzungen des Regelbeispiels nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) RL
2004/83/EG. Denn es handelt sich hierbei um eine justizielle Maßnahme, die bereits als
solche diskriminierend wirkt. Insoweit verweise ich zunächst auf den Vortrag des
Antragstellers in der persönlichen Anhörung (Anhörungsniederschrift, S. 23, 25 und 28).
c) In diesem Zusammenhang hat der Kläger in der persönlichen Anhörung erklärt, Desertion
sei angesichts des gesellschaftlichen Stellenwertes der Armee der Vereinigten Staaten in der
Gesellschaft eine Sache, die das Leben verändere und einschränke. Es würde wie ein
Kapitalverbrechen eingestuft, würde bei der Arbeitssuche offenkundig werden und eine
erfolgreiche Arbeitssuche unmöglich machen. Auch im übrigen gesellschaftlichen Leben sei
man gekennzeichnet. Wörtlich hat der Kläger erklärt: Ein „ganzes Leben bist du damit
gezeichnet, dass du ein solches Verbrechen begangen hast“ (Anhörungsniederschrift, S. 28).
Es liegen damit die Voraussetzungen einer Diskriminierungsmaßnahme im Sinne von Art. 9
Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG vor, weil diese zu Konsequenzen führen, welche den
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Betroffenen in hohem Maße benachteiligen, zum Beispiel die ärztliche Einschränkung des
Rechts, den Lebensunterhalt zu verdienen oder die Verhinderung des Zugangs zu
üblicherweise verfügbaren Bildungseinrichtungen (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren
und Kriterien zur Feststellung von Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 54 f.).
Vorliegend sind sowohl die Freiheitsstrafe wie auch die unehrenhafte Entlassung aus der
Armee der Vereinigten Staaten eine Folge, welche die Desertion des Antragstellers nach sich
zieht. Es handelt sich damit unzweifelhaft um Verfolgungshandlungen im Sinne des
Europarechtes.
d) Soweit in dem Auskunftsersuchen vom 20. Mai 2009 auf die jüngeren politischen
Veränderungen in den Vereinigten Staaten Bezug genommen wird, verhält sich die eingeholte
Auskunft zu dieser Frage nicht. Sie ist auch nicht relevant. Vielmehr ist zwischen den
jeweiligen maßgeblichen zeitlichen Anknüpfungspunkten zu differenzieren (Schriftsatz vom
30. Juni 2010, S. 9):
Maßgeblich für die Frage, ob der Kläger ein strafbares Verhalten begangen hat, sind die
Verhältnisse im Zeitpunkt April 2007, dem Zeitpunkt der Desertion. Maßgeblich für die
Verfolgungsprognose ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes (vgl. Art.
4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG; § 77 Abs. 1 AsylVfG). Nach der eingeholten Auskunft
des Auswärtigen Amtes drohen dem Antragsteller derzeit eine längere Freiheitsstrafe sowie
die „unehrenhafte Entlassung“ aus der Armee der Vereinigten Staaten. Der Hinweis auf die
Alternative der freiwilligen Rückkehr zum Militär ist für den Antragsteller angesichts seiner
glaubhaften gewissenbedingten Verweigerungsgründe unzumutbar und kann daher von ihm
nicht in Anspruch genommen werden.
2.
Begründete Furcht vor einer Verwicklung in Zuwiderhandlungen gegen humanitäres
Völkerrecht
Der Kläger hegt auch eine begründete Furcht vor Verfolgung. Da er sich für seine
Dienstverweigerung auf einen anerkannten Grund berufen kann, macht er nicht lediglich eine
Furcht vor Strafverfolgung, sondern vor Verfolgung im Sinne der GFK geltend.
9
a) Die Richtlinie will Asylsuchende davor schützen, in einem Konflikt Militärdienst zu
leisten, wenn in diesem Verbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG begangen
werden. Die Ratio von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG folgt damit aus der inneren
Struktur der Richtlinie. Die Norm stellt den, der seine Weigerung, dem Einsatzbefehl Folge
zu leisten, damit begründet, dass von den Streitkräften, in denen er den Dienst verrichten soll,
in dem Einsatzgebiet Verbrechen der in Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Art
begangen werden, den Flüchtlingsstatus zur Verfügung, sofern ihm die Flucht aus der Einheit
gelingt. Während für den Ausschluss des Flüchtlingsschutzes jedoch schwerwiegende Gründe
zu der Annahme berechtigten müssen, dass der Asylsuchende ein derartiges Verbrechen
begangen oder daran teilgenommen hat, reicht für die Statusgewährung die Darlegung aus,
dass er den Militärdienst „in einem Konflikt verweigert“, wenn es in diesem zu solcherart
Verbrechen kommt.
Es ist deshalb unerheblich, ob „die internationalen Truppen im Irak ständig oder gar
systematisch
gegen
die
Bestimmungen
des
humanitären
Völkerrechts
oder
gewohnheitsrechtliche Regeln der Kriegführung verstoßen würden“ (Bescheid, S. 18 f.) oder
ob es sich bei den bekannt gewordenen Zuwiderhandlungen gegen humanitäres Völkerrecht
um „Einzelfälle“ handelt, wie im angefochtenen Bescheid behauptet wird (Bescheid, S. 18).
Vielmehr ist maßgebend, ob der Verweigerer gute Gründe für seine Furcht bezeichnen kann,
dass er im Falle der Befolgung des Einsatzbefehls möglicherweise in völkerstrafrechtswidrige
Verbrechen verwickelt werden kann oder er nicht bereit ist, in einem Konflikt Militärdienst zu
leisten, wenn es dort zu derartigen Verbrechen kommt. Im Übrigen ist es unzutreffend, dass es
sich bei den bekannt gewordenen Zuwiderhandlungen der U.S.-amerikanischen Streitkräfte
im Irak lediglich um „Einzelfälle“ gehandelt hatte (hierzu weiter unten).
b) Für die Nachweislast wird nicht notwendiger Weise vorausgesetzt, dass der Verweigerer
selbst in derartige Verbrechen verwickelt werden wird. Vielmehr reicht es aus, dass er den
Nachweis führen kann, dass in dem Konflikt, in dem er eingesetzt werden wird, derartige
Verbrechen vorkommen und er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, an derartigen
Einsätzen teilzunehmen. Es muss also nicht jenseits aller vernünftigen Zweifel feststehen,
dass der Asylsuchende bei Befolgung des Einsatzbefehls in ein derartiges Verbrechen
10
verwickelt worden wäre. Das Flüchtlingsrecht will dem Einzelnen präventiv Schutz davor
gewähren, in eine Konfliktlage zu geraten, bei der es zur Begehung von derartigen
Verbrechen kommt. Es ist also im Blick auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit eine Bewertung ex ante gefordert, ob die Möglichkeit bestand, dass der
Verweigerer bei Befolgung des Einsatzbefehls in Verbrechen im Sine von Art. 1 A F GFK
verwickelt werden könnte. Demgegenüber ist das Völkerstrafrecht repressiv, setzt also die
Begehung eines solcherart Verbrechens voraus und bewertet ex post, ob jenseits vernünftiger
Zweifel feststeht, dass der Einzelne hieran beteiligt war. Der an das Völkerstrafrecht
anknüpfende Ausschlussgrund nach Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG lässt allerdings bereits
schwerwiegende Gründe ausreichen, die eine entsprechende Annahme rechtfertigen.
Die britische Rechtsprechung hat sich ausdrücklich gegen eine spiegelbildliche Anwendung
von Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG
ausgesprochen. Das mit dem Bundesgerichtshof vergleichbare zuständige britische
Berufungsgericht hat ausgeführt, es stelle eine oberflächliche Betrachtungsweise dar, dass nur
diejenigen berechtigt zur Schutzgewährung wären, die Asyl suchten, um dadurch die
Begehung eines in Art. 1 F GFK (Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG) bezeichneten Verbrechens
zu vermeiden. Für diesen Ansatz gebe es weder eine Begründung noch entspreche er der
Ratio des Flüchtlingsrechts (Court of Appeal, (2008) EWCA Civ 540 = IJRL 2008, 469, Rdn.
39 – BE). Das völkerrechtliche Flüchtlingsrecht folgt anderen Grundsätzen als das
völkerrechtliche Strafrecht.
aa) Der Schlüssel zum Verständnis des Flüchtlingsrechts ist nach Art. 1 A Nr. 2 GFK der
Begriff der Verfolgungsfurcht im Flüchtlingsbegriff (s. hierzu UNHCR, Handbuch über
Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Rdn. 37–65; Atle GrahlMadsen, Annals 1983, 11 (13); Patricia Hyndman, The Australian Law Journal 1986, 148
(149), Robert C. Sexton, Vanderbuilt Journal of Transnational Law 1985, 731 (748);
Theodore
N.
Cox,
Brooklyn
Journal
of
International
Law
1984,
333).
Die
Qualifikationsrichtlinie enthält zwar keine ausdrückliche Vorschrift zur Behandlung des
Begriffs der Verfolgungsfurcht, verweist indes in Art. 2 Buchst. c) auf den Begriff des
Flüchtlings nach Art. 1 A Nr. 2 GFK, für dessen Auslegung und Anwendung der Begriff der
Verfolgungsfurcht eine besondere Funktion hat. Darüber hinaus nimmt die Richtlinie in
11
einzelnen Bestimmungen diesen Begriff in Bezug (z. B. Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1,
Art. 11 Abs. 1 Buchst. d) und Abs. 2). Die Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG
ist deshalb stets im Zusammenhang mit dem Begriff der Verfolgungsfurcht zu sehen.
bb) Es kommt darauf an, ob der Asylsuchende eine begründete Furcht vor einer Verfolgung,
wie sie in Art. 9 RL 2004/83/EG inhaltlich bestimmt wird, hat. Entsprechend der
Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK steht daher am Ausgangspunkt der Prüfung
die Furcht vor Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG).
Der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK war zu Beginn der Anwendung der
Konvention in der Staatenpraxis wegen der Fixierung auf Flüchtlinge aus den
kommunistischen
Staaten
des
Ostblocks
vorrangig
subjektiv
geprägt.
Nach
der
Entstehungsgeschichte der Konvention ist offen, ob ihre Verfasser den liberalen Standard der
Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO), der Vorläuferin der Konvention, beibehalten
wollten (vgl. hierzu Cox, Brooklyn Journal of International Law 1984, S. 333 (349)). Nach
dem
IRO-Statut
war
die
persönliche
Darlegung
der
Fluchtgründe
vorrangige
Entscheidungsgrundlage. Dies reichte zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus; es sei
denn, die Darlegung war nicht schlüssig.
Die Frage der Übernahme des IRO-Standards war insbesondere während der Beratungen im
Ad hoc-Ausschuss ausführlich diskutiert worden. Der französische Delegierte wies darauf hin,
dass das IRO-Statut während der durch den Krieg bedingten Psychose eilig verabschiedet
worden sei, um Kriegsflüchtlingen schnell materielle Hilfe zukommen lassen zu können.
Frankreich habe aber in Ansehung der Flüchtlingskonvention, welche in der Zukunft das
IRO-Statut ersetzen sollte, die Vorstellung, dass Flüchtlinge in Zukunft unverzüglich
vollständigen und effektiven internationalen Rechtsschutz erhalten sollten (Rain, U. N. Doc.
E/AC.32/SR.5, 18. 1. 1950, S. 15). Der britische Delegierte äußerte demgegenüber die
Ansicht, die IRO-Definion sei extrem kompliziert und erfordere sorgfältige Interpretationen.
Seine
Regierung
befürworte
daher
eine
einfache,
leicht
verständliche
generelle
Flüchtlingsdefinition (Brass, U. N. Doc. E/AC.32/SR.6, 19. 1. 1950, S. 3). Dem hielt der
U. S.-Delegierte entgegen, dass das IRO-Statut zwar kein unantastbares Dokument sei. Es
enthalte jedoch die umfassendste Auflistung von Flüchtlingsgruppen, welche sicherlich
modifiziert werden könne. Sie könne in Abhängigkeit von der Schutzbedürftigkeit reduziert
12
oder ausgeweitet werden (Brass, U. N. Doc. E/AC.32/SR.6, 19. 1. 1950, S. 3). Die
Bevollmächtigtenkonferenz diskutierte nicht derart intensiv über den Begriff der
Verfolgungsfurcht wie der Ausschuss. Der französische Delegierte wandte ein, das IROStatut habe sich ausdrücklich auf Flüchtlinge aufgrund des Krieges bezogen. Deshalb müsse
die
Flüchtlingskonzeption
weiter
entwickelt
werden
(Rochefort,
U. N.
Doc.
A/CONF.2/SR.22, 16. 7. 1951, S. 15.). Dem pflichtete der Delegierte der Vereinigten Staaten
bei. Die Generalversammlung habe empfohlen, dass die Konferenz einen sehr liberalen
Begriff verabschiede, welche die größtmögliche weite Definition zur Folge habe (Warren,
U. N. Doc. A/CONF.2/SR.22, 16. 7. 1951, S. 16).
Das IRO-Statut hatte in den Flüchtlingsbegriff jene eingeschlossen, die aus »stichhaltigen
Gründen« einschließlich »Furcht, für die vernünftige Gründe der Verfolgung wegen der
Rasse, Religion Nationalität oder politischen Überzeugung« sprechen, nicht in ihr
Herkunftsland zurückkehren konnten (Abschnitt C (1) Buchst. a) (i)). Das IRO-Statut schloss
nur Personen ein, die bereits Verfolgung erlitten hatten. Demgegenüber war es die Aufgabe
der Verfasser der Konvention einen Flüchtlingsbegriff zu entwickeln, der auch zukünftige
Fälle von Verfolgung umfasst, sodass es auf eine gegenwärtige Furcht von Verfolgung
ankommt (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 68). Dementsprechend wurde der
Begriff „begründete Furcht vor Verfolgung“ gewählt, um dadurch sicherzustellen, dass jene,
die gute Gründe dafür angeben können, dass sie Verfolgung befürchten, ebenso geschützt
werden wie jene, die bereits in der Vergangenheit Opfer von Verfolgung gewesen waren (Ad
hoc Committee on Statelessness and Related Problems, UN Doc. E/1618 und E/AC.32/5,
S.39).
cc) Dem Begriff der „begründeten Verfolgungsfurcht“ wohnt damit eine in die Zukunft
gerichtete Abschätzung von Verfolgungsrisiken inne. Dabei
kommt
es
für die
Risikoabschätzung auf die persönlichen Umstände des Antragstellers, z.B. auf seinen
individuellen Hintergrund, Eigenschaften und Verhältnisse, an (s. auch Art. 4 Abs. 3 Buchst.
c), Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Angesichts der Entstehungsgeschichte der GFK ist zwar
das Urteil, die bloße Schlüssigkeits- bzw. Glaubwürdigkeitsprüfung des IRO-Statuts sei durch
die
GFK
übernommen
worden
und
schließe
eine
irgendwie
geartete
Wahrscheinlichkeitsprüfung aus, in dieser pauschalen Form nicht tragbar. Herzstück des
Verfahrens nach der GFK ist aber gleichwohl die Aussage des Antragstellers (ebenso
BVerwGE 71, 180 (181 f.) = NVwZ 1985, 685 = InfAuslR 1985, 244). Die Glaubhaftigkeit
13
seiner Angaben soll nicht durch Widersprüche in nebensächlichen Aspekten in Frage gestellt
werden (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 83–85). Da Furcht als subjektiver
Tatbestand bei den einzelnen Personen unterschiedliche Ursachen hat und sich äußerlich
kaum nachweisen lässt, wurde die Einführung eines objektivierenden Kriteriums für
erforderlich erachtet, andererseits eine exakte Objektivität im Sinne eines allgemein gültigen
Furcht-Niveaus für nicht realisierbar angesehen (Lieber, Die neuere Entwicklung des
Asylrechts im Völkerrecht und Staatsrecht, 1973, S. 105).
Beruft der Antragsteller sich ausdrücklich auf eine Furcht vor Verfolgung und bezeichnet er
hierfür die aus seiner Sicht maßgeblichen Gründe, sind diese zunächst aus seiner Sicht und
nicht aus der eines „vernünftigen und besonnen denkenden Dritten“ (BVerwGE 88, 367 (378)
= EZAR 202 Nr. 21 = NVwZ 1992, 578 = InfAuslR 1991, 363) zu beurteilen. Einem
derartigen Ansatz hält das völkerrechtliche Schrifttum entgegen, damit werde das Konzept der
begründeten Verfolgungsfurcht verfehlt (Grahl-Madsen, The Status of Refugees in
International Law, Bd. 1, 1966, S. 181). Zunächst ist daher festzustellen, ob der Antragsteller
Furcht vor Verfolgung geltend macht. Ausgehend hiervon ist anschließend den hierfür
vorgebrachten Gründen nachzugehen. Von den Feststellungsbehörden wird nicht verlangt, ein
Urteil über die Verhältnisse im Heimatstaat zu treffen. Andererseits sind die Erklärungen des
Asylsuchenden nicht abstrakt, sondern im Zusammenhang mit der für diese maßgebenden
Hintergrundsituation zu bewerten. Ob die den akuten Verfolgungsdruck auslösenden
Tatsachen und Umstände geeignet waren, bei dem Antragsteller eine Furcht vor Verfolgung
auszulösen, kann nur dieser und nicht ein fiktiver Dritter beurteilen.
dd) Die Bedeutung des Begriffs der Verfolgungsfurcht nach Art. 1 A Nr. 2 GFK kann danach
dahin verstanden werden, dass es zuallererst Aufgabe des Antragstellers ist, schlüssig die für
seine Verfolgungsfurcht maßgebenden Tatsachen vorzutragen. Da objektive Tatsachen aus
dem individuellen Erlebnisbereich regelmäßig einer Überprüfung nur begrenzt zugänglich
sind, fordert die Flüchtlingskonvention eine besondere Berücksichtigung des individuellen
Tatsachenvortrags und fordert damit die Vertragsstaaten auf, im Blick auf die dargelegte
Furcht des Antragstellers vor Verfolgung ein Wohlwollensgebot zu beachten. Dies bedeutet
nicht, dass subjektive Überempfindlichkeiten die Rechtsfindung leiten sollen. Im
Richtlinienentwurf wurde für die Verfolgung entsprechend dem völkerrechtlichen Ansatz auf
die Furcht des Antragstellers abgestellt. Art. 11 Nr. 1 des Entwurfs bestimmte: (Es) „wird
geprüft, ob objektiv eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann“
14
(Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung von
Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig
internationalen Schutz benötigen, KOM(2001) 510endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drucks.
1017/01, S. 50). Zwar fehlt im endgültigen Wortlaut von Art. 9 der Richtlinie dieser
Zusammenhang zwischen Furcht und Verfolgung. Dabei scheint es sich aber gegenüber dem
Entwurf um lediglich eine andere redaktionelle Vorgehensweise zu handeln. Denn mit Art. 4
Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG werden ebenso wie im Art. 11 des Entwurfs die
„individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers“ an den Ausgangspunkt
der Prüfung gestellt.
Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG sind Anträge auf internationalen Schutz individuell zu
prüfen, wobei die »individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers
einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und
Alter« zu berücksichtigen sind, um bewerten zu können, ob »in Anbetracht seiner
persönlichen Umstände« die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein
könnte, einer Verfolgung gleichzusetzen sind (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Es
bedarf keines Nachweises für die Angaben des Antragstellers, wenn er sich offenkundig
bemüht hat, seinen Antrag zu substanziieren und festgestellt wurde, dass seine Aussagen
kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen
Informationen nicht in Widerspruch stehen (Art. 4 Abs. 5 Buchst. a) und c) RL 2004/83/EG).
c) Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren durch Vorlage einer Vielzahl von Beweismitteln
Beweis geführt, dass die U.S.-Streitkräfte im Zeitpunkt seiner Desertion im April 2007 und
davor eine Vielzahl von Kriegsverbrechen, insbesondere auch durch Verwendung von
Kampfhubschraubern, begangen hatten, die Führung der Armee diese Verbrechen nicht
wirksam strafrechtlich verfolgt hatte (Antragsbegründung, S. 11 bis 19, Schriftsatz vom 10.
Mai 2009, S. 14 bis 19; Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 9 bis 15) und die Möglichkeit
bestand, dass er durch seine Tätigkeit als Hubschraubermechaniker in derartige Verbrechen
verwickelt hätte werden können. Die im angefochtenen Bescheid hiergegen vorgebrachten
Einwände sind weder überzeugungskräftig noch plausibel.
aa) Die U.S.-amerikanischen Streitkräfte haben im Zeitpunkt der Desertion des Klägers im
April 2007 und davor eine Vielzahl von Kriegsverbrechen begangen. Der Einwand der
15
Beklagten, es habe sich um „Einzelfälle“ gehandelt, ist schon deshalb nicht überzeugend, weil
er weder belegt wird noch eine Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Sachvorbringen
im Verwaltungsverfahren erfolgt.
Wie im Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 17 ff., dargelegt, haben sich nach Art. 8 Abs. 2
Buchst. b) (iv) Rom-Statut die militärische Führung und die operativen Einheiten vor dem
Einsatz jeweils Rechenschaft abzugeben, ob der vorgesehene Angriff zu Verlusten an
Menschenleben und zur Verwundung von Zivilpersonen führen wird, die „eindeutig in
keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbarem militärischen
Vorteil stehen“. Es wurden im Schriftsatz vom 10. Mai 2009 bezogen auf den Hubschrauber
Apaché AH-64 konkrete Ausführungen dazu gemacht, dass bei einem Einsatz dieses
Hubschraubers zur Bekämpfung terroristischer Gegner insbesondere in dicht besiedelten
städtischen Gebieten nicht hinreichend sicher gewährleistet ist, dass die unbeteiligte
Zivilbevölkerung nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Im Gegenteil, besteht angesichts der
Streuweite der mittels dieses Hubschraubers eingesetzten Waffen für alle Beteiligten
vorhersehbar insbesondere in städtischen Gebieten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit
dafür, dass es zu hohen Verlusten unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung und damit zu
Kriegsverbrechen kommen wird.
Insbesondere die Vorfälle im November 2004 in Fallujah sind ein Musterbeispiel für die Art
der Kriegführung im Zeitraum, in dem der Kläger erstmals im Irak eingesetzt war. Der
Feldzug gegen Fallujah im April und November 2004 wird als das mit Abstand größte
Verbrechen der U.S.-Truppen im Irak bezeichnet. Viele sprachen von einem „irakischen
Guernica“ (Asia Times vom 2. Dezember 2004). Die von der Beklagten im
Verwaltungsverfahren und erneut im angefochtenen Bescheid (S. 18) aufgeworfenen Fragen
nach der Anzahl der Zivilpersonen, die im Zusammenhang mit den bewaffneten Einsätzen der
Koalitionsstreitkräfte in den jeweiligen Konfliktphasen zu Tode gekommen sind, bedarf für
die Entscheidung im vorliegenden Fall keiner Beantwortung, da es im Rahmen des nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes maßgeblichen Art. 8 Abs. 2 Buchst. b) (iv)
Rom-Statut – wie im Übrigen auch nach § 11 VStGB - auf eine systematische Praxis der
Verletzung humanitären Völkerrechtes nicht ankommt.
16
Wie insbesondere im Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16 ff., im Einzelnen ausgeführt,
wurden Apaché AH-64 Hubschrauber im Jahre 2007 zunehmend gegen Personen und
Gebäude eingesetzt, ohne dass die Besatzung Kenntnisse darüber hatte, wer sich in den
Gebäuden befunden hatte. Das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht fordert jedoch, dass
Angriffe gegen militärische Ziele, die innerhalb von Gebieten, in denen überwiegend
Zivilbevölkerung lebt, soweit wie möglich unterbleiben. Die Anwesenheit einzelner
Kombattanten innerhalb einer Vielzahl von Zivilpersonen verändert nicht den zivilen
Charakter eines Gebiets (UN Assistance Mission for Iraq – 30. June 2007, S. 9). Wie im
Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16/17, im Einzelnen ausgeführt, wurden 2007 bei
Luftangriffen im Irak zunehmend Zivilpersonen getötet. Bereits die Vielzahl ziviler Opfer ist
ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Einsätze humanitären Rechtsregeln zuwiderliefen.
Nach dem im Verwaltungsverfahren vorgelegten Bericht „War and Occupation in Iraq“ des
Global Policy Forum vom Januar 2007 haben die multinationalen Streitkräfte im Irak seit
Beginn des Krieges unangemessene Gewalt bei ihren Angriffen auf irakische Städte
angewandt. Massive Bombardements aus der Luft und durch Bodentruppen hätten zu
tausenden von Vertriebenen und zahllosen Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt. Dabei
seien tausende von Häusern, Geschäften, Moscheen, Krankenhäusern und Schulen zerstört
worden. Die größte Gruppe der Getöteten hätten Kinder dargestellt. Die massiven
Bombenangriffe hätten zu erheblichen Zerstörungen in den Städten einschließlich historischer
und religiöser Gedenkstätten, Strom- und Wasserversorgungsanlagen sowie Abwasseranlagen
geführt. Die Strategie wahlloser und massiver Bombardements zur Vorbereitung von
Landoffensiven hätten erhebliche Opfer unter der Zivilbevölkerung mit sich gebracht.
Luftangriffe hätten typischerweise wahllosen Charakter. Während die multinationalen
Streitkräfte behaupteten, dass die meisten Getöteten Männer im wehrfähigen Alter gewesen
seien, hätten vertrauenswürdige Berichte bestätigt, dass es sich bei der Mehrzahl der
Getöteten um Nichtkombattanten gehandelt habe.
Nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. a (iv) Rom-Statut stellt die Zerstörung von Eigentum größeren
Ausmaßes, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt ist, ein Kriegsverbrechen
dar. Nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. b (ii) des Statuts erfüllen vorsätzliche Angriffe auf zivile
Objekte ebenfalls den Tatbestand eines Kriegsverbrechens. Die Vertreibung der
Zivilbevölkerung, welche Folge der Ankündigung der multinationalen Streitkräfte eines
17
Angriffs auf Städte war und gezielt herbeigeführt wurde, erfüllt den Tatbestand des
Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. a) (vi) Rom-Statut, der vorsätzliche Angriff auf
die unbeteiligte Zivilbevölkerung den eines Kriegsverbrechen nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. b)
(i) Rom-Statut. Kampfhubschrauber waren an diesen Kriegsverbrechen beteiligt, wie aus dem
erwähnten Bericht hervorgeht.
In den Gesamtkontext der „systematischen Praxis, im Zuge militärischer Operationen zur
Verfolgung militärischer Ziele ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung unterschiedslos und
unverhältnismäßig Waffen einzusetzen“ (Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 17), fügt sich der
im Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 13) geschilderte Vorfall ein. Wird dieser Bericht im
Zusammenhang mit den bereits vorgelegten Berichten bewertet, ist offensichtlich, dass durch
den Einsatz der Apaché-Hubschrauber in einer Vielzahl von Fällen Kriegsverbrechen
begangen wurden, und zwar in dem Einsatzgebiet und zu dem Zeitpunkt, in dem der Kläger
im Irak bzw. zu dem seine Verwendung im Irak vorgesehen war.
Im Zeitpunkt der Desertion des Klägers bestand darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass
die Zahl der von US-amerikanischen Streitkräften begangenen Kriegsverbrechen in der
Zukunft zunehmen werde. Der damalige Präsident der Vereinigten Staaten hatte in einer Rede
vor dem World Affairs Council of Western Michigan am 20. April 2007 angekündigt,
zusätzliche Streitkräfte in den Irak zu entsenden.
Beweis:
Rede des US-Präsidenten vor dem World Affairs Council of Western Michigan
am 20. April 20007, in: AG Friedensforschung.
In Bagdad gebe es die meisten Unruhen. Dort werde der Hauptteil der zusätzlichen Truppen
stationiert. Von gemeinsamen Sicherheitsstellen aus sollten irakische und U.S.-amerikanische
Streitkräfte gemeinsam die Stadtviertel räumen und sichern. Angesichts der bis dahin bekannt
gewordenen Vielzahl von Kriegsverbrechen bestand damit eine hohe Wahrscheinlichkeit
dafür, dass sich im Rahmen der vom Präsidenten als „neue Strategie“ verkündeten
Verstärkung der Truppenpräsenz auch die Zahl der Kriegsverbrechen erhöhen werde. Ferner
bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei den Einsätzen in Bagdad – wie auch in der
Vergangenheit – Kampfhubschrauber zur Unterstützung eingesetzt werden würden.
18
bb) Der von der Beklagten erhobene Einwand, eine konkrete Gefahr für den Kläger, bei
Fortsetzung seines Dienstverhältnisses in Kriegsverbrechen verwickelt zu werden, habe auch
deswegen nicht bestanden, „weil die amerikanischen Streitkräfte Verstöße gegen das
humanitäre Völkerrecht nicht tolerieren und schon gar nicht fördern“ (Bescheid, S. 20), ist
schon deshalb nicht überzeugend, weil insoweit eine Auseinandersetzung mit dem konkreten
Sachvorbringen des Klägers unterbleibt.
Bereits im Verwaltungsverfahren hatte das Bundesamt die Frage nach der wirksamen
Verfolgung von Kriegsverbrechen aufgeworfen. Hierzu wurde mit Schriftsatz vom 10. Mai
2009, S. 15/16, und erneut mit Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 11, Stellung genommen.
Besonders deutlich und beispielhaft wird die fehlende wirksame Ahndung von
Kriegsverbrechen anhand des bezeichneten Vorfalls des Journalisten von Reuters. Anstelle
der straf- und disziplinarrechtlichen Verfolgung der verantwortlichen Soldaten sucht das
Verteidigungsministerium nach der Quelle in den eigenen Reihen, welche das Material
Wikileaks zugespielt haben könnte. Anstelle der Durchführung wirksamer Untersuchungen
wird zunächst das Video unter Verschluss gehalten und nach außen bekundet, dass es sich um
Kollateralschäden handele.
Die eingeführten Beweismaterialien belegen damit, dass die US-Behörden im Zeitpunkt der
Desertion des Klägers und davor auf die Begehung von Kriegsverbrechen abzielende
Vorwürfe irakischer Stellen regelmäßig verneint, bei erdrückender Beweislast zugesichert
hatten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, jedoch untätig blieben (s. hierzu insbesondere
Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16/17). Die „Rules of Engagement for Iraq“ mögen
theoretisch auf das bestehende Völkerrecht hinweisen, wurden in der Praxis jedoch in einer
Weise angewandt, dass Kriegsverbrechen nicht geahndet wurden. Der Europäische
Gerichtshof fordert in diesem Zusammenhang, dass die Feststellungsbehörden nicht – wie im
angefochtene
Bescheid
auf
S.
20
-
lediglich
die
bestehenden
Rechts-
und
Verwaltungsvorschriften in den Blick nehmen dürfen, sondern insbesondere die Weise, in der
sie angewandt werden, ins Auge zu fassen haben (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ
2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rn 71 – Abdullah).
In der Veröffentlichung „Winter Soldier – Iraq and Afghanistan“, von „Iraq Veterans Against
the War“, 2008, (s. Anlage) wird über eine Vielzahl von Aussagen von U.S.-Soldaten
19
berichtet, die sich darüber beschwert hatten, dass sie zwar über die Rules of Engagement in
Kenntnis gesetzt worden seien, diese jedoch nach dem Sturz des Saddam Hussein-Regimes
erheblich gelockert worden seien. Jede irakische Zivilperson sei als „potenzieller
Aufständischer“ angesehen worden. Zwar hätten die Rules of Engagement die Soldaten dazu
verpflichtet, erst eine „feindliche Aktion“ oder eine „feindliche Absicht“ festzustellen, bevor
sie die Schusswaffe benutzten. Nach den zahlreichen vorgelegten Aussagen von Soldaten
hätten
die
Einsatzführer
diese
Vorschriften
jedoch
sehr
nachlässig
interpretiert.
Krankenhäuser, Moscheen, Schulen und historische Denkmäler seien angegriffen worden.
Schießereien auf Unschuldige an Kontrollstellen und im Rahmen von Hausrazzien seien
üblich gewesen. Von 2003 bis 2007 seien im Zusammenhang mit Tötungen von irakischen
Zivilpersonen lediglich 31 Soldaten angeklagt worden, lediglich zwölf seien zu
Freiheitsstrafen verurteilt worden, neun von diesen seien Offiziere gewesen. Die American
Civil Liberties Union habe im September 2007 über zehntausend Seiten umfassende, als U.S.Army-Dokumente
klassifizierte
Materialien
erhalten.
Danach
seien
in
Kriegsgerichtsverfahren die Begriffe „feindliche Aktion“ oder „feindliche Absicht“ derart
weit interpretiert worden, dass nahezu jede Verhaltensweise einer irakischen Zivilperson als
Rechtfertigung für den Einsatz von Waffen hätten gewertet werden können.
cc)
Unzutreffend
geht
die
Beklagte
davon
aus,
der
Kläger
habe
sich
als
Hubschraubermechaniker nicht nach dem Völkerrecht strafbar machen können (Bescheid, S.
17). Dieser Einwand entbehrt bereits deshalb jeglicher Schlüssigkeit, weil er sich mit dem
entgegenstehenden Sachvorbringen des Klägers nicht auseinandersetzt.
Der Kläger war als verantwortlicher „Romeo“ für die Wartung von Hubschraubern des Typs
Apaché AH-64 zuständig. Wäre er im April 2007 nicht desertiert, sondern hätte er dem
Einsatzbefehl Folge geleistet und weiterhin Hubschrauber des Typs Apaché AH-64 gewartet,
hätte eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestanden, dass er in Kriegsverbrechen verwickelt
worden wäre. Der Kläger befand sich damit im Zeitpunkt seiner Desertion in einer vom
Unionsrecht anerkannten schutzwürdigen ausweglosen Lage und ist ihm deshalb der
Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.
Für die Bewertung der Schutzbedürftigkeit des Klägers ist von dem nach der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts maßgebenden Art. 25 Abs. 3 Buchst. c) Rom-Statut
20
auszugehen. Danach ist für die Begehung eines Kriegsverbrechens individuell verantwortlich,
wer zu dessen Erleichterung „Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder
seiner versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die
Begehung“ (vgl. Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 21). Gegen den Einwand der Beklagten,
eine „Mitverantwortung“ im völkerstrafrechtlichen Sinne scheide aus (Bescheid, S. 18), ist
nichts zu erinnern. Andererseits wird aber eingeräumt, die vom Kläger befürchtete
Beteiligung und Mitverantwortung könnte sich bereits im Sinne einer conditio-sine-qua-non
aus seinem konkreten militärischen Aufgabenbereich folgern lassen. Für die Nachweislast im
flüchtlingsrechtlichen Sinne ist dies ausreichend.
Wer als Soldat Kampfhubschrauber in gesamtverantwortlicher Wartungsfunktion („Romeo“)
„fit für den Einsatz zwölf Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche machen muss“, nach
sorgfältigen und intensiven Recherchen über Internet sichere Kenntnisse darüber erworben
hat (vgl. auch § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB), dass aus diesen Hubschraubern in dicht besiedelten
städtischen Gebieten Raketen und andere unterschiedslos wirkende Waffen eingesetzt
werden, dass in Fallujah im November 2004 mit Hilfe dieser Kampfhubschrauber massive
Kriegsverbrechen und auch in der Folgezeit derartige Verbrechen begangen wurden, muss
damit rechnen, dass er in der Gefahr steht, ein Kriegsverbrechen zu begehen, weil die
Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass er „sonstige Unterstützung zu derartigen
Verbrechen leistet und für diese die erforderlichen Mittel bereitstellt.“ Im Zeitpunkt der
Desertion musste der Kläger damit rechnen, dass er durch seine Wartungstätigkeiten
wahrscheinlich erneut in derartige Kriegsverbrechen verwickelt werden würde:
Die ihm gegebenen Zusicherungen, dass sein Bataillon nicht erneut im Irak eingesetzt werden
würde, waren aufgrund der neuen Strategie des Präsidenten im Irak nicht eingehalten worden.
Der Präsident hatte angekündigt, dass insbesondere in Bagdad zusätzliche Brigaden eingesetzt
und die irakische und U.S.-amerikanische Armee Seite an Seite Stadtviertel räumen werden
würden. Aufgrund der vom Kläger durchgeführten Recherchen über die Kriegsmethoden in
der Vergangenheit musste er davon ausgehen, dass es im Rahmen der neuen Strategie zu einer
Zunahme von Kriegsverbrechen kommen und dabei der Einsatz von Kampfhubschraubern
eine erhebliche militärische Funktion übernehmen würde. Die nachträglichen Entwicklungen
haben im Übrigen die Befürchtungen des Klägers bestätigt. Rechtlich relevant ist aber allein,
21
dass er im Zeitpunkt seiner Desertion mit der Möglichkeit rechnen musste, dass er durch
Wartungsarbeiten in Kriegsverbrechen hätte hineingezogen werden können.
Maßgebend
für
die
Darlegungslast
ist
die
Glaubhaftmachung
eines
ernsthaften
Gewissenskonfliktes des Klägers im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG. Der
Kläger ist nicht gehalten, nach den Beweisregeln „jenseits aller vernünftigen Zweifel“ einen
Gewissenskonflikt darzulegen, sondern glaubhaft zu machen, dass er aufgrund der ihm
verfügbaren Informationen möglicherweise an militärischen Angriffen beteiligt worden wäre,
bei denen erwartet werden konnte, dass diese die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen
in einem Ausmaße verursachen würden, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten
konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stand. Dabei muss der Kläger nicht wie ein
Strafrichter nachträglich Beweis führen, dass die damals aus seiner Sicht bevorstehenden
militärischen Einsätze Völkerrecht verletzen werden, sondern gute Gründe bezeichnen, dass
er aus seiner Sicht im April 2007 davon ausgehen konnte, dass es möglicherweise zu
Verletzungen humanitären Rechts kommen würde. Angesichts der Vielzahl der geschilderten
Kriegsverbrechen, die insbesondere unter Einsatz des Kampfhubschraubers Apaché AH-64
verübt wurden, hatte der Kläger gute Gründe für eine derartige Furcht.
Soweit die Beklagte einwendet, die Befürchtungen des Klägers, dass die von ihm betreuten
Hubschrauber durch ihre Besatzungen zu konkreten Kriegsverbrechen eingesetzt werden
könnten, beruhten auf Vermutungen bzw. stellten lediglich hypothetische Möglichkeiten dar
(Bescheid, S. 17), wird erneut entgegenstehendes Sachvorbringen des Klägers nicht
berücksichtigt. Nach den Erklärungen des Klägers im Verwaltungsverfahren sind ApachéHubschrauber seiner Einheit im November 2004 in Fallujah eingesetzt worden. Zum
damaligen Zeitpunkt hatte er über die Tatsache, dass es dabei zu Kriegsverbrechen gekommen
war, jedoch keine Kenntnis gehabt. Erst im Rahmen seiner nachträglichen Internetrecherchen
hatte er hiervon Kenntnis erlangt (Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16). Ferner wurde im
Verwaltungsverfahren der Bericht von Rau und Parker vom 1. April 2008, der einen
Schwerpunkt auf diesen Kampfhubschrauber legt, eingeführt (Schriftsatz vom 10. Mai 2009,
S. 16 ff). Danach wurden die Hubschrauber, die nach ihrer Kampfausrüstung nur dafür
geeignet sind, gegen Fahrzeuge und vergleichbare militärische Objekte verwendet zu werden,
zunehmend gegen Personen und Gebäude eingesetzt, ohne dass die Besatzung Kenntnis
darüber hatte, wer sich in den Gebäuden befand. Im Jahre 2007 wurden 596 Lufteinsätze im
22
Irak geflogen, bei denen 417 Personen getötet wurden. In den ersten beiden Monaten des
Jahres 2008 war die Einsatzzahl erhöht worden. Im Oktober 2007 hatte ein Luftangriff
nordwestlich von Bagdad den Tod von neun Frauen und sechs Kindern zur Folge. Wenig
später wurden bei einem Luftangriff in Sadr City in Bagdad 15 unbeteiligte Zivilpersonen
getötet und 52 verwundet, darunter Frauen und Kinder. Einen Tag später wurden bei einem
Luftangriff auf ein Gebäude im Norden Bagdads fünf Frauen und ein Kind getötet. Am 2.
Februar 2008 wurden bei einem Lufteinsatz nahe Iskandariyah neun Zivilpersonen getötet.
Ende Februar 2008 hatten Helikopter das Feuer auf ein Haus in Zab im Norden Iraks eröffnet.
Dabei kamen acht Zivilpersonen, fünf davon Kinder derselben Familie, ums Leben.
Der Kläger hat nach alledem eine Vielzahl von guten (objektiven) Gründen für seinen
subjektiven Gewissenskonflikt bezeichnet, dass der von ihm konkret geforderte Militärdienst
seine Teilnahme an militärischen Aktionen erforderte, die er aufgrund echter und tief
empfundener moralischer Überzeugung strikt ablehnt. Der nur auf einen eng begrenzten
Zeitraum beschränkte vorstehende Überblick belegt, dass im Zeitpunkt der Desertion des
Klägers gewichtige Indizien dafür sprachen, dass die U.S.-amerikanischen Streitkräfte in
Kriegsverbrechen verwickelt waren. Insbesondere der Einsatz von Kampfhubschraubern, die
für den Einsatz auf Personen wegen der Streuweite ihrer tödlichen Waffen aufgrund des
völkerrechtlichen Unterscheidungsgebotes nicht geeignet sind, stellt ein schwerwiegendes
Indiz dar, dass die militärische Führung bewusst und gezielt Kriegswaffen eingesetzt und
Kriegsmethoden gewählt hat, die zur Begehung von Kriegsverbrechen führen mussten.
Angesichts dessen kann vom Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten (Bescheid, S. 15)
nicht verlangt werden, darzulegen, dass ihm bei früheren Einsätzen angesonnen worden wäre,
sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen. Es spricht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür,
dass vom Kläger gewartete Kampfhubschrauber im Rahmen der den von den U.S.amerikanischen Streitkräften im November 2004 in Fallujah begangenen Kriegsverbrechen
verwendet wurden. Wie ausgeführt, war dies dem Kläger im Zeitpunkt seines ersten Einsatzes
im Irak nicht bewusst. Nach den nachträglich durchgeführten Recherchen hatte er jedoch gute
Gründe für die Befürchtung, dass er bei einem weiteren Einsatz im Irak, erneut in derartige
Kriegsverbrechen verwickelt worden wäre. Der Kläger kann damit fundierte, vom
Völkerrecht anerkannte Gründe für seine Desertion geltend machen.
23
3.
Begründete Furcht vor einer Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Einsatz
Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren seine Gewissensentscheidung, dem militärischen
Einsatzbefehl nicht Folge zu leiten, darüber hinaus damit begründet, dass er nicht an einem
völkerrechtswidrigen Krieg habe teilnehmen wollen (Antragsbegründung, S. 8 bis.). Die
Beklagte räumt ein, dass Führen eines völkerrechtswidrigen Angriffs könne zwar als
Verbrechen gegen den Frieden strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, der Kläger
komme jedoch als Täter eines derartigen Verbrechens nicht in Betracht (Bescheid, S. 21).
a) Dass als Täter eines Verbrechens gegen den Frieden nur Personen in Betracht kommen, die
„eine tatsächliche militärische oder politische Führungsposition innerhalb eines Staates
innehaben“ (Bescheid, S. 21), besagt als solches noch nicht, dass allein deshalb dem Kläger
die Berufung auf eine entsprechende Motivation für seine Verweigerung als Begründung für
sein Asylbegehren untersagt wäre. Zutreffend ist im Ansatz, dass von Anfang an Einigkeit
bestand, dass nur militärische Kommandanten oder politische Führer, die für den Staat
handeln, als Täter eines Verbrechens gegen den Frieden behandelt werden sollten (ILC
Report, A/51/10, 1996, ch.II/2, Rdn. 46-48, in: http://www.un.org./law/ilc/texts/dcodefra.htm;
Goodwin-Gill/McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 166, mit
Verweis auf Brownlie, International Law and the Use of Force of States, 1963, S. 195; ebenso
Zimmermann/Wennholz, in: Zimmermann, The 1951 Convention relating to the Status of
Refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 1 F Rdn. 51). Für den
Flüchtlingsausschluss nach Art. 12 Abs. 2 RL 2004/38/EG) ist deshalb die spezifische
Täterqualifikation gefordert. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt es
hingegen auf die die Gewissensentscheidung leitenden Gründe an.
Die Kommission hatte die Erstreckung des Begriffs der Verfolgungshandlung auf
Kriegsdienstverweigerer damit begründet, eine strafrechtliche Verfolgung oder Bestrafung in
Kriegs- oder Konfliktsituation könne „per se eine Verfolgung darstellen, wenn der
Betreffende nachweisen kann, dass der Wehrdienst seine Teilnahme an militärischen
Aktionen erfordert, die er aufgrund echter und tief empfundener moralischer, religiöser oder
politischer Überzeugung oder aus sonstigen berechtigten Gewissensgründen strikt ablehnt“
(Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung von
Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig
internationalen Schutz benötigen, KOM(2001) 510endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drucks.
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1017/01, S. 22, Hervorhebungen nicht im Original). Danach muss der Antragsteller
nachweisen, dass seine Gewissensentscheidung gegen den von ihm geforderten konkreten
Einsatz dadurch begründet wird, dass er es aus „berechtigten Gewissensgründen strikt
ablehnt“, an einem Einsatz teilzunehmen, der Völkerrecht verletzt. Er ist nicht verpflichtet
nachzuweisen, dass er sich bei Befolgung des Einsatzbefehls der Begehung eines
Kriegsverbrechens schuldig gemacht hätte. Vielmehr ist er verpflichtet, darzulegen, dass
objektive Gründe für seine Gewissensentscheidung, dass der konkret von ihm geforderte
militärische Einsatz Völkerrecht verletzt, sprechen.
b) Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren eine Vielzahl von Gründen vorgebracht, dass der
militärische Einsatz der Koalitionstruppen ein Verbrechen gegen den Frieden darstellt. So hat
er in der Antragsbegründung darauf hingewiesen, dass gegen die von den Regierungen der
Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreiches am 20. März 2003 eingeleiteten
offensiven militärischen Kampfhandlungen gegen den Irak bereits damals gravierende
rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta bestanden hätten.
Nach der überwiegenden völkerrechtlichen Literatur hat der Einsatz der US-Armee im Irak
Art. 2 Nr. 4 UN-Charta verletzt und war deshalb ein Aggressionskrieg (Bothe, ArchVR 2003,
255 (259 ff.); Hestermeyer, ZaöRV 2004, 315 (270; Riklin, ArchVR 2007, 35 (44 ff.); Kotzer,
JZ 2006, 25; Bruha, ArchVR 2003, 295; Tomuschat, Vereinte Nationen 2003, 41). Eine
Kriegführung ohne eine entsprechende Ermächtigung des Sicherheitsrates verletzt das
Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta und stellt deshalb ein Verbrechen gegen den
Frieden dar.
Der Einsatz der Koalitionstruppen beruhte nicht auf einem Mandat des Sicherheitsrates und
war deshalb völkerrechtswidrig. Zwar wendet die Beklagte ein, für die Zeit nach der
Kapitulation der irakischen Streitkräfte sei von einer wesentlichen Zäsur in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht auszugehen. Seit Mai 2005 habe die Präsenz der Koalitionstruppen auf
einem Mandat des Sicherheitsrates beruht (Bescheid, S. 21 f.). Resolution 1483 (2003)
ermächtigte die Koalitionstruppen jedoch nur dazu, Unterstützung beim Aufbau ziviler
Verwaltungsstrukturen („nation building“) zu leisten, enthielt sich aber jeglicher
nachträglicher Legitimierung des ursprünglichen militärischen Einsatzes. Die Konstruktion
einer nachträglichen völkerrechtlichen Legitimierung eines völkerrechtswidrigen Einsatzes ist
rechtlich unzulässig und bereits deshalb nicht überzeugungskräftig, weil maßgebende Staaten
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im Sicherheitsrat gegen den Einsatz waren und bis heute diese Position nicht aufgegeben
haben. Dagegen spricht insbesondere, dass Resolution 1511 (2003) ausdrücklich die
territoriale Integrität des Irak hervorhebt und auf den vorübergehenden Charakter der Präsenz
der Koalitionstruppen verweist.
Die Beklagte wendet hiergegen ein, „für die weitere Präsenz der Koalitionstruppen und die
dabei wahrgenommenen Aufgaben einschließlich der Auseinandersetzungen im Konflikt mit
‚Aufständischen‘“, könne nicht mehr von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
ausgegangen werden (Bescheid, S. 22). Das nachträgliche Mandat des Sicherheitsrates
ermächtigte die Koalitionstruppen jedoch nur zur Beteiligung an Maßnahmen zur Bewahrung
von Sicherheit und Stabilität (Rsolution1637 (2005); Resolution 1723 (2006); Resolution
1790 (22007)), nicht jedoch dazu, mit völkerrechtswidrigen Kriegsmethoden die unbeteiligte
Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen. Derartige Maßnahmen waren nicht vom
Mandat des Sicherheitsrates gedeckt und waren völkerrechtswidrig und insbesondere
maßgebend für den Entschluss des Antragstellers, dem Einsatzbefehl nicht Folge zu leisten.
4.
Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG
Die dem Kläger drohende Strafverfolgung sowie weitere Repressalien erfüllen den Begriff der
Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG.
a) Soweit im angefochtenen Bescheid ausgeführt wird, es bestehe kein Grund für die
Annahme, dass sich US-amerikanische Deserteure, „insbesondere auch im Zusammenhang
mit einer ablehnenden Haltung zum Irak-Konflikt, nunmehr einer rechtswidrigen oder
willkürlichen Behandlung oder gar einer unverhältnismäßigen Sanktionierung ausgesetzt
sehen würden“ (Bescheid, S. 9) und diese Ausführungen auf die Voraussetzungen der
Flüchtlingseigenschaft übertragen werden (Bescheid, S. 14), greift dieser Ansatz zu kurz. Die
Bestrafung wegen Dienstverweigerung ist nicht lediglich nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) RL
2004/83/EG erheblich. Vielmehr bildet Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG unabhängig
hiervon ein eigenständiges Regelbeispiel und folgt anderen Grundsätzen als das in Buchstabe
c) bezeichnete.
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Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG verwendet den umfassenderen Begriff des
„Militärdienstes“ und nicht den engeren des „Wehrdienstes“. Es werden also nicht nur
Wehrdienstleistende erfasst, sondern alle einberufenen oder einzuberufenden Soldaten
unabhängig davon, ob sie ihrer gesetzlich angeordneten Wehrpflicht folgen, freiwillig
Wehrdienst oder als Berufssoldaten Militärdienst leisten. Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL
2004/83/EG ist damit auch auf den Kläger anwendbar.
b) Nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG muss der Militärdienst
ferner „in einem Konflikt“ geleistet worden sein. Das Bestehen eines »Konfliktes« im Sinne
dieser Norm darf nicht mit dem Begriff »internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter
Konflikt«, wie er in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG verwendet wird, verwechselt werden.
Es kann aufgrund der Ratio von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG auch nicht aus
gesetzessystematischen Gründen der Nachweis eines internationalen oder innerstaatlichen
bewaffneten Konflikts gefordert werden. Zumeist werden zwar Verbrechen der in Art. 12
Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Art im Verlaufe kriegerischer Auseinandersetzungen
begangen. Im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten werden in diesem
Zusammenhang generell militärische Einsätze genannt, die auf die Verletzung grundlegender
Menschenrechte, der humanitären Normen des Völkerrechts und der Verletzung der
territorialen Integrität anderer Staaten zielen (Hathaway, The Law of Refugee Status, 180 f.;
House of Lords, (2003) UKHL 15 Rdn. 7 – Sepet and Bulbul).
Eine Entscheidung dieser Frage kann hier jedoch dahinstehen. Denn in dem Zeitpunkt, in dem
der Kläger den Entschluss fasste, sich einem weiteren Einsatz im Irak durch Desertion wegen
befürchteter Verwicklung in völkerrechtswidrige Verbrechen zu entziehen, herrschte dort ein
innerstaatlicher bewaffneter Konflikt und war der Staat seiner Staatsangehörigkeit, der von
ihm vertragsgemäß den weiteren Militärdienst forderte, einer der Konfliktbeteiligten. Auch im
angefochtenen Bescheid wird von einem innerstaatlichen bewaffneten internen Konflikt im
Irak ausgegangen (Bescheid, S. 16).
c) Der Militärdienst muss Verbrechen oder Handlungen umfassen, die nach Art. 12 Abs. 2 RL
2004/83/EG zum Flüchtlingsausschluss führen. Der angefochtene Bescheid springt zu kurz,
wenn er ausführt, diese unionsrechtliche Norm sei als Ausnahmefall im Gegensatz zur
„grundsätzlich legitimen Strafverfolgung“ von Militärdienstverweigerern oder Desertion zu
27
sehen
–
mit
entsprechenden
Anforderungen
sowohl
an
die
relevanten
Tatbestandsvoraussetzungen wie auch für eine entsprechende Berücksichtigung bei der
flüchtlingsrechtlichen Bewertung (Bescheid, 14).
Vielmehr ist die Flucht in starre Regel-Ausnahme-Kategorien zur Bewertung derart
komplexer Konfliktlagen wenig hilfreich und verhindert, dass die präzise Reichweite des
Schutzumfangs des Unionsrechts ins Blickfeld gelangt: Nicht die grundsätzlich legitime
Strafverfolgung, sondern der militärische Einsatz als solcher oder die Art der Kriegführung
sowie die hierdurch determinierte Motivation für die Verweigerung des Dienstpflichtigen sind
der Ausgangspunkt des Unionsrechts. Maßgebend ist, ob die Art der Kriegführung mit
Völkerstrafrecht vereinbar ist. Entwicklungen im Völkerstrafrecht, insbesondere das RomStatut des Internationalen Strafgerichtshofes, sind bei der Auslegung und Anwendung von
Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG heranzuziehen. Damit erkennt die Richtlinie die
Verweigerung des Militärdienstes als Fluchtgrund an, wenn der Verweigerer sich darauf
beruft, dass er sich einem militärischen Einsatz entzogen hat, der von der Völkergemeinschaft
als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt wird (UNHCR,
Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979,
Rdn. 171; UNHCR, Auslegung von Art. 1 GFK, April 2001, Rdn. 18; Hathaway, The Law of
Refugee Status, 1991, 181).
Dies kann einerseits seinen Grund darin haben, dass der Konflikt als solcher (Verbrechen
gegen den Frieden) oder die angewandten Kriegsmethoden (Kriegsverbrechen, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit) Völkerrecht verletzen (Goodwin-Gill/ McAdam, The Refugee in
International Law, 3. Aufl., 2007, S. 104) Es gibt eine Vielzahl militärischer Handlungen, die
völkerrechtlich unzulässig sind. Dies umfasst militärische Aktionen, welche grundlegende
Menschenrechte (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) oder die humanitären Regeln der
Kriegführung (Kriegsverbrechen) oder die territoriale Unversehrtheit anderer Staaten
(Verbrechen gegen den Frieden) verletzen (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991,
180 f.).
d) Die in der Staatenpraxis und im völkerrechtlichen Schrifttum umstrittene Frage, ob die
Verweigerung des Kriegsdienstes nur dann anerkannt wird, wenn die internationale
Staatengemeinschaft den Kriegseinsatz als den Grundregeln menschlichen Verhaltens
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widersprechend verurteilt hat, betrifft das Verbrechen gegen den Frieden. Ob ein Einsatz auf
einem Mandat des Sicherheitsrats beruht oder nicht, ist für die Verletzung des Gewaltverbots
(Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) und damit für die Frage maßgebend, ob mit der Teilnahme an einem
derartigen Einsatz eine völkerstrafrechtliche Beteiligung an einem Verbrechen gegen den
Frieden verbunden ist. Vorliegend beruft sich der Kläger jedoch vorrangig darauf, dass nach
den ihm zugänglichen, durch umfangreiche Internetrecherchen ermittelten Berichten die
Streitkräfte des Staates seiner Staatsangehörigkeit Kriegsverbrechen begangen haben. Damit
bringt er zum Ausdruck, dass unabhängig von der Frage, ob der Einsatz als solcher
Völkerrecht verletzt, er nicht in Kriegsmethoden verwickelt werden wollte, die mit
Völkerrecht
unvereinbar
sind.
Kriegsverbrechen
werden
von
der
internationalen
Staatengemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt,
sodass in diesem Zusammenhang durch völkerstrafrechtliche Kodifizierung bereits die
Verurteilung durch die internationale Gemeinschaft erfolgt und sich eine Erörterung dieser
kontroversen Frage damit erübrigt.
Der sich seit Mitte der 1980 er Jahre durchsetzende Trend, einer im Blick auf
völkerrechtswidrige Handlungen motivierten Kriegsdienstverweigerung die Anerkennung
nicht zu versagen und dementsprechend auch den Flüchtlingsschutz zu gewähren, wird
inzwischen auch in der Staatenpraxis als legitimer Asylgrund anerkannt (House of Lords,
IJRL 2003, 276 (281, 295) – Sepet et. al; Court of Appeal (UK), IJRL 2008, 469, Rdn. 21–41
– BE (Iran); Court of Appeal (UK), (2008) EWCA Civ 540 = IJRL 2008, 469 (Iran)). Der
Verweigerer wird zwar nicht wegen seiner Gewissenentscheidung, sondern deshalb bestraft,
weil er einem allgemeinen Gesetz den Gehorsam verweigert. Dies ist entgegen der Ansicht
der Beklagten jedoch nicht der Ausgangspunkt des Völkerrechts und Unionsrechts. Vielmehr
wird die Flüchtlingseigenschaft deshalb zuerkannt, weil eine derart motivierte Verweigerung
von der internationalen Gemeinschaft deshalb anerkannt wird, weil der Verweigerer im
Konflikt zwischen der Erfüllung des nationalen Einsatzbefehls und der Achtung vor
grundlegenden völkerrechtlichen staatlichen Verpflichtungen mit seiner Flucht eine
Wertentscheidung für diese Regeln trifft.
Nicht vorausgesetzt wird im Rahmen der Beurteilung, ob die Furcht vor Verfolgung wegen
Militärdienstverweigerung, die auf die mögliche Verwicklung in Kriegsverbrechen bezogen
ist, dass die internationale Gemeinschaft den militärische Einsatz als solches verurteilt oder
nicht, wie es im angefochtenen Bescheid anklingt (Bescheid, S. 14). Vielmehr kommt es
29
allein darauf an, ob im Rahmen der Kriegführung in Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG und
Art. 1
F
GFK
bezeichnete
Verbrechen
begangen
werden.
Eine
Beteiligung an
völkerrechtswidrigen Maßnahmen oder militärischen Einsätzen, die mit Art. 1 F GFK nicht in
Übereinstimmung stehen, ist danach unabhängig von entsprechenden Feststellungen des
Sicherheitsrates stets unzulässig. Andererseits erleichtert es die entsprechenden Feststellungen
im Asylverfahren, wenn der Konflikt, auf den sich die Verweigerung bezieht, vom
Sicherheitsrat als völkerrechtswidrig verurteilt wurde (UNHCR, Kommentar zur Richtlinie
2004/83/EG, Mai 2005, S. 21).
Entsprechende Verweigerungsgründe lassen sich mithin leichter nachweisen, wenn die
militärischen Aktionen, an denen der Betroffene sich beteiligen soll, den Grundregeln des
menschlichen Verhaltens widersprechen und/oder von der Völkergemeinschaft verurteilt
worden sind. Zwingend vorausgesetzt wird dies jedoch nicht. Da der Sicherheitsrat keine
rechtlichen, sondern politische Entscheidungen trifft und häufig über die Bewertung
bestimmter Konflikte keine Einigung erzielen kann (z. B. Dafur, Syrien einerseits, Libyen
andererseits), kann die Anerkennung eines Fluchtgrundes im Blick auf den Verweigerer nicht
von einer entsprechenden Entscheidung des Sicherheitsrates abhängig gemacht werden. Selbst
wenn eine militärische Aktion auf einem Mandat des Sicherheitsrates beruht, schließt dies
nicht aus, dass es im Verlaufe der Ausführung dieses Mandates zu völkerrechtlich
unzulässigen Handlungen durch die mandatierten Streitkräfte kommt. So ist etwa das
wahllose Bombardieren der Zivilbevölkerung im Osten und Süden von Afghanistan oder der
Einsatz von Drohnen zur gezielten Tötung von Nichtkombattanten in Ausführung der
„Operation Enduring Freedom“ völkerrechtlich unzulässig und begründet die Bestrafung
desjenigen, der sich derartigen Einsätzen widersetzt, eine Verfolgung.
5.
Umfang der Nachweislasten
Wie bereits ausgeführt, kann für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht der
völkerstrafrechtliche Beweisstandard, wonach jenseits vernünftiger Zweifel feststehen muss,
dass der Verweigerer bei einer Befolgung des Einsatzbefehls ein Kriegsverbrechen begangen
haben muss, zugrunde gelegt werden. Vielmehr reicht es aus, dass der Kläger gute Gründe
bezeichnen kann, dass er bei Befolgung des Einsatzbefehls möglicherweise in derartige
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Verbrechen verwickelt worden wäre und er dies mit seinem Gewissen nicht verantworten
kann.
Dieser Beweisstandard entspricht der Staatenpraxis. So weist z.B. das britische Oberhaus
darauf hin, dass es „zwingende Gründe für die Annahme gibt, dass demjenigen der
Flüchtlingsstatus zuerkannt werden sollte, der sich mit der Begründung geweigert hat,
Militärdienst zu leisten, dass ein solcher Dienst ihn dem Risiko aussetzen könnte oder würde,
Kriegsverbrechen oder schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zu begehen oder an
einem Konflikt teilzunehmen, der von der internationalen Gemeinschaft verurteilt wird, oder
wenn die Verweigerung mit überschießender oder unverhältnismäßiger Bestrafung
sanktioniert wird“ (House of Lords, (2003) UKHL 15, Rdn. 8 – Sepet and Bulbul. >„There is
compelling support for the view that refugee status should be accorded to one who has
refused to undertake compulsory military service on the grounds that such service would or
might require him to commit atrocities or gross human rights abuses or participate in a
conflict condemned by the international community, or where refusal to serve would earn
grossly excessive or disproportionate punishment.“<). Dementsprechend ist es nach der
britischen Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass für den Fall, dass nach den behördlichen
Festgestellungen
der
Betreffende
desertiert
ist,
um
nicht
in
schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen verwickelt zu werden, dieser eine begründete Furcht vor
Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung geltend gemacht hat (Court of Appeal,
(2208) EWCA Civ 540 = IJRL 2008, 469, Rdn. 40 – BE). Die australische Rechtsprechung
behandelt demgegenüber die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern mit anerkannten
Gründen als Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art.
1 A Nr. 2 GFK, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/83/EG), da diese eine derartige Gruppe
bildeten, die im Herkunftsland als solche auch erkenntlich sei (High Court of Australia,
(2004) HCA 25 = IJRL 2004, 628, Rdn. 81 ff. – S. v. MIMA).
Das Oberhaus wendet danach nicht das völkerstrafrechtliche Beweismaß „jenseits
vernünftiger Zweifel“ an, sondern lässt es entsprechend dem präventiven Schutzcharakter des
Flüchtlingsrechts genügen, dass die Verwicklung in internationale Verbrechen nicht
ausgeschlossen werden kann. Es kann deshalb auch nicht der Maßstab der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit angewandt werden. Dieser ist an die Wahrscheinlichkeit der
Strafverfolgung oder sonstigen Verfolgung anzulegen, bezieht sich jedoch nicht auf die Frage,
ob der Verweigerer in der Zukunft bei Befolgung des Einsatzbefehls in internationale
31
Verbrechen verwickelt worden wäre. Insoweit reicht es aus, wenn er Tatsachen bezeichnet,
dass es in dem konkreten Kriegskonflikt, an dem der Verweigerer gezwungen wird,
teilzunehmen, zu derartigen Verbrechen kommt und deshalb die Möglichkeit nicht
auszuschließen ist, dass er in diese verwickelt werden könnte. Entsprechende Tatsachen hat
der Kläger im Verwaltungsverfahren ausführlich bezeichnet. Darüber hinaus wird aus der
alternativen Auflistung der anerkannten Verweigerungsgründe in der Entscheidung des
Oberhauses deutlich, dass sich das Erfordernis, dass die internationale Gemeinschaft den
Konflikt verurteilen haben muss, nicht auf den Verweigerungsgrund der Vermeidung der
Verwicklung in Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezieht.
IV.
Vorabentscheidungsersuchen (Art. 267 Abs. 2 AEUV)
Angesichts der Vielzahl im anhängigen Verfahren umstrittener Rechtsfragen, ist
wahrscheinlich, dass der erstinstanzlich unterlegene Verfahrensbeteiligte unter Berufung auf
rechtlichen Klärungsbedarf Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen wird und im Berufungsoder im Revisionsverfahren diese Rechtsfragen einer Klärung zugeführt werden müssen. Es
ist deshalb aus verfahrensökonomischen Gründen angesichts der bereits jetzt erkennbaren
unionsrechtlichen
Zweifelsfragen
erforderlich,
in
der
ersten
Instanz
ein
Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 2 AEUV an den Gerichtshof zur Klärung
dieser Fragen zu richten.
Es wird deshalb beantragt werden, folgende Fragen an den Gerichtshof zu richten:
1. Kann sich ein Asylsuchender nur dann auf eine Verfolgungshandlung nach
Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG berufen, wenn er nachweisen kann,
dass er sich bei Befolgung des Einsatzbefehls der Begehung eines
völkerstrafrechtlichen Delikts im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. a) RL
2004/83/EG „jenseits vernünftiger Zweifel“ schuldig gemacht hätte, oder
reicht es aus, dass er mit der Möglichkeit rechnen musste, bei einer Befolgung
des Einsatzbefehls in derartige Delikte verwickelt zu werden?
2. Sofern Frage 1 im Sinne der zweiten Alternative beantwortet wird, reicht es
aus, dass der Asylsuchende darlegt, dass von den Streitkräften, denen er
angehört, in dem Einsatzgebiet, in dem er eingesetzt werden sollte,
Verbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. a) RL 2004/83/EG begangen
werden?
32
3. Reicht für die Begründung der Weigerung, den Einsatzbefehl zu erfüllen, der
begründete Hinweis aus, dass die Möglichkeit, in derartige Verbrechen
verwickelt zu werden, einer echten und tief empfundenen moralischen
Gewissensentscheidung zuwiderläuft?
4. Sofern Frage 3 bejaht wird, reicht für die objektive Begründung der
Verweigerung aus, dass der konkrete militärische Aufgabenbereich, für den
der Antragsteller vorgesehen ist, die Möglichkeit einschließt, an Verbrechen
im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. a) RL 2004/83/EG, insbesondere
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, beteiligt zu
werden?
5. Bedarf es für die Berufung auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) in Verb. mit Art. 12
Abs. 2 Buchst. a) RL 2004/83/EG des Nachweises, dass der militärische
Einsatz, für den der Antragsteller vorgesehen ist, von der internationalen
Gemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend
verurteilt worden ist?
6. Sofern Frage 5 bejaht wird, muss der Asylsuchende, der seine
Kriegsdienstverweigerung damit begründet, es habe im Rahmen seines
Einsatzes die Möglichkeit bestanden, in Kriegsverbrechen oder in Verbrechen
gegen die Menschlichkeit verwickelt zu werden, zusätzlich den Nachweis
führen, dass der militärische Einsatz für den er vorgesehen war, von der
internationalen Gemeinschaft verurteilt worden ist ?
Dr. M a r x
Rechtsanwalt
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