Die Schweiz und das tschechoslowakische Schicksal Die Schweiz und das tschechoslowakische Schicksal. (Karte). In einer Zeit, in der Staaten innerhalb weniger Tage verschwinden und Millionen die Nationalität, die Volksund Staatszugehörigkeit und mit ihr Verfassung und Regierung wechseln, ohne dass sie nur befragt werden, ist es für jedes Volk, das Wert legt auf seine Existenz, ist es für jeden Menschen, der seinen Heimatstaat liebt und im Recht seiner Väter leben möchte. wichtig, sich zu fragen: Worauf beruht denn meine Sicherheit? Worauf stützt sich meine Zuversicht, dass ich in meinem Volke in Freiheit, ungekränkt von fremdem Eroberungsgelüsten leben werde? Es sind bisher zwei Staaten, die solch fremder Eroberung mitten im sogenannten Frieden zum Opfer fielen: Oesterreich und die Tschechoslowakei, während ein dritter Staat, Spanien nun ins dritte Jahr sich heldenhaft zur Wehr setzt gegen solche Vergewaltigung. Und es sind zwei Staaten, welche sich mit Stolz dynamisch nennen, die es als ihr Lebensrecht verkünden, alles Recht der andern Völker und Staaten ihrem eigenen Lebenswillen, lies Eroberungs-, Macht- und Herrschaftswillen, zu opfern; die in allen drei Fällen die kleineren Staaten vergewaltigt haben: Deutschland und Italien. Beide sind Nachbarstaaten der Schweiz. Beider Sprache wird von einem Teil der Eidgenossen als Muttersprache gesprochen. Nach dem Sprachgebrauch dieser dynamischen Staaten sind dadurch die deutschsprechenden Schweizer deutsche und die italienisch sprechenden italienische Volksgenossen. Oesterreich und die Tschechoslowakei sind dieser Volksgemeinschaft zum Opfer gefallen. Es lohnt sich wohl zu fragen, worauf wir die Zuversicht gründen können, dass das Schicksal der Schweiz nicht ein gleiches sein werde. Da die Tschechoslowakei es war, die dem Schicksal der Zerstückelung am längsten widerstanden hat und erst nach monatelarger Zermürbung dem Zwang der ihr befreundeten und verbündeten Grossmächte erlag, die neben dem Völkerbund Garanten ihrer Existenz, ihrer Sicherheit und ihrer Grenzen waren; da diese Tschechoslowakei insofern der Eidgenossenschaft ähnelt, als Völker verschiedener Sprache in ihr leben; da man nicht selten die Forderung aufgestellt hat: Die Tschechoslowakei sollte sich die Schweiz zum Vorbild nehmen, so liegt es nahe zu fragen: Warum ist die Schweiz keine Tschechoslowakei? Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, auf welche die Schweiz vertraut und die uns angeführt werden, um zu beweisen, dass die Schweiz nicht die Tschechoslowakei sei und niemals ihr Schicksal erleiden könne. Zählen wir diese Unterschiede auf: Die Schweiz, hesst es, ist im Gegensatz zur künstlich geschaffenen Tschechoslowakei kein künstlicher, sondern ein historisch gewordener Staat. Es ist unmöglich, sie zu zerreissen. Während in der Tschechoslowakei 31/2 Millionen Sudetendeutsche lebten, welche die Heimkehr ins Reich ersehnten, sind die Deutschschweizer seit dem Rütlischwur und der Morgartener Schlacht selbständig gewesen. Es ist unmöglich, ihnen jetzt diese Selbständigkeit zu nehmen. Während die Tschechosslowakei nationale Minoritäten zählte, die in ihrer Gesamtheit stärker waren als das tschechoslowakische Volk, kennt die Schweiz keine Minoritätenfrage. Sie kennt nur eine Gleichberechtigung aller Bürger, die in der Tschechoslowakei eben gefehlt hat, was zur Zerreissung führen musste. Darüber hinaus aber ist die Schweiz neutral, ihre Neutralität ist ihr von allen europäischen Staaten garantiert und mit dieser Garantie auch ihre Grenzen. Gründe genug, gute und gewichtige Gründe. Schaffen sie wirklich einen hinreichenden Unterschied, so dass wir keineswegs das Schicksal der tschechoslowakischen Republik zu fürchten haben? Wir wollen sie der Reihe nach untersuchen. Die Schweiz ist kein künstlicher Staat. Wenn das heisst: die Schweiz ist nicht erst gestern entstanden, sondern hat eine lange Geschichte, so ist es wahr. Wenn es heissen soll, die Schweiz ist von Natur wegen da und wird deswegen auch so lange dauern wie die Natur, so ist es falsch. Es gibt in diesem Sinn keinen natürlichen, sondern nur künstliche Staaten. Allesamt sind sie in ihrem heutigen Bestand künstlich zusammengefügt durch friedliche Verträge oder gewaltsame Kriegshandlungen. Allesamt haben sie wieder und wieder die Grenzen geändert, sind auseinandergerissen und haben bis auf Namen, Sprache und Bewohner sich von Grund aus gewandelt. Frankreich, dieser „natürlichste“ aller europäischen Nationalstaaten, ist eigentlich erst im Krieg der hundert Jahre, das heisst, vor rund 500 Jahren, ein Nationalstaat geworden. Die Schweiz macht keine Ausnahme. Sie ist sehr langsam und unter sehr vielen Unterbrechungen aus der Eidgenossenschaft der Urkantone erwachsen. Sechshundert Jahre hat's gebraucht, bis sie im Wiener Kongress ihre endgültigen, das heisst ihre heutigen Grenzen fand, und gar nicht selten haben in diesen Jahrhunderten die Eidgenossen sich untereinander aufs heftigste zerstritten. Wir haben keinerlei Ursache, uns dieser künstlichen Entstehung zu schämen: sie ist Völker- und Staatenschicksal. Wir haben aber noch minder Anlass auf andere Völker und Staaten herabzusehen, die ein gleiches Schicksal „künstlicher“ Entstehung mit uns teilen. Am wenigsten dürfen wir das bei der Tschechoslowakei. Es ist wahr, dass die Tschechoslowakei ebenso künstlich entstanden ist wie etwa die Schweiz im Wiener Kongress, das Deutsche Reich im Westfälischen und später Frankfurter Frieden oder irgendein anderer europäischer Staat. Es ist darüber hinaus wahr - und das ist von grösserer Bedeutung -, dass die Tschechoslowakei aus drei verschiedenen Gebieten besteht, die bisher in der Geschichte nicht vereinigt waren: den alten Ländern der Wenzelkrone: Böhmen, Mähren und Schlesien, der früher zu Ungarn gehörigen Slowakei und Karpatho-Russland, das man neuerdings die Karpatho-Ukraine nennt. Das ist wahr, Aber - man kann das nicht stark genug betonen - der Angriff und die Zerstückelung ging nicht gegen diese Dreiteilung. Die ist bestehen geblieben. Die Slowakei hat nur kleine Grenzgebiete verloren, die Karpatho-Ukraine, die zweifellos das fremdeste Glied am Körper der Republik war, ist sogar erhalten geblieben. Der Angriff ging ins Herz des alten böhmischen Landes und zerriss es in Fetzen. Das Land Böhmen aber ist nun wahrscheinlich von allen Ländern Europas dasjenige, das man am ersten ein „natürliches“ Land nennen kann. Wir brauchen uns nur die Karte anzusehen, um zu erkennen, wie dies durch Grenzgebirge wie durch feste Wälle abgeschlossene Land, das sich leichter, weil nur durch niedrige Gebirgsketten geschieden, nach Mähren und damit nach der Donau öffnet, wahrhaftig eine Einheit ist „durch Gottes Schöpfungswillen“ wie ein guter englischer Kenner Europas es ausdrückt. Diese natürliche Einheit hat auch staatlich und politisch bestanden, soweit unsere historische Kenntnis zurückgeht. Im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung waren freilich Böhmen und Mähren sowie Schlesien nicht immer miteinander verbunden, und es bestand in diesen Ländern so wenig wie irgendwo in Europa eine einheitliche Herrschaft und Verwaltung, die erst mit den modernen Staaten wurde. Immer aber war Böhmen nach aussen hin ein geeintes Land und niemals, nicht einmal in den Zeiten, als die Fürsten Länder und Städte wie Schachfiguren untereinander tauschten, ist man je auf den Gedanken gekommen, diese naturgewollte Einheit zu zerreisser, Es bedurfte der ganzen Unwissenheit und Gleichgültigkeit moderner Staatsmänner, um eine solche Operation vorzunehmen. Und es ist für uns alle ein sehr schlechter Trost, dass in solchen Händen das Schicksal der europäischen Staaten liegt. Wer Böhmen zerreisst, der wird keinerlei Bedenken tragen, jeder Zerstückelung zuzustimmen, die irgendeinem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtgelüste irgendeines starken dynamischen Staates entspricht. Wer Böhmen beherrscht, beherrscht Europa“, sagte Fürst Bismarck, der etwas mehr von europäischer Geographie und Politik verstand als die heutigen Regierenden und ihre offizielle und offiziöse Presse. Wer die böhmischen Randgebiete beherrscht, beherrscht Böhmen. Und also ist Herr Hitler heute der Herr Europas geworden ohne einen Schwertstreich, nur mit dem unwahren Schlagwort vom „künstlichen“ Staate. Aber er ist noch nicht unbeschränkter und unbestrittener Herr. Und das so wohl bewährte Mittel, einen Staat wegen seiner Künstlichkeit anzugreifen, wird er sich gewiss nicht entgehen lassen' Er wird nur danach fragen, ob dieser Staat ihm eine bessere militärische Position gewährt. Wie für Oesterreich und die Tschechoslowakei wird über kurz oder lang diese Frage auch gestellt werden für Polen und Litauen, für Dänemark und Holland, für Belgien, Luxemburg und Frankreich - für die Schweiz. Die Schweiz hat strategisch sehr bemerkenswerte Gebirge, Pässe und Ebenen. Sie ist schon öfters seit Cäsars Zeiten Aufmarsch- und Kampfgebiet gewesen für fremde Heere, Es hat Jahrhunderte äusserster Wehrhaftigkeit gebraucht, um ihre Grenze solchen Heeresübungen zu verschließen. Und ihre Geschichte bietet genug .Wechselfälle, genug inneren Hader und Zerfall, damit ein geschickter Schlagwortschneider ihre Künstlichkeit überzeugend beweist für ein europäisches Publikum, das so bereitwillig jedem auf den Leim geht. Die Schweiz ist nicht deutsch. „Aber“, wird man einwenden, es kommt nicht nur auf die Einheitlichkeit eines Gebietes an. Zugegeben: die Schweiz ist keine geographische Einheit. Dafür aber kann sie sich berufen auf ihr historisches Recht als selbständiger Staat. Schon die Urkantone haben sich diese Selbständigkeit vom Reich erkämpft. Immer wieder ist sie behauptet worden. Und im WestfäIischen Frieden hat sie ihre völkerrechtliche Anerkennung gefunden. Die Schweiz ist nicht deutsch. Das ist historische Tatsache. Ihre teuer erworbene und bewahrte Selbständigkeit ist ihr gutes geschichtliches Recht, über das keine Agitation und keine Diplomatenklugheit hinweggehen kann. Wie anders die Tschechoslowakei oder sagen wir lieber Böhmen, das doch altes deutsches Kurfürstentum war.“ Ja, wirklich anders. Aber anders in dem Sinne, dass der Zusammenhang mit dem alten Reich weit loser war als der Zusammenhang der Schweiz, und dass er mit dem neuen Reiche niemals bestanden hat. Böhmen war, als der heilige Wenzel es einte, selbständiges Land. Es blieb so, lange nachdem die Schweiz von Burgundern und Alemannen besiedelt und später ein Teil des Karolingischen und dann des westostfränkischen Reiches geworden war. Als die böhmischen Könige Reichsfürsten wurden, da war das Reich ein weit ausgedehntes und sehr lose zusammenhängendes Gebilde, das Anspruch erhob auf die Herrschaft über die ganze Christenheit, und dessen wirklicher Machtbereich wechselte mit den Jahrzehnten. Nicht gegen dieses Reich, sondern gerade auf Reichsunmittelbarkeit ohne anderen Herrn als den Kaiser ging der Kampf der Eidgenossen. Und rechtlich blieben sie reichszugehörig bis zum Westfälischen Frieden. Die Böhmischen Lande waren niemals dem Reich so nah verbunden, und mit gleichem Rechte wie sie könnte man Italien und Burgund, mit weit grösserem Holland, Belgien und Dänemark als altes Reichsland zurückfordern (und wird es vielleicht auch tun). Als sich im Westfälischen Frieden das Reich rechtlich zum Fürstenbund unter einem Kaiser konstituierte, waren die Böhmischen Lande nach einem jahrhundertlangen Freiheitskampf von den Habsburgern besiegt und unterworfen worden. Sie waren ein Land der Habsburger Dynastie geworden. Und nur durch diese gehörten sie fortan dem Deutschen Reiche an, weniger eng sogar mit ihm verbunden als die später hinzuerworbenen und mit keinen Sonderrechten ausgestatteten Ländern, die man ebensowohl kraft ihrer zeitweiligen Unterwerfung unter die Habsburger Krone als deutsches Reichsland ansprechen dürfte… Wenn solche Forderungen nicht schon in sich den Widersinn und die Unmöglichkeit zeigten. Denn nicht wahr, nicht darauf kommt es an, ob irgendwelche Gebiete zu irgendeiner Zeit der ewig wechselnden Machtverhältnisse diesem oder jenem „Reiche“ angehört haben, sondern, ob ihre Bewohner dieser oder jener Nation zugehören. Und hier unterscheidet sich die Schweiz doch ganz gewiss von der Tschechoslowakei. Denn diese ist ein Staat gewesen mit einer deutschen Minorität. Die Schweiz aber ist kein Minoritätenstaat. Daher hat sie keinerlei Anlass, ein Eingreifen zugunsten einer Minorität zu fürchten, wie das die Tschechoslowakei zu ihrem Unglück - und durch ihre Schuld erleben musste. Gemach… „Minorität“ ist ein ganz moderner Begriff, sofern es um nationale Minoritäten geht. Die Vergangenheit kennt ihn nicht. Sie kennt etwas anderes, nämlich das Wandern und Siedeln der Völker untereinander und durcheinander. Ganz Europa ist ein solches Wanderungs- und Siedlungsgebiet gewesen (ist es in veränderter Art noch heute). Wenn wir die Völker auf ihre Blutzugehörigkeit und ihr Ursprungsland prüfen wollten, so würden die sonderbarsten Dinge herauskommen. Es würde sich beispielsweise vielleicht zeigen, dass die Waadtländer im heutigen Ostpreussen beheimatet wären und die Berner an der Elbe. Diese bunte Wanderei und Siedelei hat bisweilen dazu geführt, dass sich Alteingesessene und Neuankömmlinge ganz verschmolzen haben und einer des anderen Sprache annahm. Das ist besonders im Westen Europas geschehen, wo die Wanderung früher ein Ende nahm. Im Osten, wo sie bis in unsere Zeit reicht, haben die Siedler zumeist ihre Sprache behalten. Daher rührt das bunte Durcheinander in dem Ländergürtel, der Deutschland von Russland trennt und vom nördlichen Polar- bis zum Mittelmeer reicht. Ein Unglück ist so etwas, weiss der Himmel nicht. Und durch Jahrhunderte haben sich die Siedler in Osteuropa nicht übler gefühlt als etwa ein Bernbieter, der ins „'Waadtland siedeln geht oder ein Ostschweizer in Argentinien. Erst die moderne Verwaltung und die Volksschule haben aus der Sprachenfrage eine politische gemacht. Und die Schweiz ist da sicher den klügsten Weg gegangen, dass sie von vornherein drei und jetzt neuerdings gar vier gleichberechtigte Staatssprachen eingeführt hat. Sehr töricht haben sich die meisten starken und autokratischen Staaten, als Oesterreich-Ungarn und Deutschland bis zum Weltkrieg benommen, indem sie ihre sprachlichen Minderheiten „entnationalisieren“ wollten. Dies Schicksal haben beispielsweise Tschechen in Böhmen und Slowaken in Ungarn erlitten. In Böhmen hat es immer eine grosse deutsche Siedlung gegeben, denn das Land war fruchtbar und gastfreundlich. Die Deutschen waren eine Minderheit, aber eine bevorzugte. Sie waren Grossgrundbesitzer, Geistliche, Kaufleute im Innern des Landes, Nur in den Grenzgebieten siedelten sie dicht als Bauern, Handwerker und später als Arbeiter. Als die Habsburger vor dreihundert Jahren das Land besiegten und entrechteten, wurden sie auch die politischen Herren und benutzten ihre Herrschaft, um den Tschechen jede Selbständigkeit und möglichst auch ihre Sprache zu nehmen. Diese mussten sie in langsamen Kämpfen eines Jahrhunderts sich zurückerobern in der Literatur, den Schulen, zuletzt in der Verwaltung. Als sie selbständig wurden, machten sie die so lange verfolgte und unterdrückte Sprache zur Staatssprache. Aber im Gegensatz zu den Ungarn, den Italienern, den Polen und den - Reichsdeutschen gaben sie ihren Minoritäten sehr weitgehende Rechte, wie sie keine andere sprachliche Minderheit in Europa besitzt. Wo mehr als zwanzig Prozent Deutsche lebten, war ihre Sprache gleichberechtigt. In den andern Gebieten wurden deutsche Schulen eingerichtet, wo eine hinreichende Kinderzahl vorhanden war. Jeder Deutsche hatte das Recht, mit den Behörden in seiner Sprache zu verkehren. Heute erleben die Deutschen, die von der Tschechoslowakei an Polen abgetreten wurden, dass man ihre deutschen Schulen schliesst und ihre Kinder zwingt, Polnisch zu lernen, und das Reich muss vorstellig werden, damit sie wieder die Rechte erhalten, die sie in der so wild verlästerten Tschechoslowakei besassen. Die Frage der sprachlichen Minoritäten ist nur dann schwierig, wenn der böse Wille zur Unterdrückung vorhanden ist bei den Regierungen oder der ebenso böse Wille, sich unterdrückt zu fühlen, bei den Minoritäten. Da die Deutschen in Böhmen ebenso freiwillig eingewandert sind wie die Burgunder ins Waadtland oder Europäer in die Vereinigten Staaten, so wäre ja die einfachste Lösung, dass man ihnen die Rückwanderung freigäbe, wenn sie das wünschen. Und es ist erstaunlich, dass die klugen englischen Experten auf diesen einfachen Gedanken nicht gekommen sind. Gewiss hätten sich in Deutschland leicht drei Millionen (Juden und Nichtjuden) gefunden, die mit grosser Freude mit den Sudetendeutschen Rückwanderern getauscht hätten. Es ging aber bei der sogenannten Sudetendeutschen Frage um ganz etwas anderes (das muss an anderer Stelle gezeigt werden), nämlich um das Land, das den Zugang nach Osteuropa und ins Donautal beherrscht. und das damit „die Herrschaft über Europa“ gibt. Darum war man im Reich so bekümmert wegen der drei Millionen Sudetendeutschen, trotzdem sie Schulen und Pressefreiheit und anderes mehr besassen, während das alles den 250‘000 Deutschen in Südtirol, den 500‘000 Deutschen in Ungarn und der Million in Polen fehlt. Wenn das Deutsche Reich erst einmal seine Ziele in Europa erreicht hat, so werden wir bestimmt einen Tag sehen, an dem es unerlässlich scheinen wird, die Millionen unerlöster deutscher Reichsgenossen in den Vereinigten Staaten zu befreien. Es ist ein Glück für die Schweiz, ganz ohne Zweifel, dass sie nicht auf dem Wege Herrn Hitlers gegen Osten liegt. Wenn er aber einmal umlenken sollte nach Westen hin, dann wird ihr ihre Viersprachigkeit gar nichts helfen, denn man kann schliesslich auch dann unerlöste Volksgenossen finden, wenn Deutsch die Hauptsprache des Landes ist. So ging es ja in Oesterreich, in dem es keine sprachliche Minorität gab, und das dennoch erlöst werden musste. Aber in der Schweiz haben alle demokratische Gleichberechtigung. Die, nicht wahr, fehlte doch in Oesterreich und in der Tschechoslowakei? In Oesterreich freilich war sie beseitigt seit dem Februar 1934. Und seitdem hielt sich die Regierung der Dollfuss und der Schuschnigg mit Polizeigewalt, mit bürokratischen Massnahmen, mit der unzuverlässigen Hilfe zweifelhafter Bundesgenossen. Es war vorauszusehen, dass sie beim ersten ernsten Stoss fallen würde. Die Tschechoslowakische Republik aber war eine Demokratie. Sie stützte sich auf das Vertrauen und den Willen ihrer Bürger. Es gab in ihr wohl den Streit der Parteien und der Klassen, wirtschaftliche Kämpfe und Krisennot. Aber all das wurde sauber und ehrlich ausgetragen. Und in den zwanzig Jahren ihres Bestehens hat sie in aller Stille mehr geleistet als manche grosstönende Diktatur. Wer immer sie besucht hat, bezeugt den Fortschritt, bezeugt nicht nur den guten Willen, sondern auch die gute und sichere Leistung. Sie hatte nicht ihren Minoritäten Autonomie, aber sie hatte allen ihren Bürgern die gleichen Rechte und Freiheiten gegeben, was mehr ist als einer ihrer Gegnerstaaten getan hat. Und was mehr ist als die Henleinpartei bereit war zu tun. Wir haben die Berichte über den Terror, den die Henleinleute in den deutschsprachigen Gebieten ausübten gegen alle demokratisch, sozialistisch, gegen alle staatstreu Gesinnten. Der Haupteinwand, der gegen die Autonomieforderung erhoben wurde, war der, dass sie die Macht an Terroristen ausgeliefert hätte, die keineswegs bereit waren, den eigenen Volksgenossen das Leben zu gönnen, sondern nur darauf warteten, die Methoden des Dritten Reiches einzuführen… zu hochverräterischen Zwecken. Was heute in den ausgelieferten Gebieten vor sich geht, das erfahren wir nicht und werden wohl erst dann genaues davon hören, wenn das Dritte Reich und sein ganzer erbarmungsloser Terror ein Alptraum der Vergangenheit ist. Wäre Gleichberechtigung der Bürger, wäre demokratische Freiheit allein ein genügender Schutz gegen die fremde Gewalt, so bestünde die Tschechoslowakei noch heute. Ihre Bürger waren bereit, sie zu verteidigen. Sie haben es in den schweren Tagen der Krise und der Mobilmachung bewiesen. Selbst ein so voreingenommener und ungerechter Beobachter wie Lord Runeiman hat in seinem Berichte zugegeben, dass die Regierung imstande war, die von aussen her angezettelten Unruhen schnell zu ersticken, dass keine Gefahr im Innern des Landes bestand. Wir vergessen sehr schnell und müssen uns daher ins Gedächtnis zurückrufen, dass es allerdings Loslösungsbestrebungen gegeben hat in den ersten Jahren der Republik, dass in diesen Jahren die Deutschen – und nur sie, nicht etwa die Slowaken oder Ukrainer – die Zusammenarbeit ablehnten, Aber seit 1926 als zum erstenmal deutsche „Aktivisten“ in die Regierung eintraten, nahm das ein Ende. Die Unversöhnlichen schrumpften zu einer kleinen Minorität. Und bis zum Jahre 1935 wurde die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den deutschen Parteien fortgesetzt. Die deutschen Sozialdemokraten blieben sogar bis zum Frühjahr I938 in der Regierung. Freilich gab es eine Nazi-Partei, die sogar, was die Grundlage der alldeutsch chauvinistischen Anschauung angeht, älter war als die Hitlerbewegung. Sie bedeutete nicht einmal in den ersten stürmischen Zeiten eine Gefahr, da sie viel zu klein war, wurde 1933 aufgelöst, konstituierte sich unter einem neuen Namen (der sudetendeutschen Heimatpartei), und erlangte auch in den folgenden Jahren trotz der Wirtschaftskrise, die ihr die Unzufriedenen zutrieb, keine gefährliche Bedeutung… Diese erhielt sie erst, als ihre Forderungen von Hitler aufgenommen und in einer unerhörten Erpressungskampagne unterstützt wurden, als Henlein sich immer deutlicher als Hitlers Adjutant und Bevollmächtigter erwies und als endlich die der Tschechoslowakei befreundeten Demokratien mit jedem Mittel der Drohung und Einschüchterung erzwangen, was weder Henlein noch Hitler hatten erreichen können. Das ist die Geschichte, die wir zu lernen haben: Die tschechoslowakische Demokratie hat ihre Bewährungsprobe gegeben. Sie hat sich innerlich fest erwiesen und nach aussen hin abwehrbereit und abwehrfähig. Sie erlag einem europäischen Druck von unerhörter Härte, einem Vertragsbruch, wie ihn die Geschichte nicht kennt. Und das das ist nun die letzte Frage, die die Schweiz sich zu stellen hat: Die Schweiz ist neutral. Ist sie damit nicht gesichert vor einem Schicksal wie die verwandte Demokratie trotz ihrer inneren Freiheit und Sicherheit es erlitt? Seit mehr als hundert Jahren geniesst die Schweiz die Neutralität. Sie ist berechtigt und verpflichtet, sich aus allen europäischen Händeln herauszuhalten. Dafür garantieren ihr die europäischen Staaten, insbesondere ihre Nachbarn, die Sicherheit ihrer Grenzen. Mehr als ein Jahrhundert hat diese Garantie sich bewährt. Sie hat im Weltkrieg, als sie umgeben war von Kriegsführenden, die allerschwerste Probe glänzend bestanden. Und das Interesse aller scheint zu fordern, dass dieses Herzland Europas auch künftig intakt erhalten werde. Das ist eine stärkere Sicherung als alle andern, eine weit grössere gewiss als die der Tschechoslowakei war, die nur durch zweiseitige Verträge und Bündnisse gesichert war: Bündnis mit Frankreich, Rückversicherung durch Russland und endlich durch die deutschtschechische Konvention von 1925. Es ist eine sonderbare Sache um Verträge. Wir haben nicht nur einen Völkerbund, dessen Mitglieder sich vertraglich verpflichtet haben, einander gegen Angriffe zu schützen. Wir haben nicht nur einen Kellogspakt, den alle europäischen Staaten unterzeichnet und keineswegs gekündigt haben, und der jeden Krieg ächtet (also auch jeden kriegsführenden Staat, falls Verpflichtungen binden): wir haben darüber hinaus nicht ein, sondern vielfache Ehrenworte Herrn Hitlers, dass er niemals gewaltsam eine Grenzrevision in Europa erstreben werde. Wenn es auf Pakte, Verträge, Bündnisse und Ehrenworte ankäme, so gäbe es überhaupt keine Gefahr in Europa und alle kleinen Staaten könnten sich friedlichem Genuss des Daseins hingeben. Leider sind die letzten vier Jahre erfüllt von Vertrags- und Wortbrüchen, die allesamt ungestraft geblieben sind, vielmehr den Rechtsbrechern immensen Machtgewinn, Ehre und Ansehen brachten. Ich zähle nur die hauptsächlichsten Rechts- und Vertragsverletzungen in Europa auf: 1935 Verletzung des Versailler Vertrages durch die Wiederaufrüstung Deutschlands und des Völkerbundes durch Italiens Angriff auf Abessinien, Verletzung der Völkerbundsverpflichtung durch alle dem Völkerbund angehörenden Staaten. 1936 Verletzung des Versailler Vertrages durch Deutschlands Rheinlandbesetzung, Verletzung des Völkerbundes und der Nichteinmischungsverpflichtung durch Deutschlands und Italiens Intervention in Spanien und durch alle im Völkerbund und Nichtinterventionskomitee vertretenen Staaten. die sie duldeten. 1937 Bruch des Völkerbundsstatuts durch Deutschlands Vorgehen in Danzig, durch Japans Angriff auf China und durch alle Völkerbundsstaaten, die es duldeten. I938 Bruch der deutsch-österreichischen Pakte durch Deutschlands Einmarsch in Oesterreich, der deutsch-tschechischen durch seine Vergewaltigung der Tschechoslowakei unter Bruch der Völkerbundsverpflichtungen aller Völkerbundsstaaten, Bruch des tschechisch-französischen Bündnisses durch Frankreich, das dem Angreifer und Vergewaltiger seines Bundesgenossen Sekundantendienste leistete. Natürlich hat man in allen diesen Fällen eine juristische Wendung gefunden, die „das Gesicht wahrte“. „Verträge kann man auslegen“, sagte im April dieses Jahres Ministerpräsident Daladier, als ihn der Gewerkschaftsführer Jouhaux an den Bündnisvertrag mit der Tschechoslowakei mahnte. Diese Auslegung, die Verträge und Verpflichtungen in ihr Gegenteil wandelt, ist heute der Gipfel europäischer Staatskunst, und Verträge sind darum billiger geworden als Brombeeren. „Souvent pacte varie. Bien fou qui s'y fie“ können und müssen wir ein altes Sprichwort wandeln. Die Neutralitätsgarantie der Schweiz wird sich so leicht und bequem auslegen lassen wie der tschechisch-französische Bündnispakt, und Hitlers Ehrenwort wird sich hier so zuverlässig erweisen wie in jedem Falle, wo er es gab, von dem Ehrenwort vor dem Münchener Putsch bis zu dem Ehrenwort, das Neurath noch am 14. März 1938 in seinem Namen dem tschechischen Gesandten gab (zwei Monate vor dem ersten Versuch eines Ueberfalls). Sicherung gibt heute in Europa kein Vertrag, wie feierlich er auch beschworen ist, denn seine Auslegung kann immer das Lamm in den Angreifer und den Wolf die in die zur Selbstverteidigung gezwungene Unschuld verwandeln. Sicherheit können wir nur gewinnen aus der Erkenntnis der Sachlage. Denn die Schweiz liegt in Europa. Die Schweiz wie die Tschechoslowakei sind Herzpunkte Europas. Wie die Schweiz für den europäischen Westen der Schnittpunkt ist zwischen West und Ost, Nord und Süd, so ist es die Tschechoslowakei für den Osten. Wenn eine militärische Grossmacht die Schweiz besetzt, so beherrscht sie das westliche Europa, genau so wie die Besetzung der Tschechoslowakei die Kontrolle über Osteuropa gibt. Solange in Europa der Wille bestand, eine solche militärische Hegemonie nicht zuzulassen, war die Tschechoslowakei gesichert als Garant des europäischen Friedens. Dieser Wille verschwand in den letzten Jahren. Und nicht an inneren Schwierigkeiten, nicht durch eigene Schwäche oder Schuld fiel sie, sondern weil dieser europäische Wille versagte. Er versagte nicht sogleich und nicht vollständig. Im Mai war dii europäische Meinung, waren die Völker Europas noch bereit, die Tschechoslowakei zu verteidigen und Hitler wich zurück. Herr Chamberlain und seine Gefolgsleute brauchten vier Monate sehr geschickter Zermürbungsstrategie, um diese europäische Meinung irrezuleiten und ihren Plan durchzuführen, den Plan, Hitler die Herrschaft über Osteuropa zuzuschanzen durch Opferung der Tschechoslowakei und ihn so zu beschäftigen und ihn so zu besänftigen und zu sättigen, zugleich aber seinen Sturz in Deutschland zu verhindern. Frankreich war geschwächt, uneinig, in den Händen von Staatsmännern, die wie Chamberlain dachten. Es hat sich von Europa zurückgezogen, nur bedacht, seine eigenen Grenzen zu sichern. Wir wissen nicht, ob es aus dieser Ohnmacht erwachen wird. Aber was wir lernen können aus den Erfahrungen dieses Verrats, ist etwas anderes. Und es ist wichtig für das Schicksal der Schweiz. Während all der Wochen der tschechoslowakischen Krise hing das Schicksal Europas an einem Haar. Wir wissen heute, dass Hitler keinen Krieg hätte führen können. Wir wissen, dass Europa einem grossen Erpressungsmanöver zum Opfer fiel. Das war möglich, weil in den Völkern kein Bewusstsein vorhanden war von ihrem gemeinsamen Schicksal, kein Bewusstsein ihrer eigenen Kraft, sondern nur eine panische Angst vor dem Krieg. Wir glauben, dass selbst dann, wenn die Tschechoslowakei allein, nur mit der russischen Hilfe sich verteidigt hätte, diese Stimmung umgeschlagen wäre, Chamberlain und Daladier hätten es nicht wagen können, ihre Drohung wahr zu machen - die Drohung, der die tschechische Regierung wich - dass sie an Deutschlands Seite die Tschechoslowakei niederzwingen würden. So weit wären ihnen ihre Völker bestimmt nicht gefolgt. Und so stehen wir vor der beschämenden Tatsache, dass nur Unwissenheit, blinde Furcht und das Fehlen jeglichen Zusammenhalts unter denen, die den Frieden und das Recht bewahren wollten, die Katastrophe eines tapferen demokratischen Volkes, eine europäische Katastrophe herbeigeführt hat. Das darf sich nicht wiederholen. Die Tschechoslowakei hat sich verlassen auf Verträge. Das war ihr grosser Irrtum in einer Zeit, wo die Staatsmänner Verträge nur daraufhin betrachten, wie weit sie sich „auslegen“ lassen. Die Tschechoslowakei war wohlgerüstet und kampfbereit. Das reichte nicht aus. Die Tschechoslowakei und alle kleinen Völker Europas hatten noch nicht gelernt, europäische Verantwortung zu fühlen, hatten noch nicht gelernt, dass ein Volksgeschick das Schicksal aller ist, hatten noch nicht gelernt, dass nur kollektive Sicherheit durch Recht sie vor der Katastrophe bewahren kann. Als vor drei Jahrhunderten das tschechische Volk in der Schlacht auf dem Weissen Berge den kaiserlichen Truppen erlag, da hielten sich die andern protestantischen Länder Deutschlands fern. Sie dachten nur an ihre eigene Sicherheit und ernteten den Dreissigjährigen Krieg. Es ist heute noch Zeit, einen Dreissigjährigen europäischen Krieg zu vermeiden, wenn wir lernen aus jener Vergangenheit und aus unserer Gegenwart. Jeder Nachbar des Dritten Reiches ist ebenso bedroht wie die Tschechoslowakei. Die Sudetendeutschen waren der Vorwand, um Hitler die Herrschaft über Böhmen und die Vorherrschaft in Osteuropa zu geben. Es wird an Vorwänden nicht fehlen, wenn eine andere Beute ihm erwünscht ist. Gibt es nicht in der Schweiz I35‘000 Reichsdeutsche, die man von demokratischer Vergewaltigung befreien muss? Gibt es nicht eine freie Presse, die unbequem ist für einen totalen Staat? Gibt es nicht wirtschaftliche Notgebiete just an der Reichsgrenze, denen man die Segnungen der deutschen Prosperität verschaffen kann? Gründe für ein Eingreifen sind so billig wie Brombeeren… in der Schweiz wie in jedem anderen Lande. Und die Grossmächte werden bereit sein, ihrem Frieden jedes andere Land zum Opfer zu bringen wie die Tschechoslowakei. Aber Hitler ist nur so lange stark, wie wir schwach sein wollen. Er ist weit schwächer als der Kaiser war, der seine Ritter nach Morgarten sandte. Vereinigt werden auch die Schwachen mächtig. Und wenn die Völker, die bedroht sind, sich entschliessen werden zur Verteidigung ihrer Freiheit und Existenz, werden sie Bundesgenossen finden auch im Lager der Angreifer selber. Die Schweiz darf nicht zur zweiten Tschechoslowakei werden. Sie wird es nicht werden, wenn sie sich ihrer europäischen Aufgabe bewusst wird. Anna Siemsen. Schriftenreihe des R.U.P., Nr. 1. Hrsg. Weltaktion für den Frieden (R.U.P.) Schweizer Zweig. Personen > Siemsen Anna. Tschechoslowakei. R.U.P. 1939-01-01