Lebesguesches Integrabilitätskriterium

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Lebesguesches Integrabilitätskriterium
Um nun die Riemann-Integrierbarkeit in ihrer vollen Tragweite zu verstehen, werden wir den
Begriff der Nullmenge einführen. Damit werden wir nämlich in der Lage sein, mathematisch
sauber zu formulieren, was man beispielsweise unter „fast überall stetig“ zu verstehen hat.
Definition 1 (Nullmenge)
Eine Menge N  IR heißt Nullmenge oder Menge vom Maß Null, wenn es zu
jedem noch so kleinen  > 0 höchstens abzählbar viele offene (oder auch abgeschlossene) Intervalle I1 , I 2 , gibt mit
N
I
und
i
I
iIN
iIN
i

(  Intervalllänge)
Bemerkung 1 (abzählbare Teilmengen von IR)
Jede abzählbare Teilmenge von IR ist eine Nullmenge und jede abzählbare
Vereinigung von Nullmengen ist eine Nullmenge.
Zum Nachweis betrachten wir die abzählbare Menge a 1 , a 2 ,  IR . Offenbar ist für jedes
beliebige  > 0


a k  a k  2k1 , a k  2k1  I k
( k  IN )
und damit eine abzählbare Überdeckung für a1 , a 2 , gefunden. Addieren wir nun die Länge des einzelnen Intervalle, so erhalten wir
I
kIN

i
2
kIN

2 k 1
    12    .
k
kIN
Nach Definition ist daher die abzählbare Menge a1 , a 2 , eine Nullmenge.
Betrachten wir nun mit N1 , N 2 , abzählbar viele Nullmengen, dann läßt sich jede Nullmenge N k von abzählbar vielen Intervallen I k ,1 , I k , 2 ,  überdecken, deren „Gesamtlänge“ 2k
unterschreitet. Also haben wir
N
kIN
k


   I
kIN

jIN
k, j




und
 I
kIN jIN
k, j


kIN

2k

und daher nach Definition abzählbar viele Nullmengen als Nullmenge ausgewiesen.
1
Beispiel 1
Die Menge der rationalen Zahlen ist eine Nullmenge.
Nach dem Cantorschen Diagonalverfahren läßt sich die Menge der rationalen Zahlen als
Folge schreiben und ist demnach abzählbar.
Die positiven Zahlen erscheinen als Folge q kIN mit
den Anfangsgliedern gemäß links stehender Tabelle
1
2
3
4
1
1
1
2
1
3
1
4
1

2
1
2
2
2
3
2
4
2

1
3
2
3
3
3
4
3
1
4
2
4
3
4
4
4






3
4
1, 2, 12 , 13 , 3, 4, 32 , ,
wobei sich wiederholende Zahlen ausgelassen werden.
Somit ist die Menge der rationalen Zahlen durch die
Folge
0, q1 ,  q1 , q 2 ,  q 2 ,
gegeben.
Nach Bemerkung 1 ist dann die Menge der rationalen Zahlen eine Nullmenge.
Anmerkung: Nullmengen müssen nicht abzählbar sein. Sie können auch überabzählbar sein
wie etwa die Cantormenge.
Sagt man nun von einer Funktion f : ID  IW , daß sie fast überall auf ihrem Definitionsbereich ID stetig sei, so besagt dies, daß die Menge der Unstetigkeitspunkte auf ID vom Maß
Null ist. Wir kommen nun zu dem bezüglich Riemann-Integrierbarkeit erhellenden
Satz 1
(Lebesguesches Integrabilitätskriterium)
Eine Funktion f : a, b  IR ist genau dann Riemann-integrierbar, wenn sie
auf a, b beschränkt und fast überall stetig ist.
Zum Nachweis dieses Satzes verwenden wir für einen fixierten Punkt x des Intervalls den
Stetigkeitsmodul
 f , x  :  sup  f ( y)  f (x)
y  U  x   a, b,
für den natürlich in Stetigkeitspunkten gilt: lim  f , x   0 .
0
„  “ Die Funktion f sei bes chränkt und fast überall stetig
Mit den Voraussetzungen dieser Beweisrichtung gibt es ein positives K aus IR mit
f x   K
für alle x  a, b
sowie zu jedem  > 0 abzählbar viele offene Intervalle I1 , I 2 , mit
2
S
I
I
und
i
iIN
iIN
i
 ,
wobei S die Nullmenge der Unstetigkeitsstellen von f sei.
Mit dem Ziel, das Riemannsche Integrabilitätskriterium später anzuwenden, geben wir uns ein
 > 0 beliebig vor.
Da die Funktion f in allen Punkten von a, b \ S stetig ist, finden wir für jedes x  a, b \ S
eine -Umgebung U  x  , so daß  f , x    ist.
Damit haben wir eine Überdeckung von a, b gefunden; denn es ist
a, b   I i   U x  x  .
iIN
xS
Diese können wir nach dem Überdeckungssatz von Heine-Borel sogar endlich wählen mit
a, b  I1    I n  U x  x 1     U x  x m  ,
1
m1
nachdem wir die Intervalle Ii der Überdeckung entsprechend umnummeriert haben.
Für die weitere Betrachtung wählen wir eine solch feine Zerlegung Z : a  x 0    x n  b ,
daß ein Zerlegungsintervall x k 1 , x k  ( 1  k  n ) entweder in einem Intervall Ii oder einer
Umgebung U   x  x  liegt und definieren die Indexmengen J und L durch
J  1  k  n
x k1 , x k  liegt
in einem I i 
L  1  k  n
x k 1 , x k  liegt
in einer U  x  x  .
Für die Differenz aus Ober- und Untersumme erhalten wir zunächst
n
Of , Z  Uf , Z   M k  m k   x k  x k 1  
k 1
  M k  m k   x k  x k 1    M k  m k   x k  x k 1  
kJ
kL
  2K  x k  x k 1    M k  m k   x k  x k 1  
kJ
kL
 2K   I i   M k  m k   x k  x k 1  
iIN
kL
 2K     M k  m k   x k  x k 1 
kL
Beim zweiten Summanden können wir aus Stetigkeitsgründen wie folgt abschätzen
M k  m k  sup f x k 1 , x k   inf f x k 1 , x k    f x  , x    
3
wenn x k 1 , x k  gerade in der x  -Umgebung von x  liegt. Schließlich haben wir für die
Differenz
n
Of , Z  Uf , Z   M k  m k   x k  x k 1   2K  b  a    ,
k 1
die sich damit bei Wahl der entsprechenden Zerlegung Z unter jede -Schranke bringen läßt.
Nach dem Riemannschen Integrabilitätskriterium ist somit f R-integrierbar.
„  “ Die Funktion f sei Riemann -integrierbar
Da jede R-integrierbare Funktion beschränkt ist, bleibt nur noch zu zeigen, daß die Menge S
der Unstetigkeitsstellen vom Maß Null ist.
Da bei einer beschränkten Funktion f : a, b  IR für alle x  a, b links- und rechtsseitiger
Grenzwert existieren, stellt der Grenzwert des Stetigkeitsmoduls im Punkt x
 f x  :  lim  f , x   lim f x     lim f x     f x    f x  
 0
 0
 0
gerade den „Sprung“ von f an der Stelle x dar.
Umfaßt nun S j ( j  IN ) die Punkte x  a, b , wo f einen „Sprung“ macht, der größer oder
gleich
1
j
ist, dann stellt
S
S   a  x  b
j
jIN
jIN
 f x   1j

die Menge aller Unstetigkeitspunkte von f dar. Wegen Bemerkung 1 genügt der Nachweis,
daß S j für jedes j  IN eine Nullmenge ist.
Wir geben uns nun ein j  IN sowie ein  > 0 beliebig vor. Wegen der R-Integrierbarkeit von
f gibt es eine Zerlegung Z : a  x 0    x n  b mit Of , Z  Uf , Z   . Damit sind zwei
Fälle für die Unstetigkeitspunkte x  S j denkbar. Zum einen können sie mit Zerlegungspunk-
ten von Z identisch oder zum anderen innere Punkte eines Teilintervalls I k  x k 1 , x k  sein.
Wir definieren daher die vielleicht auch leere Indexmenge
P  1  k  n
x k 1 , x k   S j   
und legen um die Zerlegungspunkte x 0 ,, x n abgeschlossene Intervalle I0 ,, In mit
n

k 0
Ik   .
Damit haben wir eine Überdeckung von S j ; denn es ist
n
S j   I k   Ik .
kP
k 0
Wir werden abschließend zeigen, daß die Summe

kP
n
I k   Ik
k 0
sich unter jede -Schranke bringen läßt und somit S j eine Nullmenge ist.
4
Offensichtlich läßt sich die zweite Summe ohne Schwierigkeit unter jede -Schranke bringen.
Betrachten wir daher die erste Summe. Jeder ihrer Summanden stellt die Länge eines Intervalls I k  x k 1 , x k  dar, das mindestens einen Unstetigkeitspunkt enthält. Für alle Unstetigkeitspunkte x  S j  I k haben wir die Abschätzung
sup f I k   inf f I k    f x , x    f x   1j

1  j  sup f I k   inf f I k 
und daher
I
kP
k
  j  sup f I k   inf f I k   x k  x k 1  
kP
n
 j   sup f I k   inf f I k   x k  x k 1   j  Of , Z  Uf , Z  j  
k 1
Da  > 0 beliebig vorgegeben war, ist S j für alle j  IN als Nullmenge nachgewiesen.
Beispiel 1
(R-integrierbare Funktion mit unendlich vielen Unstetigkeitsstellen)
Gegeben sei die Funktion f : 0,1  IR mit
1 x  0

x  0 x ist irrational
1 x  p
q
q
1
wobei p und q teilerfremd seien. Dann ist f R-integrierbar mit  f ( x )dx  0 .
0
Auch wenn der Graph dieser Funktion sich nicht zeichnen läßt, so wollen wir ihn dennoch mit
der nachfolgenden Skizze andeuten.
1
9/10
8/10
7/10
6/10
5/10
4/10
3/10
2/10
1/10
0
0
1/10
2/10
3/10
4/10
5/10
5
6/10
7/10
8/10
9/10
1
Zunächst zeigen wir, daß f in den rationalen Punkten unstetig und in den irrationalen stetig ist.
Sei x rational
Die Zahl x ist somit als teilerfremder Bruch qp darstellbar und es ist f
 
p
q
1
q
. Da in jeder -
Umgebung von x irrationale Zahlen liegen, können wir eine Folge irrationaler Zahlen rn nIN
mit rn  x wählen. Wegen lim f rn   0  q1  f x  ist somit f in den rationalen Punkten unn 
stetig.
Sei x irrational
Wir wählen eine beliebige rationale Zahlenfolge rn nIN mit rn  x . Zu jeder dieser Folgen
gibt es auf der Menge der ganzen Zahlen IZ Folgen p n nIN und q n nIN mit
rn 
pn
qn
(teilerfremd)
Wegen lim f rn   lim
n 
n 
1
qn
lim p n    lim p n .
und
n 
n 
 0  f x  ist f stetig in den irrationalen Punkten.
Nach Bemerkung 1 ist somit die Menge der Unstetigkeitspunkte von f eine Nullmenge. Da
zudem f beschränkt ist, ist f nach dem Lebesgueschen Integrabilitätskriterium R-integrierbar.
Zur Berechnung des Riemann-Integrals genügt also die Betrachtung einer Riemannfolge. Wir
wählen dazu eine Folge von Zerlegungen Z n nIN mit lim Z n   0 . Als Zwischenpunkte
n 
wählen wir stets rationale Zahlen, so daß wir sofort
1
 f x dx  lim Sf , Z
0
n 
n
, n   0
erhalten. Hier haben wir ein Beispiel für die Vorteilhaftigkeit des Konzeptes der Riemannschen Summen.
Wir wollen allerdings das Beispiel noch etwas vertiefen, da sich die Funktion f ein wenig der
Anschauung entzieht. Dazu wollen wir eine weitere Riemannfolge auf ihre Konvergenz hin
untersuchen – mit der Erwartung natürlich, daß deren Grenzwert ebenfalls Null ist. Und
schließlich wollen wir noch einen weiteren Beweis für die R-Integrierbarkeit von f führen.
Einen weitere Riemannfolge
Wir unterteilen das Intervall 0,1 in 2n Intervalle gleicher Länge. Wir haben also die Zerlegung
Z n : 0  x 0n     x kn  
k
2n
   x 2nn   1 .

Dazu wählen wir als Zwischenpunkte  kn  die rechte Grenze der Intervalle I kn   x kn1 , x kn 
und erhalten damit als Riemannfolge
2n
 
Sf , Z n ,  n    f  k  x k  x k 1
k 1
n 
n 
n 

n
 
1 2
1
 n   f  kn   n
2 k 1
2
6
2 1

   f  kn   1 .
 k 1

n
 

Aufgrund der Anordnung der Zerlegungspunkte sowie der Zwischenpunktwahl weisen die
Funktionswerte der Summe eine regelmäßige Struktur auf, wie dem unten stehenden
Schaubild leicht zu entnehmen ist.
1
6/8
4/8
2/8
0
0
1/8
2/8
3/8
4/8
5/8
6/8
7/8
1
So stellt nämlich die Summe der Funktionswerte nichts anderes dar als
1
1
1
1
n
 2   4     2 n 1  2 n  .
2
4
8
2
Für die Riemannfolge ergibt sich daher
 1 n  n2
1 2 1
Sf , Z n ,  n   n    f  kn   1  n    1  n 1
2  k 1
 2 2  2
n
 
und somit - wie erwartet – lim Sf , Z n ,  n   0 .
n 
Das Konvergenzverhalten dieser Riemannfolge wollen wir schließlich noch durch die als
Rechtecksummen dargestellten Folgeglieder andeuten.
Sf , Z1 , 1  
3
4
Sf , Z 2 ,  2  
7
1
2
Sf , Z 3 ,  3   165
Ein weiterer Beweis der R -Integrierbarkeit von f
Wir betrachten hierzu irgendeine Zerlegung Z : a  x 0    x n  b des Intervalls a, b und
geben uns ein  > 0 beliebig vor. Mit den beiden Indexmengen
I  1  k  n sup f I k   inf f I k    und J  1  k  n sup f I k   inf f I k   
zerlegen wir die Differenz aus Ober- und Untersumme in zwei Summen.
Of , Z  Uf , Z   sup f I k   inf f I k   x k  x k 1  
kI
  sup f I k   inf f I k   x k  x k 1 
kJ
Bezeichnen wir mit I die Elementanzahl der Indexmenge I, so erhalten wir für die erste
Summe
 sup f I   inf f I   x
kI
k
k
k
 x k 1   2  I  Z
und für die zweite Summe aufgrund der Schwankung sup f I k   inf f I k  unterhalb von 
 sup f I   inf f I   x
kI
k
k
k
 x k 1      x k  x k 1    .
kI
Mit den beiden Abschätzungen haben wir schließlich
Of , Z  Uf , Z  2  I  Z   ,
so daß f nach dem Riemannschen Integrabilitätskriterium R-integrierbar ist.
8
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