Jens Sannig (Hrsg.) Globalisierung – Segen oder Fluch? Entscheiden und Bekennen Ein Kirchenkreis stellt sich den Herausforderungen Eigenverlag Kirchenkreis Jülich 2 Eigenverlag Kirchenkreis Jülich 3 4 Jens Sannig (Hrsg.) Globalisierung – Segen oder Fluch? Entscheiden und Bekennen Ein Kirchenkreis stellt sich den Herausforderungen der Globalisierung Für unsere Söhne Daniel und Tobias und alle Kinder dieser Welt, deren Zukunft uns durch die Finger rinnt »Wenn wir über die Zukunft reden, dann müssen wir uns über etwas ganz Neues unterhalten« (Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker) 5 Jens Sannig (Hrsg.) Globalisierung – Segen oder Fluch? Entscheiden und Bekennen Ein Kirchenkreis stellt sich den Herausforderungen der Globalisierung Eigenverlag Kirchenkreis Jülich 2006 www.kkrjuelich.de 6 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Klaus Eberl 11 Aufruf zum Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit Resolution des Kirchenkreises Jülich zum Thema Globalisierung auf der Kreissynode am 23. November 2005 14 Ein Kirchenkreis stellt sich den Herausforderungen der Globalisierung Einleitung Jens Sannig 20 Theologisch und politisch über den Tellerrand schauen: Wie kommt eine Gemeinde zu einer Stellungnahme zur Globalisierung Dr. Dirk Chr. Siedler 35 Globalisierung: Ein großes Monster und „ein starkes Stück“ Bibelarbeit zu Jakobus 3,1-13 Daniel Frankowski (Paraguay) 45 Predigt über Lukas 12,13-30 Ricardo Schlegel (Paraguay) 53 Die Globalisierung und die Frage nach einer gerechten Gesellschaft Hans-Joachim Schwabe Hans Stenzel 60 1. Globalisierung – ein liberales Phänomen? 60 7 2. Die Schwachen müssen sich ändern – oder sie müssen sterben! 64 3. Die Macht der Konzerne, der Weltbank, des IWF 68 4. Die soziale Spende, die keine ist… 71 5. Nord und Süd – die Kluft wird immer größer 75 6. Auswirkungen der Globalisierung in Deutschland 6.1 Die Wachstumsideologie wider die soziale Verantwortung. 77 6.2 Sachverhalte, die ein Skandal sind: 81 6.3 Hartz IV und die Folgen. 85 6.4 Die Umverteilung von unten nach oben durch die Steuerpolitik 88 6.5. Der Abbau des Sozialstaates durch leere Sozialkassen und seine Folgen 92 7. Den Reichtum unter den Reichen aufteilen 95 8. Es geht auch anders 100 9. Das Mandat der Kirche 9.1 Gegen Reformtreue und für die Globalisierung der Gerechtigkeit 107 9.2 Die Position der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn 116 9.3 Ethische Perspektiven 119 10. Abschied von der Globalisierung - die Alternativen zum Neoliberalismus 123 11. Ausblick 134 8 Entscheiden und Bekennen – Die Frage ist gestellt! Die Kirche in Deutschland vor der Bekenntnisfrage als Herausforderung durch die wirtschaftliche Globalisierung Jens Sannig 138 1. Die wirtschaftliche Globalisierung fordert zum Bekenntnis heraus 138 2. Die Kirche vor der Herausforderung durch die wirtschaftliche Globalisierung 146 3. Die Frage nach der theologischen Dimension der wirtschaftlichen Globalisierung 148 4. Für ein Ja zum „Status confessionis“ 151 5. Gottesdienst oder Götzendienst 5.1. Verweigerte Partizipation für Alle an den reichen Gütern dieser Erde 156 5.2. Götzendienst 163 6. Extra ecclesiam nulla salus - Das war einmal 171 7. Die Frage ist gestellt 180 Die Autoren 187 Literatur 188 9 10 Vorwort „Money makes the world go round“, sagt man. In der globalisierten Welt scheinen sich alle Fragen dem ökonomischen Dogma unterzuordnen. Freie Waren- und Finanzmärkte nutzen auf den ersten Blick der gesamten Weltfamilie. Jeder Abbau von Hemmnissen wird als Errungenschaft gefeiert, die allen Menschen zugute kommt. Der Glaube misstraut solcher Eigengesetzlichkeit der Finanzmärkte. Er weiß um den Zuspruch und Anspruch Jesu Christi und verwirft alle Versuche, das Wort Gottes in religiöse Reservate abzudrängen. Neben den Gewinnern sieht er die Opfer der Globalisierung. Wirtschaft ist kein verantwortungsfreier Raum; deshalb darf die Ökonomie die Politik nicht überholen. Wirtschaftliche Globalisierungsprozesse brauchen Steuerung, damit nicht soziale Standards auf der Strecke bleiben. Stets geht es um den ethischen Komparativ, um mehr Teilhabe, mehr Gerechtigkeit, mehr Bewahrung der Schöpfung. Im Jahre 2001 hat die EKD-Synode eine Kundgebung zur Globalisierung verabschiedet. Darin heißt es abschließend: „Die Kirchen müssen ihre Autorität, über die sie in vielen Gesellschaften nach wie vor verfügen, in die Waagschale werfen, um im Sinne der vorrangigen Option für die Armen Einfluss auf politische Entscheidungen hier und in anderen Teilen der Welt zu nehmen. Zur Erfüllung dieses Auftrags bedarf es verantwortungsbereiter Menschen. Die Kirchen sollen ihnen mit der christlichen Botschaft Orientierung und Stütze geben. Globales Wirtschaften bietet Risiken und Chancen. Wir wollen, dass die Chancen wahrgenommen 11 und die Risiken tragbar gehalten werden. Das bedeutet für uns: Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten.“ Seit vielen Jahren steht im Kirchenkreis Jülich die soziale Frage oben auf der Agenda. Im Jahre 2008 wird sich die rheinische Landessynode mit dem Schwerpunktthema „Globalisierung“ befassen. Die Autoren des vorliegenden Bandes haben sich zur Aufgabe gemacht, die Beschlüsse der Kreissynode zu kommunizieren und weiterzuentwickeln. Gestritten wird in unserer Kirche insbesondere um die Glaubensrelevanz der Beschlüsse von Akkra und um die Frage des „processus confessionis“. In der Tat geht es hier um das „eine Wort Gottes“, das unser Vertrauen und unseren Gehorsam sucht. Geprägt durch die Weichenstellungen der Barmer Theologischen Erklärung (1934) hat sich der Kirchenkreis stets gegen Tendenzen gewährt, die Globalisierung zu einer eigenen Glaubenslehre werden zu lassen, die mit dem Satz beginnt „Ich glaube an die Kräfte des Marktes, die alles wunderbar regieren“. Gewinnorientierung und Wettbewerb sind nicht Sinn und Ziel des Wirtschaftens, sondern sind Instrumente, die der Daseinssicherung dienen und eine gerechte Teilhabe aller Menschen an den lebenswichtigen Gütern ermöglichen sollen. Faktisch aber machen sich in vielen Ländern der Erde, insbesondere in Afrika, Globalisierungsprozesse negativ bemerkbar. Die meisten Menschen in diesen Ländern sind von den Segnungen des weltweiten Wirtschaftens ausgeschlossen. Selbst in Deutschland, dem „Exportweltmeister“, trägt die Globalisierung ein Janusgesicht. Wir sind Gewinner und Verlierer, Täter und Opfer zugleich. Die deutsche Volkswirtschaft wächst und Gewinne explodieren, 12 während gleichzeitig Arbeitsplatzabbau und der Verlust von sozialen Sicherungen um sich greifen. Es gibt Anzeichen dafür, dass die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen in Deutschland ein Spiegel weltweiter Entwicklungen ist. Umso dringlicher stellt sich die Aufgabe, weltweites Wirtschaften nach ethischen Maßstäben zu gestalten. Nur der gerechten Verwendung von Gütern, die den Menschen Freiheit und Teilhabe ermöglichen, ist Gottes Segen verheißen. Superintendent Klaus Eberl Im Advent 2006 13 Resolution des Kirchenkreises Jülich zum Thema Globalisierung auf der Kreissynode am 23. November 2005 Aufruf zum Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit ____________________ (1) Die Synode des Kirchenkreises Jülich hat auf ihrer Tagung am 18. und 19. November 2005 nach intensiven Beratungen einen Aufruf zum „Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit“ beschlossen. Den Folgen der gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaftsordnung wurden die biblischen Visionen eines alternativen Lebens in Solidarität aller Menschen in Gottes Schöpfung gegenübergestellt. (2) Die Kreissynode fordert im Rahmen der Vorbereitung der Landessynode 2007 die Leitungsgremien der EKiR auf, den weltweiten ökumenischen Diskussionsprozess („processus confessionis“) aufzugreifen und sich an diesem Prozess des Bekennens zur Überwindung wirtschaftlicher und sozialer Ungerechtigkeit und der ökologischen Zerstörung verbindlich zu beteiligen. (3) Auf der Kreissynode haben uns unsere Gäste und Referenten aus der Partnerkirche in Paraguay1 von den Erfahrungen jener Krise berichtet, in die der Neoliberalismus Millionen von Menschen des „Südens“ in der Schöpfung Gottes führt. 1 Vgl. auch: Wirtschaft(en) im Dienst des Lebens. Biblische und ökonomische Perspektiven angesichts der Globalisierung. Dokumentation des Partnerschaftsbesuches der Iglesia del Rio de la Plata, Distrikt Paraguay September 2004, Düren 2004. 14 Außerdem erleben wir, dass auch in unserem reichen Land Menschen unter den Folgen des neoliberalen Wirtschaftens leiden – wenn auch noch auf höherem Niveau. (4) Darum fühlen wir uns mit Christen weltweit vereint in der Überzeugung, Veränderungen daran zu messen, ob sie allen Menschen ermöglichen, an der Fülle des Lebens innerhalb von Gottes Schöpfung teilzuhaben. (5) Wir erleben: Weltweit ist das Leben der Menschen miteinander verflochten. Die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens haben sich im Zeichen der Globalisierung verändert. Eine Wirtschaft, die sich keinen ethischen Regeln unterwirft, zerstört das Leben der Menschen und ihrer Umwelt. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes, die alles regelt, gewinnt quasi-religiöse Züge. (6) Mit Sorge sehen wir die „Zeichen der Zeit“ und nennen beispielhaft: Die reichen Staaten sichern sich ihre Herrschaft durch die internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank) und die Welthandelsorganisation (WTO) mit der Folge der Ausgrenzung finanzschwacher Staaten2. Dies wird deutlich im „Bericht über die menschliche Entwicklung 2002“ des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP): „Im Durchschnitt sind die Zölle der Industrieländer auf Importe aus Entwicklungsländern viermal so hoch wie auf Importe aus anderen Industrieländern. (...) Die Hürden für den Verkauf auf dem Weltmarkt sind für durchschnittliche arme Menschen doppelt so hoch wie für typische Arbeiter in reichen Ländern“ (UNDP 2002, S. 9 und 38). „Diese Ungleichbehandlung kostet die Entwicklungsländer jährlich bis zu 700 Milliarden Euro (UNCTAD 2002, S. 136) und verhindert in vielen Staaten eine wirksame Bekämpfung der Armut. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank zwingen sie zu einseitigen 2 15 - - - - - - Der Trend zur Militarisierung dient als Strategie zur Absicherung globaler Märkte. Die Naturressourcen unserer Erde werden ausgebeutet. Der Mensch wird immer mehr als ein Kostenfaktor betrachtet, und ethische Forderungen spielen immer weniger eine Rolle. Der zunehmende Abbau der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer führt zu einem Klima der Angst und Erniedrigung in unserer Gesellschaft. Die deutsche Wirtschaft wird durch eine zunehmende Machtkonzentration und durch Fehlentscheidungen, die für Manager folgenlos bleiben, nachhaltig geschädigt. Traditionelle ethische Wertvorstellungen der sozialen Marktwirtschaft gehen verloren. Beim Umbau von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft nehmen nicht-existenzsichernde informelle und flexible Beschäftigungsformen zu. Die Schere zwischen Arm und Reich geht selbst in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, immer weiter auseinander. Die soziale Verantwortung in Unternehmen sinkt unter dem Druck der Lohnkostensenkung immer mehr. Handelsliberalisierungen. Vgl. auch Globalisierung, Berlin 2002. J. Stiglitz: Die Schatten der 16 - - Einzelne gesellschaftliche Gruppen sind in besonderem Maße Opfer dieser Entwicklungen, insbesondere Frauen und Kinder3.. Immer mehr namhafte kirchliche Vertreterinnen und Vertreter distanzieren sich vom gemeinsamen Sozialwort der Kirchen von 1997 und unterstützen eine Reform- und Agendapolitik, die „Ja“ sagt zu dem Skandal, dass immer mehr Menschen in ihren Lebensmöglichkeiten auf ein Sozialhilfeniveau gedrückt werden. (7) Wir fragen: Wie können wir als Christen und Christinnen unserer Verantwortung gerecht werden, ohne den Weg von Anpassung und falscher Kompromisse zu gehen. Haben wir als Christinnen und Christen unsere Verantwortung wahrgenommen? Wie können wir im Zeitalter der Globalisierung dem Anspruch des Evangeliums und der darin enthaltenen sozialen Frage heute gerecht werden? (8) Wir verstehen: Global betrachtet sind wir Täterinnen bzw. Täter und Opfer zugleich: Einerseits profitieren wir von einer Weltwirtschaft, die auf ungerechten Systemen aufbaut und soziale Ungleichheiten und hierarchische Geschlechterverhältnisse nutzt und verschärft. Andererseits sind wir auch Opfer, weil auch bei uns Arbeitsplatzabbau und der Verlust von sozialen Sicherheiten als Folge von Globalisierungsprozessen zunehmen. Soziale Verantwortung wird als individualisierte, privatisierte, unbezahlte Arbeit immer mehr den Frauen zugeschoben (z.B. Pflegebereich). 3 Vgl. Christoph Butterwegge u.a.: Armut und Kindheit. Ein regionaler, nationaler und internationaler Vergleich. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2. Aufl. 2004. 17 (9) Deshalb verpflichten wir uns vor Gott und vor einander zur Treue gegenüber dem Bund Gottes: (10) Wir glauben an Gott, den Schöpfer und Erhalter allen Lebens, der uns zu Partnerinnen und Partnern der Schöpfung und Erlösung der Welt beruft. Wir glauben, dass Gott einen Bund mit der ganzen Schöpfung eingegangen ist. Jesus Christus führt uns in die Option für die Armen. Das befähigt uns, die Schreie der Armen zu hören. Deshalb sind wir gegen jede Theorie und Praxis der Kirchen, die die Armen und die Bewahrung der Schöpfung nicht berücksichtigen. (11) Wir lehnen die neoliberale Wirtschaftsordnung und jede Ordnung ab, die nicht dem Leben aller dient und so den Bund Gottes untergräbt. Deshalb sind wir gegen Konsum ohne Grenzen und gegen Egoismus, der andere in ihren Lebensmöglichkeiten einschränkt. (12) Wir bekennen unsere Sünde, dass wir die Schöpfung missbraucht und dass wir unsere Aufgabe, die Natur zu bebauen und zu bewahren, verfehlt haben. Wir bekennen: Wir tragen Schuld an der Entwicklung einer Kultur der konkurrierenden Gewinn- und Selbstsucht, in der die Schwachen auf der Strecke bleiben. Wir haben der These, die steigende Arbeitslosigkeit sei begründet in persönlichen Defiziten der Betroffenen und nicht in gesellschaftlichen Strukturen, die wir mitgestaltet haben, zu wenig widersprochen. Der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich, weltweit und bei uns, haben wir nicht entschieden genug entgegengewirkt. (13) Deshalb verpflichten wir uns, in Zusammenarbeit mit den Kirchen weltweit für wirtschaftliche, soziale und 18 ökologische Gerechtigkeit zu arbeiten, sowohl im globalen Kontext als auch in unserem regionalen und lokalen Umfeld. Dazu gehören: - die Aufrechterhaltung der sozialen Standards in Kirche und Diakonie; - die Beteiligung an sozialen Bewegungen gegen das Konsumdenken; - die Überprüfung der Finanzgeschäfte inner- und außerhalb der eigenen Gemeinden und Kirchen; - die Solidarisierung der Gemeinden und Kirchen mit allen, die von der „Fülle des Lebens“ systematisch ausgeschlossen werden, wie Arbeitslose, Obdachlose, Flüchtlinge und andere benachteiligte Menschen; - die Zusammenarbeit mit entsprechenden NGO´s und Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, um wirtschaftspolitische und ethische Alternativen für den öffentlichen Diskurs zu erarbeiten. (14) Die Synode des Kirchenkreises Jülich beauftragt ihren Vorstand und ihre Ausschüsse, die genannten Selbstverpflichtungen zu überprüfen und zu gestalten. Desgleichen bittet die Kreissynode die Gemeinden, sich diesen Aufruf zu Eigen zu machen. (15) Wir hoffen, dass Gottes Geist uns anstiftet, den Mund aufzutun für die Stummen und die Sache aller, die verlassen sind. (Sprüche 31,8) 19 Jens Sannig Ein Kirchenkreis stellt sich den Herausforderungen der Globalisierung ____________________ Wer den Kirchenkreis Jülich kennt, weiß, dieser Kirchenkreis steht nach wie vor unter dem Geist Peter Beiers, des langjährigen Superintendenten und späteren Präses der Rheinischen Kirche. Wer den Kirchenkreis Jülich kennt, weiß, dieser Kirchenkreis ist geprägt durch den Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Dieser Kirchenkreis weiß sich in seinen Bildungsveranstaltungen und -angeboten, Projekten, Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen der sozialen Frage verpflichtet. Dieser Kirchenkreis hat durch seine Gemeinde zu Düren langjährige und intensive Kontakte nach Lateinamerika, nach Paraguay, zur den Gemeinden am Rio de la Plata und weiß aus erster Hand von den Nöten, den existenziellen Bedrohungen der Menschen des Südens. Dieser Kirchenkreis wehrt sich im Bereich des Braunkohletagebaus, von dem große Teile des Kirchenkreises betroffen sind, massiv gegen die Ausbeutung der Schöpfung im Interesse der Gewinnmaximierung ohne Rücksicht auf Mensch und Natur. Dieser Kirchenkreis bindet alle Gemeinden in einem Rahmenvertrag über die Belieferung mit Naturstrom und andere regenerative Energieformen. Somit zeigt dieser 20 Kirchenkreis Alternativen zum herkömmlichen Wirtschaften auf.4 All das zusammen prägt den Kirchenkreis und es ist selbstverständlich, dass die mit der Globalisierung einhergehenden, negativen und menschenverachtenden Folgen des Neoliberalismus von den Verantwortlichen thematisiert und diskutiert werden und an praktischen Schritten vor Ort gearbeitet wird. Wie kann sich eine Landeskirche am Ende zu den Phänomenen und Folgen der Globalisierung verhalten? Darauf zielt das hinaus, was wir zurzeit an Prozessen in den Gemeinden erleben. Im Frühjahr 2008 will die Landessynode eine Stellungnahme abgeben zur Globalisierung, will sich einreihen in den Processus confessionis, in den weltweit angestoßenen Prozess der Auseinandersetzung um die Folgen der Globalisierung. Das Thema Globalisierung aber ist sehr vielschichtig. Es gibt eine Bewertung der Folgen der Globalisierung aus Sicht des Nordens, und es gibt die eine Bewertung der Globalisierung aus der Sicht des Südens. Und beide Sichtweisen auf ein und dasselbe Phänomen sind sehr unterschiedlich. Es gibt aber auch eine Betrachtung der Folgen der Globalisierung aus der Sicht der Gewinner, und es gibt eine Einschätzung der Globalisierung aus der Sicht der Verlierer. Und diese Unterscheidung ist keineswegs deckungsgleich mit einer Unterscheidung nach Nord und Süd. Weltweit werden die Gewinner der Globalisierung sehr wohl immer wohlhabender, aber es werden immer 4 Siehe Näheres unter Anmerkung 10 21 weniger zu Gewinnern. Und es werden immer mehr zu Verlierern, und die Verlierer werden immer ärmer. Das ist eine Herausforderung, der wir uns aus zweierlei Hinsicht zu stellen haben: Heute fragen die Kirchen des Südens ernsthaft und existenziell bedroht bei den Kirchen des Nordens an, wie wir das Phänomen Globalisierung und die Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftssystems bewerten und ob uns beides nicht ebenfalls, wie die Menschen des Südens, im Interesse der Menschen des Südens in unserem Glaubenszeugnis und Glaubensbekenntnis bedroht. Über die Partnerkirche der Gemeinde zu Düren ist der Hilferuf der Kirchen des Südens über die Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen und Weltversammlung des reformierten Bundes und des lutherischen Weltbundes hinaus ganz nah an uns herangetragen worden. Seit nahezu 15 Jahren unterstützt die Evangelische Gemeinde zu Düren verschiedene sozial-diakonische Projekte ihrer Partnerkirche am Rio de la Plata und des Komitees der Kirchen in Asuncion. Deren Gemeinden erleben den rasanten Untergang der Mittelklasse, berichten von den verheerenden Folgen einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft Lateinamerikas in immer Wohlhabendere und immer Ärmere, denen der Basiswarenkorb zum Leben nicht zur Verfügung steht. Die Armenquote in Paraguay liegt bei 41 %, das heißt, das Einkommen von fast 2.5 Millionen Menschen liegt unter ihrem täglichen Bedarf von 1 €. Aber auch hier in Deutschland haben uns die folgenschweren, negativen Auswirkungen des Neoliberalismus längst eingeholt. Wir erleben zurzeit die gleichen Phänomene der Globalisierung in Europa. Wir erleben die Auflösung aller sozialen Bindungen und 22 Verantwortlichkeiten und die Abkoppelung weiter Bevölkerungsteile von den Lebensgütern und- Werten einer Gesamtgesellschaft mit katastrophalen Folgen. Beide Erfahrungen spiegeln sich auch im Kirchenkreis Jülich wider und ganz bestimmt in vielen anderen Kirchenkreisen auch. Beide Erfahrungen, die der Kirchen des Südens und die vor Ort, waren Verpflichtung genug, uns dem weltweiten Processus confessionis anzuschließen und unser Positionspapier auf der Kreissynode im November 2005 zu verabschieden. Ein Kirchenkreis, der sich dem Konziliaren Prozess verpflichtet weiß, wird sich dieser Herausforderung nicht entziehen können. Globalisierung ist eine neue Dimension im Konziliaren Prozess, weil auf einmal nicht mehr Krieg oder Frieden über Leben oder Tod bestimmen, sondern ein wirtschaftliches System, das dem biblischen Anspruch auf Gerechtigkeit und dem biblischen Gebot der Partizipation aller an den Lebensgütern dieser Erde widerspricht. Wir haben allerdings im Vorfeld des Synodenbeschlusses und des verabschiedeten Positionspapiers vom November 2005 zunächst auch nach den Auswirkungen von Globalisierung und Neoliberalismus bei uns gefragt und diese bewertet und sie dann, im zweiten Schritt erst, in den Kontext der weltweiten Debatte gestellt. Um den Menschen die besorgniserregenden Anfragen der Kirchen des Südens nahe zubringen, um mit den Menschen bei uns eine Diskussion um unser Glaubenszeugnis und ihr Glaubensbekenntnis im Interesse der Menschen des Südens führen zu können, 23 war und ist es unsere Überzeugung, dass wir über die Auswirkungen der Globalisierung bei uns sprechen müssen. Wir müssen den Menschen erkennbar machen, dass ihre Problem am Arbeitsmarkt, ihre Sorgen und Nöte um die Zukunft ihrer Kinder, dass das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit und Massenentlassungen Auswirkungen der Globalisierung und der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung sind und kein individuelles Versagen. Wenn wir die Menschen bei uns nicht ernst- und annehmen in ihren Sorgen und Ängsten, wenn wir nicht die zunehmende Verarmung auch bei uns zum Thema machen, werden wir niemanden für die Nöte der Menschen der Kirchen des Südens interessieren und sensibilisieren. Das war die Grundüberzeugung, mit der wir uns im Kirchenkreis Jülich aufgemacht haben, uns dem Hilferuf der Kirchen des Südens zu öffnen. Wir müssen bei uns anfangen das Phänomen Globalisierung zu begreifen, seine massiven negativen Störungen eines Sozialsystems, seinen perversen Umgang mit Menschen, die zum Spielball der Aktionäre und Hedgefonds verkommen. Wir müssen begreifen, dass das neoliberale Wirtschaftssystem auch vor unseren Grenzen nicht halt macht. Dem Thema Globalisierung können wir uns gar nicht entziehen, ob wir wollen oder nicht, weil unsere Gemeindeglieder sowohl in ihren Lebenssituationen und ihren Arbeitsverhältnissen als auch durch die Ausbeutung der Schöpfung massiv von den Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik betroffen sind. Als Steinkohlezechenstandort haben die Veränderungen eines globalen Marktes im Kirchenkreis Jülich schon 24 Tradition. 1995 hat die letzte Zeche, „Sophia Jakoba“ in Hückelhoven geschlossen. Aber auch vor den nachfolgenden Betrieben, die im Rahmen einer regionalen Strukturanpassung und Umwandlung in der Region angesiedelt werden konnten, macht die Globalisierung nicht halt. Oder es sind gar Global Player, die nur zum Rahmabschöpfen gekommen sind und den Markt verlassen, sobald die Milch dünn geworden ist.5 5 Beispiele gibt es genug und bestimmt nicht nur in unserem Kirchenkreis. Bis 1988 war ich neben meinem Studium mit festem Arbeitsvertrag bei Schlafhorst, einem schon immer mit seinem Vertriebssystem weltweit handelnden Textilmaschinenunternehmen in Übach-Palenberg, als Maschinenführer tätig. Die Mitarbeiter, einschließlich eben der studentischen Anlernkräfte, haben gutes Geld verdient. Sie haben Existenzen gegründet, Häuser gebaut. 1988 kam der Umschwung. Das Unternehmen ging vom Familienbesitz in Aktionärshände über. Alle Studenten wurden als erste entlassen, beziehungsweise die Arbeitsverträge wurden nicht mehr verlängert, vielen wurde nahe gelegt, mit 58 Jahren in Vorruhestand zu treten. Damals war das annehmbar. Mittlerweile beschäftigt das Werk in Übach-Palenberg von 1800 Mitarbeitern nur noch 350. Das Unternehmen ist in viele kleine Unternehmen zerschlagen, die Aktionäre pochen auf Dividenden, die Mitarbeiter verzichten auf Weihnachts- und Urlaubsgeld, arbeiten 40 Stunden zum gleichen Lohn, eine Forderung nach 45 Stunden ist ausgesprochen, bei Nichtannahme wird mit Schließung gedroht. Es geht aber auch plumper. 1994 siedelte die Firma Mitsubishi mit einem Betrieb für die Entwicklung und Herstellung so genannter Halbleiter und Computerbauteile auf der Grenze zum Kirchenkreis, in Alsdorf an. Die Standortwahl wurde als Durchbruch im regionalen Strukturwandel gefeiert. Endlich hatten auch innovative, neue Technologien die Region erreicht. Die Kehrseite der Medaille: Mitsubishi erhielt eine Zusage über eine Steuerbefreiung für 10 Jahre, was damals 64 Millionen DM bedeutete. Es macht uns nicht stolz, dass wir noch im Jahr 1994 im Forum der Arbeit, einem regionalen Netzwerk aus Kirchen, Verbänden und Gewerkschaft zur kritischen Begleitung des Strukturwandels, 25 Unsere Kinder lernen in den Schulen an der Börse zu spekulieren und erhalten dafür Preise, und gleichzeitig verzocken die Macher dieses Spiels ihren Eltern den Arbeitsplatz. Das ist ein Skandal. Der Neoliberalismus mit seiner menschenunwürdigen Habsucht ist bei uns längst angekommen. Die Menschen spüren das. Die Menschen spüren es, ohne es artikulieren zu können. Unsere Gemeindeglieder spüren, dass etwas falsch läuft, aber niemand sagt ihnen die Wahrheit. Medien, Politik und Wirtschaft gaukeln uns vor, Reformen seien notwendig, der Gürtel müsse enger geschnallt werden, persönlicher Verzicht sei unverzichtbar, ohne nach den Folgen für die Betroffenen zu fragen. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen unserer Partnerkirchen am Rio de la Plata und der Erfahrungen vor Ort wollten wir im Kirchenkreis Jülich die Gemeindeglieder zunächst sprachfähig machen, damit sie aus ihrem großen Ohnmachtgefühl herauskommen. Im Kirchenkreis Jülich haben wir dazu, gemeinsam mit dem Kirchenkreis Aachen, mehrere Veranstaltungsreihen entwickelt, zuletzt für den Herbst 2006 gemeinsam mit der RWTH Aachen, die die Menschen in den Gemeinden versucht sprachfähig zu machen gegenüber der gewarnt hatten und prophezeiten, dass das Unternehmen nach der Bindung für 10 Jahre an den Standort diesen wieder aufgeben wird. Auf den Tag genau traf diese Entscheidung 10 Jahre später die Region hart. Benq Q Siemens findet auch in unserer Region statt. Das Glas- und Röhrenwerk der Philipps AG in Aachen wäre ein weiteres Beispiel. Auch hier entzieht sich das Unternehmen, gesteuert aus Fernost, allen sozialen Verantwortlichkeiten bei der Schließung des Werkes und der Standortverlegung. 26 scheinbaren Alternativlosigkeit, die das System des Neoliberalismus suggeriert. Wir haben in einem ersten Schritt, in einer Reihe „Wirtschaft ohne Gewissen? – es geht auch anders!“ viele Menschen eingeladen und erreicht, uns die Mythen des Neoliberalismus entlarven zu lassen. Wir haben Alternativen benannt, wir haben kritisch nach der Rolle der Medien gefragt und haben die Rolle der Kirche im Prozess der Globalisierung diskutiert.6 Wir sind dabei übereingekommen: Sprechen wir uns als Kirche für eine soziale Marktwirtschaft aus, dann haben wir uns schon entschieden gegen den Neoliberalismus. Beide Systeme sind miteinander unvereinbar. Aber es war wichtig, uns dessen ausgiebig zu vergewissern, uns zu informieren, eben sprachfähig zu werden um mitzusprechen. Dieser Prozess geht weiter, weil er längst noch nicht alle Interessierten erreicht hat. Jetzt, in einem zweiten Schritt, stellen wir uns dem kritischen Dialog. Jetzt fühlen wir uns bereit und gestärkt. In einer Veranstaltungsreihe unter dem Thema: Wirtschaft zwischen Macht und Staat, gemeinsam verantwortet mit dem Institut für Volkswirtschaftslehre der RWTH Aachen, streiten Vertreter und Vertreterinnen 6 Die Themenabende: - Wirtschaftssystem ohne Gewissen – Die Mythen der aktuellen Wirtschaftspolitik. - Meine Abende mit Sabine Christiansen – Die Rolle der Medien im Reformprozess. - Sozialreformen: Aufbruch oder Abstieg – ein Blick auf die Seiten der Betroffenen. - Und es gibt sie doch – Alternativen zu einem Wirtschaftssystem ohne Gewissen. - Glaube und Gewissen – Kirche im Kontext unseres Wirtschaftssystems. Positionen unserer Kirche. 27 unterschiedlicher Positionen um zukünftige Wege7. Wir werden um Alternativen ringen und diese in die öffentliche Diskussion bringen. Wir sind auch ein wenig stolz, den Präses der rheinischen Kirche für die Abschlussveranstaltung im Januar 2007 mit einem Vortrag: „Wider die Diktatur der Sachzwänge“, gewonnen zu haben. Immer diskutieren ein Vertreter der gängigen Lehre und ein kritischer Zeitgeist miteinander. Die Mythen des neoliberalen Wirtschaftssystems8 gehören entlarvt, der Streit mit dem System des Neoliberalismus und der wirtschaftlichen Globalisierung mit ihren katastrophalen Folgen muss geführt werden, weltweit. Wir brauchen den Wechsel im Denken. Es genügt nicht mehr, in Beschäftigungsinitiativen, wie unserer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Low-tec in Düren, mit Jugendarbeitslosigkeitsprojekten und Bauwagenprojekten für sozial Benachteiligte in den Gemeinden die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Wir werden uns als Kirchen zusammentun müssen mit denen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, die selber noch die Erkenntnisse des Evangeliums ernst nehmen, dass das Leben mehr ist, als den Ansprüchen als „homo ökonomicus“ zu genügen. Wir werden Teil einer kritischen Zivilgesellschaft werden müssen, wenn wir 7 Themenabende: - Steuerreform und Steuergerechtigkeit. - Warum soll der Staat sparen? - Globalisierung: Die Welt zerstören oder gestalten? - Wer profitiert vom internationalen Finanzhandel? - Wider die Diktatur der Sachzwänge- Welche ethischen Richtlinien bestimmen unser wirtschaftliches Handeln? 8 Wolfgang Kessler: Publik-Forum Nr.22/2003, S. 12ff 28 dem Rad der Globalisierung in die Speichen greifen wollen. Dazu wird es notwendig sein, uns als Kirchenkreis selbstkritisch zu hinterfragen, wie es um unser eigenes, wirtschaftliches Handeln steht. Wie stehen wir als Kirchenkreis und Gemeinden in einer Mindestlohn-Debatte da?9 Welches Tarifgefüge können wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Diakonie zumuten? Unterliegen unsere Fonds, in denen wir die Sammelrücklagen unseres Kirchenkreises und seiner Gemeinden angelegt haben, eigentlich den Kriterien ethischer Geldanlagen? Tragen wir mit unserem ökologischen Handeln zur öffentlichen Bewusstseinsbildung bei, oder geben wir uns der scheinbaren Alternativlosigkeit hin?10 9 Die Kampagne von VERDI, im öffentlichen Dienst nicht unter einem Stundenlohn von Brutto 7,50 zu zahlen, ist kein Größenwahn, sondern bedeutet, dass ein Arbeitnehmer bei 40 Stunden in der Woche Netto nur wenig über dem Regelsatz von Hartz IV nach Abzug aller Steuern und Abgaben liegt. Man kann auch bei Vollbeschäftigung in diesem Land arm sein. Wir haben gerade eine Untersuchung für unseren Kirchenkreis begonnen, ob wir mit Unternehmen zusammenarbeiten, die unter 7,50 € die Stunde bezahlen. Das wird mit Sicherheit der Fall sein. Für unsere kirchlichen Mitarbeiter, einschließlich 400 € Jobs, können wir das ausschließen, aber gilt das auch für Zulieferer, Fensterputzfirmen, Gärtnereien, etc? 10 Um weiterhin die Belieferung mit Naturstrom für den Kirchenkreis und die dem Rahmenabkommen beigetretenen Gemeinden sicherzustellen, hat der Kreissynodalvorstand mit NUON einen neuen, fünf Jahre laufenden Rahmenvertrag über die Belieferung mit Strom aus regenerativen Energiequellen für den Kirchenkreis Jülich ausgehandelt. Hauptanliegen war weiterhin ein Zeichen im Rahmen unseres Auftrages der Bewahrung der 29 Durch die Erklärung von Accra hatte der Reformierte Bund „auf allen Ebenen zu einem verbindlichen Prozess der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (Processus confessionis) bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung“ aufgefordert. Ob man sich dabei des Problems von der Anfrage der Kirche des Südens her nähert oder von den Erfahrungen der Auswirkungen der Globalisierung bei uns, wie wir es im Kirchenkreis Jülich gemacht haben, hängt ganz von den Gegebenheiten eines Kirchenkreises, seiner ökumenischen Kontakte, seiner Erfahrungen des Ausschusses für den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, seinen Projekten im „Eine Welt Bereich“ und seiner praktischen Verantwortung für die Schöpfung ab.11 Schöpfung zu setzen und deutlich zu machen, dass fossile Brennstoffe und Atomenergie keine Alternativen zum Naturstrom für uns sind. Und der neue Vertrag beinhaltet, was die Politik zurzeit massiv von den großen Stromkonzernen einfordert, nämlich die Offenlegung der Preispolitik. Wir haben auf der Basis der oben genannten Komponenten im neuen Vertrag die Möglichkeit, von NUON evtl. geforderte, höhere Strompreise zu verhindern, wenn sie nicht nachvollziehbar sind! Denn ausschlaggebend für Preisveränderungen sind ausschließlich Veränderungen an den gesetzlich festgeschriebenen Preisanteilen wie Steuern, Abgaben, Netzentgelte und zum Stichtag 30. September eines Jahres rückwirkend errechnete durchschnittliche Preisveränderungen an der Leipziger Strombörse. Willkürlich erscheinende Preiserhöhungen zur Steigerung des Unternehmensgewinns, die oftmals den Interessen der Aktionäre dienen, sind ausgeschlossen. Der neue Rahmenvertrag ist also auch ein Beitrag zu unserem Synodenbeschluss vom November 2005 zur Globalisierung. 11 Im Kirchenkreis Jülich sind wir so vorgegangen, dass der Ausschuss für Ökumenische Diakonie und der Ausschuss für den 30 Unbedingt notwendig wird sein, sich seitens der Kirchenleitungen, der Verantwortlichen im Pfarramt und in der Diakonie und den Bildungseinrichtungen die Erkenntnis zu erarbeiten, dass alle Wirtschaftssysteme immer mit dem Leben zu tun haben und deshalb auch theologische Bedeutung haben; und dass durch die massiven Schäden, die das neoliberale System weltweit anrichtet, sämtliche Fragen zur Globalisierung immer auch theologische Fragen sind. Die Kirchen brauchen Mut zu ihrem prophetischen Amt, um ihre warnende Stimme gegen ein Wirtschaftssystem zu erheben, das das Leben auf der ganzen Welt zerstört. Notwendig ist die „Einmischung“ von Seiten der Gemeinden. Machen wir Gemeindeglieder sprachfähig Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) gemeinsam einen Reader und eine Arbeitshilfe für die Diskussion in den Presbyterien und den Gemeinden erstellt haben. Die Arbeitshilfe beschreibt synopsenartig 1. die Fakten und die Auswirkungen des Neoliberalismus, benennt 2. zu jedem Abschnitt eine theologische und sozialethische Position, entwickelt daraus 3. eine Fragestellung an die Leser, die sie in ihrem Kontext befragt und gibt 4. Raum für eigene Antworten, Einschätzungen, Stellungnahmen. Gemeinsam mit dem Reader haben wir so im Vorfeld unseres Synodalpapiers einen breiten Konsultationsprozess angestoßen, der in den Ausschüssen gesammelt, ausgewertet und in die gemeinsame Vorlage für einen Synodenbeschluss gefasst wurde. Ich halte das für unbedingt notwendig, diesen langen Weg der breiten und öffentlichen Diskussion zu gehen, bevor eine Synode zu einer Entscheidung kommt. Die intensive Entwicklung eines Bewusstseins für die Anfragen der Kirchen des Südens an unser Glaubensbekenntnis, so wie die Entwicklung der eigenen Sprachfähigkeit durch Zurkenntnisnahme der zutiefst menschenverachtenden Auswirkungen des Neoliberalismus, beides war für uns die Voraussetzung, uns einer weltweiten solidarischen Bewegung eines Processus confessionis verpflichtet zu wissen und uns ihr anzuschließen. 31 und verhelfen wir ihnen dazu, ihr Ohnmachtgefühl abzulegen. Es ist höchste Zeit, dass unsere Gemeinden beginnen, sich aktiv einzumischen und zu verlangen, dass die eigene Mitleidenschaft unter dem Neoliberalismus thematisiert wird. Wir werden damit Teil eines weltweiten Prozesses, wie er sich in Porte Allegre, auf der Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) als so genannte AGAPE Initiative, zu Deutsch: Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde, zu Wort gemeldet hat. Die AGAPE Initiative spiegelt die Ergebnisse eines weltweiten Studienprozesses wider, in dem während der letzten sieben Jahre untersucht wurde, wie die Kirchen mit der wirtschaftlichen Globalisierung umgehen – ein Prozess, zu dem alle Regionen der Welt und mehrere weltweite christliche Gemeinschaften beigetragen haben, insbesondere die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) von 2003 und die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes (RWB) von 2004. Im Rahmen des Studienprozesses wurden die Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung analysiert: Alle, die am AGAPE-Prozess mitgewirkt haben, äußerten ihre Sorge über die wachsende Ungleichheit, die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen einiger weniger und die Zerstörung der Erde – alles Faktoren, durch die die skandalöse Armut im Süden und immer mehr auch im Norden noch verschlimmert wird. Überall auf der Welt erleben die Menschen danach, wie sich die Folgen der Globalisierung zunehmend negativ auf ihre Gemeinschaft auswirken. 32 Die AGAPE Bewegung fühlt sich durch die vielen Botschaften der verschiedenen im Weltsozialforum (WSF) zusammenlaufenden Bewegungen darin bestärkt, dass Alternativen möglich sind. Die Initiative bekräftigt auf der Weltversammlung in Porte Allegre, „dass wir etwas ändern können und müssen, indem wir zu verwandelnden Gemeinschaften werden, die für Menschen und Erde Sorge tragen.“ Initiativen in Deutschland und in der Schweiz haben diesen Gedanken aufgegriffen und suchen ebenfalls weitere Bündnispartner. Zu benennen wären das Ökumenische Netz Rhein, Mosel, Saar e.V., die einen Aufruf unter der Überschrift: „Das Ganze verändern“! veröffentlicht haben. Ebenso lohnt es, das Grundlagenpapier der Reformierten Kirchen Bern-JuraSolothurn zur Kenntnis zu nehmen. Der Synodalrat hat als Hauptziel seines Legislaturprogramms 2004 –2007 formuliert: „Wir treten auf allen Ebenen für eine gerechte und solidarische Gesellschaft ein. …Diese Kirche stellt sich der Herausforderung des Aufrufs des Processus confessionis.“ Ob wir am Ende zu einem geforderten Bekenntnis gelangen müssen, wird im letzten Kapitel des Buches Gegenstand der Erörterung sein. Zuvor nimmt das Buch die Erfahrungen unserer Partnerkirchen am Rio de la Plata in zwei Bibelarbeiten von Daniel Enrique Frankowski und Ricardo Schlegel auf. Dr. Dirk Chr. Siedler beschreibt in diesem Kontext die Erfahrungen der Partnerarbeit zwischen der Evangelischen Kirchengemeinde zu Düren und der Iglesia Evangelica del Rio de la Plata, die in einem 33 gemeinsamen Aufruf zu einem Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit münden. Der Beitrag von Hans-Joachim Schwabe untersucht sehr genau die Phänomene und Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung, also des Neoliberalismus. Er benennt seine gravierenden Folgen, entlarvt die Lügen und Mythen und zeigt mögliche Alternativen auf. Das Buch will Mut machen, teilzuhaben an einer weltweiten Bewegung, die nach Alternativen sucht und Alternativen lebt. Jeder Kirchenkreis kann sich hier einbringen und beteiligen. Eine breite Bewegung aus Gemeinden und Kirchenkreisen kann und wird uns als Landeskirche motivieren und stärken, gewichtiger Teil des Processus confessionis zu werden, wie es unser Beschlussantrag an die Landessynode aus dem Kirchenkreis Jülich fordert. 34 Dr. Dirk Chr. Siedler Theologisch und politisch über den Tellerrand schauen: Wie kommt eine Gemeinde zu einer Stellungnahme zur Globalisierung? Ein Praxisbericht, wie ökumenische Erfahrungen eine gemeinsame Sicht ermöglichen ____________________ Viele Gemeinden und Kirchenkreise haben durch ihre ökumenischen Partnerschaften die Möglichkeit, sich über die Folgen der Globalisierung und des Neoliberalismus in der Welt mit denen auszutauschen, die am meisten davon betroffen sind. Zu oft bleibt die Partnerschaftsarbeit allerdings bei bloßer „Entwicklungshilfe“ stehen und gelangt – auch wegen sprachlicher Schwierigkeiten – nicht zur gemeinsamen gesellschaftlichen und theologischen Reflexion. Viele Gemeinden und Kirchenkreise sind verständlicherweise oft so sehr mit ihren eigenen Fragen, Umstrukturierungen und Entwicklungsprozessen beschäftigt, dass die Energie für mehr kaum noch reicht. Dabei bleibt die Gelegenheit ungenutzt miteinander zu erkennen, dass wir im Norden und unsere Partner/innen im Süden oft „Opfer“ derselben globalen Prozesse sind und dass die Unterscheidung von „Opfer“ und „Täter“ gar nicht so einfach aufgeht. Unsere Partner/innen aus Paraguay haben uns beim Partnerschaftsbesuch 2004 in Düren gesagt, dass Menschen in Paraguay wie in Düren oft „Täter“ und „Opfer“ zugleich sind: Einerseits profitieren sie von ungerechten Strukturen, und andererseits brechen vertrauten Sicherheiten als Folge des Neoliberalismus 35 weg – nur auf einem völlig verschiedenem Niveau. Die Evangelische Gemeinde zu Düren pflegt seit nunmehr über einem Jahrzehnt eine Partnerschaft zur Iglesia Evangelica del Rio de la Plata (IERP), Distrikt Paraguay.12 Diese Kirche, die der Union Evangelischer Kirchen traditionell verbunden ist und theologisch nahe steht, umfasst geographisch die Länder Argentinien, Uruguay und Paraguay. Unsere Gemeinde, mit über 24.000 Gemeindegliedern eine der Stärksten im Rheinland, hat die Partnerschaft zu dem Distrikt Paraguay übernommen mit einer speziellen Verantwortung für die Gemeinde in Nueva Germania im paraguayischen Urwald. Die Dürener Gemeinde unterstützt dort ein Hospital und ein Internat. Gemeinsame Seminare, in denen die ökonomische und gesellschaftliche Situation theologisch reflektiert wird, sind eine gute Tradition dieser Partnerschaft. Auch von paraguayischer Seite wird immer wieder betont, dass nicht die finanzielle Unterstützung die Basis der Partnerschaft ist, sondern das Netz persönlicher Kontakte und Freundschaften, die jährlichen gegenseitigen Partnerschaftsbesuche und eben auch die gemeinsame theologische Diskussion insbesondere im Rahmen des Seminars. Zuletzt war im September 2004 eine Delegation aus Paraguay zu Besuch in Düren. Den nächsten Besuch 12 Eine Darstellung der gesellschaftlichen Situation in Paraguay und der Entwicklung der Partnerschaftsarbeit zwischen der IERP und der Evangelischen Gemeinde zu Düren gibt Wolfgang Hindrichs, Nueva Germania. Eine Herausforderung in Paraguay, Düren 2006. Zur Geschichte der Evangelischen Gemeinde in Asuncion vgl. Claus Bussmann, Treu deutsch und evangelisch. Die Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde zu Asunción/Paraguay von 1893 bis 1963, Wiesbaden 1989. 36 erwarten wir im Februar/März 2007. Das Besuchsprogramm hatte 2004 die Herausforderungen der Globalisierung in Paraguay und in Deutschland zum Schwerpunktthema. Das Seminar nahm das Motto auf unter dem der processus confessionis in Deutschland gestaltet wird: „Wirtschaft(en) im Dienst des Lebens – Biblische und Ökonomische Perspektiven angesichts der Globalisierung“13. An der Vorbereitung und Durchführung waren der Gemeindedienst Mission und Ökumene-Niederrhein und das Institut SÜDWIND beteiligt. Die Gäste aus Paraguay berichteten auf der Tagung über die Situation der Landwirtschaft und der Landlosen sowie über die Entwicklung und den Zustand des Gesundheitswesens in Paraguay. Ein Mitarbeiter der Arbeitslosenberatung in Düren hielt ein Referat über die Folgen der Globalisierung in Deutschland. Ein Referent von SÜDWIND führte in die ökonomischen Hintergründe und Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung ein. Pfarrer aus Düren und Paraguay setzten sich mit biblischen Perspektiven und Kriterien auseinander. Die Erklärung des Lateinamerikanischen Kirchenrates – CLAI zum processus confessionis „Die Kirchen erheben ihre Stimme“ aus dem Jahr 2002 wurde vorgestellt. Alle Diskussionsbeiträge aus der paraguayischen und der mitteleuropäischen Perspektive wurden in einen „Aufruf zum Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit“ 13 Dokumentiert in: Wirtschaft(en) im Dienst des Lebens. Biblische und ökonomische Perspektiven angesichts der Globalisierung hrsg. von Dirk Chr. Siedler, Düren 2004, S. 25f.; erhältlich über die Evangelische Gemeinde zu Düren, Gemeindeamt, Philippstraße 4, 52349 Düren. 37 zusammengeführt, der zweisprachig verabschiedet wurde. Er nahm die Struktur und einige Gedanken des Aufrufes zum „Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit“ des Reformierten Weltrates auf, die im August 2004 – also einen Monat zuvor – in Accra stattgefunden hatte. Der Aufruf wurde auf dem abschließenden Partnerschaftsgottesdienst vorgestellt und von zahlreichen Gemeindegliedern und Gottesdienstbesuchern unterzeichnet. Die Partner aus Düren und Paraguay verpflichteten sich, den Aufruf in ihre Kirchen, Gemeinden und Entscheidungsgremien einzubringen. Presbyterien und Synoden wurden aufgefordert, sich der Erklärung anzuschließen oder zumindest einen Diskussionsprozess zu initiieren. Da sich auch eine Begegnung mit dem Präses der rheinischen Kirche ergab, konnten unsere Partner und die Dürener Gemeinde den Aufruf auch ihm überreichen. Damit war der Aufruf allerdings noch kein presbyterialer Beschluss. Die Dürener Gemeinde hat eine lange im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzende liberaltheologische und auf die gesellschaftliche Relevanz des Glaubens orientierte Position, die sich 1969 in der „Dürener Theologischen Erklärung“ ausdrückte: „Wir bekennen, dass das Leben der Gemeinde beständiger Gottesdienst ist: in familiärer, beruflicher, politischer und sozialer Verantwortung. Ausdrücklich und unmissverständlich bekennen wir also, dass die Gemeinde nicht schweigend zusehen darf, wenn Menschen unterdrückt, ausgebeutet oder verdummt werden. Darum steht die Gemeinde der Moral der 38 bestehenden Gesellschaft ständig kritisch gegenüber.“14 Ausgehend von dieser bekenntnismäßigen theologischen Position, die im Leben der Gemeinde vielfältig diakonische Gestalt gewonnen hat, war es möglich auch in Hinblick auf die Globalisierung und den Neoliberalismus Position zu beziehen. Dazu war ein weiterer Diskussionsprozess innerhalb des Presbyteriums nötig, das sein obligatorisches jährliches Tagungswochenende Ende Januar 2005 nutzte den Text weiter zu diskutieren. Es ist sicherlich in vielen Gemeinden so, dass zu den inhaltlichen Diskussionen eines Partnerschaftsbesuches eher der engere Kreis der Partnerschaftsbegeisterten kommt. Da nun ein Presbyteriumsbeschluss beabsichtigt war, der den presbyterial-synodalen Weg durch die Instanzen gehen sollte, war es nötig, das gesamte Presbyterium noch einmal in den schon begonnenen Diskussionsprozess hinein zu nehmen. Dabei stellte sich die Aufgabe, einerseits am gemeinsamen Text mit den paraguayischen Freunden festzuhalten und andererseits neue Gedanken des presbyterialen Diskussionsprozesses aufnehmen zu können. Um dem Presbyterium den aktuellen Standort in der Diskussion um den processus confessionis zu zeigen, baten wir Martina Wasserloos-Strunk um einen einführenden Vortrag zum Thema „Stellungnahme der Gemeinde zur weltweiten wirtschaftlichen (Un)Gerechtigkeit“. Sie hatte an der Vollversammlung des Reformierten Weltbundes teilgenommen und konnte 14 Dürener Theologische Erklärung vom Presbyterium der Evangelischen Gemeinde zu Düren beschlossen am 11. Februar 1969, in: Evangelisch in Düren. Festschrift 50 Jahre Christuskirche, Berlin 2004, S. 104. 39 den Diskussionsprozess anschaulich darstellen. Daran schloss sich ein Bericht über die Diskussionen an, die zu dem Text des Aufrufes geführt hatten, der auf dem Wochenende als Diskussionsgrundlage diente. In drei Arbeitsgruppen wurden der Vortrag und die Textvorlage diskutiert. Dabei ging es darum, welche Themen des Textes noch einer weiteren Diskussion bedurften, und welche konkreten Formulierungen verändert werden sollten. Diese Vorschläge wurden protokolliert und anschließend durch Arbeitsgruppenberichte zusammengetragen. Eine kleine Redaktionsgruppe sichtete im Anschluss an das Wochenende die Eingaben und arbeitete sie in den Text ein. Dabei war der Gesichtspunkt leitend, dass sich dieser Aufruf, sofern er von der Dürener Gemeinde beschlossen werden sollte, nicht nur solidarisch an unsere Partner/innen in Übersee wendet, sondern vorrangig doch an die Gemeindeglieder und politischen Verantwortlichen hierzulande. Unter dieser Perspektive ist der Text redaktionell bearbeitet worden. Dabei wurde ausdrücklich nicht die Intention des auf dem Seminar beschlossenen Textes verändert. Es ist weiter erkennbar und ein besonderer Wert dieses Aufrufes, dass Christinnen und Christen aus Südamerika und Mitteleuropa zu einer gemeinsamen Sicht auf die Globalisierung gekommen sind. Auf ruf zum Bund für w irtschaftliche, soziale u n d ö k o l o g i s c h e G e r e c h t i g k e i t 15 Das Presbyterium der Evangelischen Gemeinde zu Düren macht sich nach intensiven Beratungen die Inhalte des 15 Presbyteriumsbeschluss der Evangelischen Gemeinde zu Düren vom 19. April 2005 40 Aufrufes zum Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit zu Eigen, der auf einem gemeinsamen Seminar mit Christinnen und Christen unserer Partnerkirche, der Iglesia Evangélica del Río de la Plata (Distrikt Paraguay) im September 2004 entstanden ist. Den Folgen der gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaftsordnung 16 wurden die biblischen Visionen eines alternativen Lebens in Solidarität aller Menschen in Gottes Schöpfung gegenübergestellt. Das Presbyterium fordert die Synode des Kirchenkreises Jülich und die Landessynode auf, den weltweiten ökumenischen Diskussionsprozess („processus confessionis“) aufzugreifen und sich an dem verbindlichen Prozess des Bekennens in Hinblick auf wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit und der Umweltzerstörung zu beteiligen. In unserem Seminar haben uns unsere Gäste von den Erfahrungen jener Krise berichtet, in die der Neoliberalismus Millionen von Menschen in der Schöpfung Gottes führt. Außerdem haben wir von Menschen in unserem reichen Land gehört, die unter den Folgen des neoliberalen Wirtschaftens leiden, der – wenn auch noch auf höherem Niveau – ebenfalls das Wirtschaften in Deutschland prägt. Darum fühlen sich Christen in Paraguay und Deutschland vereint in der Überzeugung, Veränderungen daran zu messen, ob sie allen Menschen ermöglichen, an der Fülle des Lebens innerhalb von Gottes Schöpfung teilzuhaben. Mit Sorge sehen wir die „Zeichen der Zeit“: - die undemokratische Herrschaft, die sich reiche Staaten durch die internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank) und die Welthandelsorganisation (WTO) sichern und mit der Folge der Ausgrenzung finanzschwacher Staaten17; - den Trend zur Militarisierung als Strategie zur Sicherung globaler Märkte; - die Schwächung nationaler Regierungen mangels Mitbestimmungsmöglichkeiten in den weltwirtschaftlichen 16 Unter Neoliberalismus wird eine Wirtschaftsordnung verstanden, die durch die alleinige Steuerung der ökonomischen Prozesse mittels freien Wettbewerbs gekennzeichnet ist und sich quasi-religiöse Züge anmaßt. 17 Vgl. Anmerkung 2 S. 15 in diesem Buch. 41 Gremien und die Ausbeutung der Naturressourcen unserer Erde. Deshalb verpflichten wir uns vor Gott und einander zur Treue gegenüber dem Bund Gottes: Wir glauben an Gott, den Schöpfer und Erhalter allen Lebens, der uns zu Partnerinnen und Partnern der Schöpfung und Erlösung der Welt beruft. Deshalb verwerfen wir die gegenwärtige neoliberale Wirtschaftsordnung und jede Ordnung, die nicht dem Leben aller dient und so den Bund Gottes untergräbt. Wir glauben, dass Gott einen Bund mit der ganzen Schöpfung eingegangen ist. Er gibt uns eine Option für die Armen und seine Schöpfung. Deshalb sind wir gegen Konsum ohne Grenzen und gegen Egoismus, der andere in ihren Lebensmöglichkeiten einschränkt. Wir glauben, dass Gott uns aufruft, die Schreie der Armen zu hören. Deshalb sind wir gegen jede Theorie und Praxis innerhalb der Kirchen, die die Armen und die Bewahrung der Schöpfung nicht berücksichtigt. In Demut bekennen wir, dass auch wir Schuld tragen, da wir von der neoliberalen Wirtschaftsordnung profitieren und dass wir gefangen sind in den gegenwärtigen Konsumpraktiken. Wir verpflichten uns, einen globalen Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit in der Schöpfung Gottes anzustreben: Dies führt unsere Kirchen weltweit zusammen, um für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit zu arbeiten, sowohl im globalen Kontext, als auch in unserem regionalen und lokalen Umfeld. Dazu gehören: - die Beteiligung an sozialen Bewegungen gegen das immer unreflektiertere Konsumdenken; - die Überprüfung der Finanzgeschäfte inner- und außerhalb der eigenen Gemeinden und Kirchen; - Solidarisierung der Gemeinden und Kirchen mit denen, die von der „Fülle des Lebens“ systematisch ausgeschlossen werden, wie Arbeitslose, Obdachlose, Flüchtlinge, Kleinbauern und die indigene Bevölkerung. 42 Die Evangelische Gemeinde zu Düren verpflichtet sich entsprechend unserem Glauben und den daraus gewonnenen theologischen Einsichten zu handeln, d.h. ihre Partnerschaftsprojekte weiter zu entwickeln, in ihren Investitionen das Kriterium der Nachhaltigkeit und Mitweltverantwortung zu berücksichtigen und auch ihre eigenen Finanzmittel und Rücklagen so einzusetzen, dass sie dem Leben dienen. Eine Evaluationsgruppe wird beauftragt, diesen Prozess zu gestalten und zu überprüfen. Beraten während des Partnerschaftsbesuches in Düren am 19. September 2004, beschlossen durch das Presbyterium der Evangelischen Gemeinde zu Düren am 19. April 2005 und der Synode des Kirchenkreises Jülich empfohlen zur Beratung und zur Weiterleitung an die Landessynode. Die dann erarbeitete Textfassung wurde schließlich am 19. April 2005 im Presbyterium beraten und einstimmig festgestellt. Er wurde dem Kreissynodalvorstand zugeleitet mit dem Antrag, dieses Thema auf einer der nächsten Kreissynoden zu beraten. Diese Beratung führte dann im November desselben Jahres zu einem Synodalbeschluss, der sich in der Struktur und in wesentlichen Inhalten am Dürener Aufruf orientiert. Durch die intensive Einbeziehung des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt nimmt die hiesige Perspektive auf die Folgen der Globalisierung im kreissynodalen Aufruf breiteren Raum ein. Die Gemeinde hat inzwischen die in dem Aufruf eingegangene Verpflichtung „entsprechend [ihrem] Glauben und den daraus gewonnenen theologischen Einsichten zu handeln“ sowie die genannten Konkretisierungen aufgegriffen und am 22. August 2006 zwei entsprechende Folgebeschlüsse gefasst, in denen sie sich einerseits verpflichtet hat bei eigenen 43 Veranstaltungen kein Fleisch aus Massentierhaltung anzubieten. Andererseits wurde beschlossen, „bei gemeindlichen Veranstaltungen grundsätzlich fair gehandelte Produkte anzubieten, sofern diese zur Verfügung stehen und regionale Angebote keine bessere Ökobilanz aufweisen“. Dieser Beschluss wurde zum Anlass genommen, mit verschiedenen Gruppen und Kreisen sowie mit den Außenbezirken der Gemeinde das Gespräch zu beginnen, um sie von fairen Produkten für ihre Veranstaltungen zu überzeugen. Obwohl die Dürener Gemeinde seit nunmehr einem Viertel Jahrhundert Partnerschaftsprojekte nach Südamerika unterstützt (sie begann 1982 mit Projekten in Peru), seit fast drei Jahrzehnten einen Eine-Welt-Laden betreibt, der in diesem Jahr (2006) über 55.000 € umsetzt und die Partnerschaftsprojekte in Paraguay unterstützt, hat sie noch wichtige Aufgaben vor sich, um dem „Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit“ gerecht zu werden. 44 Daniel Frankowski Globalisierung: Ein großes Monster und „ein starkes Stück“ ____________________ Jakobus 2,1-13 Kein Ansehen der Person in der Gemeinde 21 Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. 2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, 3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen! 4 ist's recht, dass ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken? 5 Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben? 6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? 8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; 9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. 10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig. 11 Denn der gesagt hat (2. Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten. « Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. 45 12 Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. 13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht. Heute spricht man von Globalisierung bei wenigen Menschen, nicht bei allen. Es gibt wenige, die sie verstehen, und viele, die nicht verstehen, um was es geht. Für einige wenige ist es das Größte, was passieren kann, für viele bedeutet das außerhalb dieses Größten zu sein. Für einige enthält dieser Ausdruck ein Versprechen von einer besseren und friedvolleren Welt, andere verknüpfen diese Idee mit dem Weltchaos. Im täglichen Leben wird Globalisierung mit verschiedenen Sachen in Verbindung gebracht: CocaCola, Internet, Satellitenfernsehen, freier Markt, E-Mails, der Triumph der Demokratie über den „Kommunismus“, Nafta, Mercosur, Europäische Union, Telenovelas aus Hollywood, Microsoft, die Klimakatastrophe und vielleicht auch die UNO und die „humanen“ militärischen Interventionen - der Antiterrorismus realisiert in ihrem Namen. Es gibt praktisch kein soziales Problem, keine Katastrophe und keine Krise, die nicht mit der Globalisierung in Beziehung gesetzt wird. Anderseits wird gleichzeitig die Hoffnung auf eine vereinte Welt, sicher und friedvoll, proklamiert, bis zum Gedanken an eine demokratische Weltregierung. Trotzdem, der Glaube an der Bildung einer Weltgesellschaft, friedlich und menschlich, wird durch die praktische Erfahrung widerlegt: Es wachsen Kriege und Bürgerkriege, es gibt immer mehr soziale Trennung, Rassismus, Nationalismus, Triumph des Kapitalismus… 46 Mit dem Konzept „Globalisierung“ werden immer auch zwei Seiten angesprochen. Globalisierung steht für die Hoffnung auf Fortschritt, Frieden und für die Möglichkeit einer einigen und besseren Welt, zur gleichen Zeit steht sie für Abhängigkeit, Fehlen von Autonomie, Ruf nach Demokratie und Fehlen von sozialem Wohlergehen so wie der Menschenrechte, insgesamt also für eine Drohung. Lateinamerika erlebt heute eine Verminderung des Kapitaleinkommens, das Wachsen von Armut, die Zerstörung der kleinen und mittleren Industrie, die Auslandsverschuldung, die Zerstörung der örtlichen Kultur und das Wachsen von Gewalt und Krieg. Dieser Prozess der Globalisierung bedroht einen großen Teil der Bevölkerung, besonders die Armen und unter ihnen die besonders Betroffenen: Kinder, Frauen, die Umwelt, die Ökologie und schwarze und indigene Gemeinschaften. In der lateinamerikanischen Gesellschaft verschwindet die Mittelklasse, und mit großer Schnelligkeit sehen wir ein Lateinamerika gespalten in zwei soziale Gruppen. Auf der einen Seite die, die in Luxuskonsum und Verschwendung leben, hochmütig. Auf der anderen Seite Klassen und Ethnien, denen der Basiswarenkorb zum Leben nicht zur Verfügung steht, nämlich vollwertige Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erziehung und Gesundheit, was ein Überleben in Unwürde, vielmals durch die Verschwendung, die der Luxuskonsum mit sich bringt, zur Folge hat. Immer mehr merkt man in der lateinamerikanischen Gesellschaft einen breiteren Bruch zwischen arm und reich. Wie im Gleichnis vom Lazarus und dem Reichen, gibt es keine Form des Grades zwischen Reichtum und Armut, sondern es öffnet sich eine Kluft zwischen reich und arm. 47 Die sehr beängstigenden Probleme unserer Welt – gebildet durch die betrügerische Globalisierung, in der wir leben – gehören zu den materiellen und ökonomischen Regeln, die verbunden sind mit dem Vergessen der Gerechtigkeit und der Solidarität, Werte, die im Grunde genommen spirituelle sind. Vom biblischen Standpunkt aus (besonders Jak. 2, 1-13) ist der Arme, der ungerecht Behandelte, der Bevorzugte Gottes – Gott hat eine Option für die Armen wegen der Wirkung, die das ökonomische System auf die Schwächsten der Gesellschaft hat. Die Globalisierung ist eine neue Form von Kapitalanhäufung. Mit der Globalisierung wurde die Technologie entwickelt und gleichzeitig ein System der Ausgrenzung geschaffen. Weil die Kommunikation beschleunigt wurde durch die „Verkürzung der Entfernungen“, hat man eine Mauer errichtet zwischen denen, die Anteil haben an den neuen Technologien und denen, die ausgeschlossen sind. Das zeigt, dass die Ungleichheit sich ausweitet bei den Möglichkeiten, Wissen zu erlangen. Die Arbeits- und - Wirtschaftsmöglichkeit wandelt sich heute in Paraguay – oder besser gesagt praktisch in ganz Lateinamerika – in ein bedeutsames Problem für alle Staaten. Die Krise des Landes und das Verstummen der Regierenden auf den Schrei des Volkes wandeln sich in eine Besorgnis. Damit wir die Größe des Problems merken, hier ein kleines Beispiel des Modells „Globalisierung“: Juan versteht nicht, Juan lernt nicht, Juan nimmt nicht wahr… Juan begann seinen Tag sehr früh, als um 6.00 Uhr sein Wecker klingelte (made in Japan). Während er wartete, 48 dass sein Wasserkessel (made in China) kochte, rasierte er sich mit einem elektrischen Rasierapparat (made in Hongkong). Er zog sein Hemd (made in Sri Lanka) an, seine Markenhose (made in Singapur) und Schuhe( made in Korea). Er machte sich ein Toastbrot mit seinem Toaster (made in Indien), überlegte mit seinem Rechner (made in Mexiko), wie viel Geld er heute ausgeben könnte. Dann stellte er seine Uhr (made in Taiwan) nach dem Radioprogramm (made in Thailand). Dann bestieg er sein Auto (made in Brasilien) wie jeden Tag, um eine gute Arbeit in Paraguay zu suchen. Und am Ende des Tages, wieder ein entmutigender und unnützer Tag, ruhte Juan ein wenig aus. Er zog seine Sandalen an (made in Argentinien) holte aus seinem Kühlschrank (made in Brasilien) ein Bier (made in Deutschland) und schaltete das Fernsehen an (made in Indonesien). Während er die Nachrichten sah (CNN), dachte Juan nach und verstand nicht, dass er keine gute Arbeit in Paraguay gefunden hatte. Heute gibt es viele, die die Globalisierung nicht verstehen. Es gibt viele, die sind außerhalb der Geschichte und können das nicht beschreiben. Heute gibt es viele Geschwister, die an den ruhmreichen Jesus Christus glauben, die von diesem System diskriminiert werden. Jakobus zeigt uns in seinem Text, dass das nicht passieren muss… “man muss keine Diskriminierung machen unter Menschen.“ (Jak.2,1). Bei diesem neoliberalen Modell gibt es viele, die auf dem Boden sitzen oder denen die Beine weggezogen werden und wenige, die Goldringe und Luxuskleidung tragen. Jak. 2,5: Hört, meine geliebten Geschwister. Hat nicht Gott die, welche vor der Welt arm sind, dazu erwählt, 49 dass sie im Glauben reich und Erben des Reiches seien, das er denen verheißen hat, die ihn lieben?“ Im Gegenteil: die wenigen, die Goldringe und luxuriöse Kleidung tragen, die erniedrigen, die beuten aus. Bei diesem Modell sehen wir eher auf die, die sich lieben lassen. Diese Globalisierung, die heute existiert, ist ein Modell, das eine starke Desintegration im Inneren unserer Gesellschaft provoziert, die in Beziehung gesetzt werden muss mit der tiefen Ungleichheit, die wir bei der Verteilung der Gewinne der kapitalistischen globalisierten Wirtschaft sehen. Darum „enthält der Text Jak. 2, 1-13 die Grundprinzipien der Zurückweisungen der Trennung der Gesellschaft in Klassen. Die letzten Mittel Gottes haben schon ihre Wertigkeit in der Gegenwart: Die Armen müssen gesehen werden unter der mobilisierten Grundlage für das gemeinschaftliche Leben. Die klassischen Strukturen mit Privilegierten und Marginalisierten und die Bildung von wirksamen Klientels als Naturgesetze zu akzeptieren, gibt einem anderen Gott die Ehre anstelle des einzigen Jesus Christus. Wer das macht, schließt andere Menschen aus, und man schließt sich selbst aus der Gesellschaft aus. Das alles enthält eine sehr starke Bestätigung, die nachdenklich macht. Nämlich dass dieses aktuelle Modell der Globalisierung, das uns glauben machen will, es sei gerechter und kohärenter, dass dieses Modell, das mehr soziale und ökonomische und politisch-kulturellreligiöse Herrschaft erzeugt, dass dieses Modell Menschen zutiefst unterdrückt. „Der angesagte Widerstand des Jakobus hat seinen Ort auf dem Boden der Erklärung einer totalen Umkehr der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen, der den 50 Beginn der Lösung dieses beklagenswerten gottlosen Zustands weist.“ Dieses Modell der Globalisierung, welches immer mehr Ungleichheit und Arbeitslosigkeit in den Ländern der Peripherie erzeugt, fügt sich nicht in das Modell ein, was uns Jakobus zeigt. Er möchte uns zeigen, dass Gott zugunsten der Schwächsten der Gesellschaft interveniert. Er möchte uns die Verpflichtung zeigen, die sich an den sozialen Fragen orientiert, Gerechtigkeit und Schutz der Schwachen ( Jak. 1,27; 2, 1-13; 14-17; 4,13-17 und 5,16). Jakobus gibt uns zu verstehen, dass die wahre Religion – die Beziehung zu Gott- unzertrennlich verbunden ist mit der sozialen und zwischenmenschlichen Dimension. „Jakobus bildet das Wissen „von unten“, erinnert uns daran, dass die Marginalisierten ihren Wert vor Gott haben. Und dieser Wert muss verwirklicht werden in der Gesellschaft mittels solidarischer Integration. Die Rettung (oder Rechtfertigung) enthält eine essentielle Beziehung zu der Solidarität. Wahrer Glaube schließt die Solidarität mit den schwachen Gliedern der Gesellschaft und die Distanzierung von den gegenwärtigen und ungerechten Strukturen ein. Das heißt: Der besondere Charakter des Projektes des Jakobus hat seinen Grund in der Christologie des Textes. Er errichtet sein Projekt der Würde der Armen und des Wertes der solidarischen Gemeinschaft im Gegensatz zum todbringenden System der Ausbeutung und des Egoismus. Das impliziert in keinerlei Weise die Flucht oder den Rückzug aus der Welt, denn Gott selbst sendet seine Kirche in die Welt. Die Mission der Kirche beinhaltet die Entwicklung des Glaubens an Jesus Christus, 51 proklamiert und akzeptiert durch den Glauben an ein neues Leben. Zu diesem gehört die Bildung ökonomischen Modells einer gerechten und sozialen Gesellschaft. Das wird zusammengefasst in den Worten von Jakobus 2,1-13. Wir träumen von einer globalisierten Welt, aber globalisiert durch Gleichheit der Möglichkeiten für alle. Amen Übersetzung: Wolfgang Hindrichs 52 Ricardo Schlegel Predigt über Lukas 12,13-30 ____________________ Warnung vor Habgier 13 Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. 14 Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt? 15 Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. Der reiche Kornbauer 16 Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. 17 Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. 18 Und sprach: Das will ich tun: ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen, und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte 19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! 20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? 21 So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott. Vom falschen und rechten Sorgen 22 Er sprach aber zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen sollt. 23 Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. 24 Seht die Raben an: sie säen nicht, sie ernten auch nicht, sie haben auch keinen Keller und keine Scheune, und Gott ernährt sie doch. Wie viel besser seid ihr als die Vögel! 25 Wer ist unter euch, der, wie sehr er sich auch darum sorgt, seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte? 53 26 Wenn ihr nun auch das Geringste nicht vermögt, warum sorgt ihr euch um das andre? 27 Seht die Lilien an, wie sie wachsen: sie spinnen nicht, sie weben nicht. Ich sage euch aber, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. 28 Wenn nun Gott das Gras, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wie viel mehr wird er euch kleiden, ihr Kleingläubigen! 29 Darum auch ihr, fragt nicht danach, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, und macht euch keine Unruhe. 30 Nach dem allen trachten die Heiden in der Welt; aber euer Vater weiß, dass ihr dessen bedürft. Die Gnade unsres Herrn Jesus Christus sei mit allen. Liebe Schwestern, liebe Brüder! Die Evangelische Kirche am Rio de la Plata, aus der ich komme, wird ihre nächste Synode im Oktober in Hohenau in Paraguay begehen. Sie steht unter dem Thema: „Glaube und Ökonomie - zwei Gesichter - ein Blickwinkel.“ Dieses Thema ist eine Herausforderung für uns alle. Da ist es auch für uns, die wir schon im dritten Jahr gemeinsam mit der evangelischen Gemeinde zu Düren an dem Thema „Globalisierung“ arbeiten. Teilen zwischen „zwei Welten“ ist ein Thema, dass uns als Christen alle betrifft, weit über das hinaus was jeder von uns persönlich in diesem Wirtschaftssystem erlebt. Das ist es auch, was uns in den letzten zwei Tagen beschäftigt hat. Als Kind haben meine Grosseltern zu mir gesagt: „Von Politik und Geld spricht man nicht in der Kirche“. Was die Grosseltern sagten, wurde ohne große Diskussion akzeptiert. Als „Rumänen“ und als „Russen von der Wolga“, die ihre deutschen Gewohnheiten pflegten, hatten sie eine ganz besondere Art, ihren Glauben zu 54 leben. Ich sage nicht, dass es schlecht war, sondern es war ihre Art, die viel mit ihrer Lebensgeschichte zu tun hatte: Kriege, Verfolgung, Hunger und Ungewissheit. Sie haben viel gelitten unter extremen politischen Verhältnissen und einer Wirtschaft, die nichts als Schmerzen produziert hat. Ihr einziger Zufluchtsort in dieser Zeit war die Kirche. Von daher kommt es, dass sie über Politik und Geld in der Kirche nicht sprechen wollten. Aber als Erwachsener und mit einem anderen Lebensstil als die Grosseltern habe ich erkannt, dass die biblischen Berichte verflochten sind mit vielen politischen Fragen und dass viele wirtschaftliche Probleme in der Bibel angesprochen werden. Nicht weil ich glaube, dass die Kirche Politik machen sollte oder eine eigene Bank haben müsse, sondern weil ich denke, dass wir die rechte Einstellung zur Politik und Wirtschaft benötigen. Lassen wir uns also von Jesus selbst den Weg zeigen. Einen Weg finden wir in dem Gleichnis, das Jesus selbst erzählt. Hier ist Jesus nicht bereit, das Problem der Erbschaft zu lösen, mit dem der junge Mann zu ihm kommt, sondern er nutzt die Gelegenheit, um den Menschen deutlich zu machen, welche Einstellung sie zum Geld haben sollen. Das Thema, das sehr deutlich angesprochen wird, sowohl in den Sorgen des jungen Mannes als auch in dem Gleichnis Jesu, ist die Frage nach der Habsucht, die unser ganzes Leben negativ bestimmt. Sie steht in Verbindung mit der Ausbeutung und der Ungerechtigkeit. Auf der anderen Seite sehen wir die Einstellung des Landwirts, der sehr gute Ernten hatte, wie unsere 55 Landwirte in Paraguay in den letzten zwei Jahren. Weil die Sojabohnen einen guten Preis hatten, haben viele den letzten Urwald vernichtet. Ohne an ihre Kinder und die Zukunft zu denken, wurden große Teile der Schöpfung zerstört. Sie haben nur an sich selbst gedacht und ihren Egoismus gezeigt, wie dieser reiche Narr. „Alles gehört mir: meine Früchte, mein Getreide, mein Besitz, meine Seele. Und mit all dem mache ich, was ich will und was mir Spaß macht.“ Er denkt nicht daran seine Freude mit anderen zu teilen, sondern er hat seinen Spaß für sich. Früher war es üblich, dass man bei einer guten Ernte oder einer anderen großen Freude seine Familie und Freunde einlud, um dieses Ereignis zu feiern. Das Gleichnis endet aber nicht hier. Es sagt, dass Gott sprach und zu ihm sagte: Narr. Nach unserem Verständnis ist es geringschätzig, sich so auszudrücken. Im Altertum hatte das aber eine andere Bedeutung, vor allem in den Psalmen. So lesen wir etwa in Psalm 14,1: „Die Narren denken, es gibt keinen Gott“. So ist Narr hier keine Beleidigung, sondern das Fehlen einer Beziehung zu Gott. Jetzt überträgt Jesus das auf den falschen Gebrauch des Besitzes. Aber was verurteilt Jesus? Bestimmt verurteilt er den Mann nicht nur, weil er reich ist. Hier wird nicht der Reichtum verurteilt, sondern wie man damit umgeht. Zu der Zeit gab es eine ganz praktische Frage: Derjenige, der Getreide hamsterte, schaffte damit eine Unterversorgung. Wenn er dann seine Produkte in Hungerzeiten verkaufte, konnte er überhöhte Preise verlangen und die Leute mussten sie bezahlen. So wurden die Reichen immer reicher und die Armen immer hungriger. Und was passiert in unserer Welt heute? Leben wir nicht auch in einer närrischen Welt, biblisch gesprochen? Das 56 neoliberale Wirtschaftssystem, das in Lateinamerika eingeführt wurde, hat zur Steigerung der Armut und zur Ausgrenzung geführt. In Ländern wie unserem, die einen unglaublichen natürlichen Reichtum besitzen, sieht man Kinder und Alte, die unterernährt sind. Das sind nicht nur Bilder im Fernsehen, sondern überall. .Kinder müssen Zeiten ihres Lebens schnell überspringen, um Aufgaben zu übernehmen, die nicht ihrem Alter entsprechen. Es ist Tatsache, dass wir Waren kaufen können „Made in China“ während bei uns die Fabriken schließen, weil sie nicht mit den Produkten konkurrieren können, die aus dem Ausland kommen. Klar müssen wir erkennen, dass wir als Gesellschaft krank sind. Wir haben in unseren Ländern Regierungen, die vom Hunger ihrer Völker leben. Sie erhöhen ihre Löhne, während das Volk nicht weiß, wie es die Grundbedürfnisse bezahlen soll. Die Korruption gibt es überall und sie richtet immer mehr Schaden an. Es sind Regierungen, die immer mehr Kredite von den internationalen Organisationen erbitten, und logischerweise kommen diese nie der Bevölkerung zu Gute. Aber ich möchte mit den Worten unseres früheren Kirchenpräsidenten Juan Pedro Schaad die Frage stellen: „Sind nicht diese internationalen Organisationen ebenso korrupt wie unsere Regierungen, weil sie Millionenkredite bewilligen, obwohl sie wissen, dass man diese verschleudert?“ Ich denke, wir sind in einem Teufelskreis, in dem wir die kommenden Generationen dazu verurteilen, unter den Konsequenzen unseres heutigen Handelns zu leiden. Aber ich freue mich sehr über die Kenntnis, dass eine Bewegung wie ATTAC hier in Europa an einem Programm arbeitet, das die Globalisierung menschlicher 57 machen soll. Und mit Überraschung habe ich gehört, dass deren Vertreter die Auslandsschulden der Entwicklungsländer für illegal halten und die Erlassung fordern. Ja, wir können das Gleichnis Jesu mit dem vergleichen, was heute mit den mächtigen Regierungen unserer Erde geschieht. Wir können uns vorstellen, dass Gott sie „Narren“ nennen würde. Aber nicht nur sie, sondern unsere Entwicklungsländer auch. Ja, ich sehe, dass unsere Gesellschaften und auch unsere Kirchen häufig närrische Wege gehen. Aber wie ich schon gesagt habe: Jesus verurteilt nicht die reichen Länder, weil sie reich sind, sondern er verurteilt die Haltung, die sie einnehmen. Das gilt auch für die Reichen in ganz armen Ländern. Ich komme zurück zum Text. In Vers 21 erklärt Jesus, dass das Gericht kommt und warum der Reiche ein Narr ist. Schätze sammeln für sich selbst widerspricht dem Reichsein in Gott. Der reiche Narr sammelte Schätze ausschließlich für sich selbst und verneinte damit Gott. Wenn wir diesen Satz mit dem zuvor Gesagten verbinden, können wir daraus schließen, dass wer den Nächsten ablehnt, auch gegen Gott ist. So wird deutlich, dass der Besitz und der Reichtum eine soziale Funktion haben. Das ist die Zusammenfassung von dem „Wirtschaftsprogramm“ in diesem Gleichnis. Und wenn wir das als wahr und gut für unser Leben erkennen, wissen wir auch, dass wir als Gemeinde eine Verantwortung haben. Wir sind ganz einfach Haushalter von all dem Reichtum, den Gott uns schenkt. Wir sind verantwortlich, und als Nachfolger Christi brauchen wir eine unverwechselbare Einstellung gegenüber der Not der Menschen, die uns umgeben. Das Gleichnis gibt uns 58 eine gute Anleitung zum Teilen. Reich sein in Gott – einen Schatz besitzen – bedeutet mitarbeiten daran, dass der Besitz seine soziale Funktion erfüllt, die darin besteht, dass das Leben in seiner Vielfalt und für alle Menschen ermöglicht wird und nicht nur für einige wenige. Jesus richtet sich an diejenigen, die mehr haben, als sie benötigen, um sie zu überzeugen, dafür bereit zu sein, ihren Wohlstand mit denen zu teilen, die nicht das Notwendige zum Überleben haben. Im Brennpunkt seines Herzens erscheinen die schwachen Mitglieder der Gesellschaft. Er wartet darauf, dass wir Stellung beziehen, er wartet darauf, dass wir konsequent tun, was wir sagen und er wartet ohne zu ermüden darauf, dass wir an einer gerechteren, solidarischeren und diakonischeren Welt arbeiten, einer besseren Welt. Ich möchte schließen mit den Worten des Paulus an seinen Freund Timoteus in 1.Tim. 6,17-19: Möge es so sein. Amen 59 Hans-Joachim Schwabe Hans Stenzel Die Globalisierung und die Frage nach einer gerechten Gesellschaft ____________________ Die Schatten der Globalisierung werden immer länger. Immer mehr Menschen stehen im Dunkel und nicht im Licht. Die Euphorie über die Globalisierung schwindet. Ihre Verfechter gaben vollmundig die Parole heraus: schrankenloses Wachstum der Weltwirtschaft schaffe blühende Landschaften. Die Beseitigung aller Handelshemmnisse auf dem Erdkreis, freie Hand der Kapitalinvestoren und das freie Spiel der Kräfte werde die Menschheit in das gleißende Licht eines Wohlstands für alle stellen. Die Welt wartet und fragt sich angesichts des täglichen Sterbens von Tausenden Kindern an Hunger: Ist Globalisierung Segen oder Fluch? Sind die Folgen der Globalisierung mit unserem Glauben vereinbar oder nicht? Können wir die Globalisierung gestalten, oder unterwirft ein globaler Markt alles und alle den Kriterien von Wachstum und Profit? 1. Globalisierung – ein liberales Phänomen? Globalisierung ist heute in aller Munde. Es vergeht keine Nachrichtensendung, ohne dass davon nicht die Rede ist. In jeder Tageszeitung können wir es gleich mehrmals lesen. Globalisierung ist nicht neu. Seitdem es schnelle Kommunikation und zufriedenstellende Transportwege gibt, existiert auch Globalisierung, zunächst begrenzt auf den Wirtschaftsbereich. Betriebe gingen mit ihrer 60 Produktion auf die Wanderschaft, um schneller größere Gewinne zu erreichen. Für unser Land gilt, dass bereits in den 50er und 60 er Jahren z.B. die Lederwaren- und Textilindustrie zunehmend ins Ausland übersiedelte. Sicherlich hat es schon früher Menschen schwer getroffen, die in ihrem alten Beruf nicht weiter arbeiten konnten. Damals war es jedoch kein Problem, diese wieder in eine neue Arbeitsstelle zu vermitteln. Es war im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung eine vernünftigere Lösung als Gastarbeiter anzuwerben, was Entwurzelung im Heimatland, aber gleichzeitig mangelnde Bereitschaft der Integration auf beiden Seiten bedeutete. Deutschland gehört sicherlich per Saldo eher zu den Gewinnern der Globalisierung. Die Arbeitsplatzverluste in Deutschland sind vor allem in der dramatisch fortschreitenden Rationalisierung begründet. Das heißt nicht, dass nicht einzelne Branchen und einzelne Gruppen unserer Gesellschaft durch die Folgen der Globalisierung massivst betroffen sind. Wir wollen im Folgenden aufzeigen, dass die Globalisierung oft dafür herhalten muss, dass das Geld und die Macht in unserer Gesellschaft brutal zu Lasten der Armen umverteilt werden. Hier sei auf die Untersuchung der renommierten Unternehmensberatung Roland Berger hingewiesen. Wenn zum augenblicklichen Zeitpunkt alle Rationalisierungmöglichkeiten von der Industrie genutzt würden, dann hätten wir 12 Millionen Arbeitslose.18 Neben der Rationalisierung ist ein Hauptgrund für den Verlust von Arbeitsstellen in den meisten Fällen die Inkompetenz unserer Wirtschaftsführer. So stellten 125 18 Zeitzeichen 7/2006, Selbst im Land der Eliten 61 Insolvenzverwalter mit dem Kreditversicherer Euler Hermes fest, dass der Hauptgrund einer Insolvenz Managementfehler sind.19 Globalisierung in unserer Zeit bedeutet: Globalisierung ist von seiner Bedeutung her allumfassend, d.h. es sind alle Bereiche unseres menschlichen Zusammenlebens betroffen. Außerdem findet Globalisierung nicht nur in einzelnen Regionen dieser Erde statt, sondern erdumfassend. In den westlichen Industrienationen wird in der Praxis Globalisierung auf den wirtschaftlichen und Medienbereich begrenzt. Andere Bereiche, wie z.B. Sozialstandards, Kultur, spielen keine Rolle. Globalisierung wird nur da propagiert, wo sie den Mächtigen ins Konzept passt.20 Die Globalisierungsdebatte wird bei uns von einer volkswirtschaftlichen Schule beherrscht. Diese vertritt die Meinung, dass völlig freie Märkte unser Zusammenleben am besten regeln. Diese nennen wir heute Neoliberalismus ohne soziale Verantwortung. Die Devise: Wenn es den Mächtigen und Reichen bestens geht, fällt für Arme noch genug ab. Regulative Maßnahmen der Politik verhindern einen allgemeinen Wohlstand. Aus diesen Vorüberlegungen heraus möchten wir lieber von ungerechter Wirtschaftsordnung oder auch Neoliberalismus sprechen. 19 Frankfurter Rundschau 28.9.2006: Kommentar, Managementfehler Hauptgrund für Insolvenz 20 In der Flüchtlingsfrage etwa denken die Mächtigen in Politik und Wirtschaft nicht global, sondern immer engstirniger nationalistisch aber auch menschenfeindlicher. 62 Die Positionen zum Neoliberalismus sind vielschichtig; die Profiteure begrüßen ihn, die Verlierer verteufeln ihn. Oft wird im Laufe der Zeit ein Großteil der Profiteure zu Verlierern. Natürlich ist die Position bei den Ländern des Südens, des Ostens und den Ländern des Westens noch einmal sehr unterschiedlich. Was bedeutet Neoliberalismus im Einzelnen? - Beschleunigte Arbeitsplatzvernichtung und Verfestigung der Arbeitslosigkeit. - Herrschaft der Shareholders (Aktionäre) und ihrer globalisierten gesteigerten Renditeansprüche - Abbau sozialstaatlicher Systeme - Massiv zunehmende Spaltung zwischen dem wachsenden Reichtum der Superreichen und der zunehmenden Verarmung breiter Schichten - Herrschaft eines neoliberalen Einheitsdenkens in einer formierten Öffentlichkeit, die die neoliberale Reformpolitik absolut setzt und die Opfer zu den Schuldigen ihrer eigenen Misere erklärt. Als Akteure fungieren die Superreichen, die Shareholders, ihre Manager und Berater, die neoliberalen Politiker und die neoliberalen Medienmacher.21 Tatsache ist, dass fast alle großen finanzstarken, globalen Unternehmen aus dem Westen kommen. Tatsache ist weiterhin, dass diese mit Unterstützung der westlichen Politik bis heute die ärmeren Länder unter ihrer Kontrolle halten und über die Steuerung des Weltmarktpreises und die vom Westen majorisierten internationalen Verbände wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds, 21 Ulrich Duchrow u.a.: solidarisch Mensch werden. S. 160ff 63 Welthandelsorganisation dafür sorgen, dass es bei uns besser geht als in den ärmeren Ländern. Bis heute schreckt der Westen nicht davor zurück, dies gegebenenfalls mit militärischer Macht durchzusetzen. Die Hauptgeberländer, vor allem die USA, nutzen auch bei den Vereinten Nationen nicht nur ihre politische Vormachtstellung, sondern auch ihre finanzielle Macht. So haben die Hauptbeitragszahler unter Führung der USA zwar für die UNO ein Zweijahresbudget verabschiedet, eine Ausgabenermächtigung gibt es jedoch nur für sechs Monate, was dem Ende zugeht.22 Tatsache ist, dass diese Unternehmen nur profitorientiert sind und dabei die ökologischen und sozialen Fragestellungen nicht auf der Tagesordnung stehen. 2. Die Schwachen müssen sich ändern – oder sie müssen sterben! Bevor wir uns mit Zahlen beschäftigen, einige Zitate, die uns sehr deutlich machen, wie katastrophal die Situation ist. Jean: Ziegler, UN-Sonderbotschafter: „100.000 Menschen werden durch unser Wirtschaftssystem und damit auch durch uns ermordet.“23 Diese Aussage wird durch ein weiteres Zitat von Ziegler verdeutlicht: „Die heutige kannibalische Weltordnung ist das Ende sämtlicher Werte der Aufklärung, das Ende der Grundwerte und der Menschenrechte. Entweder wird die 22 Frankfurter Rundschau 19.6.2006: Kofi Anan: Die Vereinten Nationen sind für alle da. 23 Publik Forum 26.5.2006: Das Glück und die Schande. S. 32ff 64 strukturelle Gewalt der Konzerne gebrochen oder die Demokratie ist vorbei und der Dschungel kommt.“ 24 Eine Verurteilung des Wirtschaftssystems wird noch dadurch unterstützt, dass man diese Erfahrung nicht etwa in Zeiten macht, wo es allen Menschen schlechter geht, sondern genau das Gegenteil der Fall ist: „Das Weltsozialprodukt ist seit dem Zusammenbruch des so genannten real existierenden Sozialismus um mehr als das Doppelte gestiegen. Der Welthandel hat sich verdreifacht. Der Energiekonsum verdoppelt sich alle vier Jahre. Der Planet quillt über von Reichtum...“. 25 Wie sehr wir, d.h. Europa, die Menschen in Afrika ausbeuten und wir uns selbst damit bei uns gravierende Probleme schaffen, wird an folgendem Beispiel deutlich. Der UN-Sonderbotschafter Ziegler berichtet, dass europäische Großfangschiffe in den Hoheitsgewässern Afrikas den Fisch mit Großfangnetzen abgrasen und damit der heimischen Bevölkerung die Lebensgrundlage rauben. Das ist illegal, aber die afrikanischen Staaten können sich keine Militärschiffe leisten, die das verhindern könnten. Um überleben zu können, verdingen sich die heimischen Fischer deshalb als Schleuser und transportieren Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa.26 Prof. Karl Georg Zinn, bis 2004 Professor für Volkswirtschaft an der RWTH Aachen: „Wenn der Markt alle Lebensbereiche erfasst, wird die soziale Welt 24 Ulrich Duchrow u.a.: Solidarisch Mensch werden. S. 35ff Jean Ziegler, in: Publik Forum 26.5.2006 Sonderheft - Das Glück und die Schande. S. 32ff 26 Jean Ziegler in der Sendung Horizonte (HR) vom 22.10.2006 25 65 zu einem Basar, und die Menschen sind nur noch Ware, und unverkäufliche Ware verdirbt und wird vernichtet“.27 Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft, ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrates von Präsident Clinton, ehemaliger Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank sagt dazu: „Ich hatte damals den Eindruck, dass eine bestimmte Politik Menschen tötet, deshalb musste ich handeln“.28 Von Hayek, Vertreter ein Verfechter gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und ein Freund des bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Friedmann, der den Neoliberalismus auf Bitten von Pinochet in Chile einsetzte, befindet: „Eine freie Gesellschaft benötigt moralische Bestimmungen, die sich letztlich darauf zusammenfassen lassen, dass sie Leben erhalten: nicht die Erhaltung aller Leben, weil es notwendig sein kann, individuelles Leben zu opfern, um eine größere Zahl von anderen Leben zu erhalten. Deshalb sind die einzigen wirklichen moralischen Regeln diejenigen, die zum Lebenskalkül führen: das Privateigentum und der Vertrag“.29 Gegen besseres Wissen behauptet er, dass nicht für alle genügend Ressourcen auf der Welt seien – seit Jahren stellen die UN-Reporte überzeugend genau das Gegenteil dar. Von Hayek räumt der Gesellschaft das Recht auf Selektion ein, wobei offen bleibt, wer darüber entscheidet, wer überleben darf und wer nicht. Der Chef des Daimler Chrysler Konzerns erklärte 1999 auf einem Kolloquium über den Kapitalismus im 27 Ulrich Duchrow u.a. Solidarisch Mensch werden. S. 22ff. Ebd. S. 11 29 Ebd. S. 35f 28 66 21.Jahrhundert: „Die Schwachen müssen sich verändern, oder sie werden sterben“.30 Wenn es noch weiterer Belege bedarf: Helmut Maucher, der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Nestlé-Konzern, hat die Arbeitslosen als Wohlstandsmüll bezeichnet, Helmut Kohl die Bundesrepublik als einen Freizeitpark, wo jeder, der will, Arbeit findet, Gerhard Schröder zettelte die Faulenzerdebatte an, Wolfgang Clement bezeichnet die Arbeitslosen als Parasiten. Es geschieht immer nach dem gleichen Schema, die Opfer werden zu Sündenböcken gemacht. Wir kennen das zu Genüge aus der Asyldebatte seit Anfang der 90er Jahre. Auch Peer Steinbrück (SPD) tut sich durch markige Sprüche hervor, die dem christlichen Glauben an die Ebenbildhaftigkeit jedes Menschen widersprechen: „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um die muss sich Politik kümmern“.31 Hieße das in der Konsequenz, dass zukünftig Behinderte, die keine Leistung für die Gesellschaft erbringen können, keine Sozialzuwendungen mehr erhalten sollen? Wie unverschämt Vorstandsmitglieder sein können, hat sich bei Siemens gezeigt. Ein Teilbereich der Mitarbeiter soll zwei Stunden mehr arbeiten - aber die Mitarbeiter sollen zusätzlich 10% weniger verdienen. Hinzu kommt 30 Ebd. 33 Zeitzeichen 7/2006: Wolfgang Stiele: Kirchenwort im Wind. Die Option für die Armen. 31 67 noch, dass der Firma BenQ Teile des EDV Bereiches von Siemens für Ein Euro überlassen wurden, bei der jetzt 2.000 Mitarbeiter entlassen werden. Siemens versucht sich mit so einer „wirtschaftlichen“ Entscheidung aus der sozialen Verantwortung für diese Mitarbeiter zu entziehen. Gleichzeitig sollten die Gehälter der Vorstandsmitglieder um 30% angehoben werden. Nur der öffentliche Druck hat dazu geführt, dass Siemens von der Erhöhung der Gehälter für die Vorstandsmitglieder Abstand genommen hat. 3. Die Macht der Konzerne, der Weltbank, des IWF Wie geballt das Machtpotential ist, können besser als Worte die folgenden Zahlen belegen. Die 500 größten Unternehmen der Welt beschäftigen 46 Millionen Menschen. Sie haben eine Umsatzsumme von 15 Billionen Dollar (etwa 70% des Welthandels) und weisen einen Gewinn von 731 Milliarden Dollar aus. Im Vergleich: Im Zeitraum von 10 Jahren hat sich die Zahl der Mitarbeiter um 11 Millionen bzw. 1/3 erhöht, der Umsatz stieg jedoch um die Hälfte, der Gewinn hat sich verdreifacht. 158 Multis residieren in Amerika (151 USA), 171 in Westeuropa, 149 in Japan, der Rest von 22 in Australien, den fünf Tigerstaaten (Südkorea, Malaysia, Taiwan, Singapur, Thailand), und China.32 Den gleichen Trend gibt es in Deutschland. Von 1993 bis 2004 haben die Kapitalgesellschaften ihren jährlichen Gewinn von 178,2 auf 368,8 Milliarden 32 Frankfurter Rundschau 15.3.2006. Wilfried Wolf: Geballte Macht – Die Struktur der größten Konzerne 68 erhöht(Statistisches Bundesamt). In 2005 wurde mit einem Zuwachs von 10-15% gerechnet.33 Noch krasser ist es bei den im DAX notierten Unternehmen. Sie haben ihre Gewinne gegenüber dem Vorjahr auf 35,7 Milliarden € verdoppelt und gleichzeitig in Deutschland 35.000 Arbeitsplätze abgebaut, aber nur 9.000 Arbeitsplätze im Ausland geschaffen Hierbei sind noch nicht einmal die 1,5 Millionen abgebauten Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst in den letzten 12 Jahren mit einbezogen.34 Viele der internationalen Organisationen spielen dabei eine mehr als zweifelhafte Rolle. Da naturgemäß der größte Teil der Finanzierung der Organisationen aus dem Westen kommt, nutzt diese auch ihre finanzielle Macht aus, um ihre Vorteile daraus zu ziehen. Seit Anfang der 80 er Jahre orientieren sich die Empfehlungen der internationalen Organisationen wie z.B. Weltbank und internationaler Währungsfonds immer mehr an der neoliberalen Wirtschaftsordnung. Fast nie wird die spezifische Situation eines Landes berücksichtigt, sondern es werden immer die gleichen Rezepte verteilt, die die wirtschaftliche Krise oft noch verstärken. Joseph Stiglitz, schildert das in seinem Buch „Die Schatten der Globalisierung“ sehr klar und deutlich. Er geißelt zu Recht die imperialistische Einstellung des IWF, der wie ein Kolonialherrscher auftritt. Er bemängelt, dass die Wirtschaftsexperten aus dem Westen aus dem 33 Frankfurter Rundschau 30.12.2005. Roland Bunzenthal: Die Billionenbilanz 34 Vortrag Wolfgang Kessler am 23.11.2005 in Düren: Die Mythen von heute und die Wirtschaftspolitik von morgen 69 Blickwinkel eines 5-Sterne-Hotels, in dem sie sich für wenige Wochen aufhalten, dem Gastland Programme verpassen, ohne die Folgen für die Gesellschaft und die Armutsentwicklung auch nur im Entferntesten zu prognostizieren. Die Früchte dieser Mühen kamen überproportional den Begüterten in den Entwicklungsländern zugute. Oft war das Ergebnis, dass in vielen Ländern der Hunger zunahm, was von schweren Ausschreitungen begleitet wurde. Eine Lenkung der Entwicklung durch den Staat ist insbesondere in den ärmeren Staaten nicht mehr möglich. Ein entscheidender Grund ist der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, sowie die bereits vollzogene Abschaffung von Gesetzen, die regulierend eingreifen.35 Weiterhin gehört zu dem sog. Washingtoner Konsens: Senkung der Staatsausgaben, Streichung von Subventionen, Beschränkung der Staatsausgaben auf Bildung, Gesundheit und Infrastruktur, Senkung der Steuern, Erhöhung von Zinsen, Abschaffung von Zöllen und Importbeschränkungen, weitgehende Privatisierung, Stärkung der Rechte auf Eigentum. Dieser Konsens ist die heute weithin herrschende Wirtschaftstheorie. Man nennt sie auch „TINA“ (There is no alternative).36 Die hochverschuldeten Entwicklungsländer haben keine Chance sich zu widersetzen. Neue Kredite, die aufgrund der immensen Verschuldung immer wieder nötig sind, werden mit den o.a. Forderungen verknüpft. 35 36 Südwind: Wer bestimmt den Kurs der Globalisierung S.26ff. Ebd. S. 26ff 70 4. Die soziale Spende, die keine ist… Die Situation der Entwicklungsländer wird natürlich auch durch die deutlich zurückgegangene Entwicklungshilfe beeinflusst. Staatliche Kredite haben deutlich abgenommen. Die Entwicklungshilfe stagniert auf einem schwachen Niveau. Die USA reduzierten die Entwicklungshilfe innerhalb von 10 Jahren auf 0,21% des Bruttoinlandproduktes (BIP), Deutschland von 0,42% auf 0,27%, nur die Schweiz, Großbritannien und Dänemark haben sie leicht erhöht, alle anderen Staaten haben Streichungen vorgenommen. Nur Norwegen, Schweden, Dänemark und die Niederlande haben die bereits 1970 versprochene Quote von 0,7% eingehalten bzw. überschritten (Dänemark 1,06%).37 Es gibt jedoch auch positive Entwicklungen. Großbritannien hat versprochen, bis 2013 0,7% des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben. Heute schon ist Großbritannien der zweitgrößte Geldgeber für Programme gegen Aids. Frankreich hat mit Wirkung vom 1.7.2006 eine Flugsteuer38 eingeführt, deren Erlös für Aidsprogramme und Impfaktionen ausgegeben werden sollen. Die EU wird sich dafür einsetzen, dass Arbeitnehmer weltweit ein angemessenes Einkommen haben. Das hat bereits eine Folge bei den neuen Beitrittskandidaten zur EU, sie müssen den sozialen Schutz ausbauen, die Arbeitssicherheit ernster nehmen und den Dialog unter den Tarifparteien fördern. Mit Ländern außerhalb der EU sollen entsprechende Abkommen geschlossen werden. 37 38 Südwind: Wer bestimmt den Kurs der Globalisierung S.22 1 Euro bis 40 Euro je nach Entfernung und Klasse 71 In letzter Zeit hört man immer wieder das Argument, dass momentan soviel Geld in die Entwicklungsländer fließe, wie nie zuvor.39 Das stimmt bedingt. Aber gefährlich für die Entwicklungsländer ist der hohe Umfang der Privatinvestitionen an diesem Geldfluss. Denn die Privatinvestitionen können genauso schnell das Land wieder verlassen wie sie gekommen sind, und damit wird das Land gravierend und nachhaltig geschädigt. Allein im letzten Jahr haben Banken und Investoren netto mehr als 400 Milliarden Dollar in wichtige Schwellenländer gepumpt. Hier sind durchaus Parallelen zu der Fernost-Krise 1997 zu ziehen. Der ausdauernde und häufig nicht zweckgebundene Finanzfluss, die Aktienkrise und betriebswirtschaftlich sinnlose Fusionswellen gefährden Schwellenländer und globale Finanzmärkte gleichermaßen. Eine stärkere Rolle als vor 10 Jahren spielen heutzutage Hedgefonds.40 Pleiten einiger hochverschuldeter Geldtöpfe mit riskanten Strategien können plötzlich eine Kapitalflucht auslösen, die den Finanzmarkt des jeweiligen Landes gravierend schädigen.41 Verheerend ist auch, dass die Industrieländer die Forderungen, die sie den Entwicklungsländern aufbürden, selber nicht umsetzen bzw. umgehen. Das heißt, dass die Industriestaaten von den 39 385 Milliarden Euro laut Weltbank Hedgefonds = eine Kapitalsammelstelle für hochspekulative Geldanlagen; hohes Risiko, hohe Gewinnmöglichkeit, hohe Verlustmöglichkeit. 41 Im September 2006 hat es wiederum einen Hedgefonds getroffen. Der amerikanische Fonds Amaranth Advisors hat durch seine Erdgasengegagements mehr als 5 Milliarden Dollar innerhalb einer Woche als Verlust eingefahren. Frankfurter Rundschau. 20.9. u.21.9. 2006 40 72 Entwicklungsländern selbstverständlich eine völlige Liberalisierung der Märkte nach außen erwarten und durchsetzen (Abbau aller Handelsschranken, Außenzölle etc.), die Industriestaaten selber aber durch sehr hohe Standards für Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen den Markt zu ihren Gunsten abschotten.42 Eine bewährte Methode ist es, dass Entwicklungsländer, die z.B. bei Abstimmungen in der WTO den Westen unterstützen, großzügige Geschenke, insbesondere in Form von Geld, erhalten. Aber eine Liberalisierung der Märkte, z.B. für Agrarprodukte, die den Entwicklungsländern viel mehr helfen würde, findet nicht statt oder wird so weit wie möglich verzögert.43 Muss es uns nicht zu denken geben, dass die Kaffeebauern nur etwa 1% von dem Preis bekommen, den wir im Geschäft zahlen? Positive Entwicklungen gehen in der Regel nicht von Staaten aus, sondern von den Verbrauchern. So haben die Produkte mit Transfair Siegel, die die Einhaltung von soz. Standards und gerechter Entlohnung garantieren, 2005 eine Umsatzsteigerung um 25% erfahren, wobei auch dann noch bei den erfolgreichsten Waren der Umsatz der Transfairprodukte nur bei etwa 1% des Gesamtwarenumsatzes in Deutschland liegt. Noch deutlicher wird es beim Reisskandal. Reis ist das Grundnahrungsmittel für die Hälfte der 42 Südwind: Wer bestimmt den Kurs der Globalisierung: Reiche Staaten umgehen Bestimmungen S. 36 43 In der EU liegen die Preise für Zucker 160%, für Milchpulver 45% und für Weizen 13% über dem jeweiligen Weltmarktpreis. Quelle: Südwind: Wer bestimmt den Kurs der Globalisierung 73 Weltbevölkerung. Zwei Milliarden Menschen, meist kleine Farmer in armen Ländern, bauen Reis an. Reis wird aber auch als Waffe gegen die Armen gebraucht. Durch die Welthandelsorganisation wurden 13 Länder (sie produzieren die Hälfte des Reises) gezwungen, die Zölle auf Reis drastisch zu senken. Haiti z.B. wurde schon 1995 gezwungen, den Zoll von 35% auf 3% zu senken. Daraufhin stieg der Reisimport um 150%. Importeur war eine Firma aus den USA. Die USA sind der drittgrößte Reisexporteur, obwohl die Produktionskosten doppelt so hoch sind wie z.B. in Thailand. Man kann kaum glauben, dass so etwas möglich ist, aber da hat man die Rechnung ohne die USRegierung gemacht. Sie subventioniert die eigene Reisproduktion mit 72% der Kosten.44 Bei der Baumwolle ist es ähnlich. Der Export von Baumwolle amerikanischer Großfarmen wird jährlich mit 4 Milliarden Dollar subventioniert. Auf diese Weise wird planmäßig und beabsichtigt Armut produziert. Dieses Vorgehen halte ich ohne jede Frage für Sünde. Dass der Süden uns in dieser Situation gezielt und auch ungeduldig fragt, wie wir es mit der Gerechtigkeit halten, ist sicherlich mehr als verständlich. Dies auch vor dem Hintergrund, dass sich seit Jahrzehnten trotz der Versprechungen, bis 2015 die Armut um die Hälfte zu senken, nichts geändert hat. Bereits heute ist abzusehen, dass dieses Ziel nicht erreicht wird, obwohl nur die 44 Lizares Bodegon Vortrag am 18.6.05 in Essen: Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung aus der Sicht des Südens. 74 Verdoppelung der augenblicklichen Entwicklungshilfe auf 100 Milliarden Dollar erforderlich wäre. 45 Sollte die Entwicklungshilfe nicht deutlich gesteigert werden, wird das Ziel der Halbierung der Armut nicht vor dem Jahr 2129 erreicht sein. Die Kindersterblichkeit um 2/3 zu senken wird dann noch etwa 100 Jahre dauern. Das ist eine zutiefst praktizierte Ungerechtigkeit. 5. Nord und Süd – die Kluft wird immer größer Folgende Informationen machen den Unterschied zwischen Nord und Süd sehr gut deutlich: Die Vermögenswerte der drei reichsten Menschen dieser Erde sind höher als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Entwicklungsländer mit ihren 568 Millionen Einwohnern zusammen genommen. Das Jahreseinkommen des einen Prozents der Superreichen ist genauso hoch wie das der 57% ärmsten Menschen. 46 Frauen erbringen 70% der unbezahlten Arbeit weltweit, nennen aber nur 1% des Weltvermögens ihr Eigentum.47 24.000 Menschen sterben täglich an den Folgen von Armut und Unterernährung, hauptsächlich im Süden der Welt.48 Immer noch müssen mehr als 200 Millionen Kinder gegen ihre Gesundheit qualvoll arbeiten, um zu überleben, auch wenn die Kinderarbeit von 2000 bis 2004 um 11% zurückgegangen ist.49 45 Südwind: Wer bestimmt den Kurs der Globalisierung Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit Accra 2004, S. 2. 47 Ulrich Duchrow u.a.: Solidarisch Mensch werden. S. 28ff 48 Nebel, Kessler, Storz: Wider die herrschende Leere S. 153 49 Frankfurter Rundschau 5. 5. 2006: Hoffnung für Kinderarbeiter 46 75 „Allein die USA geben pro Tag mehr als 1 Milliarde Dollar für Rüstung aus, für die 50 Millionen Verhungernden aber ist kein Geld da.“50 Die Subventionen in Höhe von 349 Milliarden Euro51 der Industrieländer für die heimische Agrarindustrie lassen den Armen keine Chance, weil damit die Produkte aus der 2/3 Welt nicht konkurrenzfähig wären. Die WTO Konferenz vom Dezember 2005 in Hongkong hat die Gewichte weiter zugunsten der reichen Länder verschoben: Zwar wird den 50 ärmsten Staaten ab 2008 der ungehinderte Import in die Industrieländer erlaubt52, gleichzeitig wurde jedoch beschlossen, den Handel mit Elektronikgütern, Holz und Fisch zu Lasten der Entwicklungsländer zu liberalisieren.53 Die angestrebte Privatisierung des weltweiten Trinkwassers durch Multinationale Konzerne (z.B. RWE, Nestle, Gelsenwasser) wird zu einer neuen Machtkonzentration des Nordens führen und birgt die Gefahr eines weltweiten Krieges um die Wasservorkommen dieser Welt.54 Nur am Rande sei erwähnt, dass durch die Politik des ungezügelten Wachstums und des Strebens nach Gewinn 50 Kommentar von Eugen Drewermann in der Frankfurter Rundschau 24.12.2005: Der Rebell von Nazareth 51 Die Zeit 18.9.2003 52 In der EU schon seit 2001 bis auf Reis, Bananen und Zucker realisiert 53 Das hat zur Folge, dass die Entwicklungsländer z.B. mit Elektronikschrott überschüttet werden. Das unkontrollierte Abholzen sowie das Leerfischen der Meere und Gewässer im Zuge der Liberalisierung sind ebenfalls verbunden mit unübersehbaren ökologischen Folgen. 54 In Mexico-City beispielsweise sind schon heute von den 17 Millionen Einwohnern Millionen Menschen von der privatisierten Trinkwasserversorgung ausgeschlossen 76 nicht die Frage nach den ökologischen Folgen gestellt wird. (Klimatische Veränderung, Aussterben von Tieren und Pflanzen, Vernichtung von Trinkwasserbeständen, Bodenerosion). Wenn wir etwa weiterhin den Boden so versiegeln wie in den letzten dreißig Jahren, so wird Deutschland in 81 Jahren ganz zugebaut sein. Ungerechterweise treffen ökologische Katastrophen die Armen in der Welt ungleich härter als die Reichen. 6. Auswirkungen der Globalisierung in Deutschland 6.1 Die Wachstumsideologie wider die soziale Verantwortung Am Beispiel Deutschland kann unabhängig von der ökologischen Frage die Wachstumsideologie, die uns alle Bundestagsparteien meinen verkaufen zu müssen, kritisch betrachtet werden. Bei 3% jährlichem Wachstum müssten wir in 23 Jahren doppelt soviel konsumieren wie heute; in 46 Jahren gar viermal soviel. Brauchte man 1960 noch 40 Erwerbstätige, um Waren im Wert von 1 Millionen Euro herzustellen, so sind das heute preisbereinigt etwa 10 Erwerbstätige.55 Viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, wurde das Thema Globalisierung/Neoliberalismus in Deutschland nicht großartig diskutiert. Es flammte auf, wenn ein Betrieb seine Produktionsstätte verlagerte, geriet dann aber wieder schnell in Vergessenheit. Es betraf nur die anderen, die, die keine vernünftige Ausbildung hatten, 55 Vortrag Wolfgang Kessler am 23.11.2005 in Düren: Die Mythen von heute und die Wirtschaftspolitik von morgen. 77 die Kranken, die Älteren und vor allem die, die nicht arbeiten wollten, sondern sich in der deutschen Hängematte ausruhen wollten. Dieses falsche Meinungsbild hat sich geändert. Globalisierung ist heute in weiten Kreisen unserer Bevölkerung bis ins Middlemanagement mit Ängsten besetzt, weil die große Koalition aus Politik und Wirtschaft die Globalisierung als Begründung dafür anführt, „ dass die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt wird, in dem so tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, dass das Blut spritzt, statt den Weg zu gehen, der in der Vergangenheit unser Land zum großen wirtschaftlichen Erfolg geführt hat: das miteinander Ringen um den sozialen Ausgleich.“56 Der politische Slogan der CDU „Mehr Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“ ist Hohn. „Freiheit“, so der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler „haben wir genügend – die Freiheit der großen Konzerne Riesengewinne zu machen und Zehntausende von Menschen auf die Straße zu setzen. Was wir dringend brauchen, ist mehr Verantwortung bei allen, die Macht und Einfluss haben ...Am meisten gefährdet ist heute die Solidarität zwischen Jungen und Alten, West und Ost, Reich und Arm, Mensch und Natur, Männern und Frauen.“57 Natürlich sind wir im Vergleich mit den Ländern des Südens per Saldo Täter und Nutznießer, aber der Anteil der Opfer wird auch bei uns immer größer und das Opfer 56 57 Heiner Geißler, Die Zeit 47/2004, Heiner Geißler: Frankfurter Rundschau 22.8.2006 78 immer höher. Die Hauptbetroffenen sind die Frauen, die Bauern sowie der Mittelstand. Nach Untersuchungen von Michael Vester wird auch der Mittelstand gespalten. 60% der deutschen Bevölkerung gehören dem Mittelstand an, 8% der 60% bezeichnen sich selbst als Gewinner (etablierte Leistungsorientierte), 2% der 60% sind die realistischen Anspruchsvollen, so dass man insgesamt von 10% der Gesamtbevölkerung sprechen kann, denen es unter dem Neoliberalismus besser geht. Der noch verbleibende Anteil von 50% der Gesamtbevölkerung, der als Mittelstand eingeordnet werden muss, fühlt sich unsicher, hat Angst und ist politisch enttäuscht. Wenn man die 11% des unterprivilegierten Arbeitnehmermilieus hinzunimmt, so sind über 60% der Bevölkerung die Verlierer. Insgesamt 47% der Bevölkerung, die aus diesen beiden Gruppen herrühren. setzen ihre Angst und Enttäuschung in Ressentiments gegen Ausländer und sozial Schwache um und nicht gegen die wahrhaft Schuldigen dieses Prozesses. Dies ist ein enormes Pulverfass für die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft.58 Auch die in 2006 günstigeren Wirtschaftszahlen verändern die Situation nicht entscheidend, weil auch hier die Nutznießer die Mächtigen sind, selbst wenn man auf den ersten Blick meint, dass sich auch der Arbeitsmarkt positiv entwickelt. 2006 hat die Arbeitslosigkeit offiziell abgenommen, die Bundesanstalt für Arbeit verbucht Rekordüberschüsse, aber nur, weil der Leistungskatalog durch die Hartz IV Gesetzgebung entscheidend abgesenkt wurde, wobei gleichzeitig der Arbeitslosenbeitrag der Beschäftigten nicht gesenkt 58 Vgl. Die Untersuchungen Michael Vesters, zitiert bei Ulrich Duchrow u.a., Solidarisch Mensch werden. S. 84ff. 79 wurde. Die Beschäftigung nimmt auch nur langsam zu. Die hohe Sockelarbeitslosigkeit vermindert sich nur minimal. Bei einer erneuten Konjunkturschwächung, wie sie zyklisch auf ein Konjunkturhoch folgt, wird die Arbeitslosigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach wieder zunehmen. Berücksichtigen muss man auch: Die Zahl der Arbeitnehmer wächst über unsichere Arbeitsverhältnisse, sogenannte Ein Euro- Jobs und 400 Euro-Jobs. Der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosen hat zugenommen, 200.000 Jugendliche haben keine Lehrstelle. 46,5 % der Arbeitslosen haben keine Ausbildung und deshalb auch keine Chance. Die Arbeitsagenturen konzentrieren sich bei ihrer Vermittlungstätigkeit ganz offen auf die guten Risiken, also auf qualifizierte Arbeitslose. Weiterbildung für Unqualifizierte und Ältere wird nicht gewährt. Erste Anzeichen gibt es bereits, dass die Menschen in Deutschland die wirklich Verantwortlichen für die Fehlentwicklung benennen: Nach einer repräsentativen Umfrage von Infratest (Deutschland Trend) haben die Deutschen auf die Frage, wer für die Armut verantwortlich ist, folgende Meinung abgegeben: 63% Politik 48% Wirtschaft 29%Globalisierung 25% Eltern Schule 21% Betroffene selbst. 80 6.2 Sachverhalte, die ein Skandal sind Im reichsten Land der Welt (höchster Anteil am Welthandel) nimmt seit Jahren die Armut immer mehr zu. Dieser Trend setzt sich weiter fort. Im ersten Halbjahr 2006 stiegen die Ausfuhren noch einmal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 13% an. Demgegenüber hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 1970 bis 1998 vervierfacht.59 Der Ministerpräsident von Bayern wagt es, Bayern als das reichste Land der Bundesrepublik zu bezeichnen, wobei dort fast 1/3 der Alleinerziehenden Arbeitslosengeld erhalten oder Sozialhilfe beziehen. Im Bundesdurchschnitt sind es lediglich 12%. Vom Jahr 2000 an ist die Zahl der Armen von 9 Millionen auf heute 11 Millionen Arme gestiegen.60 Kurt Becks Klage, dass der Aufstiegswille der Unterschicht erlahmt sei, hält Heiner Geißler (CDU) zu Recht den eigenen „Spiegel“ vor. Was fehlt sind Arbeitsplätze, die von der Kapitalrendite oder dem Lohndumping vernichtet wurden. 59 Vortrag Wolfgang Kessler am 23.11.2005 in Düren: Die Mythen von heute und die Wirtschaftspolitik von morgen. 60 Ein Sozialforscher sprach am 19. Oktober 2006 in einem WDR Interview von 11 Millionen Menschen in Deutschland, die nach der jüngsten Debatte zur so genannten Unterschicht zu zählen sind und von allen sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften abgekoppelt seien. Steigerung von 12,1% der Bevölkerung auf 13,5% unter einer SPD/Grünen Regierung. Nachzulesen im Armutsbericht der Bundesregierung, zitiert nach: Frankfurter Rundschau 21.12.2004 Nach neusten Untersuchungen der Bundesanstalt für Arbeit gibt es offiziell 13% arme Menschen, d.h. 10,1 Mio. 81 Alleinerziehende, Migranten, Kinder und Arbeitslose sind die Gruppen der Gesellschaft, die am meisten von Armut betroffen sind. Nach einer wissenschaftlichen Studie von Becker und Hauser kommt dazu noch die verdeckte Armut. Sie muss mit zusätzlichen 1,8 Mio. Menschen angenommen werden Aber auch ohne diese letztere Zahl hat Deutschland damit nach UNICEF den höchsten Anstieg innerhalb der reichen Länder.61 Kinder zu haben stellt bei uns zunehmend ein Armutsrisiko dar. 2,7 Millionen bedürftige Menschen nehmen ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung nicht wahr. Damit spart der Staat schätzungsweise 6-8 Milliarden Euro.62 Ist es nicht ein Skandal, dass in Deutschland wieder Kleiderkammern und Tafeln dringend notwendig sind, um Armut zu kaschieren und zu mildern? Die Verträge von Eigentümern und Nichteigentümern haben zunehmend den Charakter von Diktat. Das Kapital akzeptiert keine Loyalitätsverpflichtungen mehr. Es ist nur den Gewinnzielen gegenüber loyal. Allein für die Gnade eines Arbeitsplatzes verlangt es von den Beschäftigten höchste Motivation, Flexibilität und Bereitschaft zu Lohnverzicht, während es selbst kaum zu einer minimalen reziproken Loyalitätsverpflichtung bereit ist. Ein Beispiel: Durch die Übernahme von Mannesmann durch Vodaphone verlor die Gemeinde Wetter einen 61 Unicef-Bericht zur Kinderarmut Frankfurter Rundschau 2.3.2005 Frankfurter Rundschau, Graphische Darstellung verdeckter Armut 19.10.2006 62 82 Betrieb mit 1.000 Arbeitskräften. Der Gemeinde entstand dadurch ein Schaden von 30 Millionen Euro. Das ist genau der Betrag, den Herr Esser persönlich als Abfindung zugesprochen bekam. Er hat das Geld genommen, hat der Gemeinde keine Entschädigung gezahlt, obwohl er der Gemeinde aufgrund des Mannesmann-Engagements eine große Zukunft versprochen hatte. Für diese Fehleinschätzung hat er sich noch nicht einmal entschuldigt.63 In Deutschland soll das Rentenalter deutlich nach oben verschoben werden. Gleichzeitig werden für die junge Generation viel zu wenige stabile Arbeitsplätze angeboten. Die Firma Ericsson bietet Mitarbeitern ab 35 Jahren Abfindungen an, um jüngere Mitarbeiter einstellen zu können.64 Die Arbeitnehmer in Deutschland werden immer wieder damit unter Druck gesetzt, dass ihre Arbeitskraft zu teuer und der Arbeitsmarkt nicht flexibel genug sei.65 Aber es 63 Eine hoch renommierte, internationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hat in einer Untersuchung festgestellt, dass jede zweite Übernahme eines Unternehmens in Deutschland schief geht. Oft würden sogar Verluste eingefahren. Verantwortlich hierfür, so der Wirtschaftsprüfer, ist die mangelhafte Integration ins Mutterhaus, eine sehr schlechte Vorbereitung und fehlende Personalkapazitäten im Middlemanagement. Frankfurter Rundschau. 6.9.2006, Deutsche Manager vernichten Kapital falsche Abwicklung von Übernahmen kostet Unternehmen Milliarden. 64 Frankfurter Rundschau 29.4.2006, Kommentar: Der Jugendclub bleibt beim schwedischen Telefonriesen – Ericssons neue Zeiten 65 Uns wird verkauft, dass die Sozialabgaben zu hoch sind. Viele Firmen haben Personalkosten, die weniger als 10%aller Kosten ausmachen, d.h. die Senkung um 2% (1%Arbeitgeber 1% 83 wird nicht gesagt, dass nur 20% der Betriebe, die in Niedriglohnländern investieren, nachhaltig einen Gewinn erzielen.66 Verschwiegen wird auch, dass jeder dritte Beschäftigte unter 20 und jeder vierte unter 24 Jahren einen befristeten Arbeitsplatz hat, bei dem ein Kündigungsschutz keine Rolle spielt. Außerdem ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 1991 bis 2002 um 46% gestiegen, die Zahl der Vollzeitjobs nahm im gleichen Zeitraum jedoch um 14% ab.67 Die Ev. Kirche im Rheinland hat am 5.7.2006 ein Skandalurteil des Koblenzer Sozialgerichts veröffentlicht, welches aufgrund eines Antrags der Koblenzer Arge entschieden wurde. Ein arbeitsloser Mann war trotz Vorladung zu einem Termin der Arge nicht erschienen, weil an seiner einzigen Hose der Reißverschluss nicht zu schließen war. Das Gericht verpflichtete ihn, entsprechende Kleidung stets bereit zu halten, um Termine wahrnehmen zu können. Außerdem hätte er ja in der konkreten Situation den Reißverschluss mit Hilfsmitteln notdürftig (z.B. Sicherheitsnadeln) reparieren oder mit entsprechend langer Oberbekleidung verdecken können.68 Arbeitnehmer) macht gerade eine Kostenentlastung für den Arbeitgeber von 0,25% aus. Bei einem Handwerker mit 10 Mitarbeitern z.B. könnte bei 1% Senkung der berechnete Stundenlohn um 0,14€ reduziert werden. 66 McKinsey und TU Darmstadt in Frankfurter Rundschau 17.2.2005, Billige Standorte kommen Firmen teuer zu stehen. 67 Vortrag Wolfgang Kessler am 23.11.2005 in Düren: Die Mythen von heute und die Wirtschaftspolitik von morgen. 68 EKIR aktuell 5.7.2006; AZ Sozialgericht Koblenz S11 AS 317/05. 84 Wie menschenverachtend teilweise Behörden mit Hartz IV-Empfängern umgehen zeigt folgende Begebenheit. Ende Februar beantragte Hr. Weiser beim Landkreis Northeim die Übernahme der Kosten für eine Paradentose-Behandlung. Er wurde zum Gesundheitsamt zwecks Begutachtung bestellt. Die Amtsärztin stellte mangelhafte Zahnpflege fest. Dem widersprach nicht nur der Betroffene, der sich täglich die Zähne putzt, sondern auch sein Zahnarzt. Hr. Weiser wurde zu einem zweiten Termin geladen. Dort musste er sein Zähneputzen demonstrieren. Für seine vorbildliche Zahnpflege wurde er nun gelobt und man erklärte, dass er durchaus als Vorführungsobjekt in Schulen dienen könnte. Man verabschiedete ihn mit den Worten: “Sie hören von uns.“ Er rechnete jetzt mit dem positiven Bescheid. Er fragte mehrmals nach. Dann erhielt er eine Aufforderung des Gesundheitsamtes noch einmal das Zähneputzen zu demonstrieren. Das lehnte er ab. Sein Antrag auf Kostenübernahme wurde daraufhin wegen mangelnder Mitwirkung abgelehnt. Der Landkreis erklärte hierzu, eine einmalige Beurteilung reiche nicht aus, sondern man müsse es über einen längeren Zeitraum beobachten. Nach Darstellung in der örtlichen Presse wurden die Kosten auch ohne weitere Demonstration übernommen.69 6.3 Hartz IV und die Folgen Hartz IV ist ein gigantisches Programm zur Verarmung des Mittelstandes. Früher wurde die Unterstützung im Rahmen der Arbeitslosenhilfe nach den letzten 69 Frankfurter Rundschau 22.8.2006, Antreten zum Zähneputzen – Rentner sieht sich vom Sozialamt drangsaliert. 85 Nettoeinkünften berechnet, jetzt zählt nur noch der Kopf, obwohl ja eigentlich durch die möglicherweise über Jahrzehnte erfolgte Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung ein Rechtsanspruch existieren müsste. Getreu dem amerikanischen Vorbild ist die Zahlung nach Hartz IV eine „Gnade“, so wie es der ehemalige Präsident Clinton ausdrückte: „Staatliche Unterstützung ist kein Rechtsanspruch, sondern Gnade“. Die Machtelite betreibt gerade in diesem Feld eine Politik der Minorisierung, so dass die Mehrheit sich nicht betroffen fühlt und bereitwillig annimmt, dass es um mehr Gerechtigkeit gehe, weil z.B. Hartz IV-Empfänger schlechter gestellt werden müssten, damit die Geringverdiener nicht benachteiligt seien. Es entsteht dadurch, wie schon oben angedeutet, eine Entsolidarisierung durch Individualisierung. Margret Thatcher drückte das so aus: „So etwas wie das Gesellschaftliche gibt es nicht, es gibt nur Individuen und Familien“.70 Nach der Untersuchung des Sozialexperten der Diakonie Berlin-Brandenburg haben Hartz IV Empfänger pro Tag 3,33 € pro Person für Nahrung zur Verfügung. Die enorme Kostensteigerung im Bereich Hartz IV ist nur in seltenen Fällen durch Missbrauch verursacht, sondern dadurch, dass Betroffene die gesetzlichen Möglichkeiten wahrnehmen und - das ist einer der wenigen positiven Effekte bei Hartz IV - dass Menschen, die zu verschämt waren, Sozialhilfe zu beantragen, diese Scham bei Hartz IV zum Teil abgelegt haben. Das größte Problem aber sind die Kosten, die durch die fehlenden Arbeitsplätze verursacht wurden. Das war aber schon vorher absehbar. Es stellt sich die Frage, ob man 70 Ulrich Duchrow u.a. Solidarisch Mensch werden S. 204ff 86 bei diesem Problem nur Fahrlässigkeit unterstellen kann, oder ob es sich um Vorsatz handelt. Dabei ist noch nicht einmal über die teilweise für Betroffene erniedrigende Praxis gesprochen, der sie bei der Umsetzung von Hartz IV ausgesetzt sind.71 Es bleibt nur zu hoffen, dass die jüngste Verschärfung von Hartz IV verfassungsrechtlich nicht zulässig ist, wie es ein Bundessozialrichter einschätzt. Menschen werden gezwungen für 1 € pro Stunde zu arbeiten.72 Damit werden reguläre Arbeitsplätze vernichtet.73 Der Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Frankfurter Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, Hilmar Schneider wagt es auf einer Tagung der Hanns Martin Schleyer Stiftung, im Rahmen der Weiterentwicklung von Hartz IV den Vorschlag zu machen „durch 71 Ein an beiden Beinen amputierter Mann wurde von der Arbeitsagentur zu einer Informationsveranstaltung für das Spargelstechen eingeladen. Trotz Erklärung seiner Situation und den schon lange dort vorliegenden Unterlagen musste er erscheinen. Bei dem Termin entschuldigte sich die Mitarbeiterin und wollte ihn aus der Datei löschen lassen, wozu niemand bereit war, weil es Mittwoch und damit keine Sprechstunde war. er musste nochmals trotz seiner Behinderung persönlich erscheinen. Frankfurter Rundschau. 3.4.2006. 72 Ein besonders eklatantes Beispiel ist die Beschäftigung von sechs Wissenschaftlern an der Universität Hamburg nach Hartz IV. Die dortigen Arbeitsplätze erfüllen natürlich die Voraussetzungen für Hartz IV: Sie sind zusätzlich und gemeinnützig. Frankfurter Rundschau. 9.5.2006 73 Eine Hamburger Studie bezeichnet das Gesetz als ausgesprochen teures Instrument: es kostet die Arbeitsgemeinschaften durchschnittlich 574,- € pro Teilnehmer und hat sich für die Integration Langzeitarbeitsloser nur sehr eingeschränkt bewährt. Nach dem Ausscheiden aus einem Ein Euro-Job waren nach einem halben Jahr nur 14% in ein regulären Arbeitsverhältnis übernommen 87 Arbeitslosen-Auktionen“ Billiglöhner an den Mann zu bringen. Er stellt sich das so vor: Ein Arbeitsamt schreibt ein Angebot für 80 arbeitslose Arbeitskräfte aus. Dann kann jeder mitbieten, ob Unternehmen oder Privathaushalt. Diese müssen erklären, welchen Stundenlohn sie bereit sind zu zahlen. „Das höchste Gebot gewinnt.“ Die Arbeitslosen haben davon nichts, sie erhalten weiter Arbeitslosengeld II. Die Erlöse bekommt die öffentliche Hand.74 6.4 Die Umverteilung von unten nach oben durch die Steuerpolitik Zunehmend findet im Europäischen Vergleich ein ruinöser Wettlauf um niedrige Abgabenlasten, insbesondere für Großunternehmen, statt. Die Steuerfreiheit auf Beteiligungsverkäufe bedeutet ca. 50 Milliarden Euro Steuerausfall pro Jahr. Die Senkung des Spitzensteuersatzes von 45% auf 39% im Jahr 2006 bedeutet einen Steuerausfall von 8 Milliarden Euro, wobei nur 2 Milliarden durch die Schließung von Steuerschlupflöchern kompensiert werden sollen. Dass die bisherigen Steuersenkungen bei den Unternehmern immer höhere Begehrlichkeiten hervorrufen, zeigt sich darin, dass führende Vertreter der Wirtschaft eine Senkung der Unternehmensbesteuerung auf 30% forderten, denen Peer Steinbrück (SPD) 74 Neue Rheinische Zeitung 19.2.2006. 88 nachkam.75 Aber es gibt bereits Lobbyisten, die eine Absenkung auf 25% verlangen.76 Aber Prozentsätze über Steuern und Sozialabgaben sagen eigentlich nicht sehr viel aus. Entscheidend ist die Steuerlastquote vom Bruttoinlandsprodukt. Mit einer Quote von 34,7% (wobei Kindergeld und Eigenheimzulage mitverrechnet werden) liegt Deutschland rund 1% unter dem Mittel der OECD Länder. Der jüngste Coup von Bundesfinanzminister Steinbrück ist die Handhabung von Doppelbesteuerungsabkommen. Während er immer wieder plakativ davon spricht Steuerschlupflöcher zu schließen, geschieht hier genau das Gegenteil. Mit den USA ist die Kapitalertragsbesteuerung von Dividenden nicht entsprechend klar geregelt. Nach eigenen Schätzungen des Finanzministeriums sind alleine Einnahmeausfälle von 25 Milliarden Euro zu erwarten. Der Finanzpolitiker Schick von der Grünen Partei schätzt den Betrag erheblich höher ein. Kritisch gesehen werden muss auch die Verlängerung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den Vereinigten Emiraten. Deutsche Unternehmen brauchen nunmehr auch für die nächsten Jahre ihre Gewinne aus Investitionen weder in den Vereinigten Emiraten noch in Deutschland versteuern. Kaum bekannt ist das Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Jemen. Diese Entscheidung gilt sogar 24 Jahre rückwirkend. Es wird nicht zufällig sein, dass 75 www.SPD.de Frankfurter Rundschau 8.5.2006, Markus Sievers: Niedrige Finanzsteuern, hohe Erwartungen 76 89 insbesondere die Lufthansa damit in einen besonderen Genuss kommt.77 Eine Familie mit 2 Kindern zahlte 2005 bei einem Einkommen von 15.300 Euro 613,- Euro Steuern weniger, während eine gleich große Familie mit einem Einkommen von 255.000 Euro 21.037,- Euro weniger Steuern als 2000 zahlte.78 Die meisten Unternehmen der Großindustrie zahlen gar keine Steuern mehr. Gleichzeitig hat die rot/grüne Bundesregierung die Versteuerung der Renten umgesetzt. (Vorher nur für den Ertragsanteil) Es ist klar, dass auch die jetzige Koalition fest vom neoliberalen Wirtschaftsdenken bestimmt ist. Die Mehrwertsteuer wird erhöht, auch wenn dadurch besonders die unteren Einkommensschichten zusätzlich stark belastet werden. Die Mittel für Langzeitarbeitslose um werden 8 Milliarden gekürzt. Betriebe können, weiterhin Investitionen für das Ausland bei uns steuerlich geltend machen, während die Einnahmen bei uns in der Regel nicht versteuert werden. Den gleichen Effekt hat die Entscheidung, die Kapitaleinkünfte zukünftig linear mit 25% versteuert. Das bevorzugt alle die, die einen Einkommenssteuersatz über 25% haben und benachteiligt die, die einen individuellen Einkommenssteuersatz von unter 25% haben. An einem weiteren Punkt hat sich in diesem Jahr die Umverteilung von Arm nach Reich weiter fortgesetzt. Beim Erziehungsgeld erhalten die Mütter, die gearbeitet haben, ein deutlich erhöhtes Erziehungsgeld (bis zu 1.800 77 78 Frankfurter Rundschau 19.10.2006, Steuerprivileg für Lufthansa. Nebel, Kessler, Storz: Wider die herrschende Leere s. 82-83 90 Euro/Monat), Arbeitslose dagegen unverändert 300 Euro/Monat, und zusätzlich wird die Bezugsdauer von 24 auf 12 Monate begrenzt. In Deutschland wird nicht nur durch die Steuerpolitik, sondern auch durch die Transferleistungen des Staates von unten nach oben verteilt. Hierzu ein Beispiel: Nach dem Max Planck-Institut in Rostock sterben Männer mit niedriger Rente fünf Jahre früher als Rentner mit hoher Rente, d.h. die Reicheren haben eine deutlich höhere Rendite auf ihre Einzahlung in die Rentenversicherung. Das bedeutet auch, dass die Unterschicht am meisten durch die Heraufsetzung des Rentenalters betroffen ist.79 Das durchschnittliche Steueraufkommen der Kapitalgesellschaften- AG’s und GmbHs ist von 1980 bis 2004 von 34% auf ca. 8% gefallen, während die Massensteuern, die vor allem die privaten Haushalte aufbringen, seit 1960 von 37,5% auf 77% gestiegen sind.80 Anders ausgedrückt: Das Aufkommen der Lohnund Einkommenssteuer hat sich in Deutschland von 1970 bis 2000 verdoppelt. Das Aufkommen der Gewerbe- und Körperschaftssteuer hat sich halbiert. Deutschland hat jetzt schon nach Spanien die niedrigste Steuerquote in der EU.81 Betrachten wir Steuern und Sozialabgaben in Prozent des Bruttosozialproduktes, so liegt Deutschland mit 34,6% am unteren Ende, nur Kanada, die Slowakei, Irland, die Schweiz und die USA liegen darunter, alle anderen Industrieländer deutlich darüber, und selbst Tschechien 79 Zeitzeichen: September 2006 Statistisches Bundesamt lt. Frankfurter Rundschau 30.12.2005 81 Statistisches Bundesamt nach: Albrecht Müller, Die Reformlüge S.414 80 91 mit 37,6% und Ungarn mit 37,7% liegen deutlich darüber.82 Welchen Sinn ergeben dann Steuersenkungen? Die neue Reichensteuer ist nichts anderes als ein „Feigenblatt“ Bis zu 100.000 Reiche sollen davon betroffen sein und die Steuereinkunft wird auf 1,3 Milliarden Euro geschätzt. Seit 1999 hat dieser Personenkreis pro Million Euro Einkommen rund 100.000 € weniger gezahlt, davon sollen jetzt 30.000 € zurückgenommen werden.83 6.5. Der Abbau des Sozialstaates durch leere Sozialkassen und seine Folgen Die Politik der vergangenen Jahre hat durch Steuersenkungen für die Reichen in unserem Land die öffentlichen Kassen in Finanznot gebracht und argumentiert jetzt, dass massiv Einsparungen vorgenommen werden müssen. Die nachfolgenden Beispiele machen dies sehr deutlich. Uns wird vorgegaukelt, der demographische Faktor wäre die Ursache, dass die Rentenkassen ausbluten. Dabei ist doch vielmehr entscheidend, wie reich eine Gesellschaft ist. Dass die Rentenkassen immer größere Probleme haben, liegt an der Verteilung. Wo ist z.B. die Begründung dafür, dass die Beitragsbemessungsgrenze bei € 5.250,00 (2006) liegt und Einkommen jenseits der Beitragsbemessungsgrenze von Sozialabgaben und – 82 Frankfurter Rundschau 19.4.2006, Martin Sievers: Die niedrighohe-Steuerrate. Sind die deutschen Steuern zu hoch oder zu niedrig? 83 Frankfurter Rundschau 5.5.2006, Die Reichensteuer ist ein Eigenfeigenblatt. 92 Beiträgen verschont bleiben? Haben wir bereits vergessen, dass ein erheblicher Teil der Aufbauhilfe für die neuen Bundesländer über die Rentenkassen finanziert wurde? Ist uns bewusst, dass durch die 400 € Jobs viele reguläre Arbeitsplätze abgebaut wurden und es damit auch erhebliche Ausfälle bei den Rentenbeiträgen gab und gibt? Die Altersvorsorge soll zunehmend privatisiert werden, obwohl die Unkosten im bisherigen System um die Hälfte niedriger sind und das Risiko einer privaten Altersvorsorge aufgrund der Unwägsamkeiten des Aktienmarktes sehr hoch ist.84 Zudem verdienen 40% aller Deutschen so wenig, dass für sie Sparen für das Alter gar nicht möglich ist. Längerfristig schaffen wir uns damit wieder eine um sich greifende Altersarmut. Die Hälfte der Rentner bei uns muss jetzt schon mit weniger als 1.000 € pro Monat aus der Rentenversicherung auskommen85. Unter Einbeziehung der Inflation haben die Rentner in Deutschland bereits in den letzten 14 Jahren einen Einkommensverlust von über 10 % hinnehmen müssen (Allein in den letzten zwei Jahren mehr als 5%) Frauen sind hier wieder einmal die vor allem Benachteiligten.86 84 Dass eine private Altersversorgung insbesondere im Interesse der Versicherungswirtschaft und der Banken liegt, ist offensichtlich. Um das Ganze aber zu vertuschen, wurde z.B. das Deutsche Institut für Altersvorsorge gegründet, das zu 100% durch die Deutsche Bank finanziert wird. Nebel, Kessler, Storz: Wider die herrschende Leere S.75. 85 Im Schnitt 988 € bei Männern und 467 € bei Frauen 86 Frankfurter Rundschau 10.3. 2006, Andreas Schwarzkopf: Die Rente ist sicher – ihre Höhe nicht 93 Die bayrische Staatsregierung beabsichtigt bundesweit durchzusetzen, dass geduldete Flüchtlinge gar keine und neu ankommende Flüchtlinge in den ersten drei Monaten keine staatliche finanzielle Unterstützung bekommen. Ist das umgesetzt, muss damit gerechnet werden, dass dann auch mit anderen Randgruppen der Gesellschaft ähnlich umgegangen wird. Das haben wir bereits in der Vergangenheit erlebt: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist der Vorläufer von Hartz IV. Da kein nachhaltiger Protest der Zivilgesellschaft beim Asylbewerberleistungsgesetz erfolgte, konnte man Hartz IV wagen. Der Sachverständigtenrat hat vorgeschlagen, dass Hartz IV-Empfängern, die sich nicht intensiv genug um eine Arbeitstelle kümmern, die Zuwendung um 30% gestrichen wird. Dieser Personenkreis läge dann auf dem Niveau des Asylbewerberleistungsgesetzes. So wird die Salami-Taktik weiter gehen. Arbeitslose in Deutschland werden gezwungen, eine Stelle anzunehmen, die bis zu 30% unter dem Lohnniveau liegt – ein Einkommen, das in der Regel trotz Vollzeitarbeitszeit nicht zum Überleben reicht. Bei mehreren 100 Berufen liegen die Tariflöhne bereits unter € 6,00 brutto pro Stunde.87 Das ist nicht nur im Osten unserer Republik so, sondern auch im Westen. In Hessen z.B. liegt der Bruttostundenlohn für Friseure bei 5,34 €, in der Landwirtschaft bei 5,53 €, bei der Gebäudereinigung bei 5,80 €, im Hotel und Gaststättengewerbe bei 6,90 €, im Bewachungsgewerbe bei 7,10 € und im Einzelhandel bei € 7,62.88 87 Vortrag Dr. Strengmann-Kuhn 7.4.05 VHS Bochum Frankfurter Rundschau 21.4.2006, Immer öfter reicht der Lohn nicht zum Leben. 88 94 Es gibt Friseure, die müssen für 3,06 € Bruttolohn die Stunde die Haare schneiden. Inzwischen werden oft auch Arbeitsverträge gemacht, bei denen die durchzuführende Arbeit zwar beschrieben ist, der Stundenumfang jedoch nicht. Wie lange dann gearbeitet wird, interessiert nicht. Nicht übersehen werden darf auch, dass neben der finanziellen Einbuße Arbeitslose die Arbeitslosigkeit als individuellen Stressfaktor erfahren, der zur Traumatisierung führt. Das ist inzwischen unbestritten. Immer die gleichen Machteliten die in ihren Sonntagsreden mehr Engagement für die Familie und die Kinder fordern, bezeichnen die Kinderlosigkeit als eine Folge des Luxuslebens der jungen Generation, aber sie sagen nicht, dass sie es sind, die von den Betroffenen 100% Flexibilität und Mobilität fordern, sowohl in örtlicher als auch zeitlicher Beziehung. Sie stellen höchstens vielleicht dem jungen Menschen einen unbezahlten Praktikumsplatz zur Verfügung oder, wenn es hoch kommt, einen befristeten Vertrag, wenn es ganz schlimm kommt, dann nur einen Billiglohnjob. Dabei haben wir noch nicht davon gesprochen, dass sich der zunehmende Druck, der auf Arbeitnehmern in Bezug auf Intensität der Arbeit, aber auch durch unbezahlte Überstunden lastet, nur in den Familien entladen kann. Dies führt fast zwangsläufig zu Ehe- und Familienproblemen 7. Den Reichtum unter den Reichen aufteilen Die 500 größten Konzerne der Welt haben in den letzten 10 Jahren ihren Gewinn verdreifacht, während weltweit nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 1,2 – 1,8 95 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen. Die politische und wirtschaftliche Elite ist nicht mehr bereit, zugunsten eines sozialen Friedens in Deutschland zu teilen. Von dieser Elite sagt Heiner Geißler „dass die Gier ihre Hirne zerfrisst.“89 Die Bezüge des Chefs der Deutschen Bank, Josef Ackermann, stiegen um 18% auf 11,9 Millionen Euro in 2005; die Bezüge der Vorstände von Siemens stiegen im Geschäftsjahr 2002/2003 um 29%. Die Abfindung von 17,6 Millionen, die Clemens Börsig erhielt, der aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank wechselt, ist im Vergleich zu den folgenden Zahlen wirklich nur eine „Kleinigkeit“ Wie sich die Superreichen selbst bedienen, wird an der Entwicklung der Gehälter der Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank deutlich. 1970 bezog der Sprecher der Deutschen Bank, Abs, ein Gehalt, das 30 Mal so hoch war wie das Gehalt des durchschnittlichen Bankangestellten. Josef Ackermanns Gehalt ist 90-mal so hoch. Es ist davon auszugehen, dass Herr Ackermann weder mehr noch intensiver für seine Bank arbeitet als Herr Abs seinerzeit. Der Chefinvestmentbanker bei der Deutschen Bank hat sogar ein 4-5fach höheres Gehalt als sein Vorstandsvorsitzender. Vorstandsvergütungen 200590 Unternehmen durchschnittliche Veränderung 2004 in% Vergütung Vergütung in Mio. € Vorsitzender pro Mitglied in Mio. € ohneVorstandschef 89 Heiner Geißler Zeit 47/2004, Wo bleibt der Aufschrei Frankfurter Rundschau (Quelle DSW) 17.10.2006, Über den Vorstandsbezügen liegt ein Schleier 90 96 Deutsche Bank 3,83 SAP 3,18 Daimler Chrysler 2,99 EON 2,55 Commerzbank 2,06 RWE 1,93 BMW 1,81 Siemens 1,76 Dt. Telekom 1,75 BASF 1,75 + 26,1% + 57,7% + 15,4% + 24,8% + 175,5% - 4,6% + 2,5% - 16,6% + 4,7% + 9,3 8,4 4,7 5,2 4,4 3,2 3,8 3,2 2,3 2,7 3,0 Dabei sind diese Vorstände keineswegs die internationalen Spitzenreiter. Von den 10 bestbezahlten Angestellten der Hedgefonds liegt keiner unter 275 Millionen Dollar. Die beiden bestbezahlten Angestellten verdienten 2005 1,5 bzw. 1,4 Milliarden Dollar.91 Die Nettolöhne sind von 1980 bis 2004 in Deutschland nur um 35% gestiegen, die Nettogewinne und Vermögen jedoch um 100%.92 Die Gier nach Geld kennt bei vielen Managern offensichtlich keine Grenzen. Sie schrecken nicht einmal vor Betrug zurück. Die Börsenaufsicht in den USA untersucht zurzeit mehr als 80 Firmen, darunter die Firma Apple. Rund ein Dutzend Topmanager haben ihren Rücktritt eingereicht. Der Firmenchef Alexander von der Firma Comverse hat sich ins Ausland abgesetzt und wird von der Justiz gesucht. Hintergrund ist, dass sehr viele Manager als Erfolgsbeteiligung Aktienoptionen 91 92 Rheinische Post 2.6.2006, Die reichsten Angestellten der Welt. Nebel, Kessler, Storz: Wider die herrschende Leere S.78. 97 angedient bekommen. Sie sollen das Datum des Bezuges der Optionen manipuliert haben.93 Aber auch aus der Industrie kommen heftige Angriffe gegen das Verhalten der Banken und Versicherungen: „Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne Rekordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende von Arbeitsstellen streichen.“94 Um den völlig überzogenen Renditeansprüchen zu genügen und sicherlich auch, um die eigenen Einkünfte explosionsartig zu erhöhen, kommen immer mehr Manager auf die Idee, selbst bei sprudelnden Gewinnen massiv Arbeitsplätze abzubauen.95 Damit zeigen sie einerseits, dass sie einfallslos sind und anderseits keinerlei Skrupel haben. Hier nur einige Beispiele: Allianz: Jahresüberschuss 4,4 Milliarden €, 7.500 Stellen (10,4%) werden abgebaut; Deutsche Bahn: Ergebnis nach Steuern 611 Millionen €, in den vergangenen fünf Jahren wurden 43.000 Stellen (22,6%) abgebaut; Deutsche Telekom: Ergebnis nach Steuern 4,7 Milliarden €, 32.000 Stellen (13,3%) werden abgebaut; Siemens Ergebnis nach Steuern 2,2 Milliarden, 14.000 Stellen (8,5%) werden abgebaut; Volkswagen: Ergebnis nach Steuern 1,12 Milliarden €, 20.000 Stellen (11,2% ) werden 93 Bezug der Optionen, wenn diese auf dem Tiefstpunkt sind und Verkauf zu einem deutlich höheren Kurs. Frankfurter Rundschau 19.8.2006, Lucian Casper: Managergehälter am Pranger. 94 W. Wiedeking, Chef von Porsche. Frankfurter Rundschau 23.9.2006 95 Nicht berücksichtigt wird, dass in Deutschland, aber auch weltweit die Unternehmen, die sich am Prinzip der Nachhaltigkeit im sozialen und ökologischen Bereich orientieren, die erfolgreichsten sind. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des UNEP FI, einer Finanzinitiative des UN Umweltprogramms, an der 200 Finanzinstitute beteiligt sind. Frankfurter Rundschau 21.1.2006 98 abgebaut. Diese Auflistung ließe sich noch einige Zeit fortsetzen.96 Die Börsenkurse werden zunehmend das einzige Beurteilungskriterium für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Die extrem hohen Renditeerwartungen trocknen den Finanzmarkt aus, so dass zu wenige Finanzen für normale Investitionen zur Verfügung stehen. Es geht auch anders. Ein schwedischer Hedgefonds hat Volvo gezwungen, zukünftig eine deutlich höhere Rendite auszuschütten. In Schweden hat jedoch auch die Regierung sofort reagiert. Der Regierungschef verkündete, dass zukünftig der staatliche Pensionsfonds sich massiv bei Volvo engagieren werde.97 Die politisch Verantwortlichen wollen immer noch nicht wahrhaben, dass die seit ca. 20 Jahren praktizierte Wirtschaftspolitik - Öffnen aller Märkte und möglichst wenig ordnendes Eingreifen des Staates – ein Weg in die Sackgasse war. Der Erfolg ist ausgeblieben, die wirtschaftlichen Probleme haben sich verschärft.98 Menschen sind noch weniger wert als das Kapital. – Das Unwort „Humankapital“ hat zu einer Entlarvung geführt. Fazit: Es geht darum, den wirtschaftlichen Kuchen anders zu verteilen und zwar zu Lasten der Armen und Ohnmächtigen in unserer Gesellschaft und zu Gunsten derer, die schon genug haben. Josef Ackermann von der 96 Frankfurter Rundschau 23.6.2006;29.6.2006;21.7.2006 Frankfurter Rundschau/dpa 9.9.2006, Hedgefonds zwingt Volvo in die Knie. 98 Selbst der Chef der EZB, Trichet, – ein Vertreter dieser Politik – hat sich und seine Mitstreiter entlarvt: „Wenn unsere Wirtschaft flexibler wäre, würden wir vielleicht ein um 0,4% höheres Wachstum haben. Albrecht Müller: Die Reformlüge S.22. 97 99 Deutschen Bank nennt das „einen anderen Staat“. Herr Breuer, sein Vorgänger, benennt die Finanzmärkte sogar als „die 5.Macht im Staat, die mehr Bedeutung habe als der Wahlakt“.99 8. Es geht auch anders Politiker aus allen Parteien scheuen nicht davor zurück, uns als Beispiel unseren europäischen Nachbarstaaten vorzuführen, die ja angeblich viel früher und viel radikaler Sozialreformen durchgeführt haben. Vieles wird dabei jedoch verschwiegen. Beispiel England: Tony Blair hat während seiner Amtszeit den öffentlichen Sektor ausgeweitet. Er erhöhte die Steuern für Reiche und setzte sie für Familien herunter, investierte in soziale Dienstleistungen, wie die Verbesserung des Gesundheitswesen und des Bildungssystems. Seine Politik verbesserte die Situation von Kindern in ärmeren Gebieten und erhöhte den 1998 von ihm eingeführten Mindestlohn mit Wirkung von Oktober 2005 auf 5,05 GBP (7,38 €) pro Stunde. Der britische Unternehmensverband bewertet die Mindestlöhne als ausgesprochen positiv. „Bisher war der Mindestlohn ein großer Erfolg“ so dessen Generaldirektor. Anfang der 90er wertete Großbritannien, um die Exportchancen zu steigern und damit Arbeitsplätze zu 99 Prof. Segbers Vortrag am 18.6.05 in Essen: Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung aus der Sicht des Nordens 100 schaffen, das Pfund drastisch ab und heizte die Wirtschaft mit Budgetdefiziten bis zu 8% an.100 Für mehr als eine Million Arbeitnehmer sind die Löhne deutlich angehoben worden, ohne dass es Arbeitsplätze gekostet hätte.101 England muss aber auch für ein negatives Beispiel herhalten, aus dem wir lernen sollten. In England wurden die Renten privatisiert. Die Folgen sind dramatisch. Viele Rentner, die vorher über eine solide Alterversorgung verfügten, sind jetzt teilweise drastisch verarmt, weil sie durch den Verfall der Aktienmärkte deutliche Einbußen hinnehmen mussten.102 Beispiel Dänemark: Es wird immer wieder behauptet, dass Dänemark in der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes drastisch vorgegangen ist. Diese Behauptung ist falsch. Die Bezugszeit in Dänemark kann bis zu vier Jahren betragen. Sie ist in der Praxis aber halb so lang wie in Deutschland, weil Jugendlichen bereits nach sechs Monaten ein Ausbildungs- oder Arbeitsplatz angeboten wird, allen anderen Arbeitslosen ein Arbeitsplatz nach 12 Monaten. Außerdem, und auch das wird immer vergessen, hat der dänische Staat die Arbeitsmarktreform schon 1994 mit großen öffentlichen Investitionsmaßnahmen begleitet.103 Die Gesamtausgaben für die Arbeitsmarktpolitik sind deutlich höher als in Deutschland. Natürlich gibt es auch 100 Frankfurter Rundschau 18.6.2005 Prof. Günther Schmidt, Der Blick über den Tellerrand. 101 Frankfurter Rundschau 9.5.2006, Markus Sievers, Lob für Mindestlohn 102 Nebel, Kessler, Storz: Wider die herrschende Leere S.75 103 Frankfurter Rundschau 18.6.2005 Prof. Günther Schmidt 101 in Dänemark Gegenteiliges. Es gibt einen Steuerstopp, der Villenbesitzer begünstigt. Es gibt Steuerrabatte für Beschäftigte, in deren Genuss Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger nicht kommen. Die Sozialhilfeleistung für Familien ohne Einkommen wurde begrenzt, und die Sozialhilfe für neu ins Land kommende Flüchtlinge und Einwanderer wurde halbiert. Es war aber auch in Dänemark, wo es zu massiven Protesten in Politik und Gesellschaft nach der Bemerkung der Sozialministerin Hansen kam, dass es richtig sei, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden Der Ministerpräsident schaltete sich ein und sagte, dass es nicht das Ziel der Regierung sei, größere Ungleichheiten zu schaffen. Die Sozialministerin widerrief ihre Äußerung, nachdem ihr anderenfalls der Hinauswurf aus der Regierung bereits sicher war.104 Äußerungen des Premier Rasmussen lassen klar eine andere Politik erkennen, die als eine Kritik an der deutschen Politik verstanden werden könnte: „Als wir an die Macht kamen, lag die Arbeitslosenquote bei 13%, das Wirtschaftswachstum war niedrig, die Verschuldung hoch. Am Ende meiner dritten Amtszeit lag die Arbeitslosigkeit bei unter 4 %, es gab 2/3 weniger Langzeitarbeitslose, die Jugendarbeitslosigkeit war verschwunden. …Unsere Vision war: Wettbewerbsfähigkeit und soziale Sicherheit widersprechen sich nicht, sondern bedingen sich gegenseitig. Ökonomische Effizienz kann mit gerechter Verteilung und einem starken Wohlfahrtsstaat verbunden werden. Qualität und Entlohnung von Beschäftigung wurden nicht geopfert. Sozialdemokraten müssen Niedriglohnjobs und schlechte Arbeitsbedingungen 104 Frankfurter Rundschau 24.9.2005 102 ablehnen. Wir müssen Flexibilität fördern, denn sie passt zu den veränderten Wettbewerbsbedingungen und Lebensstilen. …Die Kündigungsschutzgesetze in Dänemark sind ausgesprochen liberal, sie entsprechen in etwa den amerikanischen. Das hat den Arbeitsmarkt sehr flexibel gemacht. Dies muss jedoch im Kontext des dänischen Sozialstaates gesehen werden: Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist aufgrund des hohen Arbeitslosengeldes und der kurzen Arbeitslosigkeitsdauer relativ gering. Der Verlust des Arbeitsplatzes führt nicht zum Verlust des Lebensunterhaltes. …Durch ein besseres Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit wurde die Frauenerwerbsquote gesteigert. Mit 73% ist sie heute eine der höchsten in Europa. Die dänische Politik verbesserte die Beschäftigungschancen für Frauen indem mehr, billigere und bessere Kinderbetreuung angeboten wurden. Betreuungsangebote gibt es jetzt für alle nicht schulpflichtigen Kinder. …Rechte und Leistungen sollten niemals weggenommen werden, ohne gleichzeitig neue Rechte und Möglichkeiten zurückzugeben. …Reformen sollten so stark wie möglich auf Konsens statt auf Konfrontation gebaut werden, besonders im Konsens mit den Interessengruppen, die sich durch die Reform bedroht fühlen mögen, wie die Gewerkschaften. …Die potenziellen Vorzüge von Arbeitsmarktreformen werden am leichtesten sichtbar, wenn die Wirtschaft wächst. Dies war in Dänemark Mitte der 90er Jahre der Fall. Es ist nämlich von essentieller Bedeutung, Reformen in Perioden wirtschaftlichen Aufschwungs einzuleiten. Und schließlich muss die Wirksamkeit von Reformen bewiesen werden. Die Bürger müssen die 105 Verbesserungen spüren, spätestens nach zwei Jahren“. 105 Vortrag Wolfgang Kessler 4.5.2006 in Aachen, Menschlich 103 Beispiel Niederlande: Die Vereinbarungen der Gewerkschaften und der Unternehmer zur Begrenzung der Lohnsteigerungen, bzw. zur Lohnreduzierung wurden vom niederländischen Staat schon vor Umsetzung durch Steuer- und Abgabenreduzierungen begleitet. Damit fiel es natürlich den Gewerkschaften leichter, Vorschlägen der Arbeitgeber zuzustimmen. Außerdem gibt es in den Niederlanden wie auch in Österreich Abfindungsfonds im Falle von Kündigungen. Auch in den Niederlanden sind die Gesamtausgaben für die Arbeitsmarktpolitik höher als in Deutschland.106 Beispiel Schweden: Die Schweden haben von 1997 bis 2002 massiv in die Weiterbildung investiert. Auch in Schweden sind die Gesamtausgaben für die Arbeitsmarktpolitik höher als in Deutschland. Die Neuverschuldung wurde teilweise auf 12% hochgefahren. Ein Unterschied zu Deutschland bei den Ausgaben zur Arbeitsmarktpolitik in den drei nordischen Ländern besteht auch noch strukturell: Sie sind erheblich mehr investiv ausgerichtet wie z.B. durch Mobilitätsförderung, berufliche Weiterbildung, durch Lohnsubventionen geförderte private Beschäftigung und reguläre öffentliche Beschäftigung - also keine Ein-EuroJobs.107 Die Mitarbeiter nach dem sog. Plusjob werden tariflich bezahlt und übernehmen Stellen, die in den letzten Jahren wegen Einsparung gestrichen wurden oder die den Service für die Bürger verbessern sollen. Ziel ist es, den Angestellten nach Bewährung fest in dieser Stelle wirtschaften – oder eine andere Politik ist möglich. 106 Frankfurter Rundschau 18.6.2005 107 Frankfurter Rundschau 18.6.2005 104 anzustellen. Bezeichnend für Schweden ist auch das Schulsystem. Es besteht ein gesetzlicher Anspruch auf einen Vorschulplatz für Fünfjährige. Das dortige Ganztagsschulsystem ist so erfolgreich, dass mehr als 75% der Schüler das Abitur bestehen. Dies wird dann fortgeführt mit der Förderung einer gezielten Weiterbildung während des gesamten Berufslebens. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass die Arbeitslosigkeit nur bei 5,6% liegt, wobei die Regierung sich zum Ziel gesetzt hat, diese noch in diesem Jahre unter 4 % zu drücken. Die schwedischen Gewerkschaften nehmen eher den Verlust von Arbeitsplätzen in Kauf, als dass sie Abstriche bei den Arbeitsbedingungen dulden. Die schwedischen Gewerkschaften stehen Umstrukturierungsmaßnahmen nicht im Wege. Sie sehen wie die Regierung nur die Chance in der Produktion von Spezialprodukten, nicht von Massenware. So produziert Schweden z.B. jeden 5.Dieselmotor für Busse und Lastwagen. Eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme ist das sog. Freijahr. Man kann für ein Jahr seinen Arbeitsplatz aufgeben und bekommt 85% des bisherigen Gehaltes vom Staat, sofern für diesen Arbeitsplatz ein Arbeitsloser eingestellt wurde. Ältere Arbeitnehmer sind durchaus in Schweden begehrt. Ca. 70% stehen im Arbeitsleben, doppelt so viele wie in Deutschland. Mit einer 72,5 %igen Erwerbsquote bei Frauen – ein hoher Anteil in Vollzeit – nimmt Schweden in Europa eine Spitzenstellung ein.108 Da sich unsere Politiker immer mehr zurückziehen und im Bereich der Wirtschaft immer weniger regulierend eingreifen, bedeutet das, dass unser demokratisches System immer mehr abgebaut wird und sich über kurz 108 Zeitzeichen 4/2006 105 oder lang ganz überflüssig macht. Der Staat hat in vielen Bereichen sein Wächteramt bereits aufgegeben. Im bundesrepublikanischen Parteienspektrum gibt es auch so gut wie keine Alternative. Alle Parteien, bis auf die Linke, haben sich eindeutig mehr oder minder radikal dem Neoliberalismus verschrieben. Ob die Linke eine Alternative ist, bleibt aber auch abzuwarten. Deutlich wird diese Situation noch einmal anhand des Zitats des früheren Bundesbankpräsidenten Tietmeyer: „Die meisten Politiker sind sich immer noch nicht darüber im klaren, wie sehr sie heute bereits unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“.109 Die demokratisch gewählten Regierungen beugen sich dem Druck des Neoliberalismus. Politik wird immer mehr zur Anpassung an die Übermacht der Märkte. Genau darin besteht die Logik der globalitären Regime, die unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“ die Köpfe der Politiker und der Wirtschaftsfachleute, aber auch vieler anderer in der Gesellschaft beherrschen. Es muss erwähnt werden, dass selbst Altbundespräsident Roman Herzog bereit ist, für die Wirtschaft die Demokratie zu opfern. So hat er in die Debatte geworfen, bestimmten Altersgruppen, die sich „reformunwillig“ zeigen, das Wahlrecht zu entziehen.110 In dieser Radikalität hat das bisher noch kein anderer gewagt zu sagen. 109 Prof. Franz Segbers, Vortrag in Essen 18.6.2005, Herausforderung der neoliberalen Wirtschaftsordnung an die Kirchen aus der Sicht des Nordens. 110 Duchrow u.a. Solidarisch Mensch werden, S. 173ff. 106 9. Das Mandat der Kirche 9.1 Gegen Reformtreue und für die Globalisierung der Gerechtigkeit Auch die evangelische Kirche ist Täter und Opfer, Nutznießer und Verlierer der Globalisierung zugleich. Sie ist aber auch nach der öffentlichen Hand die größte Arbeitgeberin in der Bundesrepublik und ist, darauf ist später noch ausführlicher einzugehen, theologisch gefragt, zu den Auswirkungen des Neoliberalismus Stellung zu beziehen. Zunächst jedoch noch einmal zurück zur Politik: Reformen bedeuten nicht wie früher etwas Positives für die Menschen, sondern tiefe soziale Einschnitte, immer mit der Drohung im Hintergrund, wenn wir das jetzt nicht umsetzen, wird es später noch schlimmer.“ Agenda 2010“ heißt diese Drohgebärde seit der Rot/Grünen Regierungszeit 1998-2005. Wie weit der Neoliberalismus die Politik aus Sicht des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder schon entmachtet hat, lässt sich aus seiner Äußerung am 14.3.2003 schließen: „Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden.“ Es gibt also aus seiner Sicht keine Alternative.111 „Diese Ideologie, die behauptet, es gäbe zu ihr keine Alternative, verlangt von den Armen und der Schöpfung einen nicht endenden Strom von Opfern. Sie gibt das falsche Versprechen ab, die Welt durch Schaffung von Reichtum und Wohlstand retten zu können, während sie die Herrschaft über das Leben beansprucht und totale Unterordnung verlangt, was einem Götzendienst 111 Zitat nach einem Vortrag von Prof. Segbers am 18.6.05 in Essen: Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung aus der Sicht des Nordens. 107 gleichkommt.“ 112 Hiermit wird deutlich, dass Kirche nicht nur sozial, sondern auch theologisch gefordert ist. Selbstverständlich müssen sich auch Kirchen dem Problem der Effizienz stellen. Die Nagelprobe wird sein, wie sich die Kirche bei der Notwendigkeit Kosten abzubauen, verhält und wie sie dabei als Arbeitgeberin reagiert. Ist ihr Verhalten genau so wie das der anderen, also dem Mainstream folgend? Leider gibt es Anzeichen, dass Kirche sich nicht anders verhält. Es sind dieselben Unternehmensberater, die auch die Großindustrie beraten. Wen wundert es, dass dann die Rezepte auch die gleichen sind? Warum entwickelt nicht gerade die Kirche ein konsequentes Modell des Teilens, denn Teilen von Arbeit sollte einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen als Entlassungen. Schon im Sozialwort der Kirchen aus dem Jahre 1997 haben die Kirchen öffentlich erklärt, dass sie dem Teilen von Arbeit immer den Vorrang geben würden. Dabei wurde auch in Ziffer 244 verdeutlicht, dass Kirche die Maßstäbe, die sie bei anderen fordert, auch bei sich selbst anlegen muss. Tatsache ist jedoch, dass Arbeitzeitverlängerungen und Mehrarbeit ohne finanziellen Ausgleich in den Kirchen geradezu üblich geworden sind. Warum beansprucht die Kirche darüber hinaus eigene Tarifverträge, was faktisch dem Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag gleichkommt und für die Arbeitgeber 112 aus der Erklärung des Reformierten Bundes in Accra vom 11.8.2004 108 die Signalwirkung zur Aufgabe Flächentarifvertrages bedeutet? eben dieses Die deutschen Kirchen brauchen keine neue Denkschrift, das Sozialwort ist nach wie vor aktuell, auch wenn die Begriffe Kapitalismus bzw. Neoliberalismus überhaupt nicht vorkommen. Die „Marktwirtschaft pur“ ist jedoch nichts anderes und wird deutlich in Ziffer 146 kritisiert. Das Sozialwort wieder zu beleben wäre schon allein deshalb wichtig, weil 1997 die Arbeitslosigkeit in Deutschland nur 2,2Mio betrug, während es heute mehr als 6 Mio. Arbeitslose sind. Umso wichtiger ist es, dass Kirche heute ein klares Wort zu den Menschen spricht und konsequenterweise auch Kirche der Armen wird. Was fehlt, ist eigentlich nur eine klarere Aussage zu den Steuern, obwohl es in Ziffer 191 schon heißt, „dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur bei den Ausgaben und Leistungen, sondern bereits auch bei der Aufbringung der Mittel gewahrt bleiben müssen.“ In dieser Situation der sozialen Ungerechtigkeit, bei uns und weltweit, darf die Kirche nicht schweigen, vor allem, weil es sonst niemanden gibt, der dieses Wächteramt auf sich nimmt. Darum ist nicht nachzuvollziehen, warum die Kirchen die Politik der Reformen und des Sozialabbaus bejahen. Dies ist umso unverständlicher, als es hier ja nicht nur um eine sozialethische Stellungnahme geht, sondern der Neoliberalismus in Deutschland mittlerweile auch der Kirche die finanziellen Ressourcen abgräbt. Es ist ein Trugschluss zu glauben, die finanziellen Probleme seien vor allem durch Kirchenaustritte und die demographische Entwicklung verursacht. Wenn man die demographische 109 Entwicklung verantwortlich macht, dann dürfte es aktuell kein Problem geben. Tatsache ist jedoch, dass von 2000 auf 2004 in der Evangelischen Kirche im Rheinland das Kirchensteueraufkommen um 15,30% zurückging. Hauptursache sind die verminderten Einnahmen durch die Veränderungen der Steuerpolitik, weg von den direkten Steuern hin zu den indirekten Steuern. Die Geldnot ist kein Schicksalsschlag, sondern von der Politik verursacht und auch gewollt. Die neoliberale Steuersenkungspolitik, die hohe Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsregelungen, Absenkung der Übertarifzulagen, das Outsourcing von Betriebsteilen führt zu deutlichen Einkommensverlusten. Die Privatisierung der Bahn, Post und des öffentlichen Nahverkehrs haben ebenfalls zu Einkommenseinbußen geführt, genau so die Einführung von 400 € Jobs und IchAG´s, die Hartz-Reformen, sowie der Wegfall von großen Teilen der ABM-Maßnahmen113. Als Ersatz werden die so genannten 1 €-Jobs eingeführt. Berücksichtigt werden muss auch, dass für Arbeit statt Sozialhilfe (ASH) und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) die Arbeitgeber hoch qualifiziertes Personal zur Anleitung anstellen mussten. Schließlich spüren die Kirchen den deutlichen Rückgang der Mitfinanzierung für die diakonischen Einrichtungen und alle Aufgaben, die die Kirche als Pflichtaufgaben der öffentlichen Hand im Rahmen der Subsidiarität übernommen hat und in kirchlicher Trägerschaft durchführt. Andererseits verstehen sich die Vertreter dieser Organisation wie auch die anderer Wohlfahrtsverbände als staatstragend. Zumindest muss die Frage gestellt werden, ob es nicht auch unter den 113 Bei ABM Maßnahmen wurden Tariflöhne bezahlt. 110 Wohlfahrtsorganisationen einen ausgeprägten Konkurrenzkampf um Pfründe gibt, was den einen oder anderen dann veranlasst, Wohlverhalten zu zeigen. Es kann auch durchaus darum gehen, dass der Kuchen zwischen Betroffenen (ausbezahlte Leistung) und der Kostenerstattung für die Wohlfahrtorganisation zugunsten der Wohlfahrtsorganisation erhöht oder zumindest nicht negativ verändert wird. Wenn dann hochrangige Vertreter der Kirchen den Sozialabbau irreführend als „Reformen“ bezeichnen und zum Ausdruck bringen, dass diese „Reformen“ im Prinzip richtig sind, und nur an der einen oder anderen Stelle korrigiert werden müssen, dann verhallen bei den Politikern sowohl die Klage über die Finanzkrise der Kirche als auch die sozialethischen Forderungen ungehört.114 Hinter der Aufsehen erregenden Erklärung des ehemaligen Leiters des Diakonischen Werkes der EKD, Herrn Gohde, die er zusammen mit den Leitern der Arbeiterwohlfahrt und des Roten Kreuzes abgegeben hat, die Leistungen nach Hartz IV zu kürzen, steht 114 So hat der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Manfred Kock zum Mut zu Reformen aufgerufen und es ethisch gerechtfertigt, dass die Einkommen der wenig Verdienenden reduziert werden. Manfred Kock, Mut zu Reformen 15. Januar 2003, "Treffpunkt Gendarmenmarkt" in Berlin. Nachzulesen im EKD Archiv 2003. Kardinal Lehmann wandte sich gegen eine Vermögenssteuer mit den Worten: “Von vielen wird im Moment Sozialneid geschürt. Mit alten Methoden nach dem Motto: Steuererhöhung! Vermögenssteuer höher! Erbschaftssteuer höher! kann man die Probleme nicht lösen. Interview mit der Berliner Zeitung vom 28. Mai 2003. Nachzulesen im EKD Archiv 2003. Zu Äußerungen von Bischof Huber siehe in diesem Buch den Aufsatz von Jens Sannig, Entscheiden und Bekennen, S. Anm. 111 wahrscheinlich einer der beiden oben aufgeführten Gründe. Diese Erklärung ist ein Skandal, weil durch eine Untersuchung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands115 die jetzigen Sozialleistungen schon ca. 20% unter dem Existenzminimum liegen. Dass Herr Gohde sofort die volle Zustimmung u.a. von dem SPD Fraktionsvorsitzenden Struck, Finanzminister Steinbrück, Sozialminister Müntefering, dem SPD-Vorsitzenden Beck, dem Ministerpräsidenten Koch und dem Finanzsenator Sarrazin116 erntete, war zu erwarten. Konsequenterweise haben ihm die zuständigen Gremien der Diakonie das Misstrauen ausgesprochen, und er ist schließlich auf Druck der Verbände zurückgetreten. Es verwundert auch nicht, dass Sozialminister Müntefering nervös geworden ist, weil die SPD die Hartz IV Reformen als „eine Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt“ bezeichnet hatte, was als gründlich gescheitert angesehen werden muss. Durch eine völlige Fehlinterpretation versucht er nun verzweifelt, auch noch die Bibel für sich zu nutzen. Er zitiert dazu den 2.Thessalonicherbrief: „Einer der nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“. In den christlichen Gemeinden aber war es nie strittig, dass Arme, Kranke und unverschuldet Arbeitslose in der Gemeinde gestützt wurden.117. Noch deutlicher vertritt z.B. Oberkirchenrat Hitzler vom Kirchenamt der EKD den Neoliberalismus. Bei der Konferenz von „Kairos Europa“ im April 2005 offenbarte er sich: „Wenn das Papier des Ökumenischen 115 Frankfurter Rundschau 24.5.2006 Die Ost-West Wochen 26.5.2006 117 So Prof. Hengsbach in der Frankfurter Rundschau 27.5.2006 116 112 Rates der Kirchen118 das Konkurrenzprinzip verurteile und mit der Gier nach Profit auf eine Stufe setze, sei das eine Abkehr von den Prinzipien der Marktwirtschaft, die die meisten Kirchenvertreter aus dem Norden nicht mittragen könnten. Mit dieser Argumentation kämen die Positionen der Südkirchen denen des Neomarxismus bedenklich nahe.“119 Nur als erschütternd kann man die Stellungnahme „Globalisierung - Chance für alle“120 des Arbeitskreises Ev. Unternehmer in Deutschland e.V. zusammen mit dem Bund Katholischer Unternehmer e.V. betrachten. Es klingt wie Hohn, dass sich durch die „friedensstiftende Bilanz der marktwirtschaftlichen Globalisierung im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts die Zahl der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten auf der Welt halbiert hat“. Wir erleben genau das Gegenteil. „Grenzüberschreitendes Eigentum, multinationale Unternehmen, Ressourcen in privater statt staatlicher Hand sind allesamt eine Bremse für Gewalt“ so fährt die Broschüre fort. „Haben die Autoren nicht zur Kenntnis genommen, dass die Betroffenen genau das Gegenteil erfahren?“ Die strukturelle Gewalt des privaten Kapital und der Multis hat deutlich zugenommen. Warum ist gerade der Ruf aus dem Süden so eindeutig negativ, wenn „immer mehr Menschen an der internationalen Arbeitsteilung partizipieren, ohne ihre Heimat verlassen zu müssen“? 118 Gemeint ist das Agape-Dokument zur Vorbereitung der Vollversammlung des ÖRK 2006 119 In Zeitschrift Entwicklungspolitik 12-13/2005, S. 17. Zitiert nach: Duchrow u.a. Solidarisch Mensch werden, S. 42, Anm. 18 120 Herausgegeben vom Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer in Deutschland e. V. (AEU), Karlstraße 84 76137 Karlsruhe, im Jahr 2003 113 Selbst die Spekulation an den Finanzmärkten wird positiv hervorgehoben. Die Globalisierung bringe den Menschen „Demokratie, Marktwirtschaft und mehr Respekt vor den Menschenrechten“. Wenn es heißt, dass „Menschen Gewinner und Verlierer sein können, das gehöre zu den Bedingungen der (noch) nicht erlösten Welt“ müssen wir uns fragen, ob hier eine für diese Unternehmer selbstgeschaffene Theologie begründet wird. Soll das etwa heißen, die Armen sollen auf das Jenseits warten? Dann ist Religion wirklich Opium fürs Volk. „Auch den Ärmsten geht es besser“ sagt diese angebliche Studie. Dazu werden Zahlen angeführt, die nicht belegt sind und von denen nicht klar wird, welche Länder zu dieser Statistik gehören. Im selben Absatz widersprechen die Verfasser jedoch sich selbst. Nach der Broschüre erlebte die Weltbevölkerung einen Einkommenszuwachs (für welche Periode wird nicht gesagt) von 75%. (Basis USD 8.300), während „sich das untere Fünftel das Einkommen mehr als verdoppelt hat (Basis USD 550)“. Die Zahlen belegen aber gerade, dass die Schere weiter deutlich auseinander gegangen ist und zwar um über USD 5.500. Oder um es sarkastisch zu sagen, hier wird Arm und Reich jeweils ohne Bezug zueinander prozentual ausgedrückt. Ist das vielleicht sogar noch Gott gegeben? Sehen die Autoren die katastrophale Armut nicht, von der man mit Recht sagen kann, dass für Menschen, die man verhungern lässt, Ermordung der richtige Ausdruck ist? Das Milleniumziel der Halbierung der absoluten Zahl der Armen, das 2000 vereinbart wurde, ist ein Beispiel für großartige Versprechungen der Industrieländer, die sie nicht einhalten. Richtig ist, dass z.B. die Kindersterblichkeit zurückgegangen ist. Im südlichen Afrika sank sie pro 100 Lebendgeborenen von 1960 – 114 1980 von 26 auf 20, von 1980 bis 2004 auf 17 Kinder.121 Der Prozess aber hat sich erheblich verlangsamt. Und was wollen die Autoren den Angehörigen der toten Kinder als Erklärung und Trost sagen? Haben wir wirklich alles nur Menschenmögliche getan? „Deutschland“ so die Broschüre weiter, „geht in der globalen Arbeitsteilung nicht die Arbeit aus“. Danach wird eine Statistik für die OECD von 1970 zitiert, die für die alten Bundesländer einen Arbeitsplatzzuwachs von 20% sieht. Wo sind diese 20%? Dann heißt es, wir haben in Deutschland ein „strukturelles Problem: „In Deutschland ist die Arbeit zu teuer.“ Warum sind wir dann Exportweltmeister? Als positives Land, das sich geöffnet hat, wird gerade China genannt. Mit nicht einem einzigen Wort wird aber davon gesprochen, wie die Menschen dort in brutalster Art und Weise diktatorisch ausgebeutet werden. Die Kinderarbeit wird vom Arbeitskreis befürwortet mit dem Hinweis, dass beispielsweise bei einem Verbot der Herstellung von Kleidung in Bangladesh durch Kinder, die Kinder in schlechter bezahlte, bzw. gefährlichere Arbeit, viele sogar in die Prostitution abtauchen müssten. Die Broschüre vertritt die Meinung, dass es noch mehr Direktinvestitionen in Entwicklungsländer geben müsste. Das ist im Prinzip richtig, aber die meisten Direktinvestitionen sind heiße Spekulationsgelder und schaden einem Land. Auch die Rolle der weltweiten Handelsorganisationen wird sehr positiv dargestellt. Dazu müsste man die Autoren einmal mit Josef Stiglitz in Verbindung bringen. Mit der Protektionspolitik der europäischen Staaten 121 Frankfurter Rundschau 16.6.2006 115 gehen die Autoren kritisch ins Gericht. Dies betrifft natürlich vornehmlich die Landwirtschaft und damit nicht den Kreis der Autoren. Hier seien nur einige Punkte der Broschüre kritisiert, es gäbe noch viele mehr. Die Broschüre ist lesenswert, weil sehr deutlich wird, wie man Tatsachen verdrehen und verfälschen kann. 9.2 Die Position der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn Es gibt auch Gegenbeispiele, so z.B. das Grundlagenpapier der Reformierten Kirchen Bern-JuraSolothurn.122 In dieser Broschüre wird als Konsequenz aus der Bibel und deren Auslegung betont, dass jede einzelne Frau, jeder Mann und jedes Kind die unantastbare Würde besitzen, oder modern ausgedrückt ihre Menschenrechte, ungeachtet ihrer Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit. Und die Würde des Menschen ist ganz mit der Würde der Schöpfung verbunden. In der weltweiten Ökumene ist die Ausrichtung allen Handels und Bezeugens von den drei Grundwerten Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bestimmt. Das Papier betont: „Die Wirtschaft gibt es, weil es den Menschen gibt. Deshalb ist die Kirche nicht für oder gegen Wirtschaft, für oder gegen Globalisierung. Wir nehmen ihre Dynamik und Chancen in vielen Bereichen wahr.“123 122 Grundlagenpapier zur Policy des Synodalrates. Für die Globalisierung der Gerechtigkeit. Die Reformierten Kirchen BernJura-Solothurn als Teil der weltweiten ökumenischen Bewegung. August 2003 123 Ebd. S. 30 116 Der Synodalrat hat als Hauptziel seines Legislaturprogramms 2004 –2007 formuliert: „Wir treten auf allen Ebenen für eine gerechte und solidarische Gesellschaft ein.“ Er erläutert dazu: „Der Friede und die Umwelt sind bedroht. Wirtschaftlich und sozial öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr. Die Globalisierung wirkt asozial und umweltzerstörend. Wir glauben, dass die ökonomische Globalisierung der letzten beiden Jahrzehnte heute in eine Sackgasse geht. Die Versprechen, dass der Reichtum allmählich zu den Armen durchsickert… sind erst recht auf Weltebene immer weniger glaubwürdig... Diese Kirche stellt sich der Herausforderung des Aufrufs des Processus confessionis.“124 Ausdrücklich betont wird in dem Grundlagenpapier, dass der Blick der Kirche auf die ökonomische Globalisierung nicht neutral sein kann, sondern in dreifacher Weise vom eigenen Hintergrund mitgeprägt ist. „Erstens versuchen wir, wirtschaftliche Realitäten an biblisch-ethischen Grundwerten zu messen. Als Leitfaden dienen uns die Vision der Gerechtigkeit und die Einhaltung eines lebensfördernden Rechts, welches allen Menschen und der Natur ihre Würde bewahrt. Zweitens stellen wir uns bewusst in unsere reformierte Tradition, welche uns als freie Menschen zur politischen Mitverantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft und insbesondere auch der Wirtschaft verpflichtet. Das reformatorische Erbe und unsere Einbettung in die Tradition der Aufklärung und der liberalen Gesellschaft lassen uns gegenwärtige Entwicklungen und Machtverhältnisse insbesondere auf ihren Gehalt an Demokratie und Menschenrechten hin überprüfen. 124 Ebd. S. 7 117 Drittens möchten wir uns mehr denn je als Teil einer weltweiten Kirche verstehen. Den Gang der Welt und unsere eigenen Entscheidungen aus ökumenischer Perspektive zu beurteilen, bedeutet für uns: Wir bringen in jedem Moment nicht nur unsere geografisch, wirtschaftlich und anderweitig beschränkten Interessen in die Debatte ein, sondern versuchen immer, eine globale Verantwortung wahrzunehmen. Insbesondere verpflichtet uns dies, die Perspektive der Betroffenen, der Opfer und der Verliererinnen und Verlierer einzubeziehen, jener Menschen, die durch die Globalisierung, wie sie sich gegenwärtig darstellt, um ihre Zukunft und ihre Lebenschancen gebracht werden.“125 Der Schwerpunkt des Handelns dieser Kirche wird eingeleitet mit dem bekannten Lied von Kurt Marti126, das in seiner Positionsbeschreibung und Klarheit umwerfend ist: Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme; erst dann die Herrschaft der Herren, erst dann die Knechtschaft der Knechte vergessen wäre für immer, vergessen wäre für immer. Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn hier auf Erden stets alles so bliebe; wenn hier die Herrschaft der Herren, wenn hier die Knechtschaft der Knechte so weiterginge wie immer, 125 Ebd. S. 9 Kurt Marti, Berner Pfarrer und Schriftsteller. Lied 487 aus Gesangbuch der Ev. Ref. Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, Basel 1998 126 118 so weiterginge wie immer. Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden, ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle zur Auferstehung auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren, die mit dem Tod uns regieren. 9.3 Ethische Perspektiven Die Lebensdienlichkeit ist die Grundperspektive einer kirchlichen Beurteilung der Globalisierung, die durch die ethischen Gesichtspunkte Gerechtigkeit, Solidarität, Partizipation und Bewahrung der Schöpfung unterstrichen wird. Die ökumenische Perspektive bezieht sich auf die Lebensdienlichkeit aus der Sicht der Betroffenen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wir als eine westliche Kirche überhaupt das Recht haben, den Processus confessionis in Frage zu stellen, wenn die Kirchen des Südens als Kirchen für die Betroffenen der negativen Folgen der Globalisierung diese Frage längst beantwortet haben. Was haben wir dagegen vorzubringen? Unterstellen wir etwa, dass sie keine geeigneten Exegeten haben, die die Bibel richtig auslegen? Nehmen wir den Satz aus der Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) nicht ernst, dass der freie Markt einen totalitären Charakter angenommen hat und zu einem götzenhaften Fetisch geworden ist? Das wäre arg hochmütig, wobei ja noch nicht einmal berücksichtigt ist, dass zumindest die reformierten Kirchen des Westens dem Beschluss von Accra zugestimmt haben. 119 „Wirtschaft gibt es, weil es den Menschen gibt.“127 Wenn nämlich Wirtschaften heißt, Werte zu schaffen, dann darf das entscheidende Maß einer Wirtschaft, welche den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt, nicht die Schaffung von Marktwerten (Gewinn, Shareholder-Value) sein, sondern allen Sachzwängen zum Trotz ihre Lebensdienlichkeit. Wie wirkt das auf die Menschen, die davon auch bei uns betroffen sind, dass durch die Agenda 2010 den Menschen mit geringem Einkommen 2004 bzw. 2005 6-8 Milliarden € vorenthalten wurden, die unter den Reichen aufgeteilt werden? Wie wirkt eine solche Aussage auf Menschen, die Angst vor der Arbeitslosigkeit haben? Zumindest bei Bischof Huber scheint es eine Trendwende gegeben zu haben. Er hat später vor Unternehmern die Schieflage der Reformen scharf kritisiert: „Da die aktuellen Einschnitte mit steuerpolitischen Maßnahmen zusammentreffen, die die Wohlhabenden günstiger stellen als die Menschen mit geringeren Einkünften und zugleich die Einnahmeseite der öffentlichen Haushalte weiter verschlechtern, sehen die von den damit in Zusammenhang stehenden Kürzungen auf der Ausgabenseite Betroffenen darin ein elementares Gerechtigkeitsproblem.“128 Es fehlt aber nach wie vor die Eindeutigkeit, mit der sich die Kirchen in den USA positionieren. Natürlich gibt es auch dort Kirchen, die diese Frage ausblenden. Die Kirchen jedoch, die die ungerechte Wirtschaftsordnung 127 Grundlagenpapier ebd. S. 29 Zitiert nach: Prof. Segbers, Vortrag am 18.6.05 in Essen: Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung aus der Sicht des Nordens 128 120 bekämpfen wollen, haben sich eng zu einem Bündnis zusammengeschlossen und machen sehr deutlich, dass sie Politik machen wollen. So war es hoch interessant, Rev. Ron Stief von der United Church of Christ in den USA auf dem Vorbereitungstreffen für die Globalisierungsdebatte der Landessynode in 2008 im Herbst 2005 in Bonn zu hören. Nach Meinungsumfragen wird das Bündnis der Kirchen im Kampf gegen den Neoliberalismus inzwischen von 23- 30% der US-Wähler unterstützt. Bezeichnend ist auch, dass das Buch des evangelikalen Pfarrers und Autors Wallis:“ How the Right gets it wrong and the Left doesn’t get it“ unangefochten auf der Bestsellerliste steht. Es beschäftigt sich mit den gravierenden Fehlern der Bush-Regierung sowie mit der fehlenden Sprachfähigkeit der Linken. Die gegenüber Bush kritischen Kirchen treffen sich jetzt ganz regelmäßig mit dem Fraktionsvorsitzenden der Demokraten im Senat. Im März 2005 hat der Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Rahmen der Haushaltsberatungen im Parlament um seine Forderungen zu unterstreichen, das Gleichnis vom Lazarus erzählt. Auch die methodistische Kirche, der Bush selbst angehört, nimmt an diesem Kampf teil. Auf dem Höhepunkt der Proteste plakatierte sie überall in Amerika ein Plakat von Bush mit der Schlagzeile: „God has changed your heart, now you must change your mind“. Gut zusammengefasst wäre unserer Ansicht nach eine Position der Kirche in dem Papier des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) des Kirchenkreises Jülich, das als Arbeitspapier im Vorfeld der Kreissynode an die Gemeinden ging und in dem es heißt: 121 „Wir müssen bereuen, …dass wir falsch gedacht haben, Glaube und Wirtschaftsangelegenheiten hätten nichts miteinander zu tun. Wir haben nicht gelehrt, dass die Notwendigkeit für eine Ethik, die Glaube und Ökonomie verbindet, besteht …“.129 Wir erleben: Weltweit ist das Leben der Menschen miteinander verflochten. Die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens haben sich im Zeichen der Globalisierung verändert. Eine Wirtschaft, die sich keinen ethischen Regeln unterwirft, zerstört das Leben der Menschen und ihrer Umwelt. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes, die alles regelt, gewinnt quasireligiöse Züge. Wir fragen: Haben wir unsere christliche Verantwortung wahrgenommen? Oder sind wir den Weg der Kompromisse und Anpassung gegangen, indem wir die Doktrin ungezügelten Wirtschaftens nicht an der Verheißung des Evangeliums gemessen haben? Wir bekennen: Wir tragen Schuld an der Entwicklung einer Kultur der konkurrierenden Gewinn- und Selbstsucht, in der die Schwachen auf der Strecke bleiben. Wir bekennen unsere Sünde, dass wir die Schöpfung missbraucht und dass wir unsere Aufgabe, die Natur zu bebauen und zu beschützen, verfehlt haben. Wir haben uns einreden lassen, die steigende Arbeitslosigkeit sei begründet in persönlichen Defiziten der Betroffenen und nicht in den gesellschaftlichen Strukturen, die wir mitgestaltet haben. 129 Presbyterianische Kirche von Korea, August 2003 122 Der zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich, weltweit und bei uns, haben wir nicht entschieden genug entgegengewirkt. Wir hoffen: Unsere Diakonischen Institutionen haben die Eigenverantwortung der Gemeinschaften für Gesundheit, Ausbildung und Arbeit zum Ziel. Wo es in unserer Kraft steht, hoffen wir, dass die Kirchen gemäß Dietrich Bonhoeffer nicht nur die Opfer unter dem Rad verbinden, sondern dem Rad entschieden in die Speichen greifen, um es auf einen neuen Kurs zu bringen. Wirtschaft soll dabei nach unserem christlichen Verständnis allein dem Leben dienen. Eine lebensdienliche Wirtschaft stellt den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt und wird die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zum vorrangigen Ziel haben. Wir hoffen dabei auf Gottes Geist, dass er uns anstiftet, den Mund aufzutun für die Stummen und die Sache aller, die verlassen sind. (Spr. 31,8) 10. Abschied von der Globalisierung - die Alternativen zum Neoliberalismus Der Neoliberalismus ist eine der größten Herausforderungen seit der Nazizeit. Aber wie ihm begegnen? Welche Alternativen kann man einem System entgegenstellen, dass von sich behauptet, ohne Alternative zu sein. Die „unsichtbare Hand des Marktes“130 regelt nach der Vorstellung der Verfechter 130 Adam Smith hat sich im 19. Jahrhundert mit der Theorie der Marktwirtschaft auseinandergesetzt. Nach seiner Vorstellung leitet 123 des Neoliberalismus mit der Zeit alle Verwerfungen und bringe den Wohlstand für alle. Die Frage, die auch der Kirche immer wieder gestellt wird, ist die nach den Alternativen. Das ist ein sehr gefährliches Glatteis. Trotzdem muss Kirche dazu Stellung nehmen. Die Kirche hat, wie keine andere öffentliche Organisation sonst, enge Beziehungen zur Zivilgesellschaft, gerade zu den kritischen Potenzialen der Zivilgesellschaft und kann sich so an die Spitze einer Bewegung setzten, die nach Alternativen sucht. Jede Entscheidung, die im Wirtschaftsleben getroffen wird, muss daran gemessen werden, ob sie dem Leben und damit den Menschen und der Natur dient. Sicherlich gibt es recht einfache, aber auch einleuchtende Forderungen wie z.B. Arbeitszeitverkürzung statt – Arbeitszeitverlängerung, die einfach zu erklären sind und dann auch genannt werden sollten. Es gibt auch Bereiche in denen wir dringend Arbeitskräfte benötigen, und zwar in allen Bereichen, die mit Menschen zu tun haben: Vom Pflegepersonal über Lehrer bis hin zu Bibliothekaren 131 Bei anderen Fragestellungen wird man der Kirche sehr schnell vorhalten, dass sie in diesem Bereich der Gott mit „unsichtbarer Hand“ das Weltgeschehen. Überall da, wo niemand in das Geschehen eingreift, ist Gott gegenwärtig. Nichts zu tun bedeutet bei ihm, Gottes unsichtbarer Hand zu vertrauen. Es soll auch bedeuten, dass damit der Wohlstand für alle garantiert ist. Häufiger schon war in Wirtschaftszeitungen von der „unsichtbaren Hand“ die Rede. Die Theologie von Smith – für mich eine Irrlehre – kommt in säkularisierter Form wieder auf uns zu. Alexander Rüstow, der Begründer der sozialen Markwirtschaft, hat in seinem Buch unter dem Titel: „Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem“, den falschen Ansatz wissenschaftlich nachgewiesen. 131 Nebel, Kessler, Storz: Wider die herrschende Leere S.123 124 Wirtschaft keine Ahnung hat und damit auch nur Vorschläge machen kann, die wahrscheinlich nicht realisierbar sind. Ich könnte z.B. für den Bereich der Finanzmärkte sehr konkrete Vorschläge machen, die auch umsetzbar wären. Dazu wäre jedoch ein eigenes Buch erforderlich. Ob dieses dann nachvollziehbar wäre, bleibt auch noch die Frage. Deshalb sollte Kirche mit ganz konkreten Vorschlägen sehr vorsichtig sein. Aber haben wir überhaupt eine Chance, uns gegen Ungerechtigkeiten des Neoliberalismus zur Wehr zu setzen? Wir denken für Christen ist diese Frage, zumindest theoretisch, sehr einfach zu beantworten. Unser Glaube gibt uns immer wieder die Kraft, vor dem Hintergrund, dass nicht die Wirtschaft und die Finanzen unser Herr sind, sondern der Gott, der uns in seiner Menschenfreundlichkeit ein ganz anderes Menschenbild geschenkt hat, als es im Neoliberalismus zu Tage kommt. Menschen werden in der Bibel und theologisch doch nicht nach ihrer Leistungsfähigkeit und ihrem Erfolg bemessen, sondern sind alle gleich auf Gottes Gnade angewiesen. Nach Gottes Menschenbild ist jeder Mensch einzigartig, auch wenn er nach herkömmlichen menschlichen Kriterien noch so fehlerhaft und gebrochen sein mag. Unser Glaube befähigt uns gegen die Ungerechtigkeit in der ganzen Welt vorzugehen, auch wenn das hoffnungslos erscheint. Wir erfahren, dass wir immer wieder von neuem anfangen dürfen, auch wenn wir gerade gescheitert sind. Auch das ist ein Zeichen der Auferstehung, wir sind auch in diesen Situationen in unserem Herrn geborgen. Wir fangen auch immer wieder 125 neu an, selbst, wenn wir wüssten, dass die Welt morgen untergeht. Suchen wir also nach Alternativen. Es gibt sie und wir werden sie finden. Wir haben den Eindruck, dass zunehmend nicht nur kritische Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Ländern, unterschiedlicher sozialer Herkunft sich kritisch zu Wort melden. Dieses zarte Pflänzchen muss gepflegt werden. Es gehört dazu, dass wir Menschen, die in der Wirtschaft tätig sind, Mut machen, sich einzumischen, sie aber auch als Kirche zu stützen, wenn sie ihre alternativen Ideen in die Diskussion einbringen und vortragen. - Wir dürfen nicht aufhören, unsere Macht als Verbraucher in die Waagschale zu werfen und andere dabei mitzunehmen, denn nur so haben wir die Chance etwas zu bewegen. - Wir müssen auch auf der Hut sein, nicht undifferenziert alle Mächtigen in Politik und Wirtschaft über einen Kamm zu scheren. - Neben der Anprangerung von Missständen müssen wir die wenigen positiven Beispiele benennen, die Mut machen. - Wir müssen uns darauf einstellen, dass eine gerechtere Welt bei uns auch bedeutet, dass wir teilen müssen. - Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir unser Ziel einer gerechteren und solidarischen Welt nur erreichen können, wenn viele viele kleine Schritte tun. 126 Wie also sehen konkrete Vorschläge eines anderen Wirtschaftens aus? Hier sollen nur ansatzweise Alternativmodelle benannt werden, weil eine ausführliche Beschäftigung mit jedem Spiegelstrich den Rahmen des Buches bei weitem sprengen würde. Eine Abschaffung der bezahlten Überstunden, stattdessen Einführung von Arbeitszeitkonten und Lebensarbeitszeiten. Allein das würde 1,1 Mio. neue Vollzeitarbeitsplätze schaffen. Mit Wachstum sind keine neuen Arbeitsplätze zu schaffen. es wäre nämlich mindestens ein Wachstum von 4-5% pro Jahr erforderlich, was unrealistisch ist. In 20 Jahren müssten wir ein Drittel mehr konsumieren als heute. Das geben die Ressourcen und das Gebot der Nachhaltigkeit gar nicht her. Eine weitere Förderung der Teilzeitarbeit durch Garantie einer Mindestrente. Schaffung von Dienstleistungszentren für Privathaushalte. Ziel: neue sozialversicherte Arbeitsstellen, Bekämpfung der Schwarzarbeit. Der bürokratische Aufwand geringfügige Arbeitsverhältnisse zu legalisieren ist noch enorm, die bürokratischen Hürden müssten abgebaut werden. Eine Mehrwertsteuerfreiheit oder -reduzierung im Handwerk und den Dienstleistungsbranchen würde die Anzahl der Beschäftigten aufgrund einer erhöhten Nachfrage positiv beeinflussen. Kombilohnmodelle wären hier angebracht. Gerechtere Steuern durch Gleichbehandlung aller Einkommensarten bei sozialer Staffelung (Familiensplitting, Verhinderung der individuellen 127 Verarmung sowie der öffentlichen Armut bei tendenziell höherem Steuereinkommen, das im Bereich der öffentlichen Investitionen nachhaltig für die Bildung sowie soziale. Dienstleistungen eingesetzt wird). Eine anteilige Beteiligung der Lohn- und Gehaltsabhängigen am Produktivitätsfortschritt – unterer Einkommensbereich durch Erhöhung der Löhne und Gehälter – Rest durch Unternehmensbeteiligung (Vorteil Fremdfinanzierung nimmt ab), zusätzlich Mindestlohn gesetzlich festlegen. „Nicht die Lohnkosten in Deutschland sind zu hoch, sondern wir müssen mehr in Forschung und Entwicklung investieren“.132 „Von den Arbeitslosen kann ich nicht erwarten, dass sie noch meine Produkte kaufen“.133 Die Einführung eines Sozialversicherungssystems wie in der Schweiz. Dort werden alle Einkünfte bei der Rentenbzw. Krankenversicherung berücksichtigt, deshalb sind die Beitragssätze dort auch so niedrig (Rentenversicherung 10,1%, Krankenversicherung 6,9%). In Deutschland muss man auch deshalb umdenken, denn es ist ein Skandal, dass 85% der deutschen Frauen eine Rente erhalten, die unter Sozialhilfeniveau ist. Eine Grundsicherung für alle: Einführung einer negativen Einkommensteuer (Bürgergeld), die monatlich ausgezahlt wird. Die erste Person eines Haushaltes erhält € 600,-- die zweite € 300,-; jedes 132 Porsche Chef Wendelin: Publikforum Dossier: Es geht auch anders 133 DM-Drogeriechef Werner oder Trigema Chef Grupp: Publikforum Dossier: Es geht auch anders 128 Kind € 250,-.134 Mehr Bürgergeld erhalten diejenigen, die sich nachweislich ehrenamtlich in einem erheblichen Umfang für Aufgaben engagieren, die in unserer Gesellschaft dringend erforderlich, jedoch sonst nicht finanzierbar sind. Die negative Einkommenssteuer wird mit der positiven Einkommenssteuer verrechnet. Die Finanzierbarkeit müsste noch überprüft werden. Der Betrag von 80 Milliarden Euro, den die Arbeitslosigkeit koste, wäre als allererstes dafür einzusetzen.135 Die Finanzmärkte müssen einer weltweiten internationalen Kontrolle unterworfen werden, weil erstens die enormen Volumina des spekulativen Geldes durch eine Fehldisposition die Märkte zum Crash kommen lassen könnten, was unabsehbare negative Folgen für die Weltvolkswirtschaft hätte, zweitens die extrem hohen Renditeerwartungen an den Finanzmärkten eine Volkswirtschaft in die Katastrophe stürzen könnten (siehe z.B. Asienkrise), drittens die Geldmittel für normale Investitionen nicht verfügbar sind. Die Finanzressourcen weltweit wären außerdem erheblich höher, wenn Einigkeit bestünde gegen die immer mehr um sich greifenden Steuer- und Geldwaschparadiese vorzugehen. Nach Schätzungen 134 Dabei wird sicherlich immer wieder die Frage der Finanzierung gestellt. So schwierig kann es nicht sein, denn heute werden im Durchschnitt € 730,00 an Sozialleistungen durch den Staat bezahlt. Monitor 19.10.2006. Sicherlich muss für besonders benachteiligte Gruppen, die einen erheblichen Mehraufwand haben, auch mehr gezahlt werden. 135 Unser Sozialsystem würde damit entbürokratisiert. 40 Behörden berechnen und gewähren über 90 Sozialleistungen. 129 sind 50% des Welthandels illegal (Waffen, Drogen, Geldwäsche, Steuerhinterziehung. Der Kampf gegen den Terrorismus – ohne zu berücksichtigen, dass man nichts gegen das Entstehen tut – ist so lange unglaubwürdig, bis überzeugend verhindert wird, dass sich Terrororganisationen unproblematisch mit Geld versorgen können. Es spielt offensichtlich keine Rolle, wie viel Geld es kostet, gegen den Terrorismus aufzurüsten und wie viel Bürgerrechte dabei abgebaut werden. Es ist offensichtlich kein Problem, Länder, die dabei nicht mitagieren, politisch unter Druck zu setzen. Nicht überzeugend wird jedoch von den Industrieländern der Kampf gegen die Steuerund Geldwaschoasen angegangen. Nach UNSchätzungen, die eher zu vorsichtig angesetzt sind, werden dort 5.000 Milliarden € an Kapital verwaltet, wovon etwa 800 Milliarden aus der organisierten Kriminalität stammen. Die Steuergesetzgebung sollte auch unter der Frage der Nachhaltigkeit konzipiert werden. Ökologisch unbedenkliche und für das menschliche Leben notwendige Produkte werden niedrig besteuert. Ökologisch belastende Produkte sowie Luxusgüter werden hoch besteuert. Eine Erhöhung des Steueraufkommens hieraus sollte für die Schaffung von Beschäftigung im sozialen Bereich sein .Meiner Ansicht nach könnte man diese Konzeption durch die nicht zu unterschätzende Verbrauchermacht noch einmal verstärken. Das schließt auch „Ethisches Investment“ mit ein. In Bezug auf Nachhaltigkeit gibt es eine zunehmende Anzahl von Unternehmen, die festgestellt haben, dass sich Nachhaltigkeit lohnt und sich dadurch ihr Betriebsergebnis sogar noch 130 verbessert hat. ( Otto-Versand, Migros, Wilkhahn, Fujitsu-Siemens). Es wäre Aufgabe des Staates, hier Nachhaltigkeitssiegel zu schaffen und auch zu kontrollieren. Im Bereich „Ethisches Investment“ gibt es ein positives Beispiel aus den Niederlanden. Dort erhalten Anleger, die nach ethischen Gesichtspunkten anlegen, bei einer Anlage bis zu ca. € 50.000 Steuervorteile.136 Im Bereich Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit dem Baseler Beispiel folgen: Erhöhung der Strompreise und Rückzahlung eines Betrages von € 50,00 an jede Person pro Jahr bei erfolgreicher Energieeinsparung. Erhebliche Anstrengungen im Bildungsbereich unternehmen137: Der Schwerpunkt muss auf Kindertagesstätten und Grundschule gelegt werden, 136 Publikforum Dossier: Es geht auch anders Trotz aller hehren Beteuerungen von Politikern jeder Richtung sind zwei Tatbestände zu beobachten: 1. Der Staat zieht sich aus der Finanzierung zurück und überlässt das Feld Privaten 2. die Bildungsausgaben sinken nicht nur inflationsbereinigt, sondern real. Von 2002 auf 2003 wurden die Bildungsausgaben real um 2 Milliarden zurückgefahren. Private erhöhten ihre Leistungen um 0,6 Milliarden. Das betrifft auch die sog. Risikoschüler, die über Fördermaßnahmen für den Arbeitsmarkt vermittelbar gemacht werden müssen. Sowohl die berufsbildenden Schulen, als auch der betriebliche Teil des dualen Systems erhielten weniger Geld. Die Bundesagentur für Arbeit hat zwischen 2002 und 2004 1,2 Milliarden € zu Lasten dieser Schüler eingespart. Deutschland liegt im internationalen Vergleich dabei auch weit hinten. Um den Durchschnitt der OECD Länder zu erreichen, müsste Deutschland jährlich mehr als 11 Milliarden € jährlich aufbringen. Wollte es einen Spitzenplatz einnehmen – wie z.B. Schweden – dann müssten pro Jahr 35 Milliarden € investiert werden. Prof. Klemm, Bildungsforscher Universität Essen. Frankfurter Rundschau 9.5.2006 137 131 um insbesondere Randgruppen nicht weiter zu benachteiligen, was nicht nur menschlich nicht zu vertreten ist. Es kann nicht sein, dass in Deutschland jedes Jahr ca. 120.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Wir produzieren uns hiermit nicht nur die Arbeitslosen von heute, sondern auch von morgen. Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich Innovation, Bildung, Gesundheit, Kultur und Freizeit Wenn schon Arbeitnehmer nicht oder völlig unzureichend am Produktivitätsfortschritt beteiligt werden, dann muss man darüber nachdenken, Unternehmen mit hohem Kapitaleinsatz und wenig Beschäftigten stärker zu besteuern als die anderen Unternehmen. Natürlich ist auch denkbar, dies in einer Sonderumlage für die Sozialversicherungen zu regeln statt über die Steuern. Außerdem werden jedes Jahr 45.000 Unternehmen verkauft. Hier könnte man für die Belegschaft gesetzlich ein Vorkaufsrecht einräumen. Ein gelungenes Beispiel ist die Übernahme der Flachglas GmbH in Nordbayern (650 Mitarbeiter). Der Konzern Pilkington wollte 1999 die Produktion dort einstellen. Die Arbeitsnehmer haben Kredite in Höhe von 3,7 Mio. DEM aufgenommen. diese wurden mit den Vermögenswirksamen Leistungen und dem Weihnachtsgeld zurückgezahlt. Seit 2005 sind die Arbeitnehmer schuldenfrei. Es ist auch eine andere Unternehmenskultur eingetreten: die Ausbildungsquote beträgt 6 % und es sind 54 Schwerbehinderte beschäftigt. Ein anderes Beispiel sind die Stahlwerke Bremen. Wegen Verlusten empfahl die Firma Mc. Kinsey 1.700 Stellen von den 4.800 zu streichen und damit 130 Millionen Euro 132 einzusparen. Management und Mitarbeiter fanden eine bessere Lösung: Jeder reduzierte die Arbeitszeit um 1,3 Stunden pro Woche bei gleichzeitiger Gehaltsbzw. Lohnkürzung, es wurden Altersteilzeitverträge geschlossen, die Mitarbeiter machten 18.000! Verbesserungsvorschläge. es wurde niemand entlassen und das Einsparvolumen betrug 170 Millionen.138 Auf internationaler Ebene sind soziale Mindeststandards zusammen mit Mindestlöhnen, sowie Mindeststeuern zu vereinbaren. Einen globalen Marshallplan zur weltweiten Bekämpfung der Armut ins Leben rufen. Dies wird voraussichtlich 50 –100 Milliarden € pro Jahr erfordern. Alleine eine Steuer von 2% auf alle transatlantisch gehandelten Waren würde rund 50 Milliarden € erbringen. Positive Beispiele eines anderen Wirtschaftens finden kaum einen Niederschlag in den Medien. Nicht bewiesen werden kann, aber die Vermutung liegt nahe, dass die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ dies vielleicht steuert. Zusammen mit den wenigen kritischen Medien könnte und sollte Kirche hier einspringen. Wer erzählt denn bei uns, wie z.B. in Porto Allegre Bürgerbeteiligung umgesetzt wird? Wer spricht in Deutschland von der Initiative Städte für Menschenrechte (in Deutschland gehören nur sieben Städte dazu, in Nachbarländern teilweise deutlich über 100), wer weiß schon von der Initiative des Reeders Peter Krämer, der zusammen mit 20 anderen Wirtschaftsbossen bereit ist, freiwillig mehr 138 Publikforum Dossier: Es geht auch anders 133 Steuern zu zahlen? Wo war denn zu lesen, dass der Chef der Drogeriemarktkette DM, Werner, (drei Milliarden Umsatz, 23.000 Mitarbeiter) „Hartz IV für ein menschenunwürdiges Zwangssystem hält, das in die Persönlichkeitsrechte eingreift und unterstellt, dass man die Menschen zur Arbeit zwingen müsse. Das ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Das hat ein solch reiches Land nicht nötig“ Werner plädiert für ein Grundeinkommen von 1.500 € für alle.139 Als Beispiel sei auch die aktive Agenda 21 im Kreis Fürstenfeldbruck genannt. Dort gibt es eine groß angelegte Werbeaktion, damit die Bürger vornehmlich Produkte aus der Region kaufen. Daneben existiert ein Handlungskonzept, dass bis 2030 dort Energie nur noch aus regenerierbaren Quellen verbraucht wird. Damit werden die Landwirte wieder konkurrenzfähig. (Biomasse). Die Handwerksbetriebe haben bereits jetzt einen deutlichen Aufschwung erlebt. In den letzten drei Jahren wurden z.B. 800 Solaranlagen installiert. In Sri Lanka produziert eine einheimische Solarfirma pro Jahr 1000-mal soviel Anlagen wie vor ein paar Jahren. Dies geschieht mit Unterstützung der Firma Esso. Die Bauern können Solaranlagen auf Kredit auch mit Unterstützung der Weltbank kaufen. Bisher haben sich 7.500 Bauern daran beteiligt. 11. Ausblick Die Länder des Südens und des Ostens sind die Verlierer beim Globalisierungsprozess, aber auch hier gibt es eine kleine Oberschicht, die an der Globalisierung verdient. 139 Rheinische Post 20.4.2006 134 Alle anderen Menschen dort sind nicht nur die Verlierer, sondern hier wird deutlich, dass Globalisierung Menschen leiden lässt und gar verantwortlich ist für den Hunger und Tod von Millionen Menschen. Die Länder des Nordens, bzw. des Westens sind die klaren Gewinner der Globalisierung. Aber auch hier ist die ungleiche Verteilung des Gewinns Ursache für Reichtum für wenige und Not und Ausgrenzung für die weitaus meisten. Für die zunehmende Verarmung des weitaus größten Teils der Menschen weltweit ist vor allem die neoliberalistische Wirtschaftsordnung verantwortlich. Sie wird nicht nur von der entsprechenden volkswirtschaftlichen Schule, sondern vor allem von den Mächtigen und Reichen in der Gesellschaft umgesetzt. Uns wird vorgegaukelt, dass wir angesichts der Globalisierung keine Alternative hätten. Den Neoliberalen ist es gelungen, die meisten Medien in diesen Prozess mit einzubeziehen. Dazu werden Zahlen und Informationen unterschlagen, falsch interpretiert und manipuliert. Das führt dazu, dass die, die darunter leiden, in der weit überwiegenden Mehrheit die Neuverteilung des Kuchens akzeptieren, weil sie noch nicht betroffen sind, keine Möglichkeit eines anderen Wirtschaftens sehen oder sich einreden lassen, bei sich selbst die Fehler suchen zu müssen, obwohl sie die Opfer sind. Diese Wirtschaftsideologie steht im krassen Widerspruch zu dem, was christlicher Glaube uns für das Zusammenleben der Menschen aufgibt. Es kann nicht 135 darum gehen, die Auswirkungen dieser unmenschlichen Wirtschaftsordnung durch Almosen zu lindern, sondern es geht um Gerechtigkeit für alle Menschen dieser Erde. Christlicher Glaube besagt, dass jeder Mensch ein von Gott angenommener und geliebter ist. Die Güter dieser Erde sind für alle da, damit sie aus der Fülle leben. Dem hat sich auch die Wirtschaft unterzuordnen. Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Wenn darüber hinaus der Neoliberalismus für sich Alternativlosigkeit in Anspruch nimmt, und behauptet, dass durch die so genannte „unsichtbare Hand“ die Geschicke der Welt geleitet würden, so ist der Neoliberalismus zum Götzen geworden. Dies zusammengenommen, heißt, dass die Bekenntnisfrage gestellt ist. Unsere eigene Verstrickung in dem System des Neoliberalismus ist deutlich und nicht zu leugnen. Ein reines Gewissen werden wir uns nicht schaffen können, aber wir müssen beginnen, uns auf den Weg zu machen in eine Weltgesellschaft der Menschlichkeit und der Solidarität. Dazu gehört, dass wir die Skandale benennen, aber uns auch praktisch anderen Lebens- und Wirtschaftsformen zuwenden. Auch die Kirche. muss sich entscheiden, welchen Weg sie gehen will. Dass es Alternativen gibt, wurde oben in Ansätzen geschildert. Wir sind uns sicher, dass mit Kreativität diese durchaus ausbaufähig sind. Man muss es nur wollen. Der Neoliberalismus ist auf dem besten Wege, die Demokratie als menschliche Form des Zusammenlebens 136 zu beseitigen, indem unser Wirtschaftssystem demokratische Grundstrukturen auflöst. Am Ende wird der Neoliberalismus die Demokratie abgelöst haben. Ist es dann nicht an der Zeit, dass wir endlich gemeinsam – Kirchen und Zivilgesellschaft – klar machen, dass das nicht unser Weg ist? Es ist längst nach 12 Uhr. Die Alternative nichts zu tun, führt aus unserer Sicht in den totalitären Staat. Das Gespenst des Rechtsradikalismus kommt schon wieder als Wolf im Schafspelz daher und versucht politikfähig zu werden. Nutzen wir unsere Zeit, bevor es zu spät ist. Verabschieden wir uns von der Globalisierung in ihren negativen Folgen des Neoliberalismus und setzen wir uns als Kirche heute mit aller Kraft und Entschlossenheit ein für ein alternatives Wirtschaften für Morgen. 137 Jens Sannig Entscheiden und Bekennen – Die Frage ist gestellt. Die Kirche in Deutschland vor der Bekenntnisfrage als Herausforderung durch die wirtschaftliche Globalisierung ____________________ 1. Die wirtschaftliche Globalisierung fordert zum Bekenntnis heraus Die Welt ist ein Dorf. Ebenso wenig wie eine Vogelgrippe an staatlichen Grenzen halt macht und sich über die ganze Welt ausbreitet und eine Welt in Angst und Schrecken versetzt, ebenso breitet sich die wirtschaftliche Globalisierung über die Welt aus und macht vor staatlichen Grenzen nicht halt. Die Folgen, die wir jahrzehntelang nur von Ferne von Europa aus in den Elendsquartieren der Länder des Südens Abend für Abend am Fernsehen in den Nachrichten verfolgt haben, sie sind auch bei uns angekommen. Menschen verlieren ihre Existenz, Hartz IV, Überschuldung und so genannte „Ein-Euro-Jobs“ prägen ihre Zukunftsvorstellungen Die Erzieherinnen unseres Kindergartens berichten von Kindern, die hungern, weil sie eine warme Mahlzeit zu Hause nicht kennen. Das ZDF titelt in einer Ausgabe seiner Sendung Frontal vom 17. Oktober 2006 einen Beitrag mit der Überschrift: Die Verlierer der Globalisierung. Die jüngst vom SPD Vorsitzenden Kurt Beck losgetretene Unterschichten Debatte wirft ein weiteres, 138 negatives, Schlaglicht auf die Folgen der Globalisierung.140 Der Ausschuss für Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) und der Ausschuss für Ökumenische Diakonie haben gemeinsam, jeweils durch ihre Sicht auf das globale Dorf bestimmt, in einem intensiven Prozess der Beratung und Beteiligung der Gemeinden durch ein Arbeitspapier und eine Lesehilfe in Form eines Readers mit Grundsatztexten zur Globalisierung der Synode des Kirchenkreises Jülich im November 2005 ein Positionspapier vorgelegt. Mit großer Mehrheit ist dieser Aufruf zum Bund für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit verabschiedet und an die Landessynode der Ev. Kirche im Rheinland weitergeleitet worden. Kernforderung an die Evangelische Kirche im Rheinland ist es, sich auf Grund der weltweiten Erfahrungen mit der Globalisierung am „Processus confessionis“ zu beteiligen, um mit der weltweiten Ökumene zu einem 140 Es ehrt diejenigen SPD Mitglieder, die selbstkritisch fragen, ob die so genannten Sozialreformen von Hartz IV nicht Schuld an der Misere seien, die die Friedrich Ebert Stiftung in ihrer jüngsten Untersuchung darstellt. Aber mit dieser selbstkritischen Frage wird das Problem unzureichend beschrieben. Die Hartz IV Gesetzgebung ist einerseits sicher Ursache für die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, aber in erster Linie sind die Hartz IV Gesetze die falsche Antwort auf die Auswirkungen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, der es innewohnt, dass immer mehr Menschen vom Arbeitsmarkt abgekoppelt werden und auf Transferleistungen einer öffentliche Hand angewiesen sind, die in Folge einer falschen und seit 20 Jahren durch und durch wirkungslosen Steuersenkungspolitik verarmt ist. 139 Bekenntnis gegen die menschenverachtenden Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung zu gelangen. Die Frage des „Status confessionis“ ist gestellt. Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Berechtigung dieser Frage nachzuweisen. „Um die Vielzahl der Geschehnisse im globalen Dorf überblicken zu können, ist es hilfreich, den wichtigsten Faktoren nachzuspüren, sie darzustellen und zum Gegenstand der allgemeinen Diskussion zu machen. Dann kann unter Abwägung der Risiken und Chancen eine Öffentlichkeit organisiert, oder besser gesagt, ein Weltgewissen mobilisiert werden. Im globalen Dorf leben 6700 Menschen (einer steht für eine Million). Ein Viertel leidet an Unterernährung, ein anderes Viertel an Fettleibigkeit. Das Dorf ist in über 200 Bezirke eingeteilt (Länder). Davon sind einige flächenmäßig um das 10000fache größer als die kleinsten. Eine große Kluft besteht zwischen den zahlreichen Armen und den wenigen Reichen. Die Mehrzahl der Frauen und Kinder ist absolut chancenlos. Einerseits ist das Dorf in vielen Bezirken in den Händen der Gewaltverbrecher. Andererseits tun die begünstigten Reichen wenig zur Sanierung des Dorfes. Sie bauen überdimensionale Mauern, um sich vor dem Zutritt der Bewohner aus den Armenvierteln zu schützen. Sie trösten sich mit der Parole »Gemeinsinn ist Unsinn«. Wenn jeder Dorfbewohner und jeder Bezirk sich dem Egoismus hingibt und nur den eigenen Nutzen verfolgt, dann wird eine unsichtbare Hand, wie Phönix aus der Asche, auferstehen und alles zum Guten wandeln, so die Argumentation der Vordenker. Zuletzt ist in vielen Bezirken eine neue Patriotismus-Debatte entbrannt. Demnach glauben die meisten im Dorf immer noch, dass es möglich sei, 140 ungeachtet der Interessenslage anderer, nur den eigenen Karren aus dem Dreck ziehen zu müssen. Eine Lösung kann es aber nur für das gesamte Dorf geben. Denn die Welt ist ein Land. Ein von seinen engen Bezügen befreiter Patriotismus ist ein Dienst an der gesamten Menschheit. Jeder andere Ansatz greift zu kurz. Es sollte immer berücksichtigt werden, dass im Dorf nicht nur die Minoritäten sondern in eklatantester Weise die Mehrzahl der Bewohner benachteiligt sind.“ 141 Wer oder was mobilisiert ein Weltgewissen? Wer oder welche Institution fühlt sich herausgefordert, dem Weltgewissen ins Gewissen zu reden? Wem oder welcher Institution gelingt es, an allen Orten dieser Welt eine eindeutige Stimme zu erheben gegen den globalen Wahnsinn, der es schafft, diese Welt an den Rand eines dritten Weltkrieg mit verheerenden Folgen an Verarmung und Massenverelendung größter Teile dieser Erde, auch Europas142, zu führen? Aus meiner Sicht können nur die Kirchen dem weltumspannenden Netz an Umverteilung von unten nach oben ein weltumspannendes Netz an Widerstand entgegensetzen. Leider tun sich gerade die Kirchen Europas schwer, zu einer eindeutigen und klaren Haltung zur Globalisierung als theologische Herausforderung zu kommen: „Die universale Berufung der Kirche zu einer weltweiten Gemeinschaft unter Schwestern und Brüdern bedeutet, dass wir uns nicht damit zufrieden geben dürfen, Lösungen zu finden, die nur für einen Teil Europas gelten. Kirchen haben 141 142 Huschmand Sabet, Globale Maßlosigkeit. S. 20f Günter Hannich, Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise 141 eine Verpflichtung, die Auswirkungen der Globalisierung auch für andere Regionen ernst zu nehmen. Auch wenn es Elemente gibt, die dazu führen könnten, die wirtschaftliche Globalisierung abzulehnen, so zeigt die europäische Erfahrung aber doch, dass weder die völlige Ablehnung noch eine unkritische Billigung ganz angemessen sind. Auf Grund dieser Perspektiven ist die Globalisierung ein zweischneidiges Schwert.“143 So üben die Europäischen Kirchen in ihrer Europäischen Konferenz berechtigte Kritik an den Folgen und Auswirkungen der Globalisierung. Schon aber betonen sie, fast erschrocken über die eigene Courage, besonders auch die Chancen der Globalisierung, die es zu unterstützen gilt. „Globalisierung kann ein positives Gesicht bekommen: wenn versucht wird, die Welt in gegenseitiger Interdependenz, als eine Menschheit und ein Ökosystem zu verstehen, und sie für ein würdevolles Leben aller fruchtbar zu machen, indem die Armut verringert, Frieden geschaffen, und mehr Nachhaltigkeit erzeugt wird, damit alle einen fairen Anteil erhalten; Wenn die Öffnung der Märkte, die Privatisierung der staatlichen Monopole und die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie dem Ziel der Minderung von Armut und Unterdrückung dienen. Globalisierung hat ein negatives Gesicht wenn versucht wird, die Vielfalt der Welt auf ein standardisiertes wirtschaftliches, kulturelles und politisches Modell zu reduzieren, das von einigen wenigen Machern geschaffen wird und dazu führt, dass Armut und Konflikte zunehmen, die Umwelt noch 143 Europäische Kirchen leben ihren Glauben im Kontext der Globalisierung, epd Dokumentation Nr. 9/Februar 2006, S. 17. 142 stärker geschädigt und die Wirtschaft in jedem Lebensbereich zum alles bestimmenden Faktor wird; wenn die Liberalisierung des Marktes, die Privatisierung öffentlicher Güter und der Missbrauch von Wissenschaft, Technologie und politischer Macht zur Schaffung ungerechter Strukturen beiträgt; wenn es zwischen Partnern, die ungleich sind oder keine gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, zu einem wirtschaftlichen Wettbewerb kommt, bei dem die Armen nicht ausreichend geschützt werden und dadurch Leiden, Spannungen und Streit entstehen. Wir wollen die positiven Aspekte der Globalisierung unterstützen.“144 Aber selbst Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft und als ehemaliger Chefökonom der Weltbank und Vorsitzender des Sachverständigenrates von US Präsident Bill Clinton ein ausgewiesener Kenner der Weltwirtschaftszusammenhänge, räumt in seinem Buch: „Die Schatten der Globalisierung“ ein, dass die Nachteile der Globalisierung die positiven Errungenschaften bei weitem überwiegen145. Vielen Menschen in der Dritten Welt hat die Globalisierung nicht die erhofften ökonomischen Früchte gebracht. Die sich stetig weitende Kluft zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen hat eine wachsende Zahl von Menschen in der Dritten Welt, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, in bittere Armut gestürzt. Trotz wiederholter Versprechen in den neunziger Jahren, die weltweite Armut zu verringern, hat die Zahl der Menschen, die in Armut leben, tatsächlich um fast 100 Millionen zugenommen. Im gleichen 144 145 Ebd. S. 17 Joseph Stieglitz, Die Schatten der Globalisierung. S. 18-36. 143 Zeitraum ist das gesamte Welteinkommen im Schnitt um 2,5 Prozent jährlich gestiegen. In Afrika blieben die hohen Erwartungen im Anschluss an die Entkolonialisierung weitgehend unerfüllt. Stattdessen versinkt der Kontinent ständig tiefer im Elend; Einkommen und der Lebensstandard sind rückläufig. Die Globalisierung hat weder die Armut verringert noch Stabilität gewährleistet. Krisen in Asien und in Lateinamerika haben die ökonomische Stabilität anderer Entwicklungsländer bedroht. Es gibt Ängste, dass sich Finanzkrisen epidemieartig um die Welt ausbreiten könnten, dass der massive Verfall der Währung eines aufstrebenden Schwellenlands andere Währungen mit sich reißen könnte. Eine Zeit lang, im Jahr 1997 und 1998, sah es so aus, als würde die Asienkrise eine Bedrohung für die gesamte Weltwirtschaft darstellen. Die Globalisierung und die Einführung der Marktwirtschaft haben in Russland und in den meisten anderen Transformationsländern nicht die versprochenen Erfolge erzielt. Der Westen prophezeite diesen Ländern, das neue Wirtschaftssystem werde ihnen einen ungeahnten Wohlstand bescheren. Stattdessen bescherte es ihnen eine nie da gewesene Armut: Die meisten Menschen wurden durch die Marktwirtschaft in vielerlei Hinsicht sogar noch schlechter gestellt, als es ihre kommunistischen Führer vorhergesagt hatten. Betrachtet man die» Terms of Trade« das Verhältnis der Preise, die die Industrie- und Entwicklungsländer für die von ihnen erzeugten Produkte erhalten - nach dem letzten (achten) Handelsabkommen von 1995, so zeigt sich, dass einige der ärmsten Länder für ihre Exportgüter im Verhältnis zu dem, was sie für ihre Importe bezahlten, 144 unter dem Strich niedrigere Preise erzielten. In diesem Fall hat die Globalisierung einige der ärmsten Länder in der Welt noch ärmer gemacht. „Während die Früchte der Globalisierung vielfach kümmerlicher ausfielen, als von ihren Anhängern verkündet, war der Preis oftmals höher, da die Umwelt zerstört, politische Prozesse korrumpiert wurden und der rasche Wandel den Ländern keine Zeit zur kulturellen Anpassung gab. Im Gefolge der Krisen, die mit massiver Arbeitslosigkeit einhergingen, traten längerfristige Probleme der sozialen Desintegration auf - von massiver städtischer Gewaltkriminalität in Lateinamerika bis hin zu ethnischen Konflikten in anderen Regionen der Welt, wie etwa in Indonesien.“146 Als ich meinem Sohn, 16 Jahre, erzählte, dass das Vermögen der im Jahr 2004 gezählten 587 Milliardäre in einem Jahr von 1500 Milliarden Dollar auf 1900 Milliarden Dollar angewachsen sei147 und zu errechnen ist, dass ihr Vermögen bereits in 10 Jahren mit 32,2 Billionen Dollar die weltweite nominelle Bruttowertschöpfung aus dem Jahr 2004 übertreffen wird148, erwiderte er spontan: „Das ist ja Wahnsinn, dann arbeiten wir ja alle nur für die“. Damit hatte er mit seinem ersten Jahr Wirtschaftswissenschaft als Unterrichtsfach an der Schule und seinem sicher noch nicht als Sachverstand zu bezeichnenden Wissen dennoch den Nagel auf den Kopf getroffen. 146 Ebd. S. 22f. Huschmand Sabet, ebd. S. 34 148 Ebd. S. 45 147 145 Die weltweit wachsende Armut ist eine Folge der weltweiten Geldströme hin zu wenigen, die das Kapital der Welt aufsaugen wie ein Schwamm149. 2. Die Kirche vor der Herausforderung durch die wirtschaftliche Globalisierung Und doch: Bei allem Wissen um die Folgen des weltweit um sich greifenden Neoliberalismus klingen die Verlautbarungen auf evangelischer Seite in Deutschland ähnlich unausgewogen und unentschlossen wie die eben zitierten Äußerungen der Europäischen Kirchen. Hatten die beiden Kirchen in ihrem gemeinsamen Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ 1997 einer Marktwirtschaft pur, also dem Neoliberalismus, auch wenn das expressis verbis im gemeinsamen Wort noch nicht so benannt ist, eine klare Absage erteilt150, klingen jüngste Verlautbarungen schon nicht mehr so eindeutig. Im Gegenteil. In seiner Neujahrsansprache 2004 sagte der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber:“ Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen; wir sollen zugunsten späterer Generationen kürzer treten; wir haben soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten wollen: Wir müssen schärfere soziale Gegensätze in 149 Das Einkommen des reichsten Prozents der Weltbevölkerung war so hoch wie das Einkommen der ärmsten 57%. Die Vermögenswerte der drei reichsten Menschen dieser Erde sind höher als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Entwicklungsländer mit ihren 568 Millionen Einwohnern zusammengenommen. Vgl. United Nation Development Programme (UNDP) 2002, s.23. 150 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit Nr.146, S. 60. 146 unserem Land aushalten. Kurzum: Es wird rauer zugehen, trotz aller Bemühung um Fairness und Solidarität151.“ Immer wieder ist öffentlichen Verlautbarungen eine inhaltliche Nähe zu den aktuellen Reformen der Politik auf Druck der Wirtschaft zu entnehmen, die auf einen gewissen Grad des Verständnisses schließen lassen. Hartz IV und die Agenda 2010 werden in ihren Grundabsichten als notwendig erachtet152. Die Spitzen der Reformstiche gegen die Schwächsten der Gesellschaft werden mit dem Hinweis auf das christliche Verständnis von Gerechtigkeit, das es einzuhalten gilt, geglättet153. Alle Kritik aber bewegt sich innerhalb des Systems. Keine Kritik am System als solchem ist zu vernehmen. 151 Epd Wochenspiegel 2/2004. Wie anders ist das Spiegelinterview des Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Huber, vom 16. August 2004 zu verstehen, wenn er auf die Frage, ob er es in Ordnung fände, wenn Menschen ohne Arbeit künftig weniger Geld bekämen, antwortet: „Ich weiß, dass Menschen, die aus einem relativ hohen Verdienst kommen, solche Einschnitte als sehr schmerzlich empfinden. Aber ich sage: Ein gewisser Abstieg wird unvermeidlich sein, wenn man eine solche steuerfinanzierte Leistung überhaupt haben will“. Und auf die Nachfrage, ob ein Arbeitslosengeld II mit einer Regelleistung von 345 Euro (West) oder 331 Euro (Ost) plus Wohn- und Heizgeld demnach genug sei, antwortet Bischof Huber: „Auch wenn es für Menschen, die aus einem vorher besseren Lebensstandard kommen, nur schwer akzeptabel ist: Als Grundsicherung wird das zurzeit ausreichen müssen.“ (//www.ekd.de/aktuell/rv_spiegel_interview_hartz4.html) 153 So etwa Bischof Huber in seinen Reden: "Reformen - notwendig, aber gerecht!" - Rede in Gladbeck 03. Dezember 2004. Um der Menschen willen - Welche Reformen brauchen wir? - Rede am 30. September in der Berliner Friedrichstadtkirche am 30. September 2004. 152 147 Schon gar nicht wird die Frage thematisiert, wo wir theologisch herausgefordert sind, weil wir als Kirche durch das System insgesamt in Frage gestellt sind. Haben die Kirchen des Südens aber nicht recht, wenn sie uns herausfordern, dem weltumspannenden Herrschaftsanspruch des Neoliberalismus, der mittlerweile eben auch in den Reformen um Hartz IV und Agenda 2010 seine Opfer nicht nur in der so genannten zweidrittel Welt, sondern auch bei uns fordert, den Herrschaftsanspruch Jesu Christi entgegenzuhalten?. Sollte es doch den Anschein haben, „als gäbe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heilung durch ihn bedürften“? (Barmen 2) 3. Die Frage nach der theologischen Dimension der wirtschaftlichen Globalisierung Wenn wir uns aber auch als europäische Kirchen, als deutsche evangelische Kirche gerne dieser Herausforderung, ein klares Bekenntnis für den Herrschaftsanspruch Christi abzulegen, entziehen wollen, sind wir durch die ökumenischen Kirchen längst mitten in diese Herausforderung hineingestellt. Welche Dynamik sich in der weltweiten Ökumene derzeit entfaltet, kann sehr gut an Hand der Verlautbarungen der ökumenischen Konsultation der westeuropäischen Kirchen im niederländischen Soesterberg 2002 und der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra im August 2004 aufgezeigt werden. In beiden Treffen ging es um die Frage, wie die Kirchen auf die Herausforderungen der 148 Globalisierung reagieren sollen. Diese Konferenzen markieren eine entscheidende Entwicklungsetappe in der ökumenischen Auseinandersetzung mit der Globalisierungsproblematik. So hat die Ökumene-Beauftragte der schwedischen Kirche im Hauptvortrag der Soesterberg-Konsultation die Priorität der theologischen Dimension betont. Unter Bezugnahme auf die afrikanische Situation hat sie die Feststellung des Reformierten Weltbundes von 1995 unterstrichen, dass die vom weltwirtschaftlichen System hervorgerufene Verarmung über ein ethisches Problem hinausgeht. „Es ist unsere schmerzhafte Schlussfolgerung, dass die afrikanische Realität der Armut, die durch eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung verursacht wird, nicht einfach ein ethisches Problem ist, vielmehr ist sie ein theologisches Problem. Sie begründet nun einen Status confessionis. Mit den Mechanismen der globalen Wirtschaft steht heute das Evangelium selbst, die Gute Nachricht für die Armen, auf dem Spiel“154. „Auf dem Spiel steht die Integrität unseres Glaubens, wenn wir uns der Einsicht verweigern, dass das neoliberale Weltordnungsmodell als theologisches Problem verstanden und bearbeitet werden muss. Die Kirchen müssen sich der Bekenntnisfrage stellen - das ist die eindeutige Botschaft von Soesterberg und Accra“155. Wir können uns der Bekenntnisfrage gar nicht entziehen, denn sie ist gestellt. 154 Anna Karin Hammar: Unterwegs zu einer Theologie des Lebens. In: Wirtschaft im Dienst des Lebens. epd Dokumentation Nr. 43a/14.10.2002, S.17. 155 Volker Hergenhan: Braucht die Evangelische Kirche noch einen sozialethischen Standpunkt? In: Das Soziale Neu Denken? Hrsg. Von Klaus Eberl und Jens Sannig S. 112. 149 Aber mehr noch. Die Frage ist zu beantworten: Ist die heutige Weltwirtschaftsordnung mit ihren verheerenden Folgen für Abermillionen Menschen auf dieser Welt nicht Grund genug, die Bekenntnisfrage, den „Status confessionis“ auszurufen? In Accra ist in einem Kompromisspapier, durch das die Spaltung des Reformierten Weltbundes in Nord und Süd/Ost verhindert werden konnte, noch nicht der Bekenntniszustand ausgerufen worden, aber im Schlussdokument „Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit“ heißt es eindringlich: „Jene anderen Kirchen, die noch im Prozess der Wahrnehmung sind, drängen wir auf der Grundlage gegenseitiger Bundesschlüsse und Verantwortlichkeiten, ihr Wissen zu vertiefen und sich auf ein Bekenntnis hinzubewegen“156. Wollen wir uns als europäische Kirchen, als evangelische Christen in Deutschland, als Synode der rheinischen Kirche diesem „Processus confessionis“ entziehen mit dem lapidaren Hinweis, ein Bekenntnis breche das Gespräch genau mit denen ab, die wir kritisierten und an die wir appellierten, ihr Tun zu überdenken und zu ändern? Dies war genau noch die Antwort, die man 1987 in einem rheinischen theologischen Examen in Wirtschaftsethik auf dem Hintergrund des gerade erschienen Buches von Ulrich Duchrow „Weltwirtschaft heute – ein Feld für bekennende Kirche? besser gab, um seine gute Note nicht zu gefährden. Es ist zu befürchten, dass wir es uns heute nicht mehr so einfach machen können. 156 Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit. epd Dokumentation 37/2004 S. 34. 150 4. Für ein Ja zum „Status confessionis“ „Ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der tragenden, gesellschaftlichen Säulen des Abendlandes zeigt, dass sich das grundlegende Gleichgewicht in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Religion/Ethik in eine Rivalität mit folgenreichen Niederlagen und Pyrrhussiegen verwandelt hat. Die Religion hat dabei den Kampf mit der Wissenschaft verloren. Infolgedessen ist erste im Wesentlichen zu einer Privatangelegenheit des Einzelnen geworden. Die Religion hat auch den Kampf mit der Politik verloren. Als Resultat erleben wir eine fortschreitende Erosion der gesellschaftlichen Ethik. Die Wissenschaft wollte und konnte keine Wertesysteme für die Menschheit schaffen, zog sich auf ihre Wertefreiheit zurück und wurde unversehens zur Dienerin der Macht, vor allem der militärischen. Über die Hälfte der weltweiten TopWissenschaftler hat in den letzten Jahrzehnten dem Militärund Rüstungswesen gedient. Auch die unüberschaubare Entwicklung im Bereich der Gentechnik demonstriert heute in vielen Bereichen die Ohnmacht der Wissenschaft gegenüber der Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft. Die Politik selbst blieb im Wesentlichen im Rahmen des nationalstaatlichen, egoistischen Verhaltensmusters stecken und verlor weitestgehend ihre Souveränität an eine sich mehr und mehr global einrichtende Wirtschaft. Die transnationalen Konzerne können heute nach Belieben die nationale Souveränität der Staaten unterwandern. Alles deutet darauf hin, dass die Wirtschaft im Kampf gegen Religion, Wissenschaft und Politik den Gesamtsieg davonträgt. Und dennoch sind gerade die durch die Wirtschaft verursachten Menschheitsprobleme so immens und .zugleich so 151 erschütternd, dass sie mitunter unsere Vorstellungskraft übersteigen.“157 Ist nicht der Hilfeschrei der ökumenischen Kirchen an die Europäischen Kirchen durchaus vergleichbar mit dem Hilfeschrei Dietrich Bonhoeffers 1935 an die ökumenischen Kirchen angesichts der Herausforderung, dem Nationalsozialismus in Deutschland mit einem klaren und eindeutigen Bekenntnis entgegenzutreten? Können wir eigentlich ohne ein solches klares Bekenntnis Kirche sein? Für seine Zeit beantwort Bonhoeffer die Frage grundsätzlich und eindeutig in seinem Aufsatz „die Bekennende Kirche und die Ökumene“ und seine Antwort lautet eindeutig und unmissverständlich: Nein! „Kirche gibt es nur als bekennende Kirche, d.h. als Kirche, die sich zu ihrem Herrn und gegen seine Feinde bekennt“. 158 Wenn es aber Kirche nur als bekennende Kirche geben kann, so gehört zu ihrer Einheit die Einheit im Bekenntnis159. Diese Einheit im Bekenntnis aber wird verspielt, wenn wir uns als evangelische Synode im Rheinland, die ihre Pfarrer auf das Bekenntnis der Bekenntnissynode von Barmen 1934 ordiniert, in diesen Tagen genau dieser Bekenntnisfrage entziehen wollen. Damit entziehen wir uns und den Kirchen der Ökumene die Möglichkeit, weltumspannend der weltweiten Herausforderung durch den Neoliberalismus und seinen 157 Huschmand Sabet, ebd. S. 23f. Dietrich Bonhoeffer, Bekennende Kirche und Ökumene. GS I, S. 250 159 Ebd. S.249 und 250: „Zur wahren Einheit der Kirche aber gehört die Wahrheit im Bekenntnis“. 158 152 Folgen, die mindestens genauso schwer wiegen, wie die Bedrohung und die Vernichtung von Leben durch den Nationalsozialismus zur Zeit Bonhoeffers, entgegenzutreten. „Es wäre klug, wenn die christlichen Kirchen des Abendlandes diese Erfahrung der Bekennenden Kirche nicht übersehen wollten, dass eine Kirche ohne Bekenntnis eine wehrlose und verlorene Kirche ist, und dass eine Kirche im Bekenntnis die einzige Waffe hat, die nicht zerbricht.“ 160 Der Ausgangspunkt für die Einheit des Bekenntnisses ist die gegenwärtige Herausforderung Gottes an die Kirche, also die konkrete Wahrheitsfrage heute.161 Konnte damals aus Bonhoeffers Sicht die Ökumene der von der bekennenden Kirche gestellten Wahrheitsfrage nicht ausweichen, können wir uns heute in der Nachfolge der Bekennenden Kirche der Frage der ökumenischen Kirchen nach der Wahrheit und der Einheit und dem daraus abgeleiteten Bekenntnis der Kirche nicht verweigern. „Es gibt keine Möglichkeit eines taktisch gemeinsamen Handelns jenseits der Bekenntnisfrage.“162 Tun wir uns nur so schwer mit der Erkenntnis, weil wir als „Nachfolger der wahren Kirche“ es nicht gewohnt sind, dass wir auf einmal von der Ökumene gefragt werden, ob wir wahre Kirche seien? Kirche als bewusster 160 Ebd. S.252 Ulrich Duchrow: Bekennende Kirche und Ökumene als Thema der Zukunft. In: Konsequenzen – Dietrich Bonhoeffers Kirchenverständnis heute. S. 34. 162 Dietrich Bonhoeffer, ebd. S. 244. 161 153 Teil der einen Christenheit an ihrem besonderen Ort aber nicht losgelöst und nicht denkbar ohne Teil des ganzen Leib Christi (1. Kor. 12,12ff) zu sein? Seit Jahren haben wir die Frage geflissentlich überhört. Dabei sind die Phänomene wahrlich nicht neu. Jahrzehntelang verhallten die Schreie der Armen in Afrika und in den Entwicklungsländern anderer Weltregionen vom Westen ungehört. Aber jetzt gilt es. Es gibt kein Herausstehlen mehr. Wir sind gefragt, ob wir von den aktuellen Herausforderungen her zu einem gemeinsamen Bekennen in der Nachfolge Jesu Christi kommen. Der dringende Appell, an die Kirchen, bekennende Kirche zu werden oder im Sinne Bonhoeffers die Erinnerung daran, dass wir Kirche nur als bekennende Kirche sein können, geht jetzt eben nicht mehr von Deutschland aus, sondern vor allem von Kirchen der so genannten „Dritten Welt“, weil es jetzt zur Zeit bei ihnen um die Frage nach Leben und Tod geht. „Lebendiges Bekenntnis heißt nicht dogmatische These gegen These stellen, sondern es heißt Bekenntnis, bei dem es ganz wirklich um Tod und Leben geht.“ 163 Sich aber dem Appell zu verweigern, bedeutet unser eigenes Kirchesein zu gefährden, weil wir uns auf einmal selbst die Frage Bonhoeffers gefallen lassen müssten, ob wir wahre oder falsche Kirche seien.164 163 Dietrich Bonhoeffer, Bekennende Kirche und Ökumene. GS I, S. 254 164 Der Frage nach der wahren oder falschen Kirche geht Bonhoeffer nach in seinem Aufsatz: Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft, Evang. Theologie 3, 1936, S. 214-233. Abgedruckt auch in: Die mündige Welt. Dem Andenken Dietrich Bonhoeffers, S. 123-144. 154 Die Frage kann also nicht einfach nur lauten, ob wir uns dem Processus confessionis anschließen, sondern sie wird auch nach einer Antwort suchen müssen, wie am Ende das Bekenntnis in weltweiter Übereinstimmung zu lauten hat. Das Bekenntnis schließt für Bonhoeffer das ganze Leben ein, nämlich die ökonomischen, sozialen und politischen Fragen des Lebens. Nun mag man sich dem Bekenntnis entziehen wollen, indem man fragt, ob die Situation heute überhaupt vergleichbar ist mit der Situation des Nationalsozialismus in Deutschland. Bonhoeffer selbst erklärt in seinem offenen Brief an die Ökumene: „Der Antichrist sitzt für die bekennende Kirche nicht in Rom oder gar in Genf, sondern er sitzt in der Reichskirchenregierung in Berlin. Gegen ihn wird bekannt, und zwar darum, weil von hier aus… die christliche Kirche auf den Tod bedroht ist, weil hier der Vernichtungswille am Werk ist.“165 Kann man also ein so komplexes System wie die Weltwirtschaft genauso eindeutig beurteilen wie den Nationalsozialismus und ist die Bedrohung für die Kirche ebenso klar zu benennen, wie es Bonhoeffer 1935 vermag? 165 Dietrich Bonhoeffer, Bekennende Kirche und Ökumene GS I, S. 254. 155 5. Gottesdienst oder Götzendienst 5.1. Verweigerte Partizipation für Alle an den reichen Gütern dieser Erde Begründet wird die mögliche Ausrufung des Status confessionis in Soesterberg mit zwei Argumenten: erstens dem systematischen Ausschluss von Menschen von den Vorteilen und dem Profit von Globalisierungsprozessen und ihrer Ausbeutung zugunsten der Globalisierungsgewinner und zweitens dem Götzendienst. „Systemischer Ausschluss, der von den wirtschaftlichen und politischen Akteuren nicht überwunden wird, wird eine theologische Frage und ein Status confessionis für die Kirchen. Das bedeutet, dass es nicht etwa ökonomische oder politische Prinzipien sind, die die Kirche schützt, vielmehr ist es der Glaube selbst an Gott als Schöpfer aller und die Quelle der menschlichen Würde und der Menschenrechte, um den es hier geht und der in einer systemischen Weise verleugnet wird. Es ist die Integrität der Kirche, die hier auf dem Spiel steht. …Was aber theologisch auf dem Spiel steht, ist eine Situation, wo Menschen missachtet, unterdrückt und ins Leiden gestoßen werden, weil sie von der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse systemisch ausgeschlossen sind, und eine politische Situation, wo die Kirche einschreiten muss, wenn die globalen und nationalen Institutionen, die eigentlich diese Verantwortung hätten, diese nicht wahrnehmen. Die Liebe Gottes für alle Menschen und für die gesamte Gemeinschaft des Lebens steht auf dem Spiel. Die Botschaft der Befreiung der Armen und Unterdrückten, wie sie in Jesus Christus Gestalt gewonnen hat, steht auf dem Spiel. Der Glaube, dass der Heilige Geist Gemeinschaften und Personen wiederbelebt und heilt, steht auf dem Spiel. …Wenn die Kirche nicht einschreitet, nicht die Missachtung der Fürsorgepflicht des Staates anklagt und nicht den eingeborenen Wert aller Menschen hochhält, verfehlt sie ihre Berufung, Kirche Gottes, 156 Leib Christi und eine Gemeinschaft zu sein.“166 vom Heiligen Geist geformte Die oben in Kapitel 1 zugegebenermaßen nur schlaglichtartig aufgeführten Folgen des Neoliberalismus und seiner einseitigen Nutzung der wirtschaftlichen Globalisierung belegen aber deutlich, dass in den letzten dreißig Jahren zunehmend mehr Menschen, gegen alle anders lautenden Versprechungen, von den gewinnbringenden Prozessen ausgeschlossen werden. Immer mehr Menschen, und nicht weniger, verarmen. Die Zahl der Menschen, die von einem Dollar und weniger am Tag existieren müssen, wächst in die Milliarden.167 Die alte Pferdeäpfeltheorie von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, nach der die besten Pferde nur genügend gefüttert werden müssen, damit für die Spatzen genug abfällt, hat sich hinlänglich als falsch erwiesen.168 Wir leben in einer Welt, die durch Ungleichheit entstellt ist. Es stimmt etwas nicht, wenn die reichsten 20% der Weltbevölkerung über mehr als 80% des weltweiten Einkommens verfügen, wenn 10%der Bevölkerung eines Landes über die Hälfte des Landeseinkommens verfügen, wenn das Durchschnittseinkommen der reichsten 20 Länder 37-mal höher liegt als das Durchschnittseinkommen der ärmsten 20 Länder, wenn 166 Anna Karin Hammar ebd. S. 19 Ein sehr umfangreiches Zahlenmaterial zur Belegung der weltweiten Ausschluss- und Verarmungsprozesse findet sich in den Materialien von: Reichtum und Armut als Herausforderung für Kirchliches Handeln. Hrsg. Von Werkstatt Ökonomie im Auftrag der ev. Kirche in Hessen und Nassau. Oktober 2002 168 Eine gute Zusammenfassung der Chronik des Neoliberalismus und seiner Misserfolge findet sich in der Zeitschrift Metall, Nr.7, Juli 2005: Neoliberalismus – die falsche Politik. 167 157 1,2 Milliarden Menschen immer noch von weniger als einem Dollar pro Tag und 2,8 Milliarden immer noch von weniger als zwei Dollar pro Tag leben. Die Kräfte der wirtschaftlichen Globalisierung bringen manchen ungeheure Gewinne, während sie anderen wie ein alles verschlingendes Untier erscheinen. Heute liegt die trennende Kluft nicht mehr zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwischen denjenigen, die vom System profitieren, und denjenigen, die bei der vom kapitalistischen Verständnis geprägten wirtschaftlichen Globalisierung auf der Strecke bleiben. Zwei Drittel der Menschheit leben heute unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Globalisierung, sind aber von den Vorteilen dieses Systems weitgehend ausgeschlossen. 85% leben in Ländern mit neu entstehenden Märkten, die zusammengenommen nur sieben Prozent des Weltmarktkapitals ausmachen. Die Befürworter der wirtschaftlichen Globalisierung behaupten, dieses System verheiße ein besseres Leben für alle. Für immer weniger hat sich diese Verheißung erfüllt, für immer mehr bedeutet dies, das all ihre Existenz darauf zielt, wenigen immer mehr zukommen zulassen. So haben die 200 reichsten Personen ihren Nettowert zwischen 1994 und 1998, weitgehend auf Grund der wirtschaftlichen Globalisierung, mehr als verdoppelt, während in der Hälfte aller Länder weltweit das ProKopf-Einkommen in den letzten zwei Jahrzehnten gesunken ist.169 169 Zu dieser Einschätzung kommt auch der Lutherische Weltbund in seinem Arbeitspapier von 2001: Engagement einer Gemeinschaft von Kirchen angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung. 158 Dass solche Ausschlusstendenzen dem biblischen Grundsatz des „Genug für alle“ widersprechen, liegt klar auf der Hand. Aus vielen biblischen Texten lässt sich die Haltung zur Wirtschaft damaliger Zeit ablesen. Biblische Texte sind immer in ihrem wirtschaftlichen Kontext und ihren sozioökonomischen, gesamtgesellschaftlichen Beziehungen zu lesen. Die Erfahrung der gravierenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, in Armut und Reichtum prägt die Sozialgesetzgebung der Thora ebenso wie die deutliche Kritik der Propheten seit dem 8. Jh. v. Chr. an den Auswirkungen einer ungezügelten Wirtschafts- und Sozialpolitik zu Lasten der Armen und Schwachen und zu Gunsten der Reichen und Mächtigen. Die gesamte Thora übersetzt die Option Gottes für sein unterdrücktes Volk in Sozialgesetze. Die Propheten werfen den Reichen soziale Unterdrückung und Entrechtung der Armen vor. Zügellose Maßlosigkeit, verschwenderischer Größenwahn, rücksichtslose Ausbeutung von Natur und Mensch und die raffgierige Anhäufung von Besitz sind immer wiederkehrende Gegenstände der Kritik, nicht nur im Buch des Propheten Amos. Dabei wird das Grundproblem von Arm und Reich in den Rahmen der Entscheidungsfrage gestellt, die im Neuen Testament prägnant als Entscheidung Gott oder Mammon formuliert wird. Damit sind zwei Wirtschaften aufgezeigt: Die Ökonomie des „Genug für alle“ und die Ökonomie der Reichtumsakkumulation für wenige reiche Eigentümer.170 Die Deutung biblischer Texte ist immer 170 Vgl. ausführlich: Ulrich Duchrow, Reinhold Bianchi, René Krüger und Vincenzo Petracca, Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu 159 auch durch die Annahme der Perspektive der Armen, Schwachen, Benachteiligten und Ausgegrenzten geprägt. Die Option für die Opfer ist grundlegend für die biblische Hermeneutik, da sie sich aus der biblischen Botschaft selbst ableitet. Diese Perspektive lässt sich bereits in Exodus feststellen, wo sich Gott als ein Gott vorstellt, der das Elend und die Unterdrückung des Volkes Israel in Ägypten gesehen und seine Hilfeschreie gehört hat, und der auch ausdrücklich die Befreiung aus der Sklaverei als Begründung für den Dekalog nennt (Ex 20,1; Dtn. 5,6). Das Neue Testament knüpft an die Tradition der Hebräischen Bibel, die vorrangige Option für die Armen, an: Gott steht auf der Seite der Armen, der Opfer und der sozial Schwachen. Die Akkumulation für einige wenige Reiche nennt die Bibel Mammon. Der rote Faden durch die Geschichte Israels heißt Gerechtigkeit. Das wird deutlich in den Sozialgesetzgebungen des alten Testamentes (Leviticus 25) bis hin zum Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20). Das unterstreicht die Sozialkritik der Propheten171 ebenso wie die Auslegung des Gleichnisses vom Verwalter des Unrechts (Lukas 16,1-13).172 Die Evangelien zeigen klar auf, dass Jesus die fesselnde Macht des Reichtums als Hindernis für den Eintritt in das Reich Gottes entlarvt. Geld und Güter haben eine soziale ihrer Überwindung, Hamburg – Oberursel, VSA-Verlag und PublikForum, 2006. 171 Dargelegt etwa in Willy Schottroff, Wolfgang Stegemann (Hrsg.) Der Gott der kleinen Leute 172 Etwa von Dieter Pauly: Gott oder Mammon: Die Wiederherstellung der Ökonomie. In: Einwürfe 6, S. 125-156 160 Funktion und dienen dazu, das Leben zu ermöglichen und zu fördern. Durch alle biblischen Zeiten zieht sich der Grundsatz, dass Gottes Gaben darauf abzielen, dass alle genug zum Leben haben (Exodus 16) und niemand von den Produktionsprozessen ausgeschlossen ist (Witwen- und Waisenrechte). Daraus schlussfolgert Ulrich Duchrow zu Recht: „Wohlstand ist nur Segen und dient dem Leben, wenn alle daran teilhaben. Wenn ein System dazu in diametralen Gegensatz tritt, können sich jüdische Menschen wie in Daniel 3 nur verweigern. Das gleiche gilt für Christinnen und Christen, wie Offenbarung 13 zeigt.“ 173 Der Ausschluss von immer mehr Menschen von den Produktivitätsgewinnen dieser Erde widerspricht also klar unseren kirchlichen Grundsätzen gemäß unseren biblischen Grundlagen. Die Bedrohung für die Kirchen ist eindeutig, wenn sich wirtschaftliche und politische Systeme von der theologisch begründeten Grundkonzeption verabschieden, dass Wirtschaften nach den Weisungen der heiligen Schrift dem Leben aller dienen. Die gemeinschaftliche Anteilnahme am Heil in Jesus Christus muss auch zu gemeindlichen Strukturen führen, die die Partizipation aller an den materiellen Gütern der Gläubigen zu ermöglichen vermag, damit keiner in der Gemeinde Mangel zu leiden braucht (Apg. 4,32).174 173 Ulrich Duchrow, Kirchlich theologische Ansätze für verbindliche Positionen zur neoliberalen Globalisierung. www.kairoseuropa.de/fix/Beitrag_Duchrow.pdf, S. 3. 174 Wolfgang Schrage, Ethik des neuen Testaments, S.154 161 Es würde hier entschieden zu weit führen, die Grundbedingungen Arthur Richs für eine partizipative Kooperation in der Weltwirtschaft aufzuführen, 175 aber es lohnt auch heute noch seiner Definition der Partizipation als Kriterium des Menschengerechten nachzugehen. Unter dem Gesichtspunkt der massiven Störung des Menschengerechten steht die Ebenbildlichkeit Gottes auf dem Spiel. Es dürfte für eine Kirche, die sich nicht in einem klaren Bekenntnis von den Strukturen der Zerstörung des Menschengerechten abwendet, schwer sein, das dem Menschen Gerechte, nämlich von Gott zugesprochene Recht auf ein Leben in voller Anteilnahme an der Gemeinschaft aller und aller Güter zu definieren in Einklang mit den menschenverachtenden Strukturen des Ausschlusses von eben diesen Rechten und Gütern. Eine Kirche, die kein klares Bekenntnis der Verwerfung zu Wirtschaftsformen findet, in denen wenige systematisch und strukturell Reichtum und Macht auf Kosten immer mehr Menschen auf sich vereinen, wird am Ende allein darauf verwiesen sein, die Opfer unter dem Rad zu verbinden, weil sie dem System nicht in die Speichen gegriffen hat. Der frohmachenden und befreienden Botschaft des Evangeliums erweist sie allein in dieser Rolle aber keinen göttlichen Dienst. 175 Arthur Rich, Wirtschaftsethik Bd. II, hier besonders 3.3.5: Das Menschengerechte unter dem Aspekt der Partizipation, S. 144- 162 und 7.3: Grundbedingungen für eine partizipative Kooperation in der Weltwirtschaft, S. 350-362 162 5.2. Götzendienst Der Begriff „System“ deutet an, dass die Kirchen es heute mit einem komplexeren System zu tun haben als Bonhoeffer und die Bekennende Kirche. Der Feind der wahren Kirche sitzt nicht mehr in der Reichskirchenregierung in Berlin. Und dennoch sind damals wie heute Subjekte am Werk, die den unbedingten Gehorsam für ein System fordern, das den Markt, dem alles zu dienen hat, anstelle Gottes setzt. „Götzendienst enthält eine ideologische Dimension, die einen entscheidenden Einfluss auf die Prioritätensetzung in einer Gesellschaft ausübt. Wenn unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum im globalen Norden das Hauptziel aller wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten wird - von höherem Wert als alle anderen Werte und Ziele - zum Beispiel von höherem Wert als die Sorge für das Gemeinwohl und die Fürsorge für das Leben aller, von höherem Wert als die Sorge um gerechte und zukunftsfähige Gemeinschaften und Lebensstile, dann sollten wir darüber nachdenken, ob der Status confessionis ein angemessenes theologisches Paradigma wird. Wenn wirtschaftlicher Gewinn die höchste Autorität in einer Gesellschaft wird, dann widerspricht diese Prioritätensetzung dem christlichen Glauben an Gott als Quelle des Lebens und Schöpfer von allem. Wenn Geld ein Ziel in sich selbst wird und nicht mehr als Mittel zum Austausch von Gütern und Dienstleitungen dient, könnte Götzendienst im Spiel sein. Götzendienst im Bereich der Wirtschaft widerspricht der Tatsache, dass Menschen als Personen in Gemeinschaft geschaffen sind, und dass die Identität des Menschseins selbst verleugnet wird, wenn Gemeinschaft verleugnet wird. Wenn Geld und Reichtumsvermehrung um jeden Preis angebetet wird, wird der Glaube an Jesus Christus als Brot des Lebens und an den Heiligen Geist als Geber des Lebens verleugnet. Wenn die Kirche die Welthierarchie in einer Marktgesellschaft widerspiegelt, in der wirtschaftlicher Gewinn verabsolutiert und damit vergötzt wird, dann kann der Status confessionis die 163 angemessene Antwort sein. Ihr könnt nicht gleichzeitig Gott und dem Mammon dienen, sagt Jesus. Wenn die Kirche in Glaube und Praxis ihre Loyalität gegenüber dem lebendigen Gott aufgegeben hat und dem Mammon dient, könnte der Status confessionis eintreten. Wenn ökonomische Werte und die Jagd nach Profit und kurzfristiger ökonomischer Effizienz das erstrangige Ziel in allen Bereichen des Lebens wird - also nicht mehr notwendigen Markttransaktionen dient, sondern Ziel und Zweck in allen Bereichen des Lebens wird und mehr zählt als Solidarität und Gemeinschaft - dann bedroht und zerstört dies den Glauben an die Liebe Gottes. Götzendienst liegt vor, wenn die Marktprinzipien und die Jagd nach unbegrenztem Wachstum in unseren westeuropäischen Gesellschaften höchster Wert und erste Priorität um jeden Preis geworden sind. Wenn Götzendienst von der Kirche selbst praktiziert und zugelassen wird, dann könnte der Status confessionis eintreten.“176 Schon Martin Luther hatte die Vergötterung des absoluten Marktes erkannt und bekämpft und schreibt in Auslegung des ersten Gebotes im großen Katechismus: „Was heißt »einen Gott haben«, bzw. was .ist »Gott«? Antwort: Ein »Gott« heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. »Einen Gott haben« heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; Denn die zwei gehören zuhauf (zusammen), Glaube und Gott. Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott. …Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles zur Genüge, wenn er Geld und Gut hat; er verlässt sich darauf und brüstet sich damit so steif und sicher, dass er auf niemand etwas gibt. Sieh, ein solcher hat auch einen Gott: der heißt Mammon, d. h. Geld und Gut; darauf setzt er sein ganzes Herz. Das ist ja auch der allgemeinste Abgott auf Erden.“ 176 Anna Karin Hammar ebd. S. 19 164 Ausgehend vom 1. Gebot bestimmt die Antithese Gott oder Mammon Luthers wirtschaftsethisches Denken. Die Begriffe Wucher und Geiz werden für Luther zum Inbegriff dieser blasphemischen Haltung. Hochmut (superbia) und die 1539 von Luther als Hauptsünde bezeichnete Habgier (Geiz und Wucher) hindern den Menschen sowohl am Gottesdienst wie auch an dem von Gott geforderten Dienst am Mitmenschen. Geizwänste wollen die Menschen beherrschen, ja sie fordern geradezu göttliche Verehrung, womit sie gegen das erste Gebot verstoßen. Anderseits praktizieren sie "vielfältigen, unersättlichen Mord und Raub", indem sie anderen Menschen ihre Lebensgrundlage entziehen. Luther spricht vom "Casus confessionis stantis et cadentis ecclesiae", vom Fall des Bekenntnisses, mit dem die Kirche steht und fällt, d.h. von der Notwendigkeit, den Glauben in Abgrenzung gegen das Böse klar zu bekennen, um die Kirche vor dem Zusammenbruch durch Unglaubwürdigkeit zu bewahren.177 Jede Praktik, die gegen den Dekalog und das 1. und 7. Gebot verstoßen, sind nach Luthers Auffassung durch das kirchliche Wächteramt anzuprangern Das Predigtamt als Teil des geistlichen Regiments Gottes muss, ausgehend vom 1. und 7. Gebot und von der Bergpredigt im Sinne des Usus theologicus legis, vor dem kapitalistischen Geist, der im Handelskapital in "monopolitischen" Praktiken agiert und im Finanzkapital in Form der Vermehrung des Kapitals durch feste Zinssätze denkt, eindringlich warnen, weil er unter Absehung von Gott selbstmächtig über das Leben, die Zeit, die Gaben der Schöpfung und damit auch über die 177 Prien, ebd. S. 223 165 Arbeits- und Produktionsbedingungen verfügen will. Die Folge ist eine Störung der Gesellschaftsordnung.178 Neben dem 1. Gebot macht Luther aber auch das 7. Gebot des Dekalogs - du sollst nicht stehlen – zu einem ökonomischen Problem und bezieht in seiner ersten Schrift über Geiz, Zins und Wucher, im so genannten „Kleinen Sermon von dem Wucher“ von 1519, seine Kritik auf das öffentliche Wirtschaftsgebaren auf dem Markt und im Handel. Friedrich-Wilhelm Marquardt schlussfolgert daraus, dass, wenn im Großen Katechismus nun dies Problem vom 7. Gebot hinüber zum 1. Gebot, aus dem Bereich der zweiten Tafel in den der ersten Tafel des Gesetzes geholt wird, dies eine schwerwiegende hermeneutische Entscheidung Luthers gewesen sei: Ökonomie wird zu einem Problem im Bereich der Rede von Gott, aus einer ethischen zu einer dogmatischen Frage, und man ahnt im Hintergrund den Ansturm und die Zwänge einer gesellschaftlichökonomischen Entwicklung, der der Theologe Luther sich offenbar nicht entziehen konnte.179 Mehr noch. Mammon, Götzendienst ist für Luther eben nicht individualistisch gedacht, sondern wird zu einem Systembegriff. „Der Mammon ist auch ein Gott; d. h. er wird von den Menschen wie Gott verehrt und hilft ihnen auch zuweilen.“ 180 178 Vgl. Luthers Frage: "Wie sollt das ymmer mügen Göttlich und recht zugehen, das eyn man ynn so kürtzer zeyt so reych werde, das er Konige und Keyser auskeuffen mochte?" - WA 15,312, 24ff Von Kaufshandlung und Wucher, 1524. 179 Friedrich-Wilhelm Marquardt, Gott oder Mammon. Einwürfe 1, S. 183 180 Zitat WA 40 III, 57.24-25 nach Marquardt, ebd. S. 188 166 Der negative und nur bildhafte Begriff des Götzen wird bewusst durch einen positiven und realen Begriff ersetzt: den eines Gottes, und damit wird der Mammon, der im Wucher wirksam ist, zu einem Systembegriff qualifiziert. „Es ist also nicht allein der Mammon ihr Gott, sondern sie selbst wollen überdies auch noch durch ihren Mammon aller Welt Gott sein und sich entsprechend anbeten lassen. Die Armen aber, obwohl sie den Mammon weder zum Gott haben können noch wollen, sollen nun auch noch des Mammons Göttlichkeit in seinen Götzen - ich sollte besser sagen: in seinen Göttern - anbeten oder aber Hungers sterben.“ 181 Das System Mammon, der Kapitalismus zu Luthers Zeiten wie heute unterwirft alles und alle dem Zwang seines Systems durch Verelendung und agiert im System seiner Herrschaftsstrukturen in der Macht eines Gottes. Diese teuflische Maximierung des Potentials der Mächte der Finsternis führt Luther 1539 dazu, die Anwendung der Kirchenzucht gegen Wucherer zu verlangen182, womit er Geiz und Wucher, d.h. unersättliche, menschenverachtende Profitgier183, implizit zum ethisch begründeten Bekenntnisfall erklärt.184 181 Zitat nach Marquardt, ebd. S: 189 Martin Luther WA 51, An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, Vermahnung. 183 »Ich lasse mir sagen, dass man jetzt jährlich auf einem jeglichen Leipziger Markt zehn Gulden - das ist dreißig auf Hundert - nimmt. Etliche setzen auch den Naumburgisch Markt hinzu, daß es dort sogar vierzig auf Hundert werden. Ob es mehr sei, das weiß ich nicht. Pfui dich, wo zum Teufel will denn auch das zuletzt hinaus. ..? Wer nun jetzt zu Leipzig hundert Florin hat, der nimmt jährlich vierzig; das heißt einen Bauern und Bürger in einem Jahr gefressen. Hat er tausend Florin, so nimmt er jährlich vierhundert; das heißt einen Ritter oder reichen Edelmann in einem Jahr gefressen. Hat er hunderttausend, wie es bei den großen Händlern sein muß, so nimmt 182 167 Wie viel mehr ruft ein System den Bekenntnisfall hervor, das bis in alle Bereiche des Lebens und weltumspannend wirtschaftliche und politische Systeme zum Götzendienst zwingt, so als sei es allein heilsbringend, gottgleich, alternativlos, also selbstverständlich!185 In einer ökonomisierten Welt wird das Kapital zur alles bestimmenden Wirklichkeit. In der Sprache jüdischchristlicher Tradition gesprochen und im kritischen Verständnis Luthers nimmt es damit den Platz Gottes ein und wird zum Götzen. Dabei zeigen sich die gnadenlose Ökonomisierung der Gesellschaft und des Menschen und ihre gnadenlose Unterwerfung unter die Gesetze der Vermehrung des Kapitals. All das ist begleitet von „religiösen“ Heilsversprechen: Wer den Gesetzen des Marktes gehorcht und sich dabei der „unsichtbaren Hand des Marktes“186 anvertraut, werde mit Prestige und er jährlich vierzigtausend; das heißt einen großen reichen Fürsten in einem Jahr gefressen. Hat er zehn-hunderttausend, so nimmt er jährlich vierhunderttausend; das heißt einen großen König in einem Jahr gefressen. Und er leidet darüber keine Gefahr, weder an Leib noch an Ware; er arbeitet nichts, sitzt hinter dem Ofen und brät Äpfel. Also möcht so ein Stuhlräuber zuhause sitzen und eine ganze Welt in zehn Jahren fressen. « An die Pfarrherrn wider den Wucher zu Predigen. Zitiert nach Marquardt, ebd. S.189 184 Hans Jürgen Prien, Luthers Wirtschaftsethik, S. 221 185 Ausführlich hierzu und zu den im Folgenden nur thesenhaft angerissenen Tendenzen der Vergötzung des Marktes: Franz Segbers, Die Herausforderung der Thora. Darin: Marktwirtschaft im Plural, S. 226-301 186 Zum Begriff der unsichtbaren Hand, wie ihn Adam Smith auf dem Hintergrund seines deistischen Weltbildes als Gemeinwohlfördernde Fügung versteht, die wie mit unsichtbarer Hand die lebensnotwendigen Güter der Erde auf alle Bewohner gleichermaßen verteilt und dem ganz anderen Verständnis der neoliberalen Doktrin, die die „unsichtbare Hand“ als selbstheilende Marktkraft versteht, in 168 Reichtum belohnt. Wer sie ignoriert, werde mit Untergang bestraft. Waren sollen Identität und Sinn stiften. So werden in Konsumtempeln und Banken die „Liturgien“ der Waren und des Geldes zelebriert. Geld wird zum „Vermögen“. Wer über Kaufkraft verfügt, kann sich vermeintlich Identität und Sinn leisten. Ohne Kaufkraft vermag der Mensch nichts. Ökonomen verwenden theologische Begriffe wie Demut, Wunder des Marktes. Glaube an den Markt, Vertrauen. Es handelt sich aber nicht um analoge Begriffe zur Religion, wie sie etwa immer wieder in der Werbung zu finden sind, sondern der Markt maßt sich an, Religion zu sein.187 Der Kult des Kapitalismus ist immer auch Opferkult. Kostensenkung und Sparen, permanente Verschuldung und Entschuldung sind die Opferstrategien des Kapitals. Das Kapital muss durch Opfer wie Sozialabbau, Stellenstreichungen trotz horrender Gewinne usw. gnädig gestimmt werden, damit es seine Versprechen auch einlöst. Dazu – so wird uns von den Opferpriestern und Predigern des Marktes versichert – gebe es keine Alternative. Es gibt nur ein Wahrheitskriterium: den Börsenkurs. Alle anderen Kriterien spielen keine Rolle mehr. Wahrheitskriterium bedeutet: Hier entscheidet sich, was gut und richtig ist. Allerdings wird nicht gesagt, welche verheerenden Auswirkungen die Wertabschöpfung durch die auf keinen Fall eingegriffen werden darf und die fordert, Sachzwänge als unausweichlich und alternativlos zu akzeptieren: Franz Segbers, ebd. S. 275-285 187 Segbers, ebd. S. 298 169 Spekulation für den Markt und die Arbeitsplätze hier bei uns und weltweit haben.188 Das Wahrheitskriterium „Börse“ gibt Auskunft darüber, wie die Kurse stehen oder wie der Unternehmenswert sich entwickelt. Baut ein Unternehmen Arbeitsplätze ab, belohnt die Börse diese Politik. Globalisierung heißt, dass die Welt über dieses Wahrheitskriterium vereint wird. In der Tat: die Welt war noch nie zuvor so vereint. Jedoch unter einer negativen Herrschaft. Es ist die Vereinigung der Welt unter einer Herrschaft, die nicht den Menschen und seine Bedürfnisse oder die lebendige Schöpfung in den Mittelpunkt stellt, sondern die Vermehrung des toten Kapitals. Der Kapitalmarkt wird zu einer Instanz, welche die Gesellschaft und das, was gut für sie ist, bestimmt. Im Geldsystem findet also so etwas wie eine moralische Selbstorganisation der Gesellschaft statt. Demokratisch gewählte Regierungen tun deshalb gut daran, sich der Kontrolle durch die Finanzmärkte zu unterwerfen, denn außerhalb des Markts gibt es kein Heil.189 Wenn Götzendienst ein Kriterium für den Status confessionis ist, dann kann es keinen Zweifel geben, dass sich das Absolutsetzen des Marktes im Neoliberalismus als Bekenntnisfall erweist. 188 Zum Zusammenhang von Spekulation und Arbeitsplatzabbau bis zu Verarmung von Volkswirtschaften: Gilberto Granados/Erik Gurgsdies, Lern und Arbeitsbuch Ökonomie, S. 46ff oder: Gilberto Granados, Globalisierung – ein unabwendbares Schicksal. In: Eberl/Sannig (hrsg.) Das Soziale neu Denken, S. 80-102 189 Segbers, ebd. 273 170 6. Extra ecclesiam nulla salus - Das war einmal Der globale Markt setzt sich absolut, Gott gleich, heilsbringend und verspricht Leben für alle, wenn sich nur alle den Geboten des Marktes unterwerfen Und weil die Vertreter der neoliberalen Wirtschaftsordnung dies mit Vehemenz und viel finanziellem Aufwand immer wieder und mittlerweile ohne kritische Gegenstimme vertreten, scheint es zu dem System der neoliberalen Wirtschaftsordnung und den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung keine Alternative zu geben. Neoliberalismus ist ein totalitäres System, das nur außerhalb des Systems in Frage zu stellen wäre und sich nicht innerhalb des Systems reformieren lässt. Wenn die Europäischen Kirchen sich zu Recht gegen die Vergötzung des Marktes aussprechen190, sie aber glauben, mit dem Modell der sozialen Marktwirtschaft die neoliberale Weltwirtschaftsordnung reformieren zu können, dann verkennen sie die Absichten und die Auswirkungen eines absoluten, totalitären Marktes. In Wirklichkeit ist die sozial (und ökologisch) regulierte Marktwirtschaft schon längst nicht mehr der Rahmen der gegenwärtigen Weltwirtschaft, die auch Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland bestimmt. Vielmehr werden deren Errungenschaften systematisch abgebaut - beim IWF und der Weltbank unter dem Namen Strukturanpassungsprogramme (SAPs), auf europäischer und nationaler Ebene unter den Namen „Konvergenzkriterien“ und „Stabilitätspakt“ sowie „Reformen“. 190 Europäische Kirchen leben ihren Glauben im Kontext der Globalisierung, epd Dokumentation Nr. 9/2006, S. 21f. 171 Die Agenda 2010 ist Teil des Projektes der Europäischen Union, bis zum Jahre 2010 Europa zur wettbewerbsstärksten Wirtschaftsregion im Rahmen der Globalisierung zu machen. Der IWF nennt die Agenda 2010 „ziemlich genau das, was wir vom IWF immer wieder gefordert haben.“ Kürzung von Arbeitslosengeld, Druck zur Aufnahme jeder beliebigen Arbeit, Kürzung von Sozialausgaben, abgesenkter Kündigungsschutz, Ein-Euro-Jobs, Ich AG und Mini-Jobs für einen Niedriglohnsektor – während gleichzeitig der Spitzensteuersatz gesenkt wird. Das ist keine Reform der sozialen Marktwirtschaft, sondern das ist ihr systematischer Abbau unter dem Druck der neoliberalen Globalisierung.191 Die Agenda 2010 ist Teil einer weltweiten neoliberalen Offensive, und das regierungsamtliche Programm der Strukturanpassung unseres Sozialstaates an die Globalisierung heißt Hartz IV. Alles ist darauf ausgelegt, den Armen immer mehr wegzunehmen, immer mehr Menschen aus der formalen Wirtschaft durch Arbeitslosigkeit auszuschließen und die Arbeitenden mit immer mehr Steuern zu belasten, während die Reichen von der steuerlichen Sozialpflichtigkeit und von den Abgaben für die solidarischen sozialen Sicherungssysteme immer mehr entlastet werden, so dass ihr kapitalförmiges Eigentum ständig wachsen kann.192 Wenn also der Neoliberalismus sein Wesen darin hat, die sozialstaatlichen Eingriffe in den Markt immer mehr abzubauen, er systematisch immer mehr Menschen aus 191 Ausführlich: Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates. 192 Hans Weiss/Ernst Schmiederer: Asoziale Marktwirtschaft. 172 seinem System ausschließt, er sie sich selbst und damit dem Kampf um das nackte Überleben überlässt, er faktisch nicht mehr strukturell dafür sorgt, dass alle genug zum Leben haben, ist das der Moment, in dem die Kirchen nicht nur die Opfer des Systems verbinden, sondern dem Schwungrad des Systems in die Speichen greifen müssen. Wie sehr sich die neoliberale Globalisierung längst schon als ein Konzept „aus einem Guss“ darstellt, wird daran deutlich, dass es die von den Ländern und Interessen des Nordens dominierten Organisationen wie IWF, Weltbank und WTO sind, die die Länder des Südens seit mehr als 20 Jahren zur Umsetzung neoliberaler Politik zwingen193. Kirche hat sich zu entscheiden gemäß der alttestamentlichen Wahl zwischen Leben und Tod, vor die Gott das Volk Israel in Deuteronomium 30 stellt: 15 Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. 16 Wenn du gehorchst den Geboten des HERRN, deines Gottes, die ich dir heute gebiete, dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen. 17 Wendet sich aber dein Herz und du gehorchst nicht, sondern lässt dich verführen, dass du andere Götter anbetest und ihnen dienst, 18 so verkünde ich euch heute, dass ihr umkommen und nicht lange in dem Lande bleiben werdet, in das du über den Jordan ziehst, es einzunehmen. 193 Joseph Stiglitz, die Schatten der Globalisierung 173 Sprechen sich die europäischen Kirchen für eine soziale Marktwirtschaft aus, dann haben sie sich schon entschieden gegen den Neoliberalismus. Beide Systeme sind miteinander unvereinbar. Dann hat die Kirche sich aber auch klar und eindeutig zu bekennen gegen ein totalitäres System, vergleichbar mit dem totalitären System des Nationalsozialismus zur Zeit Dietrich Bonhoeffers. Sonst macht sie sich mitschuldig am Götzen Markt und am unschuldigen Tod von Millionen von Menschen, die in den Ländern der Kirchen des Südens schon jetzt Jahr für Jahr Opfer der wirtschaftlichen Globalisierung werden. Aber auch aus Sorge um die Bevölkerungen in den eigenen Ländern, deren Verarmung immer weiter voranschreitet, haben die Europäischen Kirchen dieses System entschieden abzulehnen. Wenn Gottes Option für die Armen noch Leitmotiv all unseres kirchlichen Handelns und Bekennens sein soll, wie es im gemeinsamen Wort so deutlich und eindrücklich betont ist, dann ist Duchrow Recht zu geben, dass die Kirche eine unzweideutige, verpflichtende Entscheidung zu treffen hat.194 „(105) Die christliche Nächstenliebe wendet sich vorrangig den Armen, Schwachen und Benachteiligten zu. So wird die Option für die Armen zum verpflichtenden Kriterium des Handelns. Die Erfahrung der Befreiung aus der Knechtschaft, in der sich Gottes vorrangige Option für sein armes, geknechtetes Volk bezeugt, wird in der Ethik des Volkes Israel zum verbindlichen Leitmotiv und zum zentralen Argument für die Gerechtigkeitsforderung im Umgang mit den schwächsten 194 Ulrich Duchrow, Kirchlich theologische Ansätze für verbindliche Positionen zur neoliberalen Globalisierung, ebd. S.11. 174 Gliedern der Gesellschaft: Das Recht der Armen wird begründet mit der Erinnerung an die Rettung aus der Sklaverei: "Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen. Du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, dort freigekauft. Darum mache es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten." (Dtn. 24,17f) Besonders eindringlich prangern die Propheten Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung an, die das Leben der Gesellschaft Israels vergiften, und stellen die Verantwortlichen unter das Urteil Gottes (Am 2,6fu. a.). Dabei geht es nicht um Vernichtung, sondern um die Rettung der ganzen Gemeinschaft des Gottesvolkes. Entscheidend ist: Der lebensförderliche Umgang mit den Armen, die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit sind Indiz der Treue zum Gottesbund. … (107) In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.“ 195 195 Gemeinsames Wort, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (105)/(107), S. 44 175 Wenn die Schweizer Verfassung in ihrer Neuformulierung 1999 in der Präambel bekennt, dass die Stärke eines Volkes sich am Wohl der Schwachen bemisst196, dann darf der christliche Glaube stolz sein, dass eine der wichtigsten Grundaussagen der heiligen Schrift Einzug gehalten hat in die Grundausrichtung eines Staates. Jede Bürgerin, jeder Bürger kann den Schweizer Staat darauf verhaften, ob er dieser Präambel gemäß die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns gestaltet. Wenn die Kirche in Deutschland noch zu ihrer Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten steht, dann hat sie, wie 1933 Bonhoeffer es tat, im Angesicht der Auswirkungen der Globalisierung und des Neoliberalismus den Staat zu fragen, ob sein Handeln von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortet werden könne.197 196 Die Präambel der Totalrevision der Schweizer Verfassung von 1999 lautet: Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung: (www.admin.ch/ch/d/sr/1/101.de.pdf) 197 Bonhoeffer zitiert nach Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer – eine Biographie, S, 324 176 Bei dieser Frage weiß die Kirche sich in unbedingter Weise den Opfern jeder Gesellschaftsordnung verpflichtet.198 Kommt sie am Ende wie Bonhoeffer zu der festen Überzeugung, dass einem System, dass skrupellos seine Ordnungspflicht allen Menschen gegenüber missbraucht, in die Speichen gegriffen werden muss, dann wird sie sich der Bekenntnisfrage zu stellen haben. Bonhoeffer hegt 1933 die Hoffnung, dass ein evangelisches Konzil in dieser Frage entscheiden wird.199 Der Hilferuf der Kirchen des Südens mit ihrer Hoffnung auf ein gemeinsames Bekenntnis entspricht genau dieser Hoffnung Dietrich Bonhoeffers. Die Kirchen des Nordens können sich dem Hilferuf der Kirchen des Südens nach einem klaren und eindeutigen Wort gegen das System des Neoliberalismus nicht entziehen, wollen sie nicht die Einheit der Kirche gefährden und ihre Option für die Schwachen und Armen verraten. Hat sie sich aber dazu entschieden, bekennt sie. Entscheidung ist der Kern von Bekennen. Und Bekennen zeigt an, das es um eine Entscheidung geht. Indem die Kirche entscheidet, bekennt sie.200 „Das Bekenntnis ist die auf Grund der Theologie von der Kirche vollzogene Entscheidung über ihre Grenzen. Es nicht Darstellung des Lehrganzen, sondern auf Grund des Lehrganzen getroffene Entscheidung der Kirche, an einem bestimmten Ort den Kampf aufzunehmen.“201 198 Ebd. Ebd. S. 325 200 Ebd. S. 135 201 Ebd. S.129 199 177 Im Bekennen zieht die Kirche eine Grenze. Kirche besinnt sich auf ihre Grenzen, wenn ihr Heilsruf auf Grenzen stößt.202 Will sie wahre Kirche sein, deren Wesen durch Wort und Sakrament Jesu Christi bestimmt ist, stößt ihr Heilsruf im Irrglauben der Welt an das neoliberale Wirtschaftssystem an ihre Grenzen. „Nicht sie setzt …die Grenzen, sondern sie stößt auf ihre Grenzen, die ihr von außen gesetzt werden. Nun erfährt die Kirche ihren Heilsruf als das richtende Gesetz über die Welt, als die unüberschreitbare Grenze. Nun muss sie sich darüber Rechenschaft geben. …Wo die Grenzen der Kirche liegen, entscheidet sich immer wieder neu in der Begegnung zwischen Kirche und Unglaube, ist also ein Akt der Entscheidung der Kirche.“203 Im Fall der Bekennenden Kirche war die Grenze, an die die Kirche stieß, die Reichskirchenregierung der Deutschen Christen mit ihrem Irrglauben. Beim Status confessionis geht es aber nicht nur um die Einheit der Kirche angesichts ihrer Bedrohung durch die Irrlehre einer anderen Kirche, sondern sehr wohl auch um die Bedrohung durch die Welt. Für Bonhoeffer kann sehr wohl Kirche auch an die Grenze der Welt, also eines politischen oder eben auch eines wirtschaftlichen Systems stoßen, dass in all seinem Handeln dem Evangelium widerspricht204, sich aber anmaßt, wahrer Heilsbringer für die Welt zu sein. Dem hat Kirche entschieden zu widersprechen. Dabei kann die Kirche 202 Dietrich Bonhoeffer: Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft. In: Die mündige Welt. Dem Andenken Dietrich Bonhoeffers, S.125 203 Ebd. S. 126 204 Ebd. S.130 178 hinter die Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem nicht mehr zurück, weil sie nicht hinter das Wort Gottes zurück kann.205 Also hat die Kirche den Kampf um Leben und Tod aufzunehmen, wenn der Antichrist der Kirche mit offenem Vernichtungswillen gegenübertritt.206 Und es tobt weltweit der Kampf um Leben und Tod. Die Kirchen des Südens wissen davon ein Klagelied zu singen. Dem Antichrist im Götzen „Markt“ kann nur mit dem klaren Bekenntnis zum Gott des Alten und Neuen Testaments entgegengetreten werden. - Gerechtigkeit Gottes, die alles umschließt, was eine heilende Existenz aller Menschen ausmacht, ist nicht in Einklang zu bringen mit einem Götzen, der nur Wenige im Übermaß teilhaben lässt am Heil, aber Viele ins Unheil stürzt. - Dem System der Ökonomisierung des menschlichen Lebens, das heißt der Anpassung der menschlichen Existenz an den Markt - von der pränatalen Diagnostik zur „Wertschätzung“ des Menschen vor der Geburt bis zur Frage der „Entsorgung“ - kann nur das Bekenntnis zum christlichen Menschenbild entgegengehalten werden. - Der unersättlichen Fütterung des Götzen „Markt“ darf von den Kirchen nicht hilflos, ja sogar systemimmanent stützend beigewohnt werden, sondern das System muss im Bekenntnis zum lebendigen Gott, wie durch Daniel im apokryphen 14. Kapitel des Buches Daniel, entlarvt werden als 205 206 Ebd. S. 132 Ebd. S. 130 179 das was es ist: Ein Betrug an den Menschen. (Dan. 14,4-21) Paulus hätte sich mit dem System arrangieren können (Apg. 26), aber er beruft sich auf sein Bekenntnis vor dem Kaiser (Apg. 26,32), dem Antichristen seiner Zeit, weil Jesus Christus ihn selber beauftragt hat, ihn vor dem zu bekennen (Apg. 23,11), der sich die Welt mit allen Mittel unterwarf. Wollen wir als Kirche allen Ernstes wieder solange zaudern und zögern, bis wir am Ende, wider allen besseren Wissens, in einem Bekenntnis unsere Schuld bekennen müssen, weil wir selbst dem Irrglauben des Neoliberalismus aufgesessen sind, dass er eine Wohlstandsgesellschaft im göttlichen Sinne schaffen könnte, in dem er die Wohlstandsgesellschaft auflöst? Extra ecclesiam nulla salus. Für das Heil dieser Welt, für das Heilwerden an den Wunden des Neoliberalismus, ist dieser Satz unaufgebbar. 7. Die Frage ist gestellt Heribert Prantl, politischer Redakteur und Leiter des Ressorts Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, erinnerte in einem Vortrag auf dem Sozialen Forum des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Ev. Kirche v. Westfalen am 3. März 2006 an den Midias Glauben und verglich ihn mit dem Irrglauben des Neoliberalismus. Auch Midias musste erkennen, dass es nicht klug ist, alles zu Gold zu machen, weil am Ende niemand mehr wird leben können. 180 Der Neoliberalismus ist noch nicht zu solch kluger Erkenntnis gekommen. Er macht noch munter zu Geld und Gold, was ihm unter die Finger kommt. Er privatisiert Wasser, Nahrung und Gesundheit und schließt immer mehr Menschen vom Leben aus. Am Ende aber wird die Welt politisch, wirtschaftlich und sozial zum Schlachtfeld jeder gegen jeden verkommen207. Midias wird am Ende in einer Quelle des Lebens geheilt. Zu dieser Quelle müssen wir finden. Es genügt nicht an den Symptomen herumzudoktern, weiß der Prophet Elisha. Wir müssen uns zur Quelle des Lebens aufmachen und uns zum Gott des Heils bekennen, der allein gutes Leben schenkt (2. Könige. 2,19-22). Um dieses Bekenntnis geht es heute. Es geht um die Bedrohung des Lebens und darum um das konkrete Bekenntnis zum Gott des Lebens. In der Tat, umsonst ist so ein Bekenntnis nicht. Systemkritik beinhaltet die Überprüfung des eigenen Handelns gemäß der im Jülicher Aufruf unter (13) benannten Punkte. Das Skandalon unserer Welt fordert uns als Kirche heraus, ernsthaft zu überprüfen, wo wir mit unserer Theologie, in unserer Diakonie, als Arbeitgeberin, mit unserem Finanzgebaren uns selbst längst einem System unterworfen haben, das wir in einem weltweiten Bekenntnis ablehnen. Glaubwürdig wird die Kirche nur bekennen können, wenn sie sich ihrer eigen Verflochtenheit und Schuld bewusst wird208 (Barmen 3). 207 Huschmand Sabet, ebd. S.45 Dietrich Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche und die Ökumene, S. 255 208 181 Als Opfer eines neoliberalen Systems, das die Kirchen in ihren Finanzabhängigkeiten mit hineinzieht in einen Strudel des Rückbaus all ihrer theologischen und diakonischen Selbstansprüche, darf die Kirche nicht dem Fehler verfallen, jetzt alle neoliberalen „Selbstverständlichkeiten“ systemimmanent auf die eigene Institution anzuwenden, mit der gleichen Begründung wie Staat und Politik auf den Lippen, als gäbe es keine Alternativen. Es gibt sie und es gilt, diese Alternativen zu benennen. In der Natur beobachten wir: Heuschreckenschwärme fallen in die Landschaften ein, fressen ganze Ernten auf und hinterlassen ödes Land. Ist das Einfallen von Heuschrecken vergleichbar mit den Mechanismen von Kapitalmärkten, die Investoren veranlassen, Unternehmen mit guten Renditen aufzukaufen, dann höhere Renditemargen zu setzen und diese auf Kosten von Arbeitsplätzen und durch Schließung weniger renditeträchtiger Unternehmensteile zu erreichen? Ist der finanzwirtschaftliche Druck so stark, dass wirtschaftliches Leben immer enger und die soziale Dimension immer stärker zurückgedrängt werden? Welche ökonomischen Denkweisen und Mechanismen sind es, die solche flächendeckenden, strukturellen Entwicklungen nähren? Ökonomisches Denken in seiner gegenwärtig dominierenden Form geht methodisch von dem Annahmensystem aus, dass alle wirtschaftlichen Prozesse von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und sozialen Kontexten abstrahieren können und alles gleichermaßen den Bedingungen eines freien Marktes unterworfen werden kann. Die soziale und natürliche Umwelt, der Staat, Bildung, sozialer Wandel, Religion, 182 Weltanschauung, Mentalitäten usw. werden als nicht gültig, als nicht zu berücksichtigende Faktoren angenommen. „Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht“ bedeutet das wirtschaftspolitisch. Wirtschaft vollzieht sich nach eigenen Gesetzen, einer eigenen ökonomischen Logik und nach Marktmechanismen, die am Ende, so wird behauptet, wie natürliche Entwicklungen entstehen. „There is no alternative“ formulieren Globalisierungsbefürworter und die Wirtschaftsredaktionen unserer großen Volks- und Fachzeitschriften übereinstimmend diese vermeintlich eindeutige Erkenntnis. Es gibt aber durchaus Alternativen und in der Geschichte der Wirtschaft Modelle, die Staat, Gesellschaft und soziale und ökologische Kontexte mit einbeziehen. Wenn man sich etwas genauer mit ökonomischem Denken auseinandersetzt, ist bald festzustellen, dass es historisch und auch in den wirtschaftspolitischen Konzepten von heute ein buntes Bild und eine Konkurrenz von Ansätzen gibt. Das ist nahezu in Vergessenheit und aus dem politischen Blickfeld geraten. Diese Alternativen müssen wieder entwickelt und ins Bewusstsein gebracht werden. Im Kirchenkreis Jülich, gemeinsam mit dem Kirchenkreis Aachen haben wir mehrere Veranstaltungsreihen entwickelt, zuletzt für den Herbst 2006 gemeinsam mit der RWTH Aachen209, die versuchen, die Menschen in den Gemeinden , sprachfähig zu machen, angesichts des Ohnmachtgefühls, dass das scheinbar alternativlose System des Neoliberalismus verbreitet. Ein System, das systematisch und kollektiv die 209 Siehe zu Beginn des Buches die Hinweise S. 27 183 Menschen eines ganzen Volkes in Angst versetzt,210 braucht aber eine Alternative. Als Kirchen werden wir aus unserem Glaubenshorizont kommend, uns dem Wort und Gebot Gottes verpflichtet wissend, solche Alternativen selbst zu entwickeln haben. Ein sich selbst absolut setzendes System fragt nach solchen Alternativen nicht. Wir werden uns als Kirchen zusammentun müssen mit denen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, die selber noch die Erkenntnisse des Evangeliums ernst nehmen, dass das Leben mehr ist als den Ansprüchen als Homo oeconomicus zu genügen. Die Mythen des neoliberalen Wirtschaftssystems211 gehören entlarvt, der Streit mit dem System des Neoliberalismus und der wirtschaftlichen Globalisierung mit ihren katastrophalen Folgen muss geführt werden. Weltweit. Wollen wir Kirche sein, weltumspannende Kirche Jesu Christi, darf sich keine Kirche verweigern, wenn ein Teil der ökumenischen Kirchen eine klare Antwort in dieser Streitfrage einfordert. In der ökumenischen Verbundenheit hat eine Kirche den Ruf anderer Kirchen ernst zu nehmen212. Auch wenn die Differenzen zwischen den Kirchen aus den armen Ländern und denen aus den Industriestaaten 210 So der DGB Vorsitzende Sommer in einer freien Rede auf einer Veranstaltung der Rheinischen Kirche anlässlich der Besinnung auf 50 Jahre gemeinsamen Handelns von Kirche und Gewerkschaften im Dezember 2005 im LKA. 211 Wolfgang Kessler: Publik-Forum Nr.22/2003, S. 12ff 212 Dietrich Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche und die Ökumene, S. 258f 184 um die Globalisierung auf der ÖRK Vollversammlung in Porte Alegre unter den Teppich gekehrt worden zu sein scheinen213, die Erklärung zur Einheit der Kirchen auf dieser Vollversammlung spricht eine klare Sprache und verwischt nichts. Die Einheit der Kirche ist gefordert. Wir sind verpflichtend berufen, die eine Kirche zu sein. „I. 2. Die Kirchen in der Gemeinschaft des ÖRK bleiben einander auf dem Weg zur vollständigen sichtbaren Einheit verpflichtet.214 … IV. 10. …Die Kirche hat teil am versöhnenden Wirken Christi, der sich selbst entäußerte, indem sie ihren Auftrag verwirklicht und das Bild Gottes in allen Menschen bekräftigt und erneuert und mit all denen zusammenarbeitet, deren Menschenwürde durch wirtschaftliche, politische und soziale Ausgrenzung verletzt wurde.215 Die Frage ist gestellt. 1935 hat die Bekennende Kirche durch ihr Wort die Kirchen in der Ökumene in die Entscheidung gezwungen.216 Heute zwingen die ökumenischen Kirchen uns in die Entscheidung. Unsere eigene Zukunft hängt von dieser Frage ab. „Ob sich die Hoffnung auf das Ökumenische Konzil der evangelischen Christenheit erfüllen wird, ob ein solches Konzil nicht nur in Vollmacht die Wahrheit und die Einheit der Kirche Christi bezeugen wird, sondern ob es Zeugnis wird ablegen können gegen die Feinde des Christentums in aller Welt, ob es ein richtendes Wort sprechen wird über Krieg, Rassenhass 213 So die Einschätzung der epd Dokumentation Nr. 11/März 2006 S. 2 zur ORK Vollversammlung in Porte Alegre 214 Berufen, die eine Kirche zu sein. Eine Einladung an die Kirchen, ihre Verpflichtung zur Suche nach Einheit zu erneuern und ihren Dialog zu vertiefen. Epd Dokumentation Nr. 11/März 2006 S. 35 215 Ebd. S. 37 216 Ebd. S.260. 185 und soziale Ausbeutung, ob durch solche wahre ökumenische Einheit aller evangelischen Christen in allen Völkern einmal der Krieg selbst unmöglich wird, ob das Zeugnis eines solchen Konzils Ohren finden wird, die hören - das steht bei unserem Gehorsam gegen die uns gestellte Frage und dabei, wie Gott unseren Gehorsam gebrauchen will. Nicht ein Ideal ist aufgerichtet, sondern ein Gebot und eine Verheißung - nicht eigenmächtiges Verwirklichen eigener Ziele ist gefordert, sondern Gehorsam Die Frage ist gestellt.“217 Noch einmal: Bonhoeffer hat 1935 die Vision eines weltweiten ökumenischen Konzils der evangelischen Christenheit vor Augen, als Antwort auf die Herausforderungen seiner Zeit. Was anderes ist ein gemeinsam gesprochenes Bekenntnis aller evangelischen Kirchen heute? Wir dürfen, nein wir können uns einem solchen gemeinsamen Bekenntnis nicht verweigern. Die Frage ist gestellt! 217 Ebd. S.261 186 Die Autoren Jens Sannig, geb. 1963, seit 1992 Pfarrer in ÜbachPalenberg. Seit 2000 Synodalassessor des Kirchenkreises Jülich. Leiter die Abteilung Bildung im Kirchenkreis Jülich, zu der die Erwachsenbildung, das Jugendreferat, das Schulreferat und der Ausschuss für den KDA gehören. Dr. Dirk Chr. Siedler, geb. 1967. Seit 2003 Pfarrer der Gemeinde zu Düren. Von 2003 bis 2005 zuständig für die außereuropäische Partnerschaftsarbeit der Gemeinde. Synodalbeauftragter für Islamfragen und Ökumene Catholika im Kirchenkreis Jülich. Daniel Enrique Frankowski, geb. 1970. Pfarrer in Caaguazú (Paraguay) und zuständig für eine Baumschule, die der Aufforstung der für den Sojaanbau gerodeter Landschaften dient. Ricardo Schlegel, geb. 1966. Diakon, Leiter eines Internats mit über 300 Schülerinnen und Schülern in Hohenau (Paraguay.). Hans-Joachim Schwabe, geb. 1946. Bis 2001 Bankdirektor für Großkunden im Bereich Devisen, Geld und deren Derivate bei einer westdeutschen Großbank. Seit 2004 Mitglied des Kreissynodalvorstandes im Kirchenkreis Jülich und seit 2005 stellvertretendes Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche im Rheinland. Hans Stenzel, geb. 1939, hat sich nach einer Tätigkeit als Bergmann und Steiger zum Sozialsekretär ausbilden lassen. Von 1966 bis 2004 Leiter des Referates „Gesellschaft und Bildung“ im Kirchenkreis Jülich. 187 Literatur Arbeitskreis Ev. Unternehmer in Deutschland e.V. (AEU), Bund Katholischer Unternehmer e.V. (BKU): Globalisierung – Chance für alle. Mai 2003 Attac-Basis Texte16, FIAN Wirtschaft GlobalHunger egal – für das Menschenrecht auf Nahrung. 2005 Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer Eine Biographie. Kaiser Verlag München 1986 Bonhoeffer, Dietrich: Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft. Evang. Theol. 3,1936,214233. Hier abgedruckt in: Die Mündige Welt – Dem Andenken Dietrich Bonhoeffers Kaiser Verlag München 1955 Bonhoeffer, Dietrich: Bekennende Kirche und Ökumene GS I, Ökumene, Briefe – Aufsätze – Dokumente 1928-1942 Kaiser Verlag München 1978 Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit Accra, Ghana 30.7.-12.8. 2004 Epd Dokumentation 37/2004 S.30-34 Bussmann, Claus: Treu deutsch und evangelisch. Die Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde zu Asunción/Paraguay von 1893 bis 1963, Wiesbaden 1989. Butterwegge, Christoph u.a.: Armut und Kindheit Ein regionaler, nationaler und internationaler Vergleich 2. Aufl. VS Verlag Wiesbaden 2004 Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates VS Verlag Wiesbaden 2005 188 Das Gemeinsame Wort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland Hrsg. Vom Kirchenamt der EKD Hannover 1997 Duchrow, Ulrich: Bekennende Kirche und Ökumene als Thema der Zukunft In: Konsequenzen. Dietrich Bonhoeffers Kirchenverständnis heute Kaiser Verlag München 1980 Duchrow, Ulrich: Kirchlich-theologische Ansätze für verbindliche Positionen zur neoliberalen Globalisierung. Von der biblischen „Ökonomie des Genug für Alle“ zur Glaubensverpflichtung heute. Bundesweite Konferenz von Kairos Europa, 23.-25.4.04 Frankfurt www.kairoseuropa.de/fix/Beitrag_Duchrow.pdf Duchrow, Ulrich, Reinhold Bianchi, René Krüger und Vincenzo Petracca: Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg – Oberursel, VSA-Verlag und Publik-Forum, 2006. Eberl, Klaus, Sannig, Jens (Hrsg.): Das Soziale neu denken? Der Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik und die sozialethische Verantwortung der Kirche. Symposiumsbericht. Lico Verlag Gütersloh 2005 Engagement einer Gemeinschaft von Kirchen angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung Ein Arbeitspapier des Lutherischen Weltbunds www.lutherworld.org ISDN 3-906706-82-6 189 Europäische Kirchen leben ihren Glauben im Kontext der Globalisierung Beitrag der Kommission für Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen und der europäischen Kirchen zum globalen ökumenischen Prozess über Globalisierung, Brüssel, 8./9.12.2005 (Deutsche Fassung: Februar 2006, epd Dokumentation Nr. 9, S. 17). Granados, Gilberto/Gurgsdies, Erik: Ökonomie Lern und Arbeitsbuch Dietz Verlag Bonn 1999 Granados, Gilberto: Globalisierung – ein unabwendbares Schicksal? Alternativen zum derzeitigen volkswirtschaftlichen Denken und Handeln. In: Eberl, Klaus/Sannig, Jens (Hrsg.) S. 80-102 GMÖ Materialien des Gemeindedienstes für Mission und Ökumene: Ich will euch geben, was gerecht ist (Mt.20, 4)-Arbeitshilfe zur kirchlichen Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Globalisierung. Nr.5/Januar 2006 Grundlagenpapier zur Policy des Synodalrates. Für die Globalisierung der Gerechtigkeit. Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn als Teil der weltweiten ökumenischen Bewegung. August 2003 Hannich Günter: Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise Der Weg in den dritten Weltkrieg Kopp Verlag Rottenburg a.N. 2000 Hergenhan, Volker: Braucht die Evangelische Kirche noch einen sozialethischen Standpunkt? Der Wandel kirchlicher Verlautbarungen – unaufgebbare evangelische Positionen In: Eberl, Klaus/Sannig, Jens (Hrsg.) S. 103-114 190 Huffschmid Jörg: Politische Ökonomie der Finanzmärkte, 2002 IZ3W Sonderheft Globalisierungskritik Ausgabe 265: Wo steht die Bewegung - eine Zwischenbilanz der Globalisierungskritik – Blätter des Informationszentrums 3.Welt Kairos Europa e.V. Kapital braucht Kontrolle - die internationalen Finanzmärkte: FunktionsweiseHintergründe-Alternativen 2001 Kessler Wolfgang: Wirtschaft für alle- eine kritische Einführung in die wirtschaftlichen Probleme der Bundesrepublik Deutschland 2004 Kessler Wolfgang, Schneeweiß Antje: Geld und Gewissen –Tue Gutes und verdiene daran 2004 Kirchlicher Herausgeberkreis Jahrbuch Gerechtigkeit: Armes Reiches Deutschland – Jahrbuch Gerechtigkeit I 2005 Luther, Martin: Von Kaufshandlung und Wucher WA 15,312, 24ff, 1524. Luther, Martin: An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, Vermahnung. WA 51, 1539 Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Gott oder Mammon Aber: Theologie und Ökonomie bei Martin Luther In: Einwürfe 1, S. 176-216 Kaiser Verlag München 1983 Müller, Albrecht: die Reformlüge, 40 Denkfehler Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wissenschaft Deutschland ruinieren Verlag Droemer 2004 Müller; Albrecht: Machtwahn – wie eine mittelmäßige Führungsschicht uns zugrunde richtet München 2006 191 Nebel, Stephan, Kessler Wolfgang, Storz Wolfgang: Wider die herrschende Leere - Neue Perspektiven für Politik und Wirtschaft 2005 Ökumenischer Rat der Kirchen –Team für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung: Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde Hintergrunddokument 2005 Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn: Für die Globalisierung der Gerechtigkeit – Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn als Teil der weltweiten ökumenischen Bewegung – Grundlagenpapier zur Policy des Synodalrates 2003 Prien, Hans-Jürgen: Luthers Wirtschaftsethik Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1992 Pauly, Dieter: Jesus und Mammon Zur Wiederherstellung der Ökonomie. 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Edition Exodus Luzern 1999 Stiglitz, Joseph: Die Schatten der Globalisierung Siedler Verlag Berlin 2002 Südwind Edition 2003 Institut für Ökonomie und Ökumene Strukturelle Gewalt in den Nord-SüdBeziehungen, Band 1: Wer bestimmt den Kurs der Globalisierung – die Rolle der Weltorganisationen Südwind Edition 2005 Institut für Ökonomie und Ökumene Strukturelle Gewalt in den Nord-SüdBeziehungen, Band 4: Kamerun: Die Kehrseite der Globalisierung- Koloniales Erbe. Armut und Diktatur Südwind Edition 2005 Institut für Ökonomie und Ökumene Strukturelle Gewalt in den Nord-SüdBeziehungen, Band 7: Wachstum zu Lasten der Armen –Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung Weiss, Hans/Schmiederer, Ernst: Asoziale Marktwirtschaft Insider aus Politik und Wirtschaft enthüllen, wie die Konzerne den Markt ausplündern Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 2004 193 Wirtschaft im Dienst des Lebens Die Antwort der westeuropäischen Kirchen auf die Globalisierung und das Finanzsystem. Texte aus der Konsultation 15.-19. Juni 2002 in Soesterberg/Holland Epd Dokumentation Nr. 43a/14.10.2002 Wirtschaft(en) im Dienst des Lebens. Biblische und ökonomische Perspektiven angesichts der Globalisierung. Dokumentation des Partnerschaftsbesuches der Iglesia del Rio de la Plata, Distrikt Paraguay September 2004, Düren 2004. 194 195 Die Schatten der Globalisierung werden immer länger. Immer mehr Menschen stehen im Dunkel und nicht im Licht. Die Euphorie über die Globalisierung schwindet. Ihre Verfechter gaben vollmundig die Parole heraus: schrankenloses Wachstum der Weltwirtschaft schaffe blühende Landschaften. Die Beseitigung aller Handelshemmnisse auf dem Erdkreis, freie Hand der Kapitalinvestoren und das freie Spiel der Kräfte werde die Menschheit in das gleißende Licht eines Wohlstands für alle stellen. Die Welt wartet und fragt sich angesichts des täglichen Sterbens von Tausenden Kindern an Hunger: Ist Globalisierung Segen oder Fluch? Sind die Folgen der Globalisierung mit unserem Glauben vereinbar oder nicht? Können wir die Globalisierung gestalten, oder unterwirft ein globaler Markt alles und alle den Kriterien von Wachstum und Profit? Eigenverlag Kirchenkreis Jülich 196