Der Sommer der Liebe

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Buchtelsommer
(Arbeitstitel)
Schrill stachen einzelne Sonnenstrahlen durch die Zweige des
Apfelbaums. Ich legte „Desiree“ zur Seite, blinzelte durch
meine Wimpern. Die Luft war feucht und massig. Winzige
Schweißperlen glitzerten auf meiner runden Schulter. Ich rieb
mit dem Zeigefinger darüber, betrachtete die blonden Härchen
auf meinem Arm. Eines Tages würde ER mich lieben. (Stefan
– so ein gewöhnlicher Schuljungenname!) ER würde sich zu
mir auf die Decke kauern, auf der ich schlummerte. Seine
schmalen weißen Finger würden sich auf meine Stirn legen
wie Napoleons auf Desirees. Lange würde ER mich
betrachten. Ganz sachte würden seine Finger die Linien
meines Gesichtes erkunden. Die Fingerspitzen würden die
Konturen meiner zitternden Lippen entlang fahren, dann
würde ER sich behutsam neben mich gleiten lassen. Seine
Arme würden mich umfangen und seine blassen Lippen
würden sich auf meinen Mund drücken, während sich seine
Hände sanft unter meine Bluse schöben ...
Alles Weitere war unvorstellbar.
Das Geheimnis der Liebe … Vieles sprach dafür, dass wahre
Liebe für Leute, die so alt waren wie Mama und Papa nicht in
Frage kam. Das sah man auch in allen Filmen. Gut, in
„Desiree“ war es anders: Napoleon und der schwedische
König liebten Desiree wahrhaft, aber die waren ja schließlich
auch Herrscher. Romantik, Rausch, Entzücken – zu
gewöhnlichen alten Leuten passte das doch gar nicht.
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„Liebst Du Mama?“ Mager, schwitzend und mit einem
geknoteten Herrentaschentuch auf der Glatze stand Papa vor
dem Häcksler, in den er Holzabfälle stopfte.
„Was?“ Ich musste die Frage zweimal wiederholen, bevor er
abschaltete.
„Warum willst Du das wissen?" Er wühlte in dem Holzhaufen.
„Ich hab keine Zeit. Frag Deine Mutter.“ Er warf eine Handvoll
Äste in die Maschine, dann schaltete er den Häcksler wieder
an. Egal was ich fragte, er sagte fast immer: „Frag deine
Mutter.“
Mama bügelte. Es war dämmerig und feucht in der
Waschküche. Im Sommer wurden alle Vorhänge zugezogen.
Die Wäsche roch süß und warm. „Liebst Du Papa?" Ihr
Bügeleisen strich unablässig über Schlüpfer oder
Geschirrtücher. An ihrem dünnen linken Unterschenkel trat
eine Ader blau hervor. Ihr Hemdblusenkleid schlotterte um
ihre knochigen Hüften. Sie blickte Richtung Garten:
„Was hat er gesagt?“
„Ich soll dich fragen.“ Sie blies eine Ponysträhne aus dem
Gesicht:
„Das mit der Liebe ...“ Mit gerunzelter Stirn starrte sie auf
einen Berg Taschentücher: „Es ist anders als du glaubst –
komplizierter, nicht so einfach.“ Sie zog den Stecker aus der
Steckdose: „Verliebtheit geht vorüber ...“. Ihr Lächeln sah
müde aus: „Das wirst du alles selber merken. Wichtig ist, man
kommt miteinander aus.“
Unruhig streifte ich durch die dämmerigen Zimmer, auf der
Suche nach Spuren der Liebe. Schillernde Fliegen rummsten
gegen die Fensterscheiben. In Papas Zimmer auf seiner
schmalen Cordliege lag ein Stapel alter Spiegel-Magazine,
Kreuzworträtsel und Gartenkataloge. In der Ecke stand, noch
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unausgepackt, der Rasenbelüfter, den Mama ihm zum
Geburtstag geschenkt hatte; unter dem Schrank blitzten,
ordentlich aufgereiht, drei Paar schwarze Herrenschuhe. Nur
ein Foto stand auf der sonst kahlen Schreibtischplatte:
Mischka, unsere schwarze Katze, silbergerahmt. Ich öffnete
die Türen darunter und betrachtete die beiden Reihen mit
Leitzordnern: Auto. Haus. Versicherungen. Steuer … Ich zog
einen heraus. Ungeduldig schob ich die übrigen mit den
Händen auseinander, erst nach rechts, dann nach links.
Nichts. Keine Briefe, keine Hefte, keine Tagebücher, nicht der
kleinste handgeschriebene Brief. Ich klappte die Türen zu.
Ich war mir sicher, wenn ER mich erst liebte, würde ER mir
Liebesbriefe schreiben: kleine Zettelchen mit romantischen
Botschaften, vielleicht selbst verfasste Gedichte, mir – seinem
Samtfalter, seinem Orangenhauch, seiner leinenweißen
Lilienblüte …
In Mamas Zimmer räkelte sich Mischka auf dem Bett. Die
Streublümchendecke war sorgfältig glatt gezogen. Ich
schnickte Mischka mit dem Finger in den Bauch bis sie
aufsprang und beleidigt hinaus stolzierte. Dann streckte ich
mich auf dem Bett aus. Als ich klein war, hatte ich hier liegen
dürfen, wenn ich krank war; hatte im leichten Fieberdunst die
Bilder angestarrt, bis mir die Augen zufielen und mich wirre
Verfolgungsträume packten. Dabei gab es an den Wänden
kaum etwas zu sehen: Ein bräunliches Foto von einer
langweiligen Dorfstraße, das einzige Foto von „Zuhause“, das
sie über die Flucht hatten retten können. Im Vordergrund
stand vor einem niedrigen Siedlungshaus ein steif
aufgerichteter Mann in Uniform mit Säbel, der grimmig in die
Kamera blickte, mein Großvater in Ausgehuniform. Außerdem
ein Ölbild, eine Vase Margariten, goldgerahmt, das Mama und
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Papa zur Hochzeit bekommen hatten und schließlich Mamas
wichtigstes Foto. So lange ich denken konnte, hing es am
Fußende ihres Bettes: das auf Din-A-4 vergrößerte schwarzweiß Bild von zwei jüngeren Männern in Uniform, Mamas
beiden Brüdern Paul und Gerhard, die auch „im Krieg
geblieben waren“, wie Oma immer sagte, wenn Mama nicht in
der Nähe war. Sie sahen hager und ernst aus wie Mama.
Keiner war so rund und klein wie Oma und ich. Ich kniete mich
hin und nahm es von der Wand.
Gerhard blickte mich durch eine silberne Brille mit Eulenaugen
an. Er lächelte nicht, aber er sah freundlich aus und ein wenig
traurig. Weil er seine Uniformmütze unter dem Arm trug,
konnte man sehen, dass er an der gleichen Stelle wie ich
einen Wirbel hatte: oben rechts am Scheitel. Die dunklen,
leicht gewellten Haare bildeten auch bei ihm eine Art Strudel.
Das war die einzige Ähnlichkeit.
Ich wusste schon sehr lange, dass ich vor Mama nicht davon
sprechen durfte, dass Gerhard tot war. Er war „in Russland
verschollen“. Deshalb kamen auch manchmal, selten, noch
Briefe vom Deutschen Roten Kreuz, die Mama mit immer
neuen handschriftlichen Briefen beantwortete: Suchanträge,
wie Oma mir schon als Kind erklärt hatte. Mama bräuchte das,
wo sie doch sonst beide keine Brücke mehr hätten zu
„Früher“: diesen Briefwechsel mit dem Roten Kreuz,
außerdem ihr Heimatblatt, eine Vertriebenenzeitung, die
einmal im Monat kam und natürlich „Hartmuts Brief“, den sie
fast immer in ihrer Schürzentasche trug. Niemand kannte
diesen Hartmut bis vor bald zwanzig Jahren ein Brief von ihm
angekommen war. Er schrieb nach seiner Entlassung aus
russischer Gefangenschaft, dass er mit Gerhard zusammen in
derselben Kompanie gewesen sei, vor allem aber, dass er
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„fast sicher“ sei, dass „der Iwan auch Gerhard mitgenommen
hatte – rein in die Laster, Richtung Sibirien“. Für Mama war
das fast schon ein Beweis, dass Gerhard noch irgendwo
lebte, dabei war es ihr nie gelungen, auch nur Kontakt zu
diesem unbekannten Hartmut herzustellen, von dem auch das
Rote Kreuz gar nichts wusste.
Mama sprach immer nur von „Gerhard“, nie von „Onkel
Gerhard“ so wie von ihrem anderen toten Bruder „Onkel Paul“,
der zehn Jahre älter gewesen war als ihr Gerhard. Auf dem
Foto sah dieser Onkel allerdings tatsächlich fremd und streng
aus. Einmal hatte Mama erzählt, dass er immer eine kleine
Ledergerte bei sich trug und dass er, wenn ihr Vater „im Feld“
war, immer „versucht habe sie zu erziehen“. Gerhard sei ihr
dann oft „beigesprungen“. Einfach nur „Gerhard“. Das hatte
etwas Verschworenes, als sei er in Wahrheit nicht bloß ihr
Bruder sondern unser gemeinsamer. Mama sagte ja auch
immer: „Er ist bei uns. Ich spür´s. Irgendwo hier ist er.“ Und
dann blickte sie sich um, als trete er gleich aus dem Schrank,
in dem ich mich, als ich noch klein war, oft versteckt hatte.
„Eine wie du, die wäre nach Gerhards Geschmack gewesen“,
sagte sie oft: „Du hättest ihm imponiert: dein Mut, überhaupt
das Sportliche“, dabei hatte es Mama nie ertragen können,
wenn ich als Kind etwas tat, das auch nur die kleinste
Verletzungsgefahr barg. Also hatte ich dafür gesorgt, dass ich
beim Spielen möglichst unbeobachtet blieb. Ich war oft mit
dem Rad in den Wald gefahren, um dort Riesenbäume zu
bezwingen oder mir aus Ästen und Brettern meine geheime
Bude zu bauen. Da war es dann nur gut gewesen, dass
zumindest Gerhard dabei war, Gerhard mit meinem
Haarwirbel und der Eulenaugenbrille, der unsichtbar im Geäst
saß und auf mich aufpasste. Mit ihm konnte ich reden,
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während ich die riesigen Äste durchs Laub zerrte und
zeltförmig um eine alte Blutbuche schichtete, während ich
meine Hütte mit Blättern und Zweigen tarnte, ja, sie komplett
verschwinden ließ. Er war es, der mir Gesellschaft leistete,
wenn ich in meiner Höhle, in der nur das sanfte Rauschen des
Windes eindrang, zusammengekauert saß und mir vorstellte,
ich sei eine gefangene Squaw, die auf ihre Befreiung wartete,
eine Prinzessin, die verwandelt wurde in ein gejagtes Reh,
eine Agentin, die letzte Vorbereitungen traf für ihren Weltrettenden Einsatz … Er war mein Aufpasser, mein Freund,
mein Trainer: „Na? Gesehen?“ hatte ich ihm, festgeklammert
an einen Zweig, zugerufen, wenn ich es mal wieder geschafft
hatte, von meiner Lieblingseiche in einem Sprung auf die
Weide gewechselt war. „Da staunst du, was? – Na gut: dann
eben nochmal … wenn`s sein muss.“ Nur für ihn hatte ich es
gewagt, hatte mich noch einmal mit gereckten Armen und
Herzklopfen dem dünnen Ast auf der anderen Seite des
Abgrunds entgegen gestürzt.
Auch den Bänkelauf im Stadtpark hätte ich doch ohne ihn
niemals in Angriff genommen. Kurz vor meinem achten
Geburtstag war es, als ich ihn zum ersten Mal fehlerfrei
schaffte. Neun Parkbänke hintereinander im Abstand von
mindestens anderthalb Metern: über die Bank laufen,
springen, ein Riesenschritt auf der Bank, abstoßen, springen,
ein Schritt … keine leichte Sache. Es hatte unzählige blaue
Flecken an den Schienbeinen und aufgeschürfte Knie
gebraucht, bis ich soweit war. Ich hätte es so gerne einmal
Mama oder Papa gezeigt, aber das war unmöglich. Das
Betreten der Bänke war verboten. Auf jeder Bank ein
Messingschild: Diese Bank wurde gespendet von SpielwarenLübke, von der Bäckerei Husselbach, vom Modesalon
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Oskötter … Und wenn zum Beispiel Husselbachs gesehen
hätten, wie ich ihre Bank verdreckte ... Aber Gerhard, das
hatte ich als Kind immer gewusst, der war stolz auf mich!
Ich rubbelte mit dem Rockstoff meinen Daumenabdruck vom
Glas, hing das Bild wieder auf und zog die Decke glatt. Als ich
in der Tür stand, blickte ich mich noch einmal um. Es war mir
zuvor nie aufgefallen: Von mir oder Papa hing kein Bild in
ihrem Zimmer, auch nicht von Oma.
Oma saß auf der Terrasse, auf ihrem breiten Schoß einen
Spankorb mit Brombeeren. Ihre Finger waren lila. Die bereits
gereinigten Früchte leuchteten in einer Schüssel auf dem
Tisch. Ich sah ihr zu, wie sie die Stiele abzupfte.
„Da ist noch ein Korb.“ Sie deutete auf den Stuhl neben sich.
Ich schob mir eine Haarsträhne in den Mund. Manchmal war
es besser, nicht zu antworten.
Oma war dick. Sie hatte ein Kleid mit großen gelben Blumen
an, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Ich dachte an den
grimmigen älteren Mann in Uniform auf Mamas Bild.
„Hast Du Opa geliebt?" Ich nahm eine Handvoll Beeren,
stopfte sie mir in den Mund. Sie blickte auf:
„Du siehst ordinär aus. Wisch das ab.“ Ich hatte den
Lippenstift schon vergessen, den ich heute früh in Mamas
Kulturbeutel entdeckt und probeweise aufgetragen hatte. Ich
ließ mich in den Gartenstuhl fallen.
„Hast Du...?" Ihre Finger zupften unablässig weiter.
„Dein Mund!“ Ich rubbelte ein bisschen darauf herum. “Das mit
der Liebe war damals nicht so“, sagte sie. Sie schob die
Stängelreste zusammen. „Warum willst Du das überhaupt
wissen?" Oma betrachtet mich misstrauisch. „Er war jedenfalls
ein ordentlicher Mann.“
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Ich konnte ihre Füße unter dem Tisch sehen: Breit und weiß
mit schmalen Fesseln. Die Fußnägel waren grau vom Alter.
An den Außenseiten hatten ihre Füße sonderbare Knubbel.
Deshalb trug sie fast nur noch ihre Latschen. Mama sagte, die
Knubbel kämen von den engen Schuhen in Omas Jugend. Ich
sah sie immer vor mir, diese gefährlichen, Füße entstellenden
Schuhe, die sie auf alten Fotos trug: elegante, sehr spitze
Sandaletten mit Pfennigabsatz und winzigen Schnallen. Ich
warf neidische Blicke auf Omas Füße, die so etwas hatten
tragen dürfen. Meine Füße waren braungebrannt, klein und
rund – „Patschen“ nannte Oma sie. Die anderen aus meiner
Klasse trugen Schuhe mit Plateausohlen, aber ich war schon
beim ersten Versuch mit den Dingern umgeknickt.
„Hast du ihn nun geliebt?“ Oma stellte den nächsten Spankorb
auf den Tisch, machte sich an die Arbeit.
„Respekt, glaube mir, darauf kommt es an in der Ehe.“
„Hrmm", grunzte ich skeptisch und schob mir noch drei
Brombeeren in den Mund.
„Das waren andere Zeiten“, sagte Oma und zog die
Beerenschüssel zu sich: „Meine Schwester war gestorben,
und ihre beiden Jungs brauchten jemanden. Die waren noch
klein. Da hat er mich gefragt und ich war einverstanden.“ Ich
hörte auf zu kauen:
„Wie? Er hat dich nicht aus Liebe geheiratet? Das hast du
mitgemacht?“ Sie zupfte Stiele ab und blickte
gedankenverloren in den Garten.
„Er hat sich immer bedankt.“
„Wofür das denn?"
„Na ja ... “ Sie knüllte das Zeitungspapier zusammen: „Nach
dem Geschlechtlichen.“ Sie musterte mich: „Sag mal, blutest
Du schon?“ Ich wurde sofort rot.
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„Nein. Ähhh …“ Ich schob mir eine Haarsträhne in den Mund,
nuschelte: „Doch.“
„Dacht ich´s doch.“ Sie stand auf. „Mama hat erst mit 17
geblutet. – Sie hat dir hoffentlich Vorlagen gekauft?“ Ich
nickte. Zum Glück klingelte es an der Tür.
„Oh, Herr Nowottny“, rief meine Oma und verschwand. Ich
vergaß den Termin mit Herrn Nowottny jede Woche. Er war
mein Klavierlehrer und ich sein hoffnungsloser Fall. Ich blieb
einfach sitzen, lauschte seinem Gebalze im Flur und zog die
Schüssel mit den Beeren näher ran. Er war alt und er roch
nach Kölnischwasser. Angeblich war er mal berühmt
gewesen, aber irgendwann hatte er einen Unfall gehabt.
Seitdem hatte er nur noch neun Finger. Wo der Mittelfinger
der rechten Hand sein sollte, war eine Art bläulicher Knoten,
den ich beim Spielen immer anstarren musste. Ich stellte mir
ungern vor, was für eine Art Unfall das wohl war. Wenn Mama
nicht in der Nähe war, scharwenzelte er erst lange um Oma
herum, bevor er nach mir rief. An diesen Tagen musste ich
seltener „An der Saale hellem Strande“ spielen, bis die Stunde
um war. Gleich würde er wieder etwas Perlendes anstimmen.
Das tat er meist. Wie war das noch in meinem
Lieblingsschmöker? Als Beethoven in Desirees Schloss zu
Gast war und ihr auf dem Piano vorspielte, zitterten ihre
Lippen vor Entzücken. Probeweise versuchte ich meine
Lippen zittern zu lassen.
Es war immer das Gleiche: Erst würde Herr Nowottny mit dem
Fuß auf dem Teppich herumkratzen und sich verbeugen.
Dann würde er Oma die Hand küssen – nass – man konnte
den Fleck auf ihrer Haut sehen. Er sagte „Gnädige Frau“ zu
ihr, und sprach über ihr Kleid oder ihr Haar. Anschließend
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folgte etwas Perlendes auf dem Klavier. Er komponierte die
Musik selbst. Die Finger flogen nur so über die Tasten, man
vergaß völlig den zehnten Finger. Zum Ende hin folgten die
tiefen Töne. Dabei schloss er die Augen. Dann stand er auf,
strich sich die grauen Haare über die Glatze und verbeugte
sich. Oma klatschte bewegt. Erst danach rief sie mit hoher
verstellter Stimme: „Liebes, kommst Du...?" Sie übergab mich
an ihn wie ein kostbares Präsent, beide Hände auf meinen
Schultern. Dabei hasste sie es, wenn ich auf dem Klavier
rumhackte. Er verabscheute es vermutlich ebenso. Ich hatte
monatelang geglaubt, die beiden führten dieses sonderbare
Theater nur auf, um die Zeit meines Klavierspiels zu
verkürzen. Ich hielt es für ein geheimes Komplott zwischen
uns Dreien. Ein augenzwinkerndes Spiel – für zehn Minuten
weniger an grässlichem Geklimpere.
Wenn ich die Tasten drückte, stellte ich mir immer vor, wie ich
eines Tages mit IHM gemeinsam musizieren würde. Nur so
war die Klavierstunde zu ertragen. Ich sah mich in einem
rostroten Taftkleid am Flügel sitzen – das zerschrammte alte
Klavier kam natürlich nicht in Frage -, mein bis dahin
schulterlang gewachsenes Haar aufgetürmt zu einem
kunstvollen Geflecht, an den Füßen schmale Schühchen mit
Pfennigabsätzen, auf den, ohne Zweifel, sinnlichen Lippen ein
elegisches Lächeln. ER, der Maestro (nicht mehr bloß der
Geige spielende Sohn meines Gemeinschaftskundelehrers),
stünde – natürlich ohne Brille – an den Flügel gelehnt, in der
Hand die schimmernde rotgoldene Geige, sein blasses
Gesicht über dem strengen Kragen leuchtete ergriffen …
„Nein, nein, nein, so geht das nicht.“ Herr Nowottny packte
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meine herumstümpernden Finger. Und schon war er wieder
da, dieser Geruch nach Alter und Eau de Cologne und der
dicke bläuliche Knoten, dort, wo ein Finger sein sollte.
Er hatte die Tür ins Schloss fallen lassen und die Zinnuhr in
der Diele zeigte immer noch erst halb elf. Ich hasste halb elf:
Halb elf war flau, unentschieden und grausam. Kein
Mittagessen in Sicht und alles Frische des Morgens vorüber.
Halb elf war fast so schlimm wie halb fünf Uhr nachmittags.
Und so still und so heiß war es, dass es sich anfühlte, als
wäre das ganze Haus mit dickem Gelee angefüllt.
Ich mochte eigentlich das Schwimmbad nicht. Ich mochte vor
allem die nicht, die dort immer waren. Doch diesmal waren
zum Glück die meisten aus meiner Klasse verreist. Am letzten
Schultag hatten nur ich und die Zwillinge aus der Siedlung
nicht die Hand gehoben, als die Lehrerin gefragt hatte, wer in
den Sommerferien wegfuhr. Wahrscheinlich dachten alle, wir
hätten nicht genug Geld, denn keiner hatte nach meinen
Ferienplänen gefragt, als wir am Schultor auseinander gingen.
Es war mir klar, dass Reisen für Mama nicht in Frage kam. Als
ich bei einem Mittagessen an einem Sonntag kurz vor den
Ferien gefragt hatte, ob wir nicht doch auch, löffelte sie
einfach ungerührt ihre Erdbeeren weiter. Stattdessen sagte
Papa, während er sorgfältig Früchte und Sahne auf seinem
Dessertteller ordnete:
„Ich komm genug herum. Du kannst es mir glauben: Zuhause
ist es immer noch am schönsten.“ Da das offenbar niemand
außer ihm fand, waren jetzt fast alle aus meiner Klasse weit
weg. Heute würde ich einfach in Ruhe auf meinem Handtuch
im Schwimmbad liegen und lesen können – außer natürlich …
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Auf dem Weg ins Bad hatte ich mir alles haarklein ausgemalt:
Wenn ER nun da war, wenn ER an diesem glutheißen
Nachmittag auch würde schwimmen wollen, wenn ich IHN
also dort unter Tausenden irgendwo auf einem Handtuch
entdeckte … dann würde ich mich einfach so hinsetzen, dass
ER auf dem Weg zum Becken an meinem Platz vorüber
kommen musste. Dann würde ich warten, bis ER im Wasser
wäre, würde schließlich mit einem eleganten Sprung in den
Pool gleiten und ganz zufällig lachend neben ihm auftauchen.
„Hey“, würde ich sagen, „bist du nicht der Stefan? Ich hab
deinen Vater im Unterricht, wir kennen uns, glaube ich, auch
aus der Kirche ...“ Und dann würde sich alles Weitere von
selbst ergeben. Natürlich würde ER mich sofort erkennen.
Seine Familie ging sonntags auch in den
Vormittagsgottesdienst und saß meist rechts in der
Kirchenbank hinter uns. ER beobachtete mich, auch auf dem
Weg zur Kirche. Schon vor Monaten hatte ich zum ersten Mal
diesen konzentrierten Blick in meinem Nacken gespürt.
Besonders, wenn ich durch die Mittelreihe nach vorne ging zur
Kommunion, oder danach, wenn ich mit verschleiertem Blick
in der Bank kniete, die Handflächen aneinandergelegt, im
„innigen Zwiegespräch mit Gott“, wie der Pfarrer im
Firmunterricht gesagt hatte, fühlte ich: jetzt – genau jetzt – sah
ER rüber zu mir. Nur die Hostie störte, weil sie immer am
Gaumen festpappte. Kauen sah leider nicht sonderlich innig
aus. Innig aber stand mir ausgesprochen gut. Ich hatte es im
Spiegel überprüft. Bloß – jetzt war nicht Gottesdienst: Hier im
Schwimmbad fühlte ich mich bloß noch dick und peinlich in
dem kindlichen Blümchenbikini vom vorigen Jahr, der überall
einschnitt. Unsicher stand ich vor dem schlierigen Spiegel, der
neben dem Gang zu den Umkleiden hing und versuchte mich
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zu trösten: Alle verreist. ER konnte gar nicht in der Stadt sein.
Am liebsten hätte ich mich in meinem Bademantel versteckt,
den ich aber natürlich ausgerechnet heute nicht mit hatte.
Mein Bauch und meine Oberschenkel sahen speckig-weiß
aus, weil ich in den letzten Wochen immer nur Kleider
getragen hatte. Warum sollte ER auch heute, ausgerechnet
heute, wenn ich ein einziges Mal im Jahr ins Schwimmbad
ging, hier sein? Mein Handtuch war winzig, es reichte nicht
mal ganz um meinen Bauch herum. Bestimmt sonnte er sich
jetzt am Mittelmeerstrand oder an der Ostsee. Ich beugte
mich vor, um einen Pickel rechts von meiner Nase zu
begutachten – und begegnete seinem suchenden Blick im
Spiegel. Erschrocken richtete ich mich auf und wandte mich
mit rotem Kopf um:
„Hallo“, murmelte ich und blickte in schutzlose, wasserhelle
Augen. Irgendetwas war anders, aber vor Aufregung begriff
ich nicht, was es war.
„Hallo“, sagte er unsicher, auf seinem Hals zeigten sich
Flecken. Er trug eine – noch trockene – Badehose, in seiner
Hand zerknüllte er ein rosa Handtuch. Er wandte sich ab, tat
ein paar Schritte in Richtung Pool. Ich folgte ihm.
„Bist du nicht der Stefan?“ rief ich: „Ich glaub, ich habe deinen
Vater in Gemeinschaftskunde.“ Er drehte sich um, schien
ungefähr mein rechtes Ohr anzublicken.
„Ehrlich?“, sagte er. Dann versuchte er, sein Handtuch um
den Bauch zu knoten.
„Ja, ehrlich. In der E.“ Sein Tuch war auch zu klein, es ging
immer wieder auf. „ … Erster Stock.“ Ich hielt meines vor den
eingezogenen Bauch: „ … Macht richtig Spaß. … Ich meine,
sein Unterricht – wirklich interessant“. Seine Haut war nicht
weniger weiß als meine. Er schien nicht oft herzukommen. Er
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fummelte immer noch an dem Knoten herum. Ich fand, er
könnte jetzt auch mal etwas sagen. Sein Tuch fiel in den
Dreck. Er bückte sich.
„… Entschuldigung“, murmelte er. Ich ging in die Knie, um ihm
zu helfen. Er war schneller. Fast wären wir zusammen
gestoßen. Er richtete sich auf, lächelte, versuchte erneut es
festzuknoten.
„Na, dann …“, sagte ich. Er hielt inne, starrte mich mit einem
merkwürdig fragenden, intensiven Blick an. Ich zog den Bauch
noch mehr ein. „Grüß ihn mal, ja?“
„Wen?“
„Na, deinen Vater.“
„In der E, sagtest du?“
„Ja, der E.“ Er blinzelte. Sein Mund stand leicht auf. Wir
betrachteten einander. Dann nickte er. Ich nickte auch.
„Ich glaub, ich muss dann auch …“ Ich stolperte den engen
Gang zu den Umkleiden entlang, als hätte ich es plötzlich
eilig. Am Ende schaute ich mich schnell um. Da sah ich ihn in
der Sonne stehen. Etwas an seinem Anblick machte mich
stutzig. Ich betrachtete ihn genauer: Er war nur ein paar Meter
weit auf die Wiese gegangen. Das rosa Tuch jetzt als Knäuel
in der Hand, stand er unschlüssig auf der Liegewiese herum,
einen Fuß auf der Decke einer vielköpfigen italienischen
Familie. Er blickte sich zwinkernd um. Wohin schaute er bloß?
Hielt er etwa nach mir Ausschau? Aber er guckte doch direkt
in den Spiegel? Warum lächelte er dann so merkwürdig? War
das möglich? … – seine Brille! Er hatte ja seine Brille gar nicht
auf. Wieso war mir das nicht gleich aufgefallen? Aber das
hieß ja … – hatte er überhaupt den leisesten Schimmer, wer
ich war?!
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Ich verriegelte die Tür der Umkleide hinter mir, setzte mich auf
die Holzbank. Nebenan greinte ein Kleinkind: „Will nicht,
Mama, will nicht …“ Ich zog die Beine an und lehnte mich
zurück. Es roch nach nassem Holz, Chlor und Kinderpipi. „Du
SAU“, hatte jemand ins Holz geritzt und „Fotze“. Was tat ich
hier? Am besten, ich zöge mich an und ginge nach Hause.
„Du hörst jetzt, hast du verstanden?“ Wenn er jetzt seinem
Vater von meinem fürchterlichen Auftritt erzählte? „Eine aus
der E, eine Kleine, Dicke“, würde er sagen. Dass ich nicht
groß und schön war, würde er auch ohne Brille gesehen
haben. „Das Höschen, verdammt!“ Er würde sagen: „Wie
heißt die noch? Ganz frech hat die mich angequatscht, als ich
aus der Umkleide kam, stell dir vor, geschleimt hat die, wie toll
du im Unterricht bist – peinlich, sage ich dir.“ Und seine Blicke
in der Kirche? Nichts als Wunschphantasien. Hätte er mich
nicht längst angesprochen, wenn er etwas gewollt hätte? …
„Mama, mag nicht, Mama …“ Vielleicht redete er auch mit
seiner Schwester darüber, die war in der F über mir und im
selben Turnverein. Ich hatte ihre quäkige Stimme direkt im
Ohr: „Nicht im Ernst – die kleine Nelly hat sich an dich
rangemacht, das Pummelchen, das muss ich Karin erzählen“,
bestimmt plapperte sie alles nach den Ferien auch noch im
Verein herum. „Wirst du wohl ….“ Ein hallendes Klatschen.
Das Kind schrie gotterbärmlich. „Das Höschen!“ Jemand
klopfte hart gegen meine Tür.
„Was macht ihr hier für Schweinereien?“ Das Klopfen wurde
energischer. Der Bademeister, der kleine, kahlköpfige, bei
dem ich den Freischwimmer gemacht hatte. „Das ist doch kein
Puff!“ Bestimmt hatte er unter der Tür hindurch geguckt und
keine Füße gesehen. „Rauskommen. Sofort!“ Ich stand auf,
entriegelte.
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„Entschuldigung“, murmelte ich und versuchte vergeblich,
mich an seinem Bauch und seinem Schrubber vorbei zu
drücken. „Mir war nicht gut.“ Er ließ mehrmals die Tür vor- und
zurückschwingen, als wäre es möglich, jemanden in der
winzigen Kabine versteckt zu halten. Dann erst trat er zur
Seite und ließ mich zögernd vorbei, bevor er mit seinem
Schrubber auf dem Boden herumwischte, als hätte ich die
Kacheln verunreinigt.
Nach der Kühle des Kabuffs überzogen sich meine Arme in
der Sonne sofort mit Gänsehaut. Die Hitze war unglaublich.
Ich blinzelte ins grelle Licht. Stefan war weg. Vor mir auf der
Wiese lagen, schliefen, tobten Tausende. Das Schwimmbad
war das Einzige im Umkreis von fast 20 Kilometern. Die
Steinplatten waren so aufgeheizt, dass ich mich auf die
Zehenspitzen stellen musste. In dieser Hitze nach Hause zu
laufen war kein Spaß. Was machte es schon, wenn ich kurz
ins Wasser sprang. Jetzt war sowieso alles egal. Ich warf mir
das Handtuch über die Schulter, machte mich auf den Weg
zum Becken. Ich lief schnell, meine Sohlen brannten. Hinter
den Büschen lockte das kühle Wasser türkis. Ich würde mich
erfrischen und dann sofort gehen.
Dann sah ich Ihn: Hellhäutig, dünn und verschlossen saß ER
auf seiner Decke nahe am Beckenrand. ER hatte jetzt seine
Brille auf. ER zupfte Gras und Gänseblümchen aus, nickte
manchmal, denn neben ihm saß jemand – ausgerechnet der
großspurige Karl redete auf ihn ein. Ich konnte es nicht
fassen, dieser Rabauke! Er wohnte bei uns im Nachbarhaus,
ging mit Stefan in eine Klasse. Früher in der Grundschule
hatte Karl immer seinen Spaß daran gehabt, mich auf dem
Heimweg zu triezen. Ausgerechnet mit dem war er also
befreundet! Ich starrte zu den beiden hinüber. Was erzählte
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Karl da wohl gerade? Ich war nur noch zwanzig Meter
entfernt; wenn jetzt einer der beiden hochblickte, würde er
mich erkennen. Aber ich traute mich einfach nicht, beiläufig
vorbeizugehen. Mit eingezogenem Bauch machte ich kehrt,
schlenderte nun quer über die Wiese, lief, munter pfeifend,
einmal um das ganze Becken, um mich schließlich dort, wo
die Platten vom Spritzwasser angenehm kühl waren, an den
Beckenrand zu setzen. Zum Schwimmen hatte ich keine Lust
mehr. Doch als ich hochsah, bemerkte ich, dass ich auch von
hier aus Stefan noch deutlich zwischen zwei Büschen
erkennen konnte: Er saß – inzwischen alleine – noch immer
auf seiner Decke herum und rupfte Halme aus. Hatte er
Sorgen? Langweilte er sich? Dachte er über etwas nach, das
Karl ihm erzählt hatte? Oder über unsere verpatzte
Begegnung? Warum ging er nicht einfach ins Wasser?
Stattdessen sprang jemand anderer plötzlich mit einem
riesigen Platschen direkt neben mir ins Becken und spritzte
mich völlig nass. Ich kam wütend in die Hocke. Jemand
schaufelte mit einer großen Hand noch mehr Wasser aus dem
Becken gegen meine Beine und meinen Bauch. Natürlich Karl!
„Was ist: warum so trübsinnig?", prustete er. Ich hätte es mir
denken können. Karl! Er schwamm auf mich zu und hielt sich
am Beckenrand fest. Ich funkelte ihn böse an:
„Bist du verrückt?“ Ich zog mein feuchtes Handtuch unauffällig
vor meinen Bauch, setzte mich, anderthalb Meter von ihm
entfernt, vorsichtig wieder hin.
„He, was ist mit dir? Warum bist du vorhin vor uns
abgehauen?“ Ich schüttelte den Kopf:
„Gar nichts ist. Wieso?“ Er paddelte mit den Füßen und
grinste mich an. Er hatte sehr dunkle Pupillen. Zwischen
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seinen Wimpern hingen kleine Tröpfchen. Mein Handtuch war
klebrig und noch immer zu klein. „Guck nicht so“, fuhr ich ihn
an. Was wollte er bloß von mir? Sein braungebrannter Arm
beschrieb einen großen Bogen zum Wasser, als lade er in
sein persönliches Reich.
„Komm“, rief er. „Komm schon rein!“ Dann stieß er sich mit
Schwung vom Rand ab und kraulte etwa drei Züge. Er machte
eine Schraube, kam wieder hoch und blickte mich
erwartungsvoll an. Mit seiner großen Hand winkte er mich zu
sich. Ich schüttelte wieder den Kopf. Da winkte er noch
einmal, bedauernd, und schwamm auf dem Rücken liegend in
langen Kraulzügen davon. Wie ein begossener Pudel blieb ich
hocken und starrte in das giftig-blaue Chlorwasser. Dann
ertönte auch schon bald der Gong und als ich aufstand und
suchend in Richtung der Decke zwischen den Büschen
blickte, waren die beiden plötzlich verschwunden.
Als mir Oma entgegenkam, war ich keinen Moment
misstrauisch. Dabei hätte es viele Gründe gegeben. Oma ging
niemals aus. Sie ging manchmal zum Edeka-Markt um die
Ecke, wenn Mama bei ihren Einkäufen mit dem Auto etwas
vergessen hatte. Sie ging sonntags immer als Einzige in der
Familie zu Fuß in die Kirche, vermutlich um dem Städtchen
ihre Kollektion von Hüten vorzuführen, und sie ging hin und
wieder zu Fräulein Würsching, die ihr „die Füße machte.“ Oma
blieb für gewöhnlich im Haus und im Garten, sie war
höchstens auf einen Sprung bei den Nachbarn. Oma in der
Stadt an einem gewöhnlichen Wochentag und dann auch
noch im guten Kleid mit passendem Strohhut – es war eine
Sensation. Aber ich hatte mich ja noch nicht mal gewundert,
dass sie nicht ihre Gesundheits-Sandalen anhatte, sondern
19
richtige Pumps, die ihre Knubbel bestimmt schmerzhaft
quetschten. Oma nannte sie „Gurkenschuhe“.
„Tolle Schuhe", sagte ich und hängte mich dankbar bei ihr ein.
Sie hatte nicht wie alle anderen Schweißflecke unter den
Achseln und sie roch nach Tosca wie sonst nur an
Sonntagen. Ich schnupperte an ihr: „Hmm! Schön.“ Mir
schien, als ob Oma niemals schwitzte. Immer ging etwas
Blumiges von ihr aus und daneben dieser vertraute Geruch
nach Oma. Sie sei spazieren gegangen, behauptete sie. Kein
Mensch ging bei diesem Wetter spazieren.
„Da dachte ich, ich könnte dich doch einfach abholen, wenn
das Schwimmbad zumacht.“ Versonnen lächelte sie unter
ihrer Strohhutkrempe. Ich nickte. Ich war zu sehr mit mir
beschäftigt. Nur deshalb dachte ich nicht darüber nach, dass
jemand Oma und mir gut Bekanntes in einem ausgebauten
Schrebergartenhäuschen direkt hinter dem Schwimmbad
wohnte
„Hast du Kummer, Mucki?". Eigentlich hasste ich es, wenn sie
mich so nannte.
„Machst Du mir zum Abendessen wieder Brombeermilch?“ Ich
drückte mich an ihren runden Arm: „Bitte.“
Ich wog 55 Kilo. Ich hatte es mir ausgerechnet: damit war ich
sechs Kilo von meinem Idealgewicht entfernt. Am besten
sollte die Eierdiät helfen, stand in Omas Frauenzeitschrift.
Allerdings konnte ich mich in dieser Hitze einfach noch nicht
dazu aufraffen, so viele Eier zu essen. Aber ich war fest
entschlossen, an meinem Geburtstag im September mit dem
Abnehmen zu beginnen.
Als Mama dreizehn Jahre alt war, wog sie 32 Kilo. Dieser Satz
war in mein Hirn eingebrannt, so oft hatte ich ihn gehört. Der
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Krieg war ja inzwischen schon seit fast dreißig Jahren vorbei,
ein entsetzliches finsteres Geheimnis, ewig lange her. Mama
sprach niemals von dieser Zeit, unter keinen Umständen – nur
von Gerhard und von „Zuhause“, als sie alle noch zusammen
waren. Mama sprach sowieso nicht gerne. Sie hockte am
liebsten alleine in ihrem abgewetzten Ledersessel in der
Waschküche und las in Folie eingebundene Kitschromane
oder Krimis mit Titeln wie: “Der Henker“, “Der Rächer“ oder
“Der Hexer“. Oma und ich, wir redeten dafür bald täglich über
den Krieg und die Flucht. Eigentlich wollte ich die
schrecklichen Einzelheiten gar nicht wissen. Das sagte ich ihr
auch jedes Mal. Aber wenn wir dann so zusammen saßen,
fing ich doch wieder mit meinen Fragen an, auf die Oma
immer schon wartete.
„Als Mama so alt war wie Du“, damit begann sie oft ihre
Geschichten, „da sind deine Mutter und ich gerade
angekommen im Westen, untergeschlüpft in Essen in dem
dachlosen, zerbombten Zimmer von Tante Gertrud“, erzählte
Oma. Endlich in Sicherheit, aber Gründe, Mamas 14.
Geburtstag zu feiern, habe es Weißgott keine gegeben, sagte
Oma – Opa erschossen in Russland, Mamas beide Brüder mit
27 und 18 Jahren im Osten totgebombt und verschollen.
Omas alte Mutter verhungert, irgendwo in Polen auf der Flucht
auf einem Feld zusammengebrochen und erfroren.
Wenn Oma von damals erzählte, musste sie immer lange
Pausen machen. Dann saßen wir nur so da und ich wartete,
bis es weiterging. Ich wusste nicht, ob ich mich räuspern
durfte, dabei hatte ich oft an dieser Stelle ein schreckliches
Kratzen im Hals, als hätte sich dort etwas Zähes festgesetzt,
das dringend raus musste. Die Sache mit dem Hals war bei
mir im Laufe der Zeit direkt zur fixen Idee geworden. Ich war
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immer ganz erleichtert, wenn sie weiter sprach, denn dann
konnte ich endlich loshusten – und wie ich hustete! Ich konnte
gar nicht mehr damit aufhören, direkt würgen musste ich
manchmal, aber zum Glück hatte Oma fast immer
Honigbonbons in irgendeiner Tasche.
Nur sie beide hätten überlebt, sagte Oma.
„Ich hatte Typhus und sie hat mich fast geschleppt, tagelang –
durch das zerbombte Berlin, von Köpenick nach Wannsee,
fast dreißig Kilometer, und überall Russen. Wir mussten uns
immer wieder in den Trümmern verstecken. Sie haben die
Frauen geholt. Alle Frauen. Großmütter, Kinder … Wer nicht
wollte, wurde erschossen. Kannst du dir das vorstellen?“
Dreißig Kilometer, ziemlich genau so weit war es bis zu dem
großen Einkaufszentrum, in das wir immer vor Weihnachten
und vor den Sommerferien fuhren. Es war weit genug, dass
mir im Auto schlecht wurde. Keine Ahnung, wie weit dreißig
Kilometer zu Fuß waren.
„Deine Mutter und ich – wir haben immer zusammengehalten.“ Damit endeten die Geschichten. Oma sprach darin
nie wie sonst von Mama oder von Inge, sie sagte immer
„deine Mutter“. Dann sah sie mich schräg von der Seite an:
“Glaub mir, deine Mutter hat so viel durchgemacht, das kannst
du dir gar nicht vorstellen.“ Ich fand, ich stellte mir schon seit
ich klein war ziemlich viel vor, soviel, dass ich manchmal nicht
einschlafen konnte. Ich wollte mir, ehrlich gesagt, nicht noch
mehr vorstellen. Aber ich wusste natürlich, worauf Oma
anspielte. Es war schon klar, dass Mama durch das alles ein
bisschen komisch geworden war. Obwohl – Oma war
schließlich auch verhältnismäßig normal, trotz allem, was die
beiden erlebt hatten. Das Auffälligste war, dass Mama fast nie
sprach. Immer verkroch sie sich irgendwo, „um sich
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auszuruhen.“ Dabei erledigte eigentlich Oma den Haushalt –
vom Einkaufen und Bügeln mal abgesehen.
Als ich klein war, fand ich es am Schönsten, wenn wir im
Garten Laken und Bezüge glatt zerrten, bevor sie sie bügelte.
Ich zog an meinem Ende wie verrückt, und sie am anderen.
Mama hatte erstaunlich viel Kraft, die hätte ihr keiner
zugetraut. Manchmal war ich dabei kichernd den Rasenhang
hinunter gekullert. Das Meiste, was sonderbar war, das
bekamen Fremde zum Glück gar nicht mit, und natürlich
wollten Oma und ich auch nicht, dass es jemand zu sehen
bekam.
„Wir beide, wir sorgen einfach zusammen dafür, dass nichts
durcheinander kommt“, sagte Oma immer, wenn wir von
damals redeten und sie zwinkerte mir dabei zu – und ich
nickte und zwinkerte zurück. Keine Frage – wir schafften das
schon.
Ein Kohlweißling flog von Papas Decke auf, als Mama sie
hochnahm.
„Ich brauche einen neuen Bikini“. Sie holte die leichten
Sommerbetten hinein, die sie zum Auslüften aus den offenen
Fenstern gehängt hatte, trug sie zum Bettkasten.
„Der Geblümte ist doch niedlich“, sagte sie.
„Den Geblümten habe ich zu meinem zwölften Geburtstag
bekommen, Mama. Da war ich noch ein Kind!“
„Ist das schon wieder so lange her?“ Sie ließ das Bettzeug im
Kasten verschwinden, strich mit der flachen Hand über Papas
Tagesdecke.
„Gehst du heute mit mir einkaufen, Mama? Bitte!“ Jetzt war ihr
eigenes Zimmer an der Reihe. Ich folgte ihr. Frau Behring von
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nebenan hatte die Betten schon vor einer halben Stunde
hereingenommen.
„Vielleicht zu deinem Geburtstag …?“
„Ich brauche aber den Bikini jetzt. Wenn ich Geburtstag habe,
ist der Sommer vorbei. Ich kann doch nicht noch wochenlang
mit diesem Babyding rumlaufen, das überall einschneidet,
oder?“ Sie drehte den Kopf zu mir, betrachtete mich, mein
Haar, meinen Körper in dem etwas zu engen, roten
Hemdblusenkleid.
„Brauchst du etwa einen Büstenhalter …?“ Es klang fast ein
bisschen beleidigt. Instinktiv gingen meine Hände zur Brust.
Karin hatte im letzten Turntraining unter dem Trikot einen aus
Baumwolle mit blauen Herzchen angehabt und Steffi trug
schon seit bald zwei Jahren rosafarbene aus Spitze, in denen
sie immer extra lange in der Umkleide vorm Sportunterricht
herumlief. Ich nickte:
„Ja, einen aus Spitze – und einen Bikini?“ Wortlos strich sie
ihre Decke und das Kissen glatt und breitete die
Streublümchendecke darüber aus. Warum benutzte sie nicht
ihren Bettkasten?
„Wir bestellen dir etwas Hübsches, ja?“ Bikinis gab es bei uns
im Ort nur im Kurzwarenladen von Frau Oskötter, einer
geschwätzigen, alten Ziege – oder im Kaufhaus in der
Kreisstadt, in die Mama so gut wie nie fuhr.
„Bestellen dauert so lange und außerdem – Oma sagt auch
immer: Wäsche aus dem Katalog sitzt nicht.“ Sie schloss das
Fenster und zog behutsam die Gardinen zu. Ich lehnte in der
Tür und schaute zu, wie ihr Widerstand mehr und mehr
schmolz.
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Durch die Ritze zwischen den Stoffbahnen vor der Kabine sah
ich Mama auf einem Stuhl sitzen, ihre zu große Handtasche
schützend vor sich auf dem Schoß. Ich war stolz auf sie, stolz,
dass sie wirklich hier war. Ich hatte es deutlich gespürt: Sie
hatte Angst. Aber ich hatte schließlich auch Angst vor Frau
Oskötter, vermutlich hatte die ganze Stadt Angst vor ihr. Das
würde erklären, warum wir die einzigen Kunden waren. Als sie
mir einen viel zu großen Büstenhalter gebracht hatte, war sie
mit ihrem harten Hintern im halbgeöffneten Vorhang stehen
geblieben, hatte mir mit ihren Fingern in den Bauch gekniffen
und augenzwinkernd zu Mama gesagt:
„Ja, ja, die Schokolade.“ Bollernd hatte sie gelacht: „Aber nur
von den ganz kleinen Größen könnte unsereiner ja auch nicht
leben.“
Der Bikini, den ich zuletzt hatte anziehen sollen, war orange,
lila und fleischfarben geblümt. Ich hatte darin wie eine Made
ausgesehen. Außerdem brauchte ich damit nur vom EinMeter-Brett zu springen und schon würde das Oberteil wie
eine Wurst unter meinem Hals hängen. Verzweifelt streckte
ich den Bügel durch den Vorhang:
„Zu groß“. Es war schon das fünfte Modell, das Frau Oskötter
gebracht hatte. „Haben Sie vielleicht auch etwas Einfaches,
Blau-Weißes?“ brachte ich schüchtern hervor.
„Maritim? Das trägt man ja im Moment gar nicht.“ Ihre Stimme
klang angewidert. „Im Augenblick sind eher farbig-blumige
Motive groß im Kommen. Ich hätte da zum Beispiel …“
„Vielleicht doch etwas Schlichtes …?“ stieß meine Mama
hervor. Ich bewunderte ihren Mut. Frau Oskötter schwieg
beleidigt. Aber sie widmete sich nach einer Weile doch
widerwillig den Bademoden-Restposten, denn ich hörte das
Quietschen des Drehständers. Dann ihre Stimme aus
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größerer Entfernung: „Sie hat man ja auch lange nicht mehr
im Ort gesehen. Erst kürzlich sag ich zu meiner Angestellten:
Frau Mählich, sag ich, die Frau Rummel war aber auch lange
nicht mehr hier – selbst in der Kirche war sie nicht
vergangenen Sonntag. Die wird doch wohl nicht krank sein?“
Erwartungsvolles Schweigen. Aber Mama hielt durch.
„Aber ihre Frau Mutter hat uns dann beruhigt. Überhaupt – so
eine elegante Dame, ihre Frau Mutter. Das hat man ja auch
nicht jeden Tag, dass eine Dame dieses fortgeschrittenen
Alters so auf sich hält.“ Eine ringbesteckte, dicke Hand schob
einen gestreiften Bikini durch den Vorhang: Blau-weiß mit ein
wenig rot, ohne spitze Brutschalen und im Rücken schlicht zu
binden – wunderschön.
„Gerade in letzter Zeit hatten wir ja die Ehre, ihre Frau Mama
öfter als Kundin begrüßen zu dürfen und was soll ich Ihnen
sagen? Es ist eine Freude mal jemanden zu bedienen, der
soviel Sinn hat für Eleganz – und für …“ Sie senkte die
Stimme: „Gewagtes! … Aber warum sollte sie sich nicht auch
mal jemand in ihrem Alter etwas Außergewöhnliches für
Untendrunter gönnen, nicht wahr?“ Sie zwinkerte anzüglich:
„Für etwas Ansprechendes ist man schließlich nie zu alt, nicht
wahr?“ Ein langes Quietschen des Ständers: „Man könnte ja
direkt auf Ideen kommen, nicht wahr? Ich sagte das noch zu
ihrer Frau Mutter, aber da lachte sie nur: ‘Ich bitte Sie‘, hat sie
gesagt, ‚es hält sich schließlich nicht jeder so gut wie Sie,
Frau Oskötter.“
Ich nutzte ihr grölendes Lachen, öffnete vorsichtig eine Hälfte
des Vorhangs und schaute Mama auffordernd an. Der Bikini
saß perfekt.
„Entzückend, meine Kleine, allerliebst“, grölte Frau Oskötter,
die sich Lachtränen aus den Augen wischte – „ … so gut wie
26
ich, hahaha“ – und dann die zweite Vorhangbahn zur Seite
riss: „Allerdings macht er dich natürlich deutlich jünger, nicht
wahr?“ Mama blickte ins Leere. Ihr Kopf nickte mechanisch.
Was hatte sie nur?
Wir gingen hintenherum zur Terrassentür.
„Blüte? Bist du da? Wo ist der 6er Schraubenschlüssel?“
Papa musste im hinteren Garten sein. Mama stellte die Tüten
auf einen Gartenstuhl und verschwand im Grün. Es war fast
ein bisschen merkwürdig, nachmittags seine Stimme zu
hören. Er war fast immer unterwegs, wenn er nicht gerade
Ferien hatte wie im Moment. Er war Duden-Vertreter, fuhr mit
den Büchern in seinem Firmenwagen zu seinen Kunden,
führte überall im Süden Deutschlands Verkaufsgespräche.
Manchmal dachte ich, vielleicht kümmerte es ihn gar nicht,
dass Mama sich oft sonderbar verhielt. Dabei - jemanden, den
ich immer „Blüte“ nannte, würde ich wohl schon ganz schön
gerne haben. Papa hatte ihr diesen Kosenamen wegen der
Geschichte bei ihrer Verlobung gegeben. Manchmal, selten,
erzählte er davon, kopfschüttelnd, als wäre das Ganze der
entscheidende Beweis, dass es ihm – ausgerechnet ihm –
gelungen war, eine ungewöhnlich tolle Frau zu heiraten. Er
hatte ihr damals einen Arm roter Rosen geschenkt, und sie
hatte sich bedankt und dann gesagt:
„Schenk mir bitte in Zukunft immer nur eine einzelne schöne
Blüte, und die suchst du mir selbst aus. Versprichst du mir
das?“ Und tatsächlich: Oft, wenn er zurückkehrte von seinen
Verkaufsreisen, hatte er für sie eine schöne Blüte dabei: eine
Schwertlilie, eine Fliederdolde, eine einzelne Sonnenblume …
Eigentlich hatte sie etwas gegen Schnittblumen, aber ich
glaube, seine Blüten mochte sie tatsächlich. Wahrscheinlich
27
hatte er sie häufig einfach am Wegesrand abgebrochen oder
aus fremden Gärten geklaut.
Wenn er zu Hause war, im Garten oder im Keller an etwas
herumbastelte, dann rief er oft nach ihr:
„Blüte, kommst du mal? Blüte, hast du meine gelbe
Wasserwaage gesehen? Hältst du mal die Leiter?“ Blüte dies
und Blüte das. Komischerweise schien sie seine Rufe fast
immer zu hören, egal, wo sie gerade steckte. Nach einer
Weile kam sie einfach. Nicht, dass sie herbeieilte, sie bewegte
sich sowieso nie schnell, aber nach ein paar Minuten stand
sie vor ihm, sanft lächelnd, bereit, ihm Antwort zu geben oder
ihm zur Hand zu gehen. Geduldig hielt sie dann seine Leiter
fest, suchte in seinem Werkzeugkasten nach Nägeln, ließ ihre
freundlichen Blicke schweifen, während er umständlich
erklärte, warum sein handwerkliches Projekt diesmal wohl
scheitern würde. Manchmal blieb sie stundenlang in seiner
Nähe, lehnte gedankenverloren an einem Türrahmen, in der
Hand baumelte wie ein Blumenstrauß irgendeine Säge oder
ein Hobel – Werkzeug, das er vielleicht noch einmal würde
brauchen können. Nur selten, an wenigen Tagen, kam sie
nicht, wenn er nach ihr rief. Dann fuhr er nach zwei bis drei
Versuchen, mit fahrigen Bewegungen und gerunzelter Stirn,
einfach in seinem Tun fort, als hätte er niemals nach ihr
verlangt. Er rief auch den ganzen Tag nicht mehr – soweit ich
mich erinnere, begab er sich auch nicht ein einziges Mal auf
die Suche nach ihr.
Eine Sache war ganz merkwürdig. Ich habe nie – wirklich nie
– erlebt, dass Papa Mamas Zimmer betreten hat. Wenn er
ganz dringend etwas brauchte oder von ihr wissen wollte,
dann rief er laut vom Flur aus, manchmal klopfte er auch
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dabei, aber er drückte die Klinke nicht herunter. Er wartete
immer geduldig, bis sie aus der Tür trat.
Es war ein eigenartiger Gedanke, dass sie auch eine Art
Liebespaar waren. Sie fassten sich so selten an. Nur, wenn
Papa abreiste oder nach einer längeren Tour zurückkehrte,
hauchte er Mama einen Kuss auf die Wange. Manchmal
flackerten dabei ihre geschlossenen Lider so merkwürdig.
Hin und wieder, wenn Papa sehr gut gelaunt war, legte er
auch mal im Gespräch seine Hand auf ihre Finger, aber das
sah dann aus, als sei Mamas Hand gefangen und wartete
unruhig auf die Begnadigung.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich
zustande gekommen war. Ihre Betten waren so ordentlich und
so schmal. Eine Weile, ich muss zehn oder elf gewesen sein,
war ich häufig gegen Mitternacht wach geworden. Dann lag
ich da, hellwach, und lauschte ins Dunkel: Ich war mir sicher,
dass ich eines Nachts hören würde, wie Papa durch die
dunkle Diele zu ihr schleichen würde. Es war ein bisschen wie
in meiner Kindergartenzeit, als ich noch glaubte, meine
Puppen und Teddys erwachten im Dunkeln und eines Tages
würde es mir gelingen, sie dabei zu ertappen, wie sie
herumtanzten, einander Boxhaken verpassten oder ihre
Kleider tauschten. Ungefähr genauso wahrscheinlich, dass
meine Eltern sich in der Dunkelheit plötzlich in echte Liebende
verwandelten. In seinem leuchtend weißen Nachthemd würde
Papa sich ihrer Tür nähern, würde – als wäre es die leichteste
Übung – mühelos die Klinke hinunterdrücken und sich in ihr
Zimmer schieben. Er würde den Stoff seines Hemds am
hinteren Kragen packen und es über den Kopf ziehen, wie er
es immer mit seinen Hemden machte, und würde es im
Dunkeln auf den Boden werfen. Dann würde er auf ihr Bett
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zugehen, würde womöglich etwas Zärtliches,
Umschmeichelndes, Romantisches sagen (was nur?), würde
ihre Decke hochheben und sich neben sie gleiten lassen (zu
eng), oder auf sie drauf …? An der Stelle war mir immer leicht
eklig zumute gewesen und meine Phantasie hatte endgültig
versagt.
Trotzdem: Nacht für Nacht wartete ich auf die Schritte – oder
auf verräterische, skandalöse Geräusche wie dem Winseln
oder Stöhnen von dem Steffi, die Bravo-Leserin in unserer
Klasse, uns anderen Mädchen berichtet hatte. Aber das
Einzige, das ich zu hören bekam, war der Schlag der
Standuhr und irgendwann einmal Papas leises Gerede:
„ … komm meine Kleine, meine Süße … Leber hast du doch
so gerne …Ja: das tut gut.“
Irgendwann schlief ich dann doch wieder durch.
Wahrscheinlich hatte ich nicht lange genug durchgehalten.
Vielleicht waren sie auch nur besonders leise gewesen oder
sie taten es gar nicht nachts, sondern in den Stunden, wenn
ich im Turnverein und Oma bei der Fußpflege war – oder an
einem anderen Ort: auf Mamas Ohrensessel in der
Waschküche? Vielleicht waren sie aber auch wirklich nur
Eltern. Nichts sonst. Wie Puppen bloß Puppen waren und
Teddys Teddys.
Vielleicht merkten sie nicht, dass sie auch ein Liebespaar
hätten sein können. Vielleicht merkte Papa nicht, dass Mama
ziemlich eigenartig war – oder er nahm es als gegeben hin
wie unseren betrunkenen Pfarrer jeden Sonntag, die Ölkrise
oder unser Schweigen beim Essen, wenn er wieder von
seinem Lieblingsthema, der Kleinschreibung, anfing. Mir war
jedenfalls längst klar, dass er nicht zählte, wenn es darum
ging, auf Mama aufzupassen.
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Aber zumindest auf mich konnte Oma sich verlassen. Wenn
es um „Meine Mutter“ ging, war ich da, das wusste sie. Ich
fand es auch nie besonders schlimm, dass wir mehr als
andere als Familie unter uns blieben. Ich brachte sowieso
nicht so gerne Besuch mit. Lieber traf ich die Mädchen
nachmittags im Turnverein. Manchmal gingen wir danach in
die Eisdiele Venezia oder hingen bei Steffi herum, die ein
Zimmer mit eigener Terrassentür hatte. Wenn aber eine zu
mir kommen wollte, sagte ich einfach: „Nein“. Ganz klar und
ohne Begründung. Da fragte nie eine nach. An meinem
Geburtstag natürlich, da lud ich die Mädchen aus meiner
Klasse ein und die kamen auch. Einige jedenfalls. Sie guckten
sich zwischen den Tortenbissen neugierig um, als vermuteten
sie hinter unseren Vorhängen Ungeheuer, aber dann
entspannten die sich langsam. An diesen Tagen bereitete
Oma alles vor, backte Sahneschnitten und Buchteln,
schmückte das Wohnzimmer, dachte sich Party-Spiele aus
und ging gegen Abend aus dem Zimmer, wenn ich ihr, wie
verabredet, zuzwinkerte. Dann machten wir die Musik lauter
um zu tanzen. Mama blieb solange in ihrem Zimmer „um sich
auszuruhen.“
„Hey, statt vor Dich hin zu träumen oder Kitschromane zu
lesen, könntest Du Dich zur Abwechslung mal nützlich
machen.“ Erschrocken schoss ich von meiner Decke hoch.
Zerzaust und zerknittert reckte ich mich zur Buchsbaumhecke
hoch, hinter der die Stimme hervorgekommen war. Da tauchte
oben auch schon ein Gesicht auf: Dunkelbraune Augen in
einem großen Schädel mit Stoppelschnitt: Karl natürlich. Er
musterte mich amüsiert. „Ich glaub, da oben steht ein Knopf
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auf.“ Ich fummelte fahrig an meiner Bluse herum. Alle Knöpfe
bis auf den obersten waren geschlossen:
„Was willst Du?", fuhr ich ihn an.
„Eine Leiter.“ Ich stemmte eine Faust in die Seite.
„Und? Was hab ich damit zu tun?" Ich fand, es klang sehr
gelangweilt.
„War bloß Spaß, das mit der Bluse. Meine Alten sind im
Urlaub. Ich muss hier Klarschiff machen. Die Leiter zum
Apfelernten ist im Keller, der Schlüssel mit im Urlaub. Also, ...
was ist jetzt?" Ich wollte mich gerade ordentlich bitten lassen,
als ich hinter der Hecke eine melodische Stimme hörte, die
mich sofort erröten ließ.
„Also gut“, sagte Karl, „mein Freund Stefan meint, ich soll Dich
fragen, ob Du wohl so freundlich wärst? BITTE.“ Er grinste
ironisch. Ich nickte, langsam rückwärts gehend, wie ein
Wackeldackel, bis ich am Fuß der Gartentreppe fast stolperte
und schließlich, zwei Stufen auf einmal nehmend, hochsprang
zum Haus und zum Geräteschuppen.
Schön war er, der Tag. Stefan war wirklich sehr nett. Er hat
sich immer extra hochgereckt und mir den Eimer entgegen
gehalten, damit ich mit den Äpfeln besser hineinzielen konnte.
Nach dem Unterricht bei seinem Vater hat er mich manches
gefragt und dabei mit keinem Wort unsere Begegnung im
Schwimmbad erwähnt. Einmal meinte er sogar, dass ich eine
hübsche Bluse anhätte. So was wäre Karl im Traum nicht
eingefallen. Der hatte auch nur dröhnend gelacht und den Ast,
auf dem ich saß, am Ende gepackt und solange daran
gerüttelt, bis ich aufschreien musste. Stefan konnte ja nicht
mit hinauf auf den Baum, weil er Höhenangst bekam. Das war
natürlich blöd, weil er deshalb auch nicht viel von dem
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mitbekam, was sich oben abgespielt hat. Aber oben hingen
nun mal die meisten Äpfel. Karl hat mich dauernd geärgert,
ein bisschen wie früher, als er mir auf unserem Schulweg
Schnee in die Kapuze gestopft oder mir Juckpulver auf den
Rücken gerieben hatte. Diesmal warf er von Ast zu Ast mit
faulen Äpfeln oder ließ, wenn er mal nah genug an mich
herankam, weiße Maden vor meinem Gesicht baumeln. Aber
diesmal rächte ich mich. Ich ließ die schweren Zweige gegen
ihn schnicken, bis die Blätter rieselten oder zielte mit den
Äpfeln solange gegen seinen Eimer, bis die Hälfte des Inhalts
hinuntergekollert war. Stefan hob dann kopfschüttelnd alle
Früchte wieder auf und sortierte sie ordentlich in die Kiepen.
Ich hatte Karl auch aufgezogen mit seiner Bassstimme und
sein röhrendes Lachen nachgemacht, bis er wie ein Bär an
den Ästen entlang gekrochen kam und dabei rief:
„Ich krieg dich, ich krieg dich ...." Und als er ganz nah war, hat
er versucht, mich zu kitzeln, und ich habe gerufen:
„Stefan, komm hoch. Hilf mir …“. Ich bin dann auf meinem Ast
immer weiter rückwärts gerutscht, bis Karl nicht mehr
hinterher konnte, so groß und schwer wie er war. Irgendwann
haben wir dort oben angefangen zu singen. Ich glaube, es
begann damit, dass ich beim Pflücken gepfiffen habe und Karl
hat dann die Melodie aufgegriffen:
„Die süßesten Früchte kriegen nur die großen Tiere ...“
Danach sangen wir „Streets of London“. Da hat Stefan noch
mitgesungen. Eine schöne, eine hellere Stimme als Karl hat er
– ich habe sie noch im Ohr. Da war ich mir noch sicher, dass
es auch ihm auch Spaß gemacht hat an dem Nachmittag. Und
Karl glaubte das auch. Wir haben noch viel gesungen an
diesem Nachmittag, zum Beispiel „Lemon tree, very pretty ...“,
Karl extra tief und ich ganz hoch. Wir merkten gar nicht, wie
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die Zeit verging, weil wir soviel lachten. Irgendwann war
Stefan einfach fort. Er hat nicht mal Auf Wiedersehen gesagt.
So was machte man doch nicht. Ich habe es jedenfalls nicht
verstanden, gerade bei Stefan. Aber Karl meinte,
wahrscheinlich habe er noch Geige üben müssen. Er sei ganz
verrückt mit seiner Musik. Die sei ihm nun mal das Wichtigste
auf der Welt. Und während Karl noch sprach, rüttelte er schon
wieder von oben an der Leiter, von der ich gerade versuchte,
hinab zu steigen. Also musste ich oben bleiben, konnte gar
nicht mit dem Rad hinter Stefan herfahren, ihn fragen, warum
er sich so aus dem Staub gemacht hatte, ob er nicht
zurückkommen wollte. Und dann war es doch auch schon
Abend, und Oma stand hinter dem Zaun und tockte mit dem
Zeigefinger auf ihre winzige goldene Uhr, bevor sie ins Haus
zurückschlappte, wo sicher ein Krug mit Fruchtmilch auf mich
wartete.
Karl landete neben mir im Gras und klopfte sich Blätter vom
Hemd. Dann nahm er ein vertrocknetes Blatt von meiner
Schulter und drehte es in seiner Hand. Wir schwiegen.
„Also ...“ Er räusperte sich und streckte mir steif die Hand
entgegen: „Einen schönen Abend noch.“ Ich ergriff seine
riesige braune Hand und nickte.
„Danke, Dir auch.“
Es war an einem der folgenden Abende, als Oma plötzlich fort
war. Einfach so. Ein Gedeck weniger am Abendbrottisch. Ich
merkte es erst, als ich schon an meinem Platz saß. Erhitzt
und mit zerdrücktem Kleid war ich hineingestürmt in die
Küche, wieder mal ein wenig zu spät, in der Hand noch den
Apfel, den Karl mir zugeworfen hatte, als ich schon die Hecke
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erreicht hatte - als hätten wir nicht den ganzen Tag beim
Ernten schon viel zu viele Äpfel gegessen.
"Wo ist Oma?“
„Wasch Dir die Hände und kämm Dich!“ Papa zerschnitt
konzentriert seine Tomate in akkurate Achtel. Mama stapelte
sorgfältig Weißbrotscheiben neben ihrem Teller.
Wahrscheinlich fühlte sie sich sicher, weil Oma nicht da war.
Ich stand auf und schlappte Richtung Badezimmer. In der Tür
drehte ich mich um:
„Ich will wissen, wo Oma ist.“
„Im Theater.“ Papa maß jedem Achtel die angemessene
Menge Salzkörner zu: "Mit dem Altenkreis.“
Mein Gesicht im Badezimmerspiegel war gerötet, die Pupillen
fast schwarz. Ich gefiel mir. Das kalte Wasser auf den
Handgelenken tat gut.
"Du solltest mal ausgehen, Mutti“, hatte Mama sie manchmal
gedrängt. "Geh doch mal zum Gemeindealtenkreis. Da hättest
Du Gesellschaft.“ Dabei ging Mama selber niemals aus. Meist
hatte Oma nur geschnaubt - und dabei wie stets
irgendwelches Obst oder Gemüse geschält, geschnitten,
geraspelt.
"Ich bitte dich: Da sind nur alte Leute.“ Damit war das Thema
für sie erledigt.
Oma unterwegs mit dem Altenkreis – nicht möglich …
Das Abendessen verlief schweigsam. Mama bestrich mit
fahrigen Fingern Scheibe um Scheibe ihres Brotstapels mit
Butter und Streichkäse, als gelte es eine Schulklasse für
einen Ausflug auszurüsten – oder einen ausgehungerten
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Treck Flüchtlinge zu versorgen. Als sie meinen Blick spürte,
lachte sie nervös:
"... hab heute vielleicht einen Appetit.“ Mama aß immer nur
eine Schnitte am Abend. Immer.
Ich betrachtete Papas gepflegte Hände, die den Schinken in
ein rechtwinkliges Viereck schnitten, das genau
deckungsgleich mit seiner Toastscheibe war. Er war seit 15
Jahren mit Mama verheiratet. Was wusste er eigentlich von
ihr?
"Rechts ist es schief.“ Ich deutete kauend auf seinen Teller. Er
zog die Stirn in Falten:
"Wirklich?“ Unsicher drehte er den Teller.
„Wirklich!“ Fast tat er mir leid. Fast.
Als ich das Licht in Omas Zimmer anschaltete, kam ich mir vor
wie ein Eindringling. Ich war selten alleine hier oben. Der
Raum wirkte plötzlich viel größer ohne Oma. Ich knipste auch
die Stehlampe mit den goldenen Fransen an und ließ mich auf
das nachgemachte Biedermeiersofa fallen. Oma liebte
Stilmöbel. Sie verachtete unsere Schleiflackmöbel mit den
dünnen Beinen, die Papa zur Hochzeit angeschafft hatte. Ihr
Zimmer nannte sie immer "den Salon.“ Die schweren
Samtvorhänge waren zugezogen, ein Hauch von Tosca lag in
der Luft. Auf dem runden Glastisch lagen ihre Zuckertütchen
verstreut. Das war ungewöhnlich. Oma war immer sehr
ordentlich, besonders mit ihrer Zuckersammlung. Der
geschnitzte Schrank war randvoll mit Schuhkartons, in denen
sie ihre Papiertütchen, -Röllchen, -Pyramiden und -Würfel,
sortiert nach Städten und Ländern, aufbewahrte. Wie oft hatte
36
ich in den vergangenen Jahren auf dem Boden gekauert und
die knisternden Zuckerpäckchen mit den bunten Bildern und
exotischen Ortsnamen betrachtet, geordnet, zu Türmen
aufgeschichtet, in Reihen sortiert. Die roten Röllchen aus
Rimini, der braune Zucker aus Madeira, eingeschlagen in
roseéfarbenes Pergamentpapier, die fremden Schnörkel,
schwarz auf weiß, aus Dubai … Ich kannte Hunderte ihrer
Stücke in- und auswendig. Eines Tages würde ich ihre
Sammlung erben. Das war ausgemachte Sache zwischen
uns. Gedankenverloren spielte ich mit den Beuteln, die über
den Tisch verstreut waren, betrachtete einen silbern
gedruckten Tempel auf einem nachtblauen Tütchen, einen in
Jugendstilmanier gezeichneten Saxophonisten auf einem
Würfelzucker, schwarze Notenlinien, die sich spiralförmig um
ein rotes Zuckerröhrchen zogen. Oma, die kaum aus dem
Haus ging, schrieb sich mit Dutzenden von ZuckertütchenSammlern. Ich las: „Kurcafé Bad Rappenzell“, „Piano-Bar Bad
Rappenzell“. Oma war sicher noch nie in einer Piano-Bar
gewesen. Komische Vorstellung: Omas Gnubbelfüße in den
Latschen lässig auf den Streben eines Barhockers, wie ich sie
im Partykeller bei Doris Eltern gesehen hatte. Ich musste
grinsen: Ihre runden Hände, die nie untätig waren, ruhig ein
schmales Cocktailglas umfassend ... Irgendjemand hatte
kürzlich Bad Rappenzell erwähnt. Ich drehte das
Zuckerröhrchen zwischen den Fingern. „Jazzclub Wonderful
World“ las ich und dann, winzig klein, mit Füllfederhalter
darunter gekritzelt: „… in Gedanken bei Dir, in Liebe Franz.“
Klar: Franz Nowottny, mein Klavierlehrer mit dem
Fingerstumpf, er war im Frühsommer zur Kur in Bad
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Rappenzell gewesen, er spielte hin und wieder in Cafés
Klavier. Herr Nowottny war in Oma verliebt. In meine Oma.
Sie war gar nicht mit dem Altenkreis unterwegs. Was wollte
Oma mit so einem Mann? Was wollte Oma überhaupt mit
einem Mann? Oma war alt. Sehr alt. Ich dachte an ihre
Gnubbelfüße, ihre hängende Brust. „In Liebe“: Was wusste so
ein Mann denn von Liebe? Sie hatte doch uns. Mich.
Außerdem musste sie doch aufpassen, dass nichts
durcheinanderkam. Überhaupt: Ich blickte hinüber zu Omas
Messingpendule: Zehn vor neun Uhr. Heute war ja ich dran. In
zehn Minuten würde „Was bin ich?“ vorüber sein. Ich musste
mich beeilen, bevor Mama zu Bett ging. Ich wollte schon die
Treppe hinunter springen, da sah ich durch das Flurfenster
einen gelben Lichtschein. Das Wohnzimmerfenster drüben bei
den Nachbarn. Es lag auf gleicher Höhe, schräg gegenüber,
etwa zehn Meter entfernt. Noch immer war es nicht dunkel.
Das Licht in der Dämmerung war silbrig. Einzelne Wolken
trieben durch die letzten rosa Schlieren. Man sah drüben
hinter den weißen Rüschen nur einen Schatten, der sich
bewegte: Karl, wie er im Wohnzimmer umher ging - alleine.
Vielleicht holte er sich gerade ein Glas Limo, vielleicht lag auf
dem grauen Sofa ein aufgeschlagenes Buch. Ob er wohl
geduscht hatte? Die Luft war noch immer warm. Was hatte er
sich übergezogen? Ich sah ihn vor mir, wie er im
Schwimmbad neben mir ins Wasser gesprungen war, seine
braune Hand, die mir Wasser ins Gesicht spritzte …
Die Zeit war knapp. Mama war schon im Bad. Nur noch
wenige Minuten. Mischka lag mal wieder auf Mamas Bett. Ich
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warf sie in die Ecke und beachtete ihr klagendes Maunzen
nicht. Ich klappte die Matratze hoch, um an den Bettkasten zu
kommen. Es war schlimmer, als ich dachte. Diesmal lagen
nicht nur die sieben, acht Stullen in der Kiste, die sie sich
vorhin geschmiert hatte, sondern auch jede Menge
vergammeltes Gemüse und Obst. Dutzende von Ameisen
krabbelten auf braun gewordenen Äpfeln, verschimmelten
Möhren, matschigen Tomaten. So schlimm hatte sie es lange
nicht mehr getrieben. Oma musste wirklich wieder mit ihr
reden. Sie hatte schließlich nicht auf Mama aufgepasst in den
letzten Tagen. Alles wegen dieses nach Parfüm stinkenden
alten Kerls. Als ich gerade dabei war, leise fluchend den Abfall
in die mitgebrachte Tüte zu stopfen, hörte ich die
Badezimmertür. Mir brach der Schweiß aus. Zum Glück hatte
auch die Katze den Schlüssel im Schloss gehört. Sie
schlüpfte, noch immer wütend über meine Rohheit, durch die
angelehnte Tür und lief zu Mama, die Gott-sei-Dank auf
Mischkas Mitleidstour hereinfiel. Sie ging mit dem
maunzenden Tier in die Küche, um es abzufüttern. Schnell
klappte ich das Bett zu, zerrte die Decke halbwegs zurecht,
stürmte hinaus, durchs Haus und der Mülltonne zu, um mal
wieder Mamas schreckliche Erinnerungen zwischen
Kartoffelschalen und Kekstüten zu versenken.
Oma rollte den hauchdünnen Apfelstrudelteig auf einem Brett
auf dem Gartentisch aus. Ich starrte auf ihre runden Hände.
Das Weiße an ihren kurzen Nägeln war sorgfältig zu kleinen
Sichelmonden gefeilt. Sie war vorgestern bei Frau Würsching
gewesen, aber die Hände hatte sie sich dort nie zuvor
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machen lassen. Pril war normalerweise ihre einzige
Handpflege.
„Und, war es schön mit dem „Altenkreis“, gestern?“ Ich zog
die Füße auf den Sitz des Gartenstuhls und gab mir Mühe,
möglichst viele Apfelschnitze zu futtern.
„Setz Dich ordentlich hin. Man sieht alles.“ Ich war gerade erst
aufgestanden, hatte noch mein kurzes Nachthemd an. Ich
klappte die Knie auseinander. Sie blickte nicht auf. Ich beugte
mich weit vor und betrachtete meinen hellblauen
Frotteeschlüpfer. Rechts und links schauten blonde Härchen
hervor. Ich zupfte daran. Ich war sonst gar nicht blond. Ich
linste hoch. Sie guckte nicht. Sie zog den dünnen Teigfladen
in die Breite. Mit dem Nudelholz rollte sie ihn noch breiter aus.
Man konnte schon fast durch den Teig hindurch sehen. Ich
setzte mich auf, zog mir das Hemd über die Knie.
„Oma …“, sagte ich streng.
„Na, Mucki: Hast Du Dein Buch schon zu Ende gelesen?“
Oma schüttete eine Tüte Rosinen in die Apfelschüssel.
„Welches Buch?“ Wovon sprach sie?
„Das mit Napoleons Geliebter. Du kannst es mir mal leihen.
Scheint ja interessant zu sein.“ Oma lächelte. Ich klaubte ihr
die letzten Rosinen aus der Schüssel:
„Das Buch ist doof.“ Was sollte das jetzt? „Außerdem ist es
nichts für Dich.“ Oma gab mir einen Klaps auf die Finger.
„Da haben wir etwas gemeinsam. Du bist dafür zu jung und
ich bin zu alt.“ Sie mischte die Mandeln in die Füllung.
„Übrigens …. Dein kleiner Freund hat gestern Nachmittag
angerufen.“ Warum grinste sie schon wieder?
„Wer?“ Ich hatte keine kleinen Freunde.
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„Na, der kleine Freund von Karl drüben.“
„Stefan ist nicht klein. Was wollte er?“
„Dich zu seinem Geigenkonzert am Sonntag einladen. Wir
haben uns nett unterhalten.“ Ich kaute Mandeln und schwieg.
Man hörte nur das Sirren des Rasensprengers und Papas
leises Fluchen im hinteren Garten. Er wollte heute den
Rasenmäher reparieren. Ich setzte mich aufrecht hin:
„Oma, Du musst mit Mama reden.“ Sie stapelte sorgfältig die
leeren Schüsseln auf dem Tisch, lächelte vor sich hin. „Hörst
du nicht? Es ist alles durcheinander gekommen.
Deinetwegen!“ Ihre mehlstaubigen Hände arbeiteten
konzentriert weiter – wie eine Maschine. Die Füllung wurde
genau zwei Zentimeter dick auf dem Teig aufgebracht. Früher
hatte immer ich das machen wollen. Gleich käme der
schwierigste Teil, das Einrollen. Bei ihr sah der Teig immer
vollkommen aus: glatt und geschmeidig. Sie blickte nicht auf:
„Zehn Uhr hat er gesagt. Im Paulusheim. Ich hab´s
aufgeschrieben.“
„Ameisen! Es waren schon Ameisen drin.“ Oma legte den
Löffel beiseite. „Oma, du hast nichts getan!“ Sie beugte sich
zu mir, zerdrückte mit ihrer runden, noch immer
mehlstaubigen Hand meine Haare:
„Ach, Mucki.“ Dann rollte sie den Strudel zu einer perfekten
Rolle. Ohne Risse an der Oberfläche.
Papa hatte in seinem Zimmer eine Maus entdeckt: „Sie hat es
geschafft! Sie hat es geschafft!“ Für ihn war der Sonntag, an
dem ich den ersten Kuss bekam und an dem auch die
Katastrophe begann, ein Glückstag: Er dachte, Mischka hätte
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sie zu ihm ins Schlafzimmer getragen, und sie sei ihr
entwischt. Alle außer Papa wussten: Mischka war zu dumm
zum Jagen. Außerdem hatte sie Angst vor Mäusen. Wenn sie
im Garten eine Maus entdeckte, sprang sie für gewöhnlich auf
einen Baum, machte einen Buckel und maunzte. „Zu früh von
der Mutter weg“, sagte Oma immer. Papa wollte sich damit
nicht zufrieden geben. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, dem
nichtsnutzigen Tier das Jagen beizubringen. „Wäre doch
gelacht“, sagte er immer. Einmal hatte er sie in den
Kriechkeller gesperrt und eine gute Stunde lang auf einem
Klapphocker vor der Tür ausgeharrt in der Hoffnung, dass sie
dort im Dunkeln plötzlich von ihrem Jagdinstinkt gepackt
würde. Der einzige Effekt war, dass sie panisch von innen an
der Tür kratzte, jämmerlich maunzte und vor lauter Angst
mehrmals auf die Schwelle pinkelte, so dass es noch
monatelang im ganzen Keller stank, wenn ich Bier oder
Kompott hoch holte. Als Papa damals endlich die Tür öffnete
und das verängstigte Tier hochnahm, war sein Gesicht
tränennass.
Auch in der Nachbarschaft wusste jeder, Mischka war eine
Versagerin. Papa wollte der Welt das Gegenteil beweisen.
Also ging er, wann immer ein Jagdobjekt in ihrer Nähe war,
auf alle Viere und machte merkwürdige Verrenkungen. Er
vollführte auf dem Rasen sonderbare Sprünge, bis seine
kurzen Hosen auf halb acht hingen. Man konnte sogar die
Poritze sehen. „Wäre doch gelacht“! Mit den Fingernägeln
scharrte er in Mauselöchern oder Maulwurfshaufen. Dazu
schrie er: „Da! Da!“ Er steckte seine Nase fast in den Sand,
während die Katze auf dem Baum ihr Fell leckte, und der
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Nachbar von gegenüber den Balkon seiner Wohnung verließ,
um den Feldstecher zu holen.
Papa glaubte allen Ernstes, diesmal hätte es geklappt. Er
meinte, Mischka hätte ihm, wahrscheinlich aus Dankbarkeit
für seine Belehrung, ihre erste gefangene Maus zu Füßen
legen wollen. Leider konnte er die Katze nicht loben, weil sie
nirgends zu sehen war; die Maus auch nicht mehr. Sie saß
längst unter Papas Schrank. Als er sich in sein Zimmer
aufmachte, ausgerüstet mit Scheibletten und einem
Papierkorb, ahnte doch keiner von uns, was da noch kommen
würde.
Ich hatte auch gar keine Zeit, das Ganze zu verfolgen. Es war
doch der Tag des Konzerts – und der Tag, an dem Karl mir
am Nachmittag die Tiere zeigen wollte: Rehe, Hirsche,
Wildschweine. „Es ist fantastisch. Das musst du sehen: Wenn
Maisernte ist, flüchtet das Wild vor den Erntemaschinen“,
hatte er erzählt, „man kann es dann so toll beobachten wie
sonst nie.“ Später würde er mal Förster werden, da war er
sicher.
Ich wollte bei der Ernte dabei sein – aber auch vormittags bei
dem Geigenvorspiel. Ich hatte mir mein neues rot-weiß
gestreiftes Trägerkleid angezogen, das Oma mir im Katalog
bestellt hatte. Ich dachte, es sei zu eng, aber es passte. Ich
zog den Bauch ein und reckte die Brust vorm Spiegel: etwas
moppelig, aber nicht besonders moppelig. Ich stellte mir vor,
wie ich am Nachmittag mit Karl durch das kniehohe Gras
laufen würde, der schwingende Rock, mein frisch
gewaschenes Haar im Wind …
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Die meisten Klappstühle waren frei. Es saßen nur ein paar
Eltern und Großeltern herum und eine Frau trug zischelnd ihr
Baby herum, das unablässig plärrte. Es war grässlich heiß im
Saal des Petrusheims, in dem auch mein Firmunterricht
stattgefunden hatte. Ich kannte das schon, die Hitze drückte
im Sommer durch die vielen Oberlichter herein. Ich setzte
mich ans Ende der zweiten Reihe, schob die Beine ein paar
Zentimeter auseinander, damit die schwitzige Haut unter dem
Rock nicht zusammenklebte. Auch neben mir waren noch
Plätze frei. Merkwürdig, dass Karl nicht da war. Es war
Stefans bislang wichtigstes Konzert. Karl hatte gesagt, er
machte sich nichts aus klassischer Musik. Stefan wüsste das,
nehme es ihm nicht übel, wenn er zu so was nicht käme.
Vorsichtig schaute ich mich um: Mein
Gemeinschaftskundelehrer, Stefans Vater, war zum Glück
nirgends zu sehen, auch keine Spur von Stefans grässlicher
Schwester. Meine Uhr zeigte schon acht nach zehn. Drei
Notenständer und ein Klavier standen erwartungsvoll auf der
Bühne, einem holzgezimmerten Podest. Ich rutschte in der
Plastikschale hin und her.
„Hier!“ Stefan. Er stand plötzlich vor meinem Stuhl und
streckte mir eine gelbe Rose entgegen. Verdattert erhob ich
mich. Meine erste Rose! Desiree hätte gehaucht:
„Für mich?“ Sie hätte die zarte Blüte zum Gesicht geführt,
hätte, die Augen geschlossen, den Kopf leicht nach hinten
geneigt, das betörende Aroma eingesogen, hätte nur ein Wort
geflüstert: „Bezaubernd ...“
„Fehlt dir was?“ Stefan packte mich am Ellenbogen: „Die Luft
ist auch wirklich grauenhaft.“ Ich öffnete die Augen wieder.
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Stefan trug einen schwarzen Anzug aus einem dick
aussehenden Stoff und ein offenes weißes Hemd. Stand ihm
gut. Auf seiner Stirn unter dem leicht gewellten blonden Haar
perlten Tröpfchen. Sein rechtes Brillenglas war leicht
beschlagen. Ich fuhr mir mit der Hand in den Nacken.
„Wo sind deine Eltern?“
„Bei meiner Oma. Alle zusammen. Der geht´s nicht gut.“ Ich
zog fragend die Brauen hoch. „Sie verträgt bloß die Hitze
nicht.“ Dann sagte er nichts mehr und guckte. Sah mich
einfach schweigend an. Ich zog den Bauch ein, wusste nicht,
wohin mit der Rose, die im Übrigen nach gar nichts roch. Ich
deutete mit dem Kopf Richtung Bühne. Dort wurde es
langsam unruhig.
„Aufgeregt?“ Der Kaplan trat mit einem Stapel Zettel nach
vorne, sprach in das völlig überflüssige Mikro: „Eins. Eins.
Eins.“ Dann schaffte er es, eine Rückkoppelung herzustellen.
Ich grinste. Stefan sagte nichts. Er sah mich an, ja, er starrte
mich an, als sei er taub. Ich lächelte ihn fragend an. Doch er
ließ seinen Blick einfach nur weiter still über mein Gesicht
wandern. Hatte ich Mamas Lippenstift verschmiert? Ich sog
unsicher die Lippen ein. Dann legte ich die Rose auf den
Stuhl. Der Pianist im Frack lief jetzt über die Bühne, nahm auf
dem Hocker Platz … Ich zeigte nach vorne.
„Du musst, glaub ich …“ Jetzt erst, endlich, löste sich Stefan
aus seiner Starre:
„Hast du nachher noch ein bisschen Zeit?“ Ich nickte.
„Klar.“
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Ich schwitzte auch noch im Schatten der dichten alten Linde
und schlug abwechselnd mit den Hacken gegen das
Mäuerchen, auf dem ich saß. Bis auf die Musiker und den
Hausmeister waren längst alle fort. Von Ferne hörte man nur
noch das heulende Kind, das die Mutter während des
Konzerts immer wieder vor der Tür herumgetragen hatte.
Robert Schumann: „Streichquartett Nr. 2 F-Dur op. 41,2“ las
ich auf dem Plakat an der Tür, und: „Joseph Haydn:
Lerchenquartett op. 64 Nr. 5 in D-Dur“. Klang für mich wie die
Zahlen und Zeichen des Periodensystems. Die Musik war
schön gewesen, beruhigend, ein bisschen einschläfernd,
irgendwann zwischendrin zu schrill. Ich fand, es hatte zu
lange gedauert, aber das ging mir immer so bei klassischer
Musik. Er setzte sich neben mich ohne auf seine gute Hose zu
achten. Die Geige behielt er im Schoß. Er hatte kein Jackett
mehr an und sein Hemd zeigte Schweißflecke unter dem Arm,
aber als er so auf mich zugekommen war, den Geigenkasten
in der Rechten und die Noten unter dem linken Arm, sah er
sehr elegant aus. Seine Wangen waren gerötet, die Augen
ganz blank:
„Und – hast du´s gehört, wir haben etwas wirklich Neues
probiert: Im Lerchenquartett, im Satz Allegro moderato ...“ Ich
sah, wie sich die Träger eines Unterhemds unter dem dünnen
Hemdenstoff abzeichneten. Karl trug bestimmt niemals
Unterhemden. „ … die ersten Akkorde – wir haben sie diesmal
nicht lieblich gegeben. Da war eher etwas, wie soll ich sagen,
leicht Neckisches. So etwa …“ Er pfiff eine Melodie, die mir
unbekannt vorkam. Kein Haar im Hemdenausschnitt. Seine
Haut sah weich aus, hell und seidig. Karl hatte ziemlich viele
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Haare, auch auf den Unterarmen, „ … dann in der ersten
Geige: dieser schwärmerische, blühende Gesang, der trägt
alle solistischen Melodien …“ Seine Hand flatterte auf
Schulterhöhe. Eine schmale blasse Hand. Fast quadratische
Fingernägel mit gleichmäßigen Monden. „ … auch im dritten
Satz – endlich mal kein edles Menuett – ein echtes Scherzo
war das, ein burleskes Scherzo …“ Seine Finger tanzten jetzt:
Klavierspielerhände hätte Oma gesagt, dabei hatte ihr
Klavierspieler grässliche 9-Finger-Hände … Er brach ab. Sah
mich an – wartend. Ich hatte nicht zugehört. Er ließ seine
Hand sinken, sagte: „Ich quatsch dich voll, ja?“ Einen Moment
lang hielten wir beide die Luft an. Ich schüttelte leicht den
Kopf, nickte unsicher – und dann lachten wir los. Sein Hals
hatte sich vor Verlegenheit ein bisschen gerötet. Seine Zähne
im offenen lachenden Mund standen ganz gerade. „Ich bin
schrecklich, wenn´s um Musik geht. Okay, ich geb´s zu.“
„Nein, nein. Ich meine, war doch riesig schön, das Konzert.“
Klang ziemlich müde: „Doch. Wirklich.“ Er nickte vor sich hin,
fragte:
„Und du? Was ist mit dir?“ Mit einem Finger strich er sanft
über den Geigenkasten: „Ich mein, wie geht´s dir so?“ Ein
schneller Blick von der Seite. Wie sollte es mir gehen?
„Prima.“ Ich grinste noch immer. Er schaute nach unten,
schwieg. „Klar. Danke.“ Warum sprach er nicht? Ich schob
nach: „Ferien. Sommer. Sonne – ist doch toll …“ Seine Hand
streichelte nun den Hals der Geige. Glatte helle Hände auf
dunklem Leder:
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„Ich meine, es ist ja bestimmt manchmal nicht so leicht … für
dich.“ Er zögerte: „… zu Hause.“ Er sah mich unsicher von der
Seite an. Ich rutschte auf der Mauer herum:
„Warum?“
„Ich meine …“. Er brach ab, schüttelte den Kopf, dann legte er
den Kasten behutsam neben sich: „ … Ach, nichts.“
Ich wartete. Er holte vernehmlich Luft – und atmete wieder
aus. Schließlich sagte er: „Wollen wir mal zusammen
schwimmen gehen, im Waldschwimmbad – ich setz dann
auch meine Brille auf.“ Ich zwang mich zu lächeln:
„Vielleicht.“ Bloß nicht streng klingen jetzt: „Aber, sag schon:
Was wolltest du denn gerade sagen?“ Ein freundschaftlicher
Stoß in seine Seite: „Hey … rück´s raus?“
„Ach, ich weiß auch nicht. Ich dachte nur …“ Dann sagte er
es: „Was ist eigentlich mit deiner Mutter los? Die ist irgendwie
krank, oder?“ … und seine Hand ging zögernd an seinen
Kopf.
Die Luft war klar, der Himmel riesigblau. Karl ging hinter mir
über die Wiese. Von Ferne hörten wir das Brummen der
Gigantenmaschinen. Plötzlich waren sie auch zu sehen – weit
vorne stiegen helle Staubwolken auf, dazu blitzte es silbern:
Reflektionen auf ihrem Metallbauch. Ich wandte mich um.
„Ein Ufo! Bestimmt Außerirdische, die auch gerade
Sommerferien haben.“ Er lachte, ein bisschen bollernd:
„Klar. Die haben sich auf ihrer Urlaubsexpedition verflogen,
und jetzt können sie ihre Hotelbodenstation nicht orten.“ Dann
holte er auf, ging neben mir, federnd: „Hotel Orion, bitte
kommen, bitte kommen …“ Ich konnte ihn riechen: etwas
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leicht Scharfes, dazu Äpfel, sein Baumwollhemd. „Gästehaus
Orion garni – wir wollen andocken …“ Eine Lerche war über
uns. Lerchen waren meine Lieblingsvögel. Hätte kitschig
geklungen. Ich rupfte ein paar Getreidehalme ab, streifte
Samen zwischen den Fingern ab. Ich dachte an das
Lerchenquartett. „Wie war eigentlich Stefans Konzert?“
Konnte er Gedanken lesen?
„Schön.“ Er wartete. Was sollte ich sagen? „Nicht besonders
lieblich. Ein Scherzo oder so …“ Er lachte.
„Du hast auch keinen Schimmer von Musik.“ Vor uns, direkt
am Waldrand, tauchte ein Hochsitz auf. Nur noch ein Stück
über einen Kartoffelacker. Er ging voran, kletterte leichtfüßig
hinauf. Ich folgte ihm. Seine Stimme, etwas dumpf von oben:
„Er ist in dich verliebt.“ Seine Hand half mir über die letzte,
besonders hohe Sprosse. Dann sah er mich forschend an. Ich
schwieg, kniete mich auf das Brett, das als hölzerne Bank
diente. Vor uns erstreckten sich ewig weit Felder und Weiden.
Karl stand wenige Zentimeter hinter mir, leicht gebeugt, um
sich nicht am Dach zu stoßen. Überhaupt schien mir der
Hochsitz plötzlich winzig, viel zu eng für zwei. Unablässig
starrte ich auf den Feldrein, griff schließlich zu Karls
Feldstecher auf der Bank, um die Wiesen nach Spuren von
Wild abzusuchen. Ich sah nichts als grau-schwarze Schlieren.
In meinem Bauch rumorte es. „Ich glaube, er wollte gar nicht,
dass ich mitkomme“, sagte er. Ich rutschte auf den Knien hin
und her. „ … heute Vormittag, zu seinem Konzert, meine ich.“
Ich umklammerte das Fernglas mit Fingern, die sich trotz der
Hitze klamm anfühlten. „Das ist ja nicht so einfach …“ Karls
Stimme direkt hinter mir hörte sich an wie aus weiter Ferne.
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„Er ist doch mein bester Kumpel.“ Er lachte. „Also ... verstehst
du?“ Ich lauschte den Lerchen. Das Tirilieren war jetzt fast zu
schrill. Sie mussten direkt über dem Dach des Hochsitzes
stehen. „Geht mich ja nichts an“, fuhr er fort. Ich schwieg.
„Oder besser …“, er lachte, „ … sollte mich nichts angehen,
wenn er was von dir will.“ Jeder Satz eigentlich eine Frage.
Mir schien, als spürte ich jetzt seinen Atem hinten an meinem
Hals. Die Zeit wurde zu einer Blase – riesig, weiß, eklig – wie
ein Kaugummiballon in meinem Rücken, der soviel Platz
einnahm auf der winzigen Plattform. Ich hielt die Luft an.
„ … Tut´s aber.“ Ich konzentrierte mich auf die Schlieren im
Fernglas. Wenn ich mich zur Seite wendete, geschah etwas
mit ihnen. Ganz schnell ließ ich den Kopf einmal von rechts
nach ganz links schnellen, und schon verwandelten sie sich in
einen Schneesturm in unendlicher arktischer Weite: jaulende
Wölfe, die sich voller Angst um sich selbst drehten,
orientierungslos im Flockenwirbel …
„Nelly? He, hörst du überhaupt zu?“ Sie duckten sich,
schlichen nun, nah hintereinander mit eingezogenen Ruten,
durch das undurchsichtige Gestöber … „Nelly, DA sind die
Rehe.“ Er fasste mich an die Schulter, fast grob schob er mich
nach rechts: „Schau nur: acht, neun, zehn …“ Ich ließ das
Fernglas sinken. Es waren bestimmt ein Dutzend. Die
vorderen liefen jetzt in hohen Sprüngen durch das Gras, die
hinteren folgten Ihnen leichtfüßig, übermütig überholend.
„Mensch, Nelly ...“ Seine Stimme voller Freude: „Weißt du
überhaupt, wie die Rehe leben?“ Und er flüsterte fast an
meinem Hals: Wie sie Winterruhe hielten, ohne zu schlafen.
Wie sie sich im Herbst paarten, wie das Weibchen das
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befruchtete Ei im Winter monatelang in ihrem Körper trug,
ruhend, bis die richtige Zeit für die Zellteilung gekommen war.
Seine Hand lag dabei weiter auf meiner Schulter, als hätte er
bloß vergessen sie wegzunehmen. Tief und rau klang seine
Stimme. Die Rehe waren längst im Wald verschwunden. Die
Lerche schwieg. Ich lehnte mich weit vor und blickte zum
Himmel. Nichts als Blau. Ob ich mir das vorstellen könnte:
Erst in der Mitte des Winters dürfte das Kleine im Körper zu
wachsen beginnen ...
Ein Bussard: hoch über uns zog er seine Kreise, schwerelos.
Meine Blicke folgten ihm, bis er, einen weiten Bogen
beschreibend, zwischen den Wipfeln der Bäume verschwand.
„Erst wenn es für das Junge warm genug geworden ist da
draußen“, sprach er weiter, „dann, im Frühling, wird es
geboren, damit es geschützt ist vor der Kälte des Winters.“
Am Anfang schien mir noch, es läge am Hunger. Ich hatte
mittags nichts von dem Kasseler mit Ananas runter
bekommen, dabei hatte ich doch sonst immer Appetit.
Vielleicht war mir ja deshalb so flau. Aber eigentlich wusste
ich schon, was es war. Da war diese raue Stimme in meinem
Nacken, der Geruch nach trockenem Holz, der Gedanke an
dieses Reh, das Gewicht von Karls Hand auf meiner Schulter,
das Bild, wie er mir im Schwimmbad Wasser ins Gesicht
gespritzt hatte – aber auch Stefans helle, knochige Finger sah
ich vor mir, wie sie nach dem Konzert behutsam über den
Geigenkasten in seinem Schoß gestrichen hatten. Doch da
war noch etwas anderes, diffuse Bilder: dunkle Haare an
Männerwaden, Speichelzungen, Papa nackt, wenn er aus
dem Bad kam, das Gebamsel zwischen den Beinen der
51
Männer und ich hatte plötzlich Sehnsucht nach Oma und
danach, jetzt wie sonst oft um diese Zeit am Gartentisch mit
ihr Bohnen zu schnibbeln, Beeren abzuzupfen, Erbsen zu
puhlen. Ich sollte mich umdrehen, ich sollte jetzt etwas
Harmloses sagen, einen Witz machen, ich sollte … Karl
berührte mich nur leicht am Hals. Kalt-heiß rieselte es über
den Rücken. Ich drehte mich um, wollte eigentlich „He, das
kitzelt“ rufen, ihm mit dem Finger in den Bauch pieken, aber
ich sagte nichts, tat nichts. Ich sah ihn nur an. Die Hände
hinter mir auf der Brüstung aufgestützt, begegnete ich seinem
wartenden schwarzen Blick. Als ich die Augen schloss, seine
Lippen weich auf meinen spürte, stellte ich mir vor, wie sich
jetzt die Außerirdischen in ihrer Kapsel im Vorüberfliegen an
den Luken die Nasen platt drückten.
„Da ist Deine Oma.“ Ich hätte nichts bemerkt, wenn Karl es
nicht geflüstert hätte. Wir waren Hand in Hand durch das
Stadtwäldchen gelaufen. Es war längst später Nachmittag.
Wir hatten gelacht und geschwiegen, hatten uns voreinander
hinter Büschen und Bäumen versteckt, uns gejagt und
gefangen und uns, an einen Baum gelehnt, immer wieder
geküsst.
„Was?“ Verwirrt drehte ich mich um. Ich dachte, er wollte mich
nur veräppeln. Aber da war sie wirklich: Auf einer Lichtung
kaum 50 Meter von uns entfernt, fast verdeckt von einem
Gebüsch, thronte sie auf einem der dicken Kissen aus der
Hollywoodschaukel. Direkt vor ihr saß Herr Nowottny. Auch er
hatte sich eines unserer Kissen untergeschoben. Ich löste
mich aus Karls Armen, schlich zu dem Gebüsch und schaute
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gebannt auf dieses merkwürdige Bild. Herr Nowottny trug
wieder seinen grauen Anzug. Er beugte sich zu Oma hinüber.
Behutsam hob er ihren Strohhut vom Kopf, den sie sicher
auch heute in der Kirche getragen hatte. Sie strich sich über
das plustrige Haarnest ihrer frischen Dauerwelle und blickte
dabei in seine Augen hinter der Brille. Vorsichtig legte er ihren
Hut neben sich ins Gras. Dort stand auch, neben einer
Thermoskanne, eine geöffnete Tupperschüssel mit Buchteln.
Sofort ärgerte ich mich. Oma backte nur für mich Buchteln.
Sonst für niemanden. Nur wenn es mir schlecht ging und
immer zu meinem Geburtstag. Karl zog an meinem Arm.
„Komm. Das hier geht uns nichts an.“ Ich versuchte, mich zu
befreien. Er hatte mich nicht festzuhalten. Außerdem bekam
ich jetzt Hunger.
„Komm Du“, sagte ich nun lauter, „wir gehen ihnen Guten Tag
sagen“, und ich wollte aufstehen. Aber Karl hielt mich weiter
fest. Ich wand mich: „He, lass los!“ zischte ich. Doch er zwang
mich, ihn anzusehen:
„Lass sie, hörst Du?“ Als wir wieder hochblickten, lag Herrn
Nowottnys große Hand mit dem Stummelfinger auf Omas
linker Brust in roter Seide. Wir starrten reglos. Auch die
beiden taten nichts. Ganz still und würdevoll saßen sie auf
ihren Kissen, hoch aufgerichtet, und blickten sich in die
Augen, scheinbar endlos, diese Hand wie selbstverständlich
auf dem großen Busen. Die vier Finger konnten das Rund
kaum umspannen. Festgebannt hockte sie, als wären ihre
Knochen komplett unempfindlich gegen jede
Unbequemlichkeit, als hätten sie unendlich viel Zeit. Dabei
waren sie doch alt, uralt, Todgeweihte sozusagen. Und voller
53
Schrecken dachte ich es: Fleisch, das von Maden gefressen
werden würde. Ich spürte Karls unruhigen Atem neben mir,
das Gewummer meines Herzens. Ganz langsam richtete ich
mich auf. Fuß auf Fuß auf den trockenen Waldboden
aufsetzend, schlichen wir zwischen den Bäumen davon. Erst
später, nachdem wir lange schweigend hintereinander den
Weg entlang getrottet waren, nahmen wir uns wieder bei den
Händen. Wir gingen zügig den Weg entlang, ja bald begannen
wir zu traben, trabten nebeneinander her, den Blick nach
vorne gerichtet. Schließlich liefen wir sogar, liefen immer
schneller, liefen um die Wette, ja wir jagten regelrecht durch
den Wald, nun grundlos lachend rannten wir (jetzt) die
ausgestorbenen Strassen des Neubauviertels entlang, dem
sicheren Zuhause entgegen.
„Das ist ja ekelhaft.“ Oma setzte den Hut ab und legte ihn
vorsichtig in eine runde Schachtel in ihrem Schrank. „Du
schmierst mir das Glas voll.“ Die Buchtel lag genau in der
Mitte der gläsernen Platte ihres Couchtischs. Ich hatte mich
davor auf ihren Lieblingsplatz, den grünen Ohrensessel
gesetzt. Hier durfte sich sonst nicht mal Mischka, die Katze,
breit machen.
„Du hast Buchteln für ihn gebacken.“ Ich fand, ich klang
überzeugend wie Desiree, an der Stelle in meinem Buch, als
sie Napoleon entgegentrat. „Ich habe die Tupperdose
gefunden. Es waren die gefüllten: Geburtstagsbuchteln!“ Oma
setzte sich doch tatsächlich mir gegenüber auf das
Biedermeiersofa, auf dem sonst nur Besuch saß. Mit beiden
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Händen richtete sie ihr angeklatschtes Haar. Ich wollte nicht
auf ihren Busen gucken:
„Ich hatte Hefe übrig. Die musste weg.“
„Du hättest die Ungefüllten machen können.“ An dieser
Tatsache kam sie nicht vorbei.
„Die Gefüllten mag ich lieber.“ Ha! Oma aß niemals Gebäck.
Ich wusste genau, wer so wild war auf ihre Süßigkeiten …
„Du hättest wenigstens mehr davon backen können. Es ist nur
noch die eine einzige übrig.“ Meine Stimme sollte nicht
weinerlich klingen: „ … und diese ist auch noch angebissen.
Hier!“ Ich drehte die Bissstelle zu ihr. Sie rutschte etwas
näher, flötete: „Ich back uns wieder welche. Jederzeit. Jetzt
iss doch erst mal die da …“
„Nein“, schrie ich. „Gefüllte Buchteln gibt es nur, wenn ich
krank bin oder Geburtstag habe. Aber ich bin nicht krank und
mein Geburtstag ist in zwei Wochen.“
„Aber wenn du doch gerne jetzt eine hättest?“ Sie rückte noch
näher an den Tisch, nahm die Buchtel, legte sich das klebrige
Ding auf ihren Handteller und streckte es mir über den Tisch
hinweg entgegen. „Komm, iss!“ Ich strich mir mit dem
Handrücken über die Augen. „Nächstes Mal mache ich ihm
Salzbrezeln“, sagte sie. Sie rückte mit ihrer Buchtel so nah an
mich heran, dass die Glasplatte sich in ihren runden Bauch
drückte. Sie wusste, ich hasste Salzbrezeln. Ich sah die
glänzende Buchtel direkt vor mir. Weicher, süßer Hefeteig, der
das Pflaumenmus umschloss. Ich schluckte. „Für ihn nur
Brezeln – nie wieder Buchteln“, sagte Oma. Zögernd nahm ich
ihr die Buchtel ab und führte sie zum Mund. Sie nickte
55
aufmunternd. Ich biss hinein. Der Teig schmeckte leicht salzig
– wunderbar. Oma lächelte:
„Gut, oder?“
Wenn Karl nicht da war, kam es mir vor, als sei er ganz in
meiner Nähe und als müsste ich mich nur umdrehen und
schon würde ich ihn ertappen, wie er sich hinter den Sessel
duckte; oder als versteckte er sich im Garderobenspiegel, und
wenn ich mich im Vorübergehen betrachtete, dann könnte ich
– wenn ich nur schnell genug wäre – noch sein breites
Clowns-Grinsen in einer Ecke des Glases entdecken. Wie
zufällig trieb ich mich sogar in der Nähe der Garderobe
herum, sortierte die Äpfel auf der Anrichte und blinzelte dabei
in Richtung Spiegel … doch nie entdeckte ich etwas – außer,
dass ich mir einen Sonnenbrand auf der Nase geholt hatte.
Wenn ich abends in meinem Bett lag und horchte, ob ich
Omas Keuchen auf der Treppe hörte, war mir, als hinge wie
Schwaden sein Schweiß-Holz-Karlgeruch in der Luft, obwohl
er doch noch nie bei mir im Zimmer gewesen war. Ich wollte
ihn riechen: Was sein Hemd ausdünstete und sein Hals und
sein komisch struppiges Haar – Tag und Nacht wollte ich es
einatmen. Dass Liebe gut roch, davon hatte keiner etwas
gesagt, das stand auch mit keinem Wort bei Desiree. Das
Merkwürdige war nur, obwohl er mir schon fehlte, wenn ich
nur zwei Meter von ihm entfernt war, wollte ich ihn manchmal
nicht treffen. Dass ich dieses schöne, schreckliche Kribbeln
spürte, das war mir schon fast genug. Aber wie sollte ich ihm
das bloß sagen? Es war ja so, dass er den ganzen Tag Zeit
hatte, ich genau genommen auch, wir hätten also eigentlich
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ununterbrochen zusammen sein können. Aber musste man,
wenn man liebte, immer zusammen sein? Das hätte ich Oma
gerne gefragt. Vorgestern Abend, als ich aus unserer
Hollywoodschaukel aufgesprungen war und ihm erklärt hatte,
jetzt müsste ich aber wirklich ins Bett, da hatte er gesagt:
„Und? Was ist mit morgen?“ Und dann hatte er Vorschläge
gemacht, was wir unternehmen könnten. Unablässig entwarf
er Pläne. Noch während er sich von mir vor unserer Haustür
verabschiedete, hatte er zwischen seinen festen, warmen
Küssen geflüstert:
„Ins Schwimmbad, ja?“ – Kuss – „… eine Radtour zum
Weinberghäuschen?“ – Kuss – „… zur Schlossruine?“ – Kuss
– „… eine Wanderung zum Baggersee?“ und seine Hand
hatte dabei fest meine Taille umfasst. Ich aber hatte, Rücken
zum Haus und eine Ferse schon in der offenen Tür, lachend
geantwortet:
„Mal sehen“ – Kuss.“ Und dann war ich am Morgen nicht
hinüber gegangen zu ihm und hätte dabei nicht einmal sagen
können, ob ich nicht in Wahrheit wollte, dass er einfach frech
bei uns klingelte wie ganz früher als wir klein waren („Ist die
Nelly da?“), dass er Omas komplizenhaften Blick ertrug, dass
er mich erlöste von der Ödnis der Vormittage, mich mitnahm
irgendwohin, wo Draußen war: Licht und Gelächter und
Ferien.
Darüber hätte ich gerne mit Oma gesprochen. Aber wenn ich
ihr mal begegnete, wurde ich unsicher. Es lag nicht bloß an
ihren ungewohnt aufgeplusterten Friseurhaaren, den gefeilten
Fingernägeln und den Gurkenschuhen. Ich hasste auch
dieses Augenzwinkern, wenn sie, ihre Sommerhandschuhe
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schwenkend, rief: „Genieß den Sommer, meine Kleine!“ Sie
rief nun laufend Sätze, als würde sie gerade fürs
Werbefernsehen gefilmt. Und sie war so erschreckend gut
gelaunt die ganze Zeit. „ … und dir einen traumhaften Tag,
Mucki“, flötete sie, bevor sie sich schon am frühen Vormittag
an mir vorbei durch die Tür schob, die sie dann schwungvoll
hinter sich ins Schloss fallen ließ. Und ich stand wie
angewurzelt, bis sich ihr wabernder gelber Umriss hinter dem
Drahtglas in Nichts auflöst hatte.
Ich stieg die zwei Treppen zur Waschküche hinauf. Mama
liebte es zu bügeln. Wo sie bloß die ganze Wäsche hernahm?
Genau genommen bügelte sie fast jeden Tag irgendwas. Die
Tür war nur angelehnt. Ihr alter Sessel sah nackt aus ohne
sie, das Bügelbrett war leer. Ich strich über den Stoff, als
könne er noch warm sein von der letzten Berührung mit dem
Eisen. Wo konnte sie sein? Ich hatte sie seit Tagen kaum
gesehen. Ich hockte mich auf die Sessellehne. Früher hatte
ich am liebsten hier gesessen. Als Kind mochte ich es
besonders, mit der Sprühflasche die Wäsche zu befeuchten.
Dann dampfte es und alles roch nach ihrem Lavendelaroma.
Ich hatte ihr immer erzählt, was in der Schule Wichtiges
passiert war. Es hatte mich nicht gestört, dass sie oft nicht viel
dazu sagte. Manchmal hatte sie vor sich hin gelächelt,
genickt, „Ach“ gesagt, oder sie hatte plötzlich die Hand auf
meinen Kopf gelegt und mein Haar zerstrubbelt. Das machte
sie noch heute manchmal, als wäre ich noch immer neun und
in der Grundschule. Es kam natürlich auch vor, dass die
Waschküchentür geschlossen war. Da wusste ich schon, es
war wieder so ein Tag, an dem sie nicht wollte, dass man sah,
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wie sie dort so saß, zwischen ungeordneten Wäschebergen,
und blicklos auf die Seiten ihres Buches oder in die Kiefern
vor dem Fenster starrte. An diesen Tagen reagierte sie nicht,
wenn ich sie etwas fragte oder ihr etwas erzählte. Sie blickte
dann höchstens kurz zerstreut auf und sah mich an, als sei ich
ihr fremd. „Mama“, hatte ich dann früher gerufen: „Was hast
du denn? Geht es dir nicht gut?“ Und wenn ich dann in der
Waschküche geblieben war und immer weiter gefragt hatte:
„Mama, Was ist denn? Sag doch was!“, dann hatte sich meine
Stimme verändert. Ganz schrill und hoch hatte sie geklungen
plötzlich; geradezu jämmerlich und so schrecklich, dass es
nur zu verständlich war, wenn sie nicht hatte hochgucken und
reagieren wollen auf dieses panische Gewimmere – „Bitte,
bitte, sag doch was, Mama!“ – hatte ich gebettelt und hatte
ihren müden Arm gegriffen und daran gezerrt, bis schließlich
Oma in der Tür erschienen war, ihre Hand fest um meinen
Oberarm gelegt und mich hinausgezogen hatte:
„Hast du keine Hausaufgaben auf? Komm mal in die Küche,
ich hab da noch was Gutes ...“
Inzwischen wusste ich natürlich, dass Oma Recht hatte und
Mamas Verhalten nichts mit mir zu tun hatte. Mama brauchte
Zeit für sich. Ich war damals einfach noch zu jung gewesen,
um das zu verstehen.
Es war eigentlich nicht schwer, in eine Gegensprechanlage
Sätze zu sagen wie: „Kommst du mit ins Schwimmbad?“
Trotzdem war ich schon kurz danach nicht mehr sicher, ob ich
es noch mal tun würde. Ich lag auf Karls kratziger Decke. Auf
dem Bauch sah ich fast schlank aus. Karls Hand umschloss
meinen Nacken. „Warum kommst du nicht mit ins Wasser?“,
maulte ich. Ich atmete in die kleine, dunkle Höhle zwischen
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meinen Armen. Das Gras war stachelig und lebte. Ein
winziger Käfer versuchte verzweifelt von einem Halm zum
nächsten zu wechseln. Vergeblich. Er stürzte ab. „Letztes Mal
wolltest du noch unbedingt mit mir schwimmen.“ Meine
Stimme klang dumpf und nasal. „Außerdem ist es heiß.“ Die
Hand war schwer. Sie fuhr meinen aufgeheizten Rücken
hinunter, langsam, die Wirbelsäule entlang. „Wozu geht man
sonst ins Schwimmbad?“ Auf Höhe meines Bikiniverschlusses
stoppte sie, sein Daumen verrieb Feuchtigkeit über der
Schleife, zog ein wenig an dem Bändel, beschrieb sanfte
Kreise auf der Haut. Ich streckte wohlig meine Zehen. „Was
ist eigentlich mit Stefan? Wollte er nicht mit?“ Stille. Die
Bewegungen wurden kleiner, kamen zum Stillstand. Hatte er
mich nicht verstanden? Dieser Krach aber auch – Juchzen,
Schreie, Platscher …
„Hab ihn nicht gefragt.“ Die Hand lastete jetzt wie ein Stein:
„Fehlt er dir etwa?“ Als ich die Augen öffnete, lag der winzige
Käfer auf dem Rücken, strampelnd inmitten des
undurchdringlichen, unbekannten Dschungels.
„Quatsch. Gar nicht!“ Ich versuchte, den Kopf zu drehen, ohne
meine Position zu verändern: „Isst du nachher mit mir
Pommes?“
„Hmmm“. Ich sah einen winzigen Ausschnitt Blau und einen
überquellenden Papierkorb. Mein Nacken tat weh.
„Bitte! Ja? Mit viel Mayo?“ In seine Hand kam langsam wieder
Leben: ein warmes, sich vorsichtig räkelndes Tier.
„Machen wir“, grummelte er. Ich gab dem Käfer einen Schubs,
der, wieder auf seinen Beinchen, erschrocken auf einen Halm
krabbelte. Ganz behutsam wanderte Karls Hand nun nach
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rechts hinüber. Ich schloss die Augen. Sein Zeigefinger
bewegte sich leicht hin und her. Suchend, fragend schob er
sich an dem Bikiniband entlang, umspielte es, wagte sich vor.
Ich hörte mein leises Schnaufen. Unter dem Bikiniträger
hindurch schob der Finger sich der zarten Haut an meiner
rechten Seite zu. Erst etwa zwanzig Zentimeter unter meiner
Achsel verlangsamte er, die Hand wurde leichter, umfasste
meinen Körper wie eine zerbrechliche Schale. Ein Schauer
rieselte über meinen Rücken. Ich atmete hinein in diese große
Hand, reglos. Dann wurde der Finger wieder lebendig, der
drängende. Er fuhr unter das Band des Bikinioberteils, ein
großer Finger, fordernder Finger, der das Gummi kurz so
anhob, dass es unter der Brust ziepend einschnitt, dann
wühlend seinen Weg suchte unter meinem Arm hindurch. Er
strebte direkt der Wölbung meiner Brust zu. Ich blinzelte zur
anderen Seite: der Papierkorb, Kinder, ein Wasserball. Ich
verlagerte das Gewicht, hob meinen Körper leicht an, ihm
entgegen. Seine Wärme, als er sich über mich beugte, seine
Hüfte an meinem Po, sein Geruch, Schweiß, Holz, Sonnenöl,
fast schmerzlich spürte ich die Rundung meiner Brüste, heiße
gespannte Haut, meinte sein Atmen zu hören, als seine Hand
nun von unten unter den Stoff glitt, sich jetzt entschieden
vorschob; das Oberteil rollte sich hoch … Schwer umschloss
die große Hand meine Brust, die Daumenkuppe legte sich
behutsam an die Brustwarze, die aufgerichtete … Blitzschnell
rollte ich nach rechts, rollte gegen seinen Arm, den er
hochriss, rollte weiter, kam auf der Wiese auf die Knie; die
Hand ordnend am Stoff sprang ich auf, starrte ihn erhitzt, mit
glänzenden Augen an, wie er dort auf dem Handtuch halb auf
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dem Bauch, halb auf der Seite lag, mich mit gerunzelter Stirn
ansah. Im Laufen rief ich, noch mit belegter Stimme:
„Komm schon, komm du Bär, du wasserscheuer, komm schon
…“ Und dann drehte ich mich um, rannte los. „Verdammt,
komm doch!“ schrie ich. Ich lief quer über die Liegewiese,
schlug Haken um Campingstühle, Handtücher, Luftmatratzen,
trat auf Decken, auf eine Babyrassel, kickte einen Fußball zur
Seite, rannte über heißen Waschbeton, durch das
Duschbecken dem Wasser zu und sprang in vollem Schwung
und verbotenerweise mit einem Kopfsprung von der Seite ins
Becken.
Nachdem ich mit geschlossenen Augen durch kreischende
Kinder und dümpelnde Rentner regelrecht hindurchgepflügt
war, hielt ich mich keuchend an der Leiter fest, versuchte,
meinen Atem zu beruhigen. Ich strich nasse Strähnen aus
meinem Gesicht, ließ meine Blicke über das Treiben zwischen
Sprungbrettern und Kiosk streifen. Natürlich. Er würde weg
sein. Gegangen, das rote Handtuch um den Hals gelegt, die
karierte Decke aufgerollt unter dem Arm. Nur das armselige
Häufchen meines Kleides und meiner Sandalen würde noch
auf der Wiese liegen. Aber was war mit meinem Fahrrad? Er
hatte unsere Räder mit seinem Zahlenschloss
zusammengeschlossen (die Nummer: das Datum unseres
ersten Kusses). Er würde doch mein Rad nicht
unabgeschlossen zurücklassen? Aber warum sollte er jetzt
noch rücksichtvoll sein? Was wollte so einer mit einem Baby
wie mir, einer, der sich fast täglich rasierte, der sechzehn war,
bald ein Mann? „Versuch und Irrtum – nie wieder eine
Vierzehnjährige“, würde er seinen Freunden erzählen. „Mein
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Gott, die ließ sich nicht mal obenrum anfassen, könnt ihr euch
das vorstellen?“ Er würde auf der einen Seite der blöden
Hecke leben und ich auf der anderen. Nachbarsjunge. Was
war schon gewesen – ein Traum: Schwimmbad-, Hochsitz-,
Apfelerntentraum … Und Stefan – würde Karl es ihm
erzählen? „Eine Riesenpleite, die Kleine“. Redeten sie nicht
so, wenn sie alleine waren, die Jungs?
„Viel Mayo?“ Ich fuhr zusammen. Starrte ihn an. Er kauerte
vor mir am Beckenrand mit einer doppelten Portion Pommes
mit glänzender Mayohaube in der Hand. „Du wolltest doch
viel, oder?“ Ich nickte und wischte wieder über meine
Schniefnase. „Dann los …“ Er streckte seine freie Hand aus.
Schwerfällig kletterte ich die Leiter hoch. Als ich ihn loslassen
wollte, hielt er fest, grinste mich an: „Du hast aber viel Chlor in
die Augen gekriegt.“ Ich blinzelte mit Heulaugen:
„Blödmann.“ Er drückte mir die Tüte in die Hand:
„Hier“, er grinste, „Mucki.“
Zu Hause warf ich das nasse Badezeug vor die geöffnete
Waschküchentür. Ich schlappte in die Küche, ließ lustlos die
Kühlschranktür auf- und zuklappen. Es war so merkwürdig
still. In der Innentür stand ein Krug Erdbeermilch. Die
Fruchtstücke dümpelten in Brocken obenauf. Die Milch war
sauer geworden. Ich kippte sie in den Ausguss, betrachtete
die Milchschmiere im geputzten Becken. Neben der Spüle lag
ein karierter Zettel: „In der Plastikschüssel ist Milchreis. Oma.“
Früher aßen wir zusammen. Gestern und vorgestern Abend
schon hatte ich alleine vor halbleeren Tuppergefäßen
gesessen, die Oma vorbereitet und in den Kühlschrank
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gestellt hatte. Mamas Zimmertür war auch jetzt wieder
verschlossen. Hatte Oma wenigstens den Bettkasten in den
letzten Tagen kontrolliert? Wieder ein ungerader Tag. Sie war
dran. Wie viele Stullen konnten es inzwischen sein? Sie war
die Mutter. Ich trug den Milchreis und einen Löffel ins
Esszimmer. Auf dem Tisch standen bereits Teller, Löffel und
Gläser, in der Mitte eine Glasschüssel mit Apfelmus, in der
eine Fliege vergeblich um ihr Leben gekämpft hatte. Mir war
noch ein bisschen schlecht von der Mayonnaise. Ich machte
zögernd den Plastikdeckel auf und starrte auf das gekörnte
Weiß. „Wir beide halten zusammen“, hatte sie immer gesagt.
Hatte sie denn ihr blödes Leben nicht schon gelebt? Alles
brachte sie durcheinander wegen dieses vierfingerigen
Gockels.
„Was gibt´s denn?“ Papa linste durch die Tür. Sein Gesicht
glühte, auf der Nase pellte sich die Haut. Was meinte er?
„Milchreis“, rief ich schließlich hinter ihm her, als er schon im
Bad war, um sich die Hände zu waschen – dann holte ich die
Fliege aus der Schüssel, schnickte sie mit dem Löffel durchs
halb geöffnete Fenster.
„Na, Kleine …“ Er setzte sich mir gegenüber, rückte den Stuhl
heran, räusperte sich. Er räusperte sich immer, bevor er
irgendetwas begann. Mit ungeduldigen Bewegungen schob er
mit der Löffelspitze den Reis auf seinem Teller zu einem
kegelförmigen Berg zusammen, der von zähflüssiger gelber
Apfelmuslava umgeben war. Uneinnehmbar. Papa sprach nie
viel, wenn er aß. Ich rührte in meinem Apfelmusteich herum:
„Wo ist Mama?“
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„Ich nehme an, du hast bereits nach deiner Mutter gesucht?“
„Neee.“
„Nein, heißt das.“ Sein Blick ging zur Uhr über dem Büffet.
„14.30 Uhr.“ Er klopfte den Hang auf der rechten Seite fest,
dass die Milch leicht spritzte. „Sie macht Mittagsschlaf um
diese Zeit.“ Das wusste ich selbst: immer von eins bis drei. Ich
zeichnete mit der Löffelspitze eine Spirale in mein Mus:
„Sie hat aber nichts gegessen.“
„Sie wird nicht verhungern.“ Sein Löffel riss eine tiefe Höhle in
den steilen Hang. Er aß heute für seine Verhältnisse
unordentlich. Der Brei machte ein pappiges Geräusch in
seinem Mund. Neben seinem Teller lag ein abgegriffenes
Prospekt: Arbeiten am 2-Takt Motor. Er folgte meinem Blick.
„Eigentlich taugt der 685 – 02 nichts.“ Ich hatte Papa seit
Sonntag nur einmal beim Essen gesehen, ihn sonst nur
manchmal im hinteren Garten fluchen hören. Ob er noch an
dem kaputten Rasenmäher arbeitete? Eine zweite, noch
tiefere Höhle entstand im Berg. „Ich sag dir: nie wieder den
Zündapp Hand Standart.“ Ich nickte. In dem Punkt waren wir
einer Meinung. Wenn Papa nicht da war, musste immer ich
den schrecklichen Mäher über den Rasen schieben, der sich
nur in Gang setzte, wenn ich immer wieder an einer mehrfach
geknoteten Kordel riss. Nach wenigen Metern Mähen war ich
durchgeschwitzt und feuchtes Gras verstopfte irgendeine
Düse. Dann kotzte das Ungeheuer Graswürste aus, die ich
mit dem Rechen zusammenschieben musste. Karls Eltern
hatten einen leise surrenden, elektrischen Mäher.
„Du solltest einen Neuen kaufen“, sagte ich und leckte eine
Löffelspitze Mus ab. Papa kaufte ungern etwas Neues. Er war
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„ein Vertreter sparsamer Haushaltsführung“. Seine
sonnenverbrannte Stirn legte sich in ärgerliche Falten.
„Donnerstag. Hast du nicht Training?“
„Schulferien. Da fällt das Turnen aus.“ Wortlos durchlöcherte
er den Berg, der sich bereits deutlich zur Seite neigte.
Zwischendrin ließ er den Löffel sinken und starrte mich an.
Glaubte er mir nicht? Dann aß er unkonzentriert weiter,
stopfte sich den Reisbrei in den Mund ohne darauf zu achten,
dass sein Berg langsam kippte.
„Was ist mit deiner Großmutter?“ Papa sagte sonst immer
“Oma“. Er blickte nicht auf. Was sollte ich schon antworten?
„Ausgegangen.“ Ich kratzte die zwei Teelöffel Mus auf
meinem Teller zusammen und schluckte sie schnell hinunter.
„Keine Ahnung, wohin.“ Dann stellte ich die Schüsseln
ineinander. Papas Teller sah inzwischen aus wie ein
Schlachtfeld:
„So!“ sagte er und sprang auf. Ich wusste nicht, worauf sich
sein „So!“ bezog. Er zog sich die kurze Hose bis über den
Bauchnabel. „Dann werd´ ich wohl mal.“ Er nahm sein
Prospekt und ging hinaus – und für einen kurzen Moment
überlegte ich, ob ich ihm wie früher hinterherlaufen und
nachrufen sollte:
„Papa, kann ich dir helfen?“
Als das große Gewitter kam, war Karl weit weg. Schon seit
Tagen hatte er davon geredet, dass seine Tante ihn
eingeladen hatte und unbedingt für ihn kochen wollte. Immer
hatte er sie vertröstet und mich gedrängt, ich solle mitfahren.
Ich hatte keine Lust auf fremde Tanten. Nun war er allein
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gefahren. Er dachte sicher, mir sei es lieb, wenn wir uns mal
einen Abend nicht träfen. Er hatte Recht, aber ich war traurig.
Vom Kiesweg aus konnte ich sehen, wie er gegen halb vier in
einem Hemd, das ich noch nicht an ihm gesehen hatte und
mit einem Beutel Äpfeln in der Hand den Weg zum Bahnhof
antrat. Die Tante wohnte fast zwei Stunden Zugfahrt entfernt.
Als er sich nach wenigen Schritten zu unseren Fenstern
umblickte, trat ich einen Schritt hinter die Mülltonne.
Ich spürte es mehr als dass ich es sah, dass die Sonne an
diesem Nachmittag mehr und mehr verblasste und
verschwand, sich die Wolken drohend auftürmten, denn als
Karl fort war, war ich zur Terrasse geschlichen, war unter die
grüne Plastikschutzhaube der Hollywoodschaukel geschlüpft,
in der das Licht nun schwer und sumpfig stand. Früher, als
kleines Kind schon, flüchtete ich oft, wenn Oma mich
ausgeschimpft hatte, in mein Versteck und schluchzte in die
Polster voller Katzenhaare. Meine Plastikhöhle war mein
Lieblingsort. Doch als diesmal die dicken Tropfen
lospladderten, war ich in Gedanken weit fort. Wie Desiree ließ
ich mich grade von schwedischen Nächten verzaubern: „Wie
blassgrüne Seide spannte sich der Nachthimmel über dem
Park aus. Mitternacht ist längst vorüber und noch immer wird
es nicht finster. Die hellen Nächte duften sehr süß ...“ Ich
schloss die Augen, atmete tief ein. Er hatte mich nun in
meinen Träumen liebevoll bei der Hand genommen und führte
mich durch die weitläufigen Parkanlagen des Schlosses,
geleitete mich „unter eine zarte Birke, wo gelbe Primeln und
tiefblaue Hyazinthen blühen.“ Ich rollte mich auf die Seite, die
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Knie angezogen, und ließ meine Hand zwischen die
Oberschenkel unter meinem Rock gleiten. Er würde behutsam
vorgehen. Er würde mich nicht bedrängen. Ich würde es
zulassen, fast alles zulassen … Ich strich mir über die
Innenseiten der Schenkel. Zwischen den Beinen fühlte es sich
heiß an und kribbelig. Ich ließ meine Hand langsam nach
oben wandern, schloss die Augen, war taub für alles außer
meinem flatterigen Herzschlag.
Erschrocken fuhr ich auf:
„ ... kindisch und unvernünftig. Komm sofort. Was ist denn das
für ein Unsinn ... in deinem Alter.“ Ich zerrte schnell den Rock
über die Knie, lauschte. Woher nur wusste Mama, dass ich
hier war? „Was soll das? Es gibt Dinge, die gehören sich
einfach nicht.“ Mein Herz schlug bis zum Hals. Sollte ich mich
tot stellen oder hinauskriechen? Da hörte ich ein helles,
kieksendes Geräusch, das sich immer höher schraubte, ein
Lachen, das ich kannte und doch wieder nicht erkannte. Wer
war denn bloß noch dort draußen? „Du wirst Dir den Tod
holen. Jetzt komm schon ...“. Die Neugier siegte. Ich schlüpfte
unter der Plane hervor und sah dort auf der Terrasse – Oma.
Sie stand im strömenden Sommerregen nur wenige Meter von
mir entfernt und wurde ausgeschimpft, wie sonst immer ich
von ihr ausgeschimpft wurde. Noch immer lachend, breitete
sie die Arme weit aus, die geöffneten Augen dem Regen
zugewandt. Sie sah fürchterlich aus und schön. Das riesige
gelb-geblümte Baumwollkleid klebte an ihrem runden Körper,
am Busen, dem dicken Bauch, den kräftigen Oberschenkeln.
Man konnte sogar die tief liegenden Brustwarzen unter dem
nassen Stoff sehen. Zwischen ihrem zurückgestrichenen
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dünnen Haar schimmerte ihre Kopfhaut rosa. Ihr Gesicht aber
sah aus wie das eines glücklichen Mädchens: der offene
lachende Mund, die von Regen glänzenden kleinen braunen
Augen, die weiche Haut. Ich starrte sie an, merkte gar nicht,
wie das warme Wasser jetzt auch mir über Kopf und Schultern
lief. Das schon feuchte Buch noch immer in der Hand, hörte
ich Mamas Geschimpfe zu: „Mutti, du wirst noch fallen, du
kannst dir den Oberschenkelhals brechen oder an
Lungenentzündung sterben ... oder der Blitz wird euch noch
treffen.“ Ich betrachtete Mama. Sie hatte in letzter Zeit selten
so viel geredet! „Denk doch wenigstens an das Mädchen ...“,
rief sie und blickte mich an – erstaunt, wo ich plötzlich
hergekommen war. Aber Oma riss mir einfach das Buch aus
der Hand und warf es Mama zu, die es, in der Terrassentür
stehend, verblüfft auffing.
“Komm schon, Mucki.“ Oma nahm mich bei den Händen und
zog mich zu sich in die Mitte der Terrasse, wo die
Riesenpfütze am tiefsten war. Und dann hüpfte sie mit kleinen
Tippelschritten zwischen den Geranientöpfen umher, die
knubbeligen nackten Füße patschend im Nass. Und ich tat es
ihr nach, sprang auch ins Wasser und fühlte nur noch Wärme
zwischen den Zehen, Omas große Hände, die meine
Unterarme fest umschlossen, das Donnergrollen im Bauch
und dazu zuckten die Blitze über uns. Langsam drehten wir
uns und hörten Mama nicht zu und lachten und der
prasselnde Regen schlug Blasen auf den Steinplatten. Meine
Haare klebten im Gesicht, ich schloss die Augen und
schmeckte den Eisengeschmack des Regens.
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Da berührte plötzlich etwas Hartes, Kratziges meine Beine.
Als ich aufsah, schaute ich in Papas ernstes Gesicht. Mit
einem Gartenbesen begann er, systematisch die
Wassermassen zwischen unseren Füßen dem Ausfluss
zuzukehren. Das strenge, rhythmische Geräusch ließ unser
Gelächter allmählich verebben. Jetzt fröstelten wir doch,
längst durchnässt bis auf die Haut, und nahmen, noch immer
lächelnd, die Frotteetücher entgegen, die Mama uns
entgegenstreckte.
Dieses Schrillen: Ich ahnte es, dass wir nun auf die Erde
zurück mussten, dass der Zauber gelöst würde. Ich ließ mich
einfach nach vorne fallen ins Nichts, wiederholte die
Bewegung von eben noch einmal. Kurz berührten sich meine
Finger, dann zog ich die Arme weit auseinander, drückte mit
den Handflächen die Luft zur Seite – und tatsächlich: schon
stieß ich durch das Laub des Apfelbaums, schwamm wieder
im warmen Sommerwind. Da war kein Geräusch gewesen,
kein Schrillen, kein Nichts! Da durfte keines sein. Wenn ich
jetzt darauf reagierte, wäre alles vorüber. „Komm mit“, rief ich
Karl zu und schwamm ein Stück hinauf in Richtung
Baumkrone. Es war nicht schwerer als ein Spaziergang bei
starken Böen. Um nicht seitlich weg zu kippen, paddelte ich
mit den Füßen. „Komm“, rief ich wieder, lachte. „Es ist einfach.
Vollkommen einfach.“ Karl ließ die Füße baumeln, beide
Hände um den Früchte-schweren Ast gelegt, auf dem er saß.
„Los, mach schon!“ Er schüttelte leicht den Kopf. Ich
schwamm auf der Stelle, versuchte gleichzeitig, ihm
zuzuwinken. Der Stoff meines Kleides blähte sich im Wind.
Weit unten entdeckte ich die Menschen. Viele. Eine
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Schulklasse stand an einer Bushaltestelle. Wie klein das
Schutzhäuschen war. Die Kinder blickten jetzt hoch, lachten.
Ein winziger Junge schwenkte ein Tuch. Es war mir peinlich.
Ich schob meinen Rock zwischen die Beine. Dabei kam ich
leicht ins Trudeln. Ich sackte etwas ab, machte eine
Schraube. Als ich wieder hochtauchte, war Karls Gesicht
neben meinem. Er grinste frech. Dann beschleunigte er, flog
mit ruhigen, kraftvollen Bewegungen der Erde zu – gerade so
wie er auch im Schwimmbad seine Bahnen zog. Ich machte
hektische kleine Schwimmbewegungen, hatte trotzdem Mühe,
mit den zusammen gepressten Beinen an seiner Seite zu
bleiben. Ich gab es bald auf, ihm zu folgen. Er war zu schnell.
Ich schloss kurz die Augen, genoss einfach den lauen Wind
im Gesicht. Dann ertönte es wieder: das Schrillen. Ich
erschrak, spähte auf die Erde. Der Bus? Eine Schulklingel?
Die schmale Verkehrsinsel dort unten zwischen den
Fahrbahnen kam rasend schnell näher, zu schnell. Ich
konzentrierte mich, verlangsamte … Das Schrillen – immer
dieses Schrillen. Plötzlich war es Stefans schmale Gestalt, die
dort landete, sich gekonnt auf dem Rasen abrollte.
Unverkennbar: sein weißes Hemd, das helle Haar. Wie
geschickt er war: Sofort war er wieder auf den Füßen, wandte
sich mir zu, breitete die Arme aus. Locker lassen, dachte ich,
weich machen … Ich sank wie ein Lot im Meer. Ich glitt
einfach hinein in seine Umarmung, er nahm die Bewegung
auf, tat zwei, drei Schritte rückwärts. Mit einem Sprung
landete ich vor ihm im Gras. Geschafft! Er lächelte stolz, hielt
mich an den ausgestreckten Armen. Die Kinder an der
Bushaltestelle applaudierten. Die Glocke schrillte. Es gellte in
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meinen Ohren. Ich wollte sie mir zuhalten. Dann erwachte ich.
Es hatte an der Haustür geläutet.
„Tag, Makalewski“, keuchte ich außer Atem, knotete verlegen
meinen Bademantel zu. Es war schon nach zehn. „Na, Kleine
…“ Makalewski wackelte beim Reden immer ein bisschen mit
dem Kopf. „Ist Omma da?“ Er war einen von Omas „Fällen“,
wie Mama immer sagte, ein „Mann in Not“, wie sie gesagt
hätte.
„Nee“, sagte ich, schob eine Haarsträhne in den Mund. Seine
Haut im Gesicht war dunkelrot, voller Krater. Oma ließ jeden
„Mann in Not“ hinein und gab ihnen etwas. Das hatte sich
herumgesprochen. Mindestens ein Dutzend von ihnen
klingelten immer mal. Makalewski tauchte vier- bis fünfmal im
Jahr bei uns auf. Er war einer der wenigen Sesshaften. Man
sagte, er lebe in den Kasernenruinen ein paar Kilometer hinter
dem Ort. Schon als ich noch im Kindergarten war, kam er
regelmäßig zu uns. „Soll ich dir was machen?“, fragte ich.
Seine Hände umklammerten vor dem Bauch die Henkel einer
Tüte, deren Aufschrift nicht mehr zu lesen war. Innen klirrte
Glas:
„Seit Sonnabendfrüh, sag ich dir. Seitdem hab ich nischt
zwischen die Zähne gekriegt.“ Seine Zunge tat sich beim
Sprechen schwer, den richtigen Platz zu finden. Er leckte sich
über die dicken Lippen. Was sollte ich jetzt mit Makalewski?
Oma gab ihm nie Geld. Das versäufst du, sagte sie zu allen.
Aber sie sagte auch immer: Komm erst mal rein. Dann kochte
sie ihnen „etwas Nahrhaftes“, meist Kliebchensuppe,
Milchsuppe mit dicken Mehlklößchen. Dazu gab es Stullen mit
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Butter und Salz und Apfelmost. Ich drehte mich um, blickte in
den leeren Flur. Sollte ich Mama suchen? Aber die verzog
sich immer sofort, wenn einer der Fälle von Oma im Haus
war.
„Ich hol dir was aus der Küche“, sagte ich schließlich. „Du
bleibst draußen, klar?“ Er nickte. Ich lehnte die Haustür an, lief
in die Küche, holte Brotlaib und Butter aus dem Schrank. Ich
erinnerte mich: Früher hatte ich oft da am Tisch den Männern
gegenüber gesessen, die so komisch säuerlich rochen.
Irgendwie gruselig war´s und besonders, und immer musste
ich auf die Butterstullen starren, die plötzlich so viel köstlicher
ausgesehen hatten als all das Leckere, das Oma immer für
mich zubereitete. Und während die Männer alles
verschlangen, mussten sie Oma erzählen: Wo sie gewesen
waren, wie es ihnen ergangen war, wen von den anderen sie
getroffen hatten, wie sie über den Winter gekommen waren,
wen „es erwischt hatte“. Meist hatte Oma ihnen, bevor sie
gingen, noch alte Kleider oder Schuhe von Papa eingepackt,
manchmal auch Äpfel, Birnen oder Saft. Ich holte eine
Flasche Traubenmost, schlug die vier Klappstullen mit
Mettwurst in Pergamentpapier ein und kehrte zu Makalewski
zurück.
„Gutes Kind“, sagte er, als ich sie ihm reichte, und: „Grüß mir
die Omma“. Er nickte noch im Gehen immerzu mit dem Kopf.
Ich sah im nach, wie er, irgendwas nuschelnd, mit seiner Tüte
und dem Stullenpaket fortschlappte.
„Warum fragst du die eigentlich immer alle so aus?“, hatte ich
Oma gefragt, als Makalewski das letzte Mal in unserer Küche
gegessen hatte. Damals hatte sie einfach weiter den Milchtopf
73
gespült, als hätte ich nichts gesagt. „Sag doch, Oma!“ Sie ließ
den Suppenteller ins Wasser plumpsen, drehte sich mir zu:
„Was meinst du: Wie alt ist Makalewski?“ Woher hätte ich
wissen sollen, wie alt Makalewski war. Erwachsene waren alle
irgendwie alt. „60? Oder 70? Keine Ahnung.“
„Er ist Anfang 50!“ Es klang fast triumphierend. Ich sah sie
fragend an. Sie drehte sich wieder ihrem Abwasch zu:
„Sibirien! Ich sag nur Sibirien! Fast ein Jahrzehnt im Bergwerk
– guck dir an, was das aus einem machen kann. So ein
Mensch hat doch wohl ein bisschen Anteilnahme verdient,
oder?“
Oma behauptete, das Ende des Sommers sei schon zu
spüren, früh am Morgen, manchmal in der Nacht: „Der Herbst
liegt in der Luft, riechst du nichts?“ An diesem Morgen nach
dem Gewitter fand ich, dass es sogar noch heißer war als
gestern und vorgestern und vorvorgestern … Frisch geduscht
und mit noch nassen Haaren lag ich auf meiner Decke hinten
im Garten. Ich wollte weiter lesen. Hier hinter der Hecke las
ich am liebsten, verschlang Seite um Seite, drehte mich mit
der Sonne von rechts nach links und wieder zurück. Aber was
war heute los? Ich starrte bloß stumpf auf das Papier, las den
Anfang der Seite wieder und wieder und nichts kam an.
Warum redeten die nur so schwülstig? Und um was ging es
überhaupt? War es zu heiß zum Lesen? Ich rollte mich auf
den Rücken und legte mir das aufgeklappte Buch auf das
Gesicht. Meine Nase kribbelte unter dem Papierberg. Ich
horchte – die Vögel, ein Propellerflugzeug, das Brummen
einer fetten Hummel über dem Rasen, und – rechts von mir
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hinter dem Buchsbaum Schritte. Seine Schritte! Atmen, ein
geschäftiges Räuspern, das Schaben von Metallischem auf
Stein: Ich hätte es mir denken können: Karl! Statt mich so
unendlich zu vermissen, dass er alles täte, um schnell wieder
bei mir zu sein, goss er jetzt wahrscheinlich Tomatenpflanzen.
Dabei war er doch verreist gewesen, einen ganzen langen
Tag! Ich warf das Buch zur Seite, drehte mich auf den Bauch
und starrte auf die Blätterwand der Hecke. Jetzt fing er an zu
pfeifen. „Über den Wolken …“ – es schien ihm ja gut zu
gehen. Wasser prasselte in eine Gießkanne. So herum zu
plätschern machte anscheinend Spaß, mehr Spaß als bei mir
zu sein. Deutlich hörte ich das Schlack, Schlack seiner alten
Sandalen auf den Platten. Überhaupt – jetzt sang er auch
noch. Kaum zu erkennen, das Lied: „ … bis sie abhebt und sie
schwebt – der Sonne entgegen. …“ So falsch, dieses
entgeeegen … Ich hatte es sofort im Kopf. Am liebsten hätte
ich es ihm vorgesungen, wie es klingen musste, leicht,
gleitend, mühelos – „entgeeegen.“ Dauernd pfiff oder sang er,
dauernd. Und immer klang sein Pfeifen schrill und schräg.
Ganz anders als bei Stefan. Unmusikalisch war Karl, ein
bisschen tumb, einer, der nichts verstand von den Feinheiten
des neckischen Allegro Moderato ... Irgendwie kribbelte es in
meinem Nacken. War da jemand? Wurde ich beobachtet?
War Oma zurückgekommen? Ich blickte suchend um mich.
Dort, im hinteren Garten neben den Himbeersträuchern stand
Mama. Ich erschrak ohne zu wissen, warum. Ganz still stand
sie, unter dem Arm trug sie einen großen Wäschekorb, sie
lächelte in meine Richtung. Ich sprang auf, strich mein Kleid
glatt, ging auf sie zu. Der Weg schien weit. Ich achtete darauf,
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nicht auf eine Biene im Gras zu treten. Sie blieb stehen, sah
mir entgegen.
„Gib her.“ Ich nahm ihr den Korb ab, ließ sie, den Rasenhang
hinauf, voraus gehen zur hinteren Terrassentür.
Ich betrachtete ihr gebügeltes Kleid, ihre blassen, verhornten
Fersen in den Sandalen, ihr halbwegs gekämmtes, immerhin
gewaschenes Haar mit den ersten grauen Strähnen. Sie sah
ziemlich aus wie immer. Ich war ihr in den letzten Tagen nur
während des Gewitters begegnet. Warum hatte ich nicht
längst einmal nach ihr gesehen? Sie wandte sich halb um und
lächelte mich an:
„Nicht zu schwer?“
„Nein, wieso?“ Genau genommen sprach sie ziemlich oft zu
mir, als wäre ich noch ein kleines Kind, dabei war sie zwar
größer, aber ich war stärker und kräftiger als sie und mit
meinen 1,62 Meter fast ausgewachsen. Vor ein paar Monaten
war es mir zum ersten Mal aufgefallen: Wenn sie mir mal nach
der Schule die Haustür geöffnet hatte, hatte ihr Blick meine
Augen immer in Höhe meiner Halskuhle gesucht, als sei ihr
entgangen, dass ich schon lange kein kleines Mädchen mehr
war. Ich hatte mich beherrschen müssen, nicht im selben
Moment, in dem sich die Tür öffnete, in die Knie zu gehen, um
ihr die Enttäuschung zu ersparen.
Ich folgte ihr durch die Wohnung zur Waschküche. Dann
stellte ich den Korb neben das Bügelbrett auf einen Stuhl. Es
duftete daraus nach Wind und Blüten. Die Wäsche musste im
hinteren Garten auf der Spinne gehangen haben. Doch
warum hatte ich Mama fast nie im Garten oder im Haus
angetroffen? Ich blickte mich um. Auch auf der
76
Waschmaschine lag ein riesiger Berg getrockneter, noch
ungebügelter Wäsche. Mama nahm drei von Papas großen
weißen Taschentüchern aus dem Korb und legte sie sorgfältig
Seitenkante an Seitenkante auf das Bügelbrett. Dann holte sie
die Plastikflasche mit dem destillierten Wasser aus dem
Regal. Sie lächelte still vor sich hin. Eigentlich alles ziemlich
normal. Ich stand herum, schob mir eine Haarsträhne in den
Mund. Dann zog ich sie wieder heraus. Ich sollte damit
aufhören.
„Mama …“ Sie lächelte mich an, ging mit der Flasche an mir
vorbei zu dem Brett, auf dem schon das Eisen heiß wurde.
„Geht´s dir gut, Mama?“ Sie befüllte das Bügeleisen, dabei
sog sie die Lippen ein – wie immer, wenn sie konzentriert
arbeitete. Dann begann sie, mit dem Metall über die
Taschentücher zu fahren. Sie arbeitete sich ordentlich von der
Mitte aus die Kanten entlang.
„Sicher.“ Ihre Fingernägel waren abgekaut. Abgekauter als
sonst. Oder schien es nur so? „Mucki, was stehst du so
herum, du machst mich verrückt.“ Ich nahm ein Buch von der
Lehne ihres abgeschabten Ohrensessels, setzte mich, zog
die Knie an: „Der Rächer“, las ich. Hatte sie in den letzten
Tagen hier gesessen und gelesen? Sah nicht so aus: Auf
einer Seite des Taschenbuch-Bändchens hatte sich quer über
das Papier ein Knick gebildet. Das aufgeklappte Buch musste
irgendwann zwischen Polster und Lehne gerutscht sein. Wo
war sie die ganze Zeit gewesen? Schlotterte ihr Kleid nicht um
die Hüften noch mehr als sonst? Hatte sie genug gegessen
die letzten Tage? Aber ihr Besteck hatte doch heute früh
benutzt in der Spüle gelegen. Und trotzdem … Es war alles
77
Omas Schuld. Oma hatte immer gesagt: wir schaffen das
schon, dass nichts durcheinander kommt. Und jetzt? Hatte
Oma überhaupt schon mit Mama gesprochen? Wusste Mama,
dass Oma mit dem ekligen Herrn Nowottny …? Sie stellte das
Bügeleisen ab und begann schweigend die drei Tücher zu
kleinen Quadraten zu falten. Es kribbelte mir in den Fingern,
ihr eines aus der Hand zu nehmen, daran zu riechen wie
früher. Schön war das gewesen, das warme, lavendelduftende Weiß zu entfalten, es über das Gesicht zu legen,
den Kopf im Nacken mit geschlossenen Augen ein- und
auszuatmen, zu fühlen wie es sich im Luftstrom auf der Haut
hob und senkte …
„Karl ist ein netter Junge“, sagte Mama und begann, das dritte
Taschentuch von der Mitte aus zu glätten. Karl? Ich hatte
gedacht, sie wüsste nichts von uns. Was hatte sie plötzlich mit
Karl? „Du bist erst 13, Mucki.“ Sie legte den kleinen Stapel der
Mini-Quadrate in die rechte hintere Ecke der Kiste. Dann
breitete sie auf dem Brett drei weitere zerknitterte
Herrentaschentücher aus.
„Ich bin fast 14!“ – Karl ging sie nichts an!
„Er ist 16“, sagte Mama und strich mit ihren langen Fingern
glättend über den Stoff. Sie mischte sich doch sonst nie ein.
„Na und? Du bist 43, und Papa ist 46 Jahre“, sagte ich und
steckte die Strähne wieder in den Mund. Sie war doch nie
dabei gewesen, als Karl und ich uns getroffen hatten. Karl war
auch noch kein einziges Mal bei uns in der Wohnung
gewesen, so wie ich noch nicht ein Mal drüben bei ihm
gewesen war, obwohl er sich das so sehr gewünscht hatte.
Ich konnte es mir irgendwie nicht so richtig vorstellen: er und
78
ich in meinem Zimmer … Ich hatte dort ja kein Sofa, nur die
enge Schlafliege, und das war dann auch nicht so praktisch
zum Sitzen …
„16-jährige Jungs wollen von Mädchen etwas anderes als du
meinst.“ Wieder hatte sie zwei Taschentücher fertig gebügelt,
die sie liebevoll auf den kleinen Stapel in der Kiste legte. „Das
ist normal.“ Was wusste sie von uns? Von mir? Mama
interessierte sich doch sonst nur für sich selbst. Karl war
außerdem so liebevoll. Er verlangte nichts von mir. Und er
verstand immer sofort, wenn ich etwas nicht wollte – zum
Beispiel hatte ich nicht immer gleich viel Lust auf diese Sache
mit der Zunge im Mund, nicht so viel wie er jedenfalls. Nicht,
dass es mir nicht gefiel, es gefiel mir sehr …
„In deinem Alter braucht man Zeit“, sagte Mama und breitete
eine von Omas Schürzen auf dem Brett aus. – Am liebsten
hätte ich sie ihr aus der Hand gerissen. Was fiel ihr ein? Sie,
ausgerechnet sie mit ihren 32 Kilo damals, hatte nicht den
Schimmer einer Ahnung, was in meinem Alter für ein
Mädchen normal war.
„Lass mich in Ruhe!“ Sie schwieg. Ich saß mit gekreuzten
Armen. Wie stupide sie vor sich hinlächelte. Sie hing fest in
ihrer blöden, grässlichen Vergangenheit, die ewig her war,
statt zu kapieren, dass wir längst ein anderes Zeitalter hatten
– ein friedliches, zivilisiertes, ohne gierige Mongolen hinter
Bäumen. Ich hatte schon lange genug von ihren
Gruselmärchen. Einmal hatte sie gesagt: „Als ich so alt war
wie du, da wusste ich von Männern nur, dass man sich vor
ihnen fürchten muss.“ Wie krank war das! Vor Karl musste
sich niemand fürchten. Im Gegenteil: Karl passte auf mich auf.
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Er war für mich da. Karl war der zärtlichste, gütigste Mensch
... Ich sprang auf. Ich hatte keine Lust mehr, mir Vorhaltungen
von jemandem machen zu lassen, der offensichtlich keinen
Schimmer hatte vom wahren Wesen der Liebe. Ich ging an ihr
vorbei zur Tür, griff schon nach der Klinke, als sie mit ruhiger
Stimme sagte:
„Du darfst nein sagen. Das wollte ich nur sagen.“ Aus dem
Augenwinkel sah ich, dass sie sorgfältig die Schürze
zusammenfaltete. „Du musst nichts tun, was du nicht willst.“
Ich knallte die Tür hinter mir zu.
Papa war acht Tage nach dem Hochsitz-Sonntag wieder
fortgefahren. Wie immer hatten wir seinem Mercedes
nachwinken müssen, als er abreiste. Wie immer hatte er zuvor
Mama einen Kuss auf die Wange gehaucht, Oma die Hand
gedrückt und mir die Haare zerdrückt und gesagt:
„Sei lieb und hör auf Mama und Oma.“ Das hatte er schon
gesagt, als ich noch in den Kindergarten ging. Ich war sicher,
er wusste nichts Genaues von Oma und dem doofen
Nowottny, nichts von Karl und mir. Als der Wagen um die
Ecke gebogen war, ich die Hand sinken ließ und mich, ein
letztes Lächeln im Gesicht, auf dem Bürgersteig umwandte,
waren Mama und Oma schon verschwunden. Die Haustür
stand weit offen. Der kahle, aufgeräumte Flur sah aus, als
seien eben, vor wenigen Sekunden, alle Menschen im Haus
von den Außerirdischen gekidnappt worden. Ein einzelner
Stockschirm war aus dem Zinneimer neben der Tür gekippt.
Ich starrte die Messingspitze an. Zeichen eines letzten
vergeblichen Kampfes? Hatten sie meine Familie als Souvenir
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ihres Urlaubstripps mitgenommen? Würde Mama in einem
Plexiglaskasten, an dem sich grünliche Schleimhaufen die
Nasen platt drückten, schaubügeln müssen? Würde Oma in
einem intergalaktischen Fernsehprogramm – bei
Todesandrohung – ihr Apfelstrudelrezept verraten müssen?
Ich stellte den Schirm zurück an seinen Platz, schloss die Tür
hinter mir. Warum hatten sie mich zurückgelassen?
Wie meist rief Papa bald schon abends aus irgendeinem
Provinzhotel an, um sich von uns sagen zu lassen, dass alles
in Ordnung war. Dabei war nichts in Ordnung. Mit dem Hörer
in der Hand saß ich auf dem Sessel im Flur, dem ich den
blauen Zeh zu verdanken hatte.
„Mir? Klar geht´s mir gut. Wieso?“ Ich drehte die
Telefonschnur um meinen Finger. „Die kann jetzt nicht. Die
ruht sich aus. Glaub ich.“ Ich kaute an einer Haarsträhne:
„Weiß nicht, vielleicht schläft sie schon.“ Ich sah einen dünnen
Lichtstreif unter ihrer Tür. Warum ging ich nicht in ihr Zimmer?
„Oma? Nein, nicht da.“ Ob der Zehennagel wohl abginge?
„Altenkreis?“ Ich nickte: „Bestimmt.“ Es schrie aus dem
Fernseher in seinem Hotelzimmer. Die gelbe Rosenblüte auf
der Anrichte war verwelkt. Merkwürdig: Oma warf sonst alte
Blumen immer sofort auf den Kompost. Sie ertrug den
Gestank nicht. „Mischka? Keine Ahnung.“ Woher sollte ich
wissen, wo sich die Katze herumtrieb? Ich log: „Mischka
schläft bei Mama“. Da: jetzt kam im Hintergrund die
Erkennungsmelodie des Heute-Journals. Er guckte jeden
Abend Heute-Journal. Ich richtete mich erwartungsvoll auf.
Das würde er nicht verpassen wollen. „Nein, keine Spur von
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Regen.“ Ich nickte vor mich hin. „Ja, hmmm, wünsch ich dir
auch …“ Das war´s. „Ist gut. Ja, ich grüß alle.“ Ich legte auf
und schlich zu Mamas Zimmertür. Die Hand zum Klopfen
erhoben, stand ich und lauschte. Nur das Ticken der Uhr war
zu hören. Der Sekundenzeiger ruckte stetig und mühsam vor.
Nicht ein Laut hinter dem Holz. Eine Minute dauerte ewig.
„Mama?“ rief ich. Und als es still blieb noch einmal, leiser:
„He, Mama?“ Ich legte die Hand auf die Tür. Tick – Tock,
machte die Uhr. „Grüße von Papa“, rief ich schließlich. Dann
griff ich nach meinem Hausschlüssel auf der Anrichte und
schlüpfte hinaus in die warme Nacht.
Ich hörte leises Geflüster aus der Hollywoodschaukel, das
sofort abbrach, als ich, vom Garten kommend, die Terrasse
betrat. Karl saß dort. Ich hatte es geahnt. Und ich wusste
natürlich sofort, wer neben ihm saß.
„Hallo“, sagte ich. Über uns stand der Halbmond, unnatürlich
groß, zitronengelb, an der inneren Kante merkwürdig
ausgefranst. Trotzdem konnte ich unter dem Stoffdach nur
Umrisse ihrer Gesichter erkennen. Sie rutschten auseinander,
als sie mich kommen sahen. Es blieb mir nichts übrig, als
mich zwischen sie zu quetschen. Karl legte seine Hand auf
meinen Oberschenkel. Die Schaukel setzte sich quietschend
in Bewegung. Es war eng. Unsere Oberarme berührten sich.
Ich saß verkrampft, mit geschlossenen Beinen. Karl reichte
mir eine Colaflasche, die er im Schoß gehalten hatte. Ich
nahm einen Schluck der süßen Plörre, wischte den
Flaschenhals ab und gab die Cola an Stefan weiter.
„Danke“, sagte er. Seine Stimme klang leicht rau. Sein
übergeschlagenes Knie unter den Shorts schimmerte gelb im
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Mondlicht. Nicht knochig. Wie der Rücken eines freundlichen
Tiers. Zusammengerollt. Schlafend. Ich wusste, warum er
gekommen war. Ich hätte längst mit ihm reden müssen. Ich
hatte sogar schon mehrmals den Telefonhörer in der Hand
gehabt. Aber das Telefon hing an der Wand gegenüber von
Mamas Zimmer. Ich konnte sein Profil kaum erkennen. Ich
schob meine Hände gefaltet zwischen meine Schenkel. Ich
hatte ihn angeschrieen nach dem Konzert. Ich hatte ihn
einfach vor dem Paulusheim stehen lassen. Ich war
losgelaufen, die hitzeflimmernde Straße hinunter war ich
gerannt, durch den Rosenbogen in den Stadtpark hinein.
Schnell war ich über den Kies gesprintet, immer schneller, als
wäre der Teufel hinter der lieben Seele her, wie Oma gesagt
hätte. Dabei war Stefan gewiss dort sitzen geblieben,
festgenagelt, die kostbare Geige unter dem Arm. Über die
Bänke bin ich hinüber, gerannt, gesprungen, gerannt … neun
Bänke, fehlerfrei. Und es war mir sogar vollkommen
gleichgültig, dass Frau Oskötter mit ihrem Dackel bei der
Klosterruine herumlief und hinübergaffte, auch, dass mein
Trägerkleid vom Springen hinten einriss, das neue, selbst das
hatte mich nicht gekümmert. Erschöpft war ich gewesen an
diesem Tag, als ich endlich zu Hause ankam, gerade noch
rechtzeitig zum Kassler mit Ananas, das ich dann gar nicht
hatte essen mögen …
Ich sah in der Dunkelheit nur ein schwaches Aufleuchten, das
Weiß seiner Augen. Karl legte seine große Hand leicht um
meinen Nacken.
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„Alles in Ordnung bei euch?“ fragte er. Was meinte er? Meine
Familie? Stefan und mich? Worüber hatten sie gerade
gesprochen?
„Sicher.“
„Bei mir drüben ist nichts in Ordnung“, sagte er. „Alles wie
Kraut und Rüben. Wenn das meine Alten sehen. Meine Mutter
kriegt einen Anfall.“ Karls Finger der freien Hand klopften
einen nervösen Takt auf seinen Oberschenkel. Wie eine
scharrende Maus. „Was ist – helft ihr mir morgen putzen?“
Von Stefans Arm strahlte Hitze ab. Überhaupt war die Nacht
so warm. Mein dünnes Baumwollkleid schien aus viel zu viel
Stoff zu bestehen. Stefan saß eigenartig aufrecht neben mir.
Mein Mund war wie zugepappt.
„Okay, soviel Begeisterung hätte ich gar nicht erwartet: das
Klo mach ich natürlich selbst.“ Karl lachte bollernd, ließ
meinen Nacken los und küsste mich dafür leicht auf den Hals.
„ … und den klebrigen Küchenboden auch.“
„Ich bin nach dem Frühstück um zehn da“, sagte Stefan ins
Dunkel.
„Gebongt!“, rief Karl. „Ich wusste es! Danach gehen wir
zusammen ins Waldschwimmbad. Du doch auch, Nelly,
oder?“ Ich sah Stefans rot-blaue Decke vor mir. Eine ziemlich
kleine Decke.
„Ich soll morgen Vormittag meiner Oma helfen.“ Die Finger auf
seinem Bein bewegten sich immer schneller – furioso, hieß
das so?
„Dann kommst du eben nach.“ Er lachte fröhlich – „Das wird
was …“ – Klirrend stellte er die Flasche auf den Boden, stand
plötzlich auf: „Alles klaro.“ Die Schaukel schlingerte. Ich
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rutschte von Stefans Arm etwas ab. „Ich muss dann mal“,
sagte Karl: „Allseits gute Nacht.“ Er lachte wieder. Worüber?
Als schwarze Silhouette im Mondlicht stand er vor uns. Wie
groß er war. Er zog umständlich an seinem Hemd. Dann
deutete er eine Verbeugung an, zwei Finger grüßend in der
Luft: „Also denn …“ Wir nickten beide ins Dunkel, sagten im
Chor: „Nacht.“
Es war absurd. Es gab nichts, was Karl jetzt, kurz nach zehn,
in der leeren Wohnung drüben „musste“. Er wirkte auch nicht
müde. Er ging niemals früh zu Bett, das hatte er mir selbst
erzählt. Was war das Ganze hier? Einen Moment später
hörten wir das Quietschen des Gartentors, seine Schritte auf
dem Kiesweg, sein leises, unmelodisches Pfeifen, das wohl
bedeuten sollte: „Alles okay – alles im grünen Bereich.“ Dann
war nur noch, sehr ferne, das Rauschen der Autobahn zu
hören, das nur bei Ostwind rüberwehte.
„Was wird das hier? Was habt ihr beide abgemacht?“ Stefan
räusperte sich:
„Wir sollten reden.“ Erstaunlich bestimmt: „Alleine.“
„Wer sagt das?“ Ich starrte die schwarzen Schatten der
Blumenkübel an: Gnome, Wichtel, Drachenköpfe ... Stefan
war doch sonst so sanft. So still. Fast schüchtern. Oder nicht?
Aus Karls Wohnzimmer drüben fiel jetzt ein schwacher
Lichtschein auf den Rasen hinter der löchrigen Hecke. Wir
blickten schweigend auf die Lichtinsel. Aufrecht und
unbeweglich saß Stefan neben mir. Er kam mir plötzlich
größer und breiter vor ohne seine Geige. Was hatte Karl ihm
von uns erzählt: „Du, Nelly und ich gehen jetzt übrigens
miteinander. Seit dem Sonntag als dein Konzert war.“ Warum
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saß Stefan hier? Sicher, ich hatte mich nicht gut benommen,
aber es gab nun mal Dinge, über die musste man auch nicht
dauernd reden. Ich verschränkte die Arme. Es war nun mal
nicht gut, immer alles auswalzen. Davon wurde nichts besser.
Hätte er nicht auch über anderes sprechen können nach dem
Konzert? Die Schule zum Beispiel, seine Reise nach Zell am
See zu Beginn der Ferien … Ein Schatten glitt durch den
beleuchteten Fleck drüben auf dem Rasen. Was tat Karl
gerade? Hatte er den Fernseher angeschaltet? Starrte er, ein
Bier in der Hand, mit leerem Blick auf den Bildschirm wie
Papa in seinem öden Pensionszimmer? Ich blickte schnell zu
Stefan hinüber. Er saß unbewegt. Wartend. Auf mich wartend.
„Okay. Tut mir Leid.“ Es sollte nicht so patzig klingen. „Ich
hatte das alles nicht sagen wollen. Ich meine, dass du jeden
billigen Tratsch nachquatscht und so …“ Ich holte tief Luft. Er
machte es mir nicht leichter. „ … dass du ein Idiot bist, der
sich in Sachen einmischt, die ihn einen feuchten Dreck
angehen.“ Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht
erkennen. „ … ein Arschloch“, schob ich leise nach. Ich sagte
sonst wirklich nie solche Sachen. Was musste er von mir
denken? Stefan blickte weiter geradeaus. Er hatte Recht. Ich
hatte mich mies benommen. Sehr mies.
„Entschuldige, ja?“ Jetzt war es doch raus. Worauf wartete er
noch? Hatte ich nicht Abbitte geleistet? Was wollte er denn
noch von mir? War es zuviel verlangt, dass er mich
wenigstens mal kurz ansah, mal nickte? Oder war er so
verletzt, weil Karl und ich …? War er deshalb gekommen? Als
er plötzlich sprach, konnte ich ihn kaum verstehen, so leise
und gleichförmig redete er:
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„Karl hat gesagt, es bringt nichts. Er sagte: Lass sie. Was soll
das? Sie wird es schon irgendwoher erfahren. Oder das
Ganze geht vorbei. Was willst du dich da einmischen?“
Wovon, zum Teufel, sprach er? „Ich habe überlegt, ob es ist,
weil ich sauer auf dich bin. Aber das ist es nicht. Ich bin mir da
sicher.“ Seine rechte Hand strich nun über sein Knie wie sie
am Tag des Konzerts über seine Geige gestrichen hatte:
ruhig, gleichmäßig, vom Körper weg. Ich hielt die Luft an.
„Aber ich muss doch, ich meine, es sagen. Macht doch sonst
keiner, stimmt´s?“ Jetzt sah er zu mir. Die Schaukel setzte
sich wieder quietschend in Bewegung. Die Ketten, die die
Lehne hielten, klirrten. Sein Gesicht konnte ich nicht
erkennen. Er hielt mit der Linken seine rechte Hand fest: „ …
du musst das doch wissen – von deiner Mutter.“ Ich
beherrschte mich, dass ich mich nicht umdrehte in Richtung
ihres Zimmers dort hinter uns, hinter dem dritten Fenster,
hinter fest geschlossenen Rollläden. Mein Mund war trocken:
„Was hat Karl dir erzählt?“ Karl wusste eigentlich nichts. Er
konnte nicht viel mitbekommen haben – nur soviel, wie
Nachbarn eben wussten.
„Nichts“, sagte Stefan. Wenn Karl in diesem Moment aus dem
dunklen Badezimmerfenster hinaussehen würde, könnte er
die Schaukel sehen, die nun leicht in Bewegung geraten war,
unsere Unterschenkel, die Knie etwa zehn Zentimeter
nebeneinander. Der Rest bliebe im Schatten des Daches. Ich
täte es. Ich an seiner Stelle würde jetzt dort stehen,
herüberstarren und langsam durchdrehen.
„Flüster-Frau – so nennen sie sie im Ort. Wusstest du das?“
Ich verstand nicht.
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„Flüster-Frau?“, wiederholte ich blöd.
„Weil sie immer so die Lippen bewegt. … bewegt hat, …
wenn sie in der Stadt unterwegs war … zum Einkaufen ...
oder danach.“ Er sprach zögernd, mit Pausen – als wolle er
mir die Möglichkeit geben, dazwischen zu gehen. Stopp zu
schreien. Aufzuspringen. Ich rührte mich nicht. „Auch im Park
… Sie ist oft im Park ... auch hinter der Neubausiedlung, du
weißt schon, auf den großen Rieselfeldern Richtung
Hannesheim, die hinter unserem Haus beginnen.“ Ich hatte
Mühe ihn zu verstehen. Er sprach so nuschelig. Rieselfelder,
was war das?
„Lauter“, sagte ich, schluckte.
„Die Leute dort kennen sie schon.“ Er artikulierte jetzt
besonders deutlich. „Sie lehnt ihr Rad mit den Einkaufstüten
immer an denselben Baum auf einem Parkplatz vor einer
Brache. Einer Linde. Sie geht spazieren. Sie lächelt dabei.“ Er
atmete hörbar aus.
„Einer Linde?“ Drüben erlosch plötzlich das Licht. Wir saßen
nun im Stockdunkel. Hatte auch der Mond uns verlassen? Ein
leichter Wind war aufgekommen. Nun war nur noch ein
merkwürdiges leises Sirren zu hören. Insekten? Ich schloss
kurz die Augen. Presste die Lider zusammen, bis ich Flimmer
sah im Schwarz. Ich – eine lichtlose Kapsel, die in ein
schwarzes Loch trudelte, schneller wurde. Immer schneller
sauste, ein Geschoss, das aufgesogen wurde,
zusammengepresst ... – verschluckt.
„Versteh das nicht falsch: Sie wirkt nicht direkt verrückt oder
so. Sie ist freundlich. Grüßt jeden. Aber sie flüstert so vor sich
hin. Sie bewegt immerzu die Lippen wie in einem dauernden
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Selbstgespräch.“ Was wollte er mir sagen? Redete ich nicht
auch manchmal mit mir selbst? Machten wir so was nicht alle
hin und wieder? Konnte schon sein, dass mir so etwas auch
passierte: ich ging durch den Ort und erzählte mir eine kleine
Geschichte – und ohne dass ich es merkte, na-so-was,
bewegte ich dabei die Lippen …
„Nicht in Läden“, fuhr er fort. „Beim Einkaufen benimmt sie
sich immer ganz unauffällig, soweit ich weiß.“ Dann schwieg
er. Ich spürte seinen Blick im Dunklen. Wir schwiegen beide.
Ich wusste, er war noch nicht fertig. „So war das …“ Er sollte
weiter machen. Ich würde bleiben. Ich würde zuhören. Ich
hatte keinen Schiss. Ich nicht. „So war das bis vor kurzem.“
„Ja …?“, nickte ich ins Dunkle. Grillen, die Insekten waren
Grillen, ein feines, leises Zirpen.
„Es ist nur – seit einiger Zeit spricht sie die Leute an. Laut. In
den letzten ein, zwei Wochen. Nicht jeden Tag, manchmal.
Sie fragt sie merkwürdige Sachen. Es geht um einen
Gebhard. Kennst du Gebhard? Sie sucht ihn. Manchmal hält
sie Leute am Ärmel fest.“
„Gerhard“, sagte ich.
„Sie fragt Männer, ob sie Gebhard seien. Behauptet steif und
fest, sie seien Gebhard.“
„Er heißt Gerhard.“ Ich wollte nicht laut werden. „Nicht
Gebhard. – Verdammt! Einfach nur Gerhard.“
Erst als Stefan meinen Kopf zu sich zog, merkte ich, dass
mein Gesicht ganz nass war: „Mit r statt b“, murmelte ich und
wischte mir mit seinem T-Shirt die Tränen ab.
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Ich hatte Gerhard immer lieb gehabt. Mama sagte, sie spürte
einfach, dass er weiter auf uns aufpasste, wie er es früher
getan hatte, als sie sieben war und er vierzehn. Wenn es um
Gerhard ging, dann war Mama oft richtig ins Erzählen
gekommen, dann sprach sie ganz normal drauflos und ich saß
reglos in ihrem Sessel in der Waschküche, eine Haarsträhne
im Mund, und hoffte, dass es nicht gleich wieder vorüber war
mit der Geschichte: Ein Pimpf in Hitlerjugend-Uniform sei er
gewesen, der die bösen Drittklässler vertrieb, die sie
nachäfften, ihr „Majorstöchterchen“ nachriefen. Immer wieder
habe er ihr gesagt: „Wehren musst du dich, dir Respekt
verschaffen, das ist das Wichtigste!“ Der habe immer seinen
eigenen Kopf gehabt, sagte Mama versonnen, und ihr
Bügeleisen spuckte unterdessen Dampf wie ein wütender
kleiner Drache. Selbst von seinem Fähnleinführer habe der
sich nichts sagen lassen. Aber obwohl Gerhard doch das
Hehre, das Kraftvolle immer so geschätzt habe, und sie doch
so eine Zarte, Ängstliche gewesen sei und viel zu oft krank,
habe er sich nie geschämt, mit ihr, der kleinen Schwester,
Hand in Hand sonntags zur Kirche zu gehen. „Und keiner von
seinen Kumpanen hat gelacht, wenn er mit mir durch den
Mittelgang ging. Keiner“, sagte Mama. „So war Gerhard!“ und
das Bügelwasser tropfte zischend auf den Stoff, ohne dass sie
es merkte. An den Sonntagen habe sie dann ihm zum Dank
immer ihr schönstes Kleid angezogen, lange sei es das Blaue
gewesen, das mit dem Samtkragen und dazu weiße
Spitzenhandschuhe, die ihr Vater ihr aus Paris mitgebracht
habe. – „Du sollst was hermachen, meine Kleine“, das habe
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der Gerhard immer gesagt: „Wir sind schließlich nicht
irgendwer.“ Und ich nickte.
Wenn Mama Fernsehen schaute, erkannte sie in allen
Männern, die gut aussahen oder zu Kindern nett waren, etwas
von Gerhard wieder. „Schau nur, schau“, sagte sie dann und
krallte ihre Hand plötzlich in mein Knie: „ … genau so hat
Gerhard immer gelächelt“, oder: „Siehst du diesen Gang,
Nelly? Die federnden Knie? Genau wie er, weich,
selbstbewusst. Wie er.“ Sogar an wildfremden Männern, die
an unserem Haus vorübergingen, meinte sie Ähnlichkeiten zu
erkennen. Dann rief sie von der Küche aus: „Komm schnell,
komm: da!“ Und sie zerrte mich zum Fenster: „So sah
Gerhard aus!“ Und ihre Finger tockten so fest gegen die
Scheibe, dass ich Angst hatte, der Mann würde sich
umdrehen, würde sehen, dass wir ihn angafften. Eigentlich
benahm sich Mama, wenn es um Onkel Gerhard ging,
ziemlich oft wie Desiree. Sie war „wie von Sinnen“, konnte
offensichtlich „ihre Gedanken nicht mehr ordnen“. Keine Frage
– auch Mama war „bis ins Mark ergriffen“. Dabei war sie doch
gerade Elf gewesen, als sie Gerhard zum letzten Mal gesehen
hatte. Und er war knapp Achtzehn, als die Granaten ihn
zerfetzt haben. „In Stalingrad verheizt wie Millionen“, das hat
Omas Bruder Onkel Fritz gesagt, als er mal zu Besuch war.
„Der da, dein Onkel“, hat er gesagt und hat mit dem
Fingernagel aufs Glas des kostbaren Bildes geklopft, „der hat
sich aus purer Dummheit noch freiwillig für den Fronteinsatz
gemeldet, da war längst alles verloren. Muss man sich mal
vorstellen: Freiwillig. Zu einem Himmelfahrtskommando“,
sagte er. „Himmelfahrtskommando“, ich war damals Neun und
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das Wort hatte mich an das wunderbare Bild von Marias
Himmelfahrt in unserem dicken Kunstlexikon erinnert, an
Prozessionen, wie die, die Mama und Papa auf ihrer
Hochzeitsreise in Italien gesehen hatten, an den Geruch von
Rosen und Orangen und an geschmückte Altäre in südlichen
Straßen, von denen Mama erzählt hatte.
„Lass das, Fritz“, hatte Oma, die plötzlich in der Tür
gestanden hatte, ihn angefahren. Sie hatte ihm das Bild aus
der Hand genommen und es mit einem Zipfel ihres Kittels
abgewischt. Onkel Fritz kam danach nur noch selten von
Bayern hoch zu uns, weil Oma es nicht mochte, dass er
Mama „mit seinen respektlosen Reden“ aufregte.
Ich aber mochte den Himmelfahrtsonkel Gerhard nach diesem
Besuch womöglich noch lieber. Und wenn Mama nach ihren
Bügelgeschichten verstummt war und nur noch zu hören war,
wie das Eisen sprotzend über den Stoff fuhr, blieb ich
mucksmäuschenstill sitzen. Ich schaute sie bloß glücklich an.
In diesen Momenten war ich doch auch sicher: Er war hier bei
uns, um uns beizustehen.
Ich stand auf dem Kiesweg, der von der Straße zu unserem
Haus führte und rupfte Blätter vom Essigbaum ab, die durch
den angrenzenden Drahtzaun vom Nachbargrundstück
herüber wuchsen. Sie waren groß und etwas pelzig, und es
war ein angenehm kribbliger Schmerz, wenn ich sie – zum
Büschel zusammengefasst – gegen meine nackten Beine
schlug. Die Haut rötete sich ein bisschen. Früher lebte drüben
hinter den Bäumen noch ein dünner alter Mann, der immer,
wenn ich an den Ästen der Bäume und Büsche riss, durchs
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Fenster seines Hauses schaute. Nie sagte er etwas, aber sein
Blick war so traurig, dass ich eiligst davon lief, wenn ich ihn
hinter dem Vorhang sah. Die Hütte stand längst leer, Mauern
und Dach waren von Efeu und Brennnesseln überwuchert. Ich
brach mit schlechtem Gewissen einen noch größeren Zweig
des Essigbaums ab, rupfte die Blätter ab.
Als ich noch nicht zur Schule ging, hatte ich hier oft vormittags
an der Hecke die Feuerkäfer beobachtet, hatte geübt, die
großen Brennnesselblätter anzufassen ohne dass sie
brannten oder hatte Weinbergschnecken von den Büschen
abgesammelt. Es war schön gewesen, ihnen eine
Schneckenrennbahn zu bauen und zu beobachten, wie sie
sich ans Ziel vorkämpften. Wenn man den Kies mit der Kuppe
der Sandalen auseinander schob, kam roter Rennbahnsand
zum Vorschein. Die spitzen Steinchen bildeten an den Seiten
einen Wall, über den die Schnecken nicht so leicht
ausbüchsen konnten. Irgendwann hatte ich es erkannt – wenn
man Schnecken zusah, verging die Zeit schneller. Betrachtete
man, wie sie ihre zarten Fühler mit den schwarzen
Augenpunkten suchend umher gleiten ließen und Steinchen
um Steinchen mit ihrem runden, schleimigen Bauch
überwanden, kamen einem ihre Bewegungen gar nicht mehr
langsam vor. Im Gegenteil – ihre Art, die Blätter so
systematisch in sich hineinzukraspeln, sich über alle
Hindernisse hinweg einen Weg zu suchen, erschien plötzlich
als einzig angemessene Form, klar zu kommen. Es war ein
Trick, den ich selbst entdeckt hatte: Man musste bloß lange
und genau genug hingucken auf irgendeine komische Art zu
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leben, sich total blind machen für alles drum herum, schon
war eigentlich nichts mehr wirklich merkwürdig.
Ich hatte lange keine Weinbergschnecken mehr auf dem Weg
gesehen, nur die wabbeligen roten Nacktschnecken. Selbst
die hässlichen Feuerkäfer waren weg. Nur dicke
Waldameisen krabbelten wie früher über meine Füße, kaum,
dass ich eine Minute irgendwo stand.
Es war ein dicker Blätterstrauß geworden, ich konnte die
Stängel kaum noch umfassen. Als ich klein war, hatte ich
Mama fast jeden Tag solche Sträuße gebracht: Blätter, Efeu,
Gemüse, abgerupfte Blumen aus dem Stadtpark. Zum
Schluss hatte ich mein kleines Kunstwerk immer mit einem
Halm verknotet, dann war ich glücklich in die Waschküche
gestürmt: „Der ist für dich!“ Sie hatte das Bügeleisen zur Seite
gestellt, hatte den Strauß entgegengenommen, hatte
gelächelt – genau wie bei Papas Blüten. Sie hatte daran
gerochen wie an einem köstlichen Parfum. Dabei stank das
Grünzeug ungefähr wie nun meine Hände: säuerlich-schal.
Wir waren gemeinsam in die Küche gegangen und ich hatte
ihr zugesehen, wie sie Wasser in ein altes Senfglas laufen
ließ, das Unkraut darin sorgsam arrangierte.
Ich schlug mit dem Blätterbusch härter zu, so fest wie ich
konnte. Schon in Erwartung des Schmerzes kniff ich die
Augen zu – einmal – ein weiteres Mal – noch fester? … Es tat
nicht sonderlich weh.
Erschöpft lehnte ich am Zaun, starrte hinüber. Wie still und
abweisend unser Haus aussah, wenn die Vorhänge
zugezogen waren. Vielleicht hatten die Außerirdischen heute
mehr Erfolg bei ihrem Kidnapping gehabt. Bestimmt waren sie
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diesmal über die Terrassentür gekommen und hatten einen
gigantischen Staubsauger mitgebracht. Vielleicht hatten sie
den großen Rüssel in die Diele gehalten, auf AN gedrückt und
alles organische Leben innerhalb dieser grauen Mauern in ein
quittengeleeartiges Wabbelzeug verwandelt. Dann hatten sie
das Ganze eingesaugt, über einen Schlauch in den
Souvenirtank ihres Raumschiffs gepumpt, das sie auf dem
Rasen vor der Wäschespinne geparkt hatten. Seelenruhig
hatten sie den Schlauch eingezogen, waren eingestiegen und
– tttschrummmm – waren sie abgezischt und niemand hatte
etwas gemerkt. Urlaub vorbei. Mitbringsel gut verpackt. Zu
Hause würden sie das Ganze zum Vorzeigen
zurückverwandeln müssen in Mama, Oma und Mischka.
Hoffentlich käme dabei nichts durcheinander.
Und Karl? Wo steckte er überhaupt? Für gewöhnlich war er
vormittags zu Hause. Ausgerechnet heute, nach diesem
Abend, war er wie vom Raumschiff verschluckt. Ich hatte
gleich nach dem Aufstehen bei ihm geklingelt, geklopft, war
wie eine Einbrecherin ums Haus herum durch den fremden
Garten geschlichen, in dem noch immer wespenumschwirrte
Kiepen mit Äpfeln unter den Bäumen standen. Er hatte noch
nicht den Rasen gewässert, dabei stellte er sonst immer noch
vor dem Frühstück den Sprenger an; das hatte er seinen
Eltern vor ihrer Abreise versprechen müssen. Ich stand auf
der Wiese und blickte ratlos zum ersten Stock hinauf:
Normalerweise waren bei ihm alle Fenster weit geöffnet und
nur die weißen Stores bewegten sich leicht im Wind. Doch
nun regte sich nichts. Alle Fenster geschlossen, selbst die
dicken Vorhänge waren zugezogen – gerade so wie bei uns
95
und Behrens. Nicht die kleinste Bewegung. Waren seine
Eltern womöglich früher zurückgekommen? Aber der
Mercedes stand nirgends. Wollte er noch einmal zu seiner
Tante und ich hatte vergessen, dass er davon erzählt hatte?
Wieder ging ich zur Haustür, drückte auf den Klingelknopf,
lauschte dem langgezogenen Kling – Klong. Ja, ich bückte
mich sogar, öffnete die Briefklappe in der Tür und horchte.
War da noch ein anderes Geräusch? Ein winziges Räuspern?
Leise barfüßige Schritte auf Linoleum – die plötzlich stoppten?
„Karl“, rief ich durch die Klappe: „Bist du da?“
Stille. Totale Stille. Oder doch nicht? Ich hatte vor dem Schlitz
gekauert, hatte gemeint, irgendwo dort drinnen in dieser
riesigen, dämmrigen Höhle ein einsames Atmen zu hören.
Als ich noch klein war, hatte ich die Blätter auch zu winzigen
Päckchen gefaltet, bevor ich sie in den Mund gesteckt hatte.
Im ersten Moment fühlte es sich komisch an, wenn die Zunge
an das Pelzige kam. Man musste schnell zu kauen beginnen,
das war wichtig. Das Gekaute schmeckte saftig und bitter, ein
bisschen wie Oliven mit Seife.
Mamas Fahrrad lehnte nicht mehr an der Mauer hinter dem
Haus, ich hatte nachgesehen. Vermutlich hatte sie es jetzt an
dieser Linde im Neubauviertel angeschlossen, vermutlich irrte
sie zwischen den Hochhäusern herum und sprach Leute an.
Vielleicht waren es Eltern von Kindern, die in meiner Klasse
waren, mit denen sie redete, Menschen, deren Töchter ich zu
meinem Geburtstag hatte einladen wollen. Wohnte nicht Irene
in der Siedlung? Irene, die Tratschkuh, die alles und jedes
rumerzählte. Und Oma? Die war bei ihrem Widerling. Die
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kümmerte das alles nicht. Musste der nicht überhaupt auch
mal arbeiten? Für Geld Perlendes spielen in den Häusern von
anderen Kindern und andere Omas verführen? Das nächste
Blattpäckchen kostete weniger Überwindung, wie bitterer
Salat …
Oma hatte früher geradezu riechen können, wenn irgendwas
faul war. Wenn ich Scharlach bekam, hatte sie schon drei
Tage früher „so ein Gefühl“. Einmal, als wir in der ersten
Klasse diese schreckliche Vertretungslehrerin bekamen, die
uns immer mit einem Stöckchen auf die Finger geschlagen
hatte, war es Oma, die nach ein paar Tagen gesagt hatte: „Ich
glaube, heute gehe ich mal mit in die Schule. Dieses Fräulein
Ehrenberg muss ich mir, glaube ich, mal ansehen.“ Dabei
hatte ich zu Hause kein Wort gesagt. Und wenn Mama eine
„schwierige Zeit“ hatte, wie Oma immer sagte, dann war Oma
tage- und wochenlang ganz zufällig immer in ihrer Nähe
gewesen. Auf Oma war immer Verlass. Und jetzt?
Dabei war sie doch schließlich da, um auf alles aufzupassen!
Als ich das dritte Päckchen in den Mund steckte, schloss ich
die Augen: Spinat! Ich stellte mir vor, ich aß gewöhnliche
Spinatblätter …
„Was machst du da eigentlich?“ Karl stand auf dem Weg,
breitbeinig in Shorts und Hemd, unsere Leiter auf der Schulter
und betrachtete mich argwöhnisch. „Alles in Ordnung mit dir?“
Er lehnte die Leiter an unsere Hauswand. Meine Hand ging
zum Mund. Doch Karl war schneller. Er fuhr herum, sah mich
an, sah noch das Grüne, das ich gerade in die Handkuhle
spuckte. Ich wandte den Blick ab, wischte die Finger hinten an
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meiner Hose ab. Als ich wieder zu ihm linste, starrte er mich
noch immer entgeistert an. Ich rieb mir über die Lippen.
„Komm mit“, befahl er. Ich stolperte schweigend hinter ihm her
auf die kleine Straße, vorbei an der Pforte, die zu seinem
Haus führte, weiter zu dem Trampelpfad, der hinter den
Garagen hindurch zu den Feldern führte. Er könnte ja mal
etwas sagen. Ich blaffte ihn an:
„Wo warst du überhaupt heute Vormittag?“ Plötzlich packte er
meine noch feuchte Hand und zog mich mit sich. Mein Arm tat
ein bisschen weh, aber ich jammerte nicht. War es nicht
genau das, was ich gewollt hatte? Dass er auftauchte aus
dem Nichts, dass er mich holte und rettete, wie die Geliebten
Desirees im Moment der Gefahr auf ihren stolzen Rappen
herangallopiert kamen, sie im vollen Schwung um die Taille
fassten, emporhoben und davonritten, dorthin, wo alles Böse
schwieg und es schön war, unter eine zarte Birke, wo gelbe
Primeln und tiefblaue Hyazinthen blühten … Wir stapften über
ein Kartoffelfeld. Wollte er mit mir zum Hochsitz? In mein
Lieblingswäldchen? Wie fest seine Finger mein Handgelenk
umschlossen! Was wurde das für eine Wanderung? Musste
ich ihm denn alles aus der Nase ziehen? „Wo willst du
überhaupt hin?“ Er zerrte mich einfach weiter. Meine Finger
fühlten sich an wie im Schraubstock.
„Weißt du, was furchtbar ist, Nelly? Selbstmitleid ist furchtbar.
Das macht dich kaputt. Verstehst du das?“ Er sprach einfach
ins Blaue, sah mich nicht mal an: „Das kriegt dich klein. Das
frisst dich an. Mach das nicht, Nelly!“ Er beschleunigte seinen
Schritt.
„Karl! Lass mich los!“
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„Weißt du, was ich mache, wenn ich mies drauf bin?“, rief er.
„Ich gehe hinaus – hierher. Ich laufe eine Stunde oder so über
die Felder, ich bewege mich, ich merke, wie ich Luft hole …“
Ich wurde von Schritt zu Schritt wütender. „So! Pass auf – So
hol ich Luft …“ Und er schnaufte ganz merkwürdig, fast wie
ein Schluchzen klang es. Was sollte das Ganze?
„Karl, was machst du da? Was willst du überhaupt? Warum
lässt du mich nicht in Ruhe?“ In meinem Hals saß jetzt ein
dicker Kloß, der raus wollte. Raus musste. „Was redest du für
einen Scheiß? Das, was wichtig ist, darüber willst du nicht
reden: Sie ist verrückt! Kapierst du nicht: Meine Mama ist
verrückt und du hast es auch gewusst. Du hast mit Stefan
drüber geredet. Und mit wem noch? Mit deiner Tante? Mit
Behrends von nebenan?“ Ich hasste seinen abweisenden
Rücken. „Oder wissen sowieso schon alle längst Bescheid,
nur ich nicht? Ich bin die einzige Idiotin, die keine Ahnung
hatte, dass sie immer mehr abdreht, ja?“
Er löste seinen Griff so plötzlich, dass ich fast über einen
Feldstein gestolpert wäre. Unbeirrt stapfte er davon,
Blickrichtung stur geradeaus. Ich hatte Mühe, auf dem
sandigen Boden hinter ihm herzustolpern und dabei sein
gepresstes Gemurmel zu verstehen:
„Ja, ich geb´s zu: auch ich heule manchmal auf irgendeinem
verdammten Hochsitz, aber ich gehe raus, ich tue was
dagegen … Deswegen will ich Förster werden. Deswegen,
weil es nichts Besseres gibt, als hier draußen zu sein,
rumzurennen, nichts besseres, um den ganzen Mist zu
vergessen.“ Er stieg mit einem großen Schritt über einen
rostigen Zaun: „Man darf sich nicht kleinkriegen lassen,
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verstehst du das, Nelly?“ Dann drückte er den Draht für mich
mit der Hand hinunter: „Von niemandem.“ Ich kletterte
darüber, erwiderte dabei den Blick seiner funkelnden Augen.
Von welchem Mist redete er? „Vater, Mutter, Kind, denkst du.
Alles in Ordnung. Karl Ehm, Mama Ehm. Papa Ehm. Das
schöne Haus. Urlaub am Tegernsee. Alles schön!“ Vor uns
erstreckte sich eine Weide, in deren Mitte eine riesige Eiche
stand. Er ging weiter, lief auf den großen Baum zu, redete in
seine Richtung: „Ich weiß doch, was los ist bei euch. Ich weiß,
wie´s dir geht, glaub mir. Es ist schrecklich, ich weiß es. Es ist
die Hölle.“ Er drehte sich abrupt um und starrte mich an: „Sie
streiten den ganzen Tag, meine Eltern. Sie schreien sich nur
an. Seit Jahren, wusstest du das?“ Schimmerten seine Augen
etwa feucht? „Manchmal tritt er sie sogar. Richtig fest. Von
hinten in den Rücken.“ Er drehte sich um und ging weiter. Ich
lief schneller, lief ihm nach. „Er hat eine andere. Schon seit
langem“, murmelte er. Ich überholte ihn. Wir waren vor dem
Baum angekommen. Ich stellte mich vor ihn, mit dem Rücken
zum Stamm. „Deshalb sind sie am Tegernsee. Mein Onkel ist
Anwalt dort. Sie wollen alles regeln: Wo was hinkommen soll:
Ich, das Geld, die Couchgarnitur, der Scheiß-Mercedes …“
Erschrocken sah ich ihn an. Streckte ihm automatisch eine
Hand entgegen. Er kam auf mich zu, ignorierte sie, legte
stattdessen seine großen Hände um meine Oberarme,
drückte zu, presste mich fest an sich. Sein Körper, stark, breit,
groß, drängte sich an mich: sein Becken, Hüftknochen, das
Harte zwischen seinen Beinen … und die Rinde bohrte in
meinen Rücken. Seine Lippen fühlten sich anders an als sonst
– nass, gespannt, kalt. Ich spürte seine Zähne, die Hand an
100
meinem Kopf, seine Zunge, die machtvoll versuchte, den
Widerstand meiner Zähne zu brechen, vorzudringen … Ich
versuchte ihn abzuschütteln, gab unwillige Geräusche von
mir, fühlte den harten Druck seiner Daumen in meinen Armen,
wand meinen Kopf hin und her, kämpfte mit dem Fleisch in
meinem Mund. Dann, von einem Moment auf den anderen,
ließ er von mir ab, trat einen Schritt zurück.
„Entschuldige“, stammelte er. „Ich wollte doch nicht …“ Er
stolperte einen Schritt nach hinten: „Nelly: Bitte …“
…
Ich lief über die Felder, stapfte mit verschränkten Armen über
den Sand, rannte fast und wusste doch eigentlich, dass er mir
nicht folgen würde. Ich kroch unter dem Zaun hindurch,
trampelte wütend die Brennnesseln im Feldrain herunter, nicht
achtend, ob sie durch meine dünnen Söckchen stachen. Nein,
ich würde nicht heulen. Ich zog die Nase hoch, wieder und
wieder, lief über eine Wiese, nicht zurückschauend auf Karl,
der da bestimmt noch herumstand, starrte. Ich wollte fort sein,
eingesogen, verschluckt, verwandelt, weggebracht in eine
fremde Galaxie, auf einen weißen, sanften Planeten, der mich
aufnehmen würde wie ein großes, weiches Federbett. Ich
umrundete eine alte, verrostete Egge, kletterte wütend über
einen Haufen alter Autoreifen, dort vorne war es schon, das
Wäldchen, in dem ich verschwinden konnte. Nun trabte ich
wirklich los, lief über eine Schafsweide; die Augen gesenkt
sprang ich über Maulwurfshügel, über federnden Grasboden.
Guckte er mich an? War das sein Blick, der so brannte in
meinem Rücken, als hätte er noch das Recht mir
101
nachzuglotzen, meinen dicken Waden, der doofen
Mädchenart zu rennen, dass der Busen komisch hüpfte.
Nadelwald, der Boden trocken und weich, voller rötlicher
Kiefernnadeln. Ich trabte weiter, zwischen den Bäumen
hindurch, trabte, lauschte dem Knacken der Stöckchen unter
meinen Sandalensohlen. In den schattenblauen Raum
drangen Lichtflecken ein, die grell vor meinen Augen tanzten.
Ich hörte mein Atmen, das Keuchen, spürte ein spitzes
Stechen in der Leiste, den dumpf-pochenden Schmerz dort,
wo seine Daumen sich fest eingedrückt hatten in meine
Oberarme, und immer hätte ich so weiter rennen wollen. Die
Hand in der Seite lief ich einen sanften Hang hinauf, doch die
Puste ging mir aus, ich musste langsamer werden. Japsend
stützte ich mich schließlich an einer großen Kiefer ab. Den
Kopf an der Rinde, atmete ich tief ein: Harz – der Kindheits-,
Onkel-Gerhard-, der Freiheitsgeruch. Ich drehte mich um,
starrte in den Wald. Schmale, rötliche Stämme wiegten sich
im leichten Wind. Keine Spur von Karl. Natürlich. Ich rutschte
langsam, den Rücken am Baum, auf die Erde hinab, saß mit
angezogenen Knien. Irgendwo rief ein Kuckuck. Einmal,
zweimal, dreimal …
„Der Wald ist dein Freund“. Das hatte Mama vor ein paar
Monaten plötzlich gesagt, und sie hatte merkwürdig dabei
geklungen. Sie hatte beim Bügeln inne gehalten und mich
angesehen, als ob sie mir etwas Entscheidendes mitteilen
müsste: „Die Märchen lügen!“ Ihre leicht zittrige Hand hatte
zärtlich über das Geschirrtuch gestrichen, es sorgfältig
gefaltet: „Ihretwegen denken wir immer, der Wald sei die
Gefahr, der Ort, an dem die böse Hexe auf uns wartet –
102
Kobolde, böse Geister – dabei ist es genau umgekehrt. Die
Menschen sind es, die nicht gut sind. Du wirst es noch
sehen.“ Dann hatte sie meinen Blick gesucht, mich mit ihren
blauen, leicht geröteten Augen fixiert: „Merk dir eins: Der Wald
ist dein Freund, was auch immer passiert!“ Sie sortierte das
Tuch in den Korb, ehe sie weiter sprach: „Er hat uns das
Leben gerettet, immer wieder. Wenn die Russen uns gesucht
haben – betrunken sind sie jeden Abend von Haus zu Haus
gegangen, haben gerufen: „Frau! Frau, komm Frau!“ – dann
waren wir längst im Wald. In Sicherheit. Verstehst du?“ Und
sie hatte weiter gebügelt: „Du wirst nicht gesehen. Das Laub,
Äste, warme Erde – du findest etwas, um dich gegen die
schlimmste Kälte zu schützen …“ Sie hielt inne: „Nur der
Winter. Dieser schreckliche Winter, der Schnee …“ Sie stand
wie erstarrt, das Bügeleisen in der Luft.
„Mama …“, sagte ich vorsichtig. Und ganz behutsam stellte
sie das Eisen ab, blickte mich überrascht an. Dann nickte sie
langsam wie aus einer Trance erwachend:
„Ja, der Wald … es ist immer genug da, um nicht zu
verhungern: Beeren, Pilze, selbst Rinde betäubt den Hunger.
Nur die Angst vor der Dunkelheit musst du besiegen, aber,
glaub mir, irgendwann begreift man es: sie ist schön, die
Dunkelheit. Sie schützt.“ Und ein Lächeln war über ihr
Gesicht geglitten: „Sie schützt vor so vielem …“
Ich ließ mich tiefer in das warme Nadelbett gleiten, bis ich auf
dem Rücken lag; über mir durch das wogende Geäst hindurch
zogen die Stare, ein großer Schwarm. Ich zählte bis
zweiundsiebzig, bis da nichts mehr war als Blau. Sie wussten,
wohin sie mussten.
103
Das feine Pieksen auf der Haut war fast schön. An Insekten
würde ich einfach nicht denken. Ich rollte mich ein, schob
beide Hände zwischen meine Schenkel, schloss die Augen.
Ein einzelner Sonnenstrahl brannte auf meinen unteren
Rücken. Wieder rief der Kuckuck, viermal. Und ein leises
Rauschen fuhr durch meinen Kopf und nahm alle Gedanken
mit fort …
Als ich die Haustür aufschloss, hörte ich es schon: Oma
saugte Papas Zimmer. Ich folgte dem Geräusch, lehnte mich
in den Türrahmen, betrachtete ihren Rücken.
Sie hatte meine Lieblingskittelschürze an, die rote mit den
grünen Streifen, die Schleife hinten war akkurat gebunden.
„Schönen Gruß von Papa. Er kommt doch erst morgen.“
Woher wusste sie, dass ich hinter ihr stand?
„Was lungerst Du überhaupt hier herum?“ rief sie. „Mach dich
nützlich. Du kannst die Papierkörbe leeren.“ Sie wuchtete den
Rasenbelüfter zur Seite. Als ich nicht antwortete, drehte sie
sich mir zu, betrachtete mich von oben bis unten: „Wie siehst
du überhaupt aus? Du hast ja den halben Wald im Haar?“ Ich
schüttelte den Kopf, blickte an ihr vorbei.
„Du bist erst 13! Vergiss das nicht.“
„Makalewski war letztens hier“, rief ich.
„Wer?“ Der Staubsauger war so laut, dass ich fast schreien
musste:
„Makalewski, der Penner. Ich meine der „Mann in Not aus den
Baracken.“ Merkwürdig, die Männer schauten sonst selten im
Sommer bei uns vorbei. Oma bückte sich und fuhr mit der
schmalen Aufsatzdüse unter den Kleiderschrank:
104
„Und? Hast Du ihm was gegeben?“ Ich betrachtete ihren
gestreiften Hintern:
„Warum lässt du Makalewski und die anderen Trippelbrüder
immer zu uns rein?“ Ich stellte mich neben sie. „Und warum
fragst Du sie immer alle aus, Oma?“ Sie fuhr mir fast über die
Füße:
„Weil sie Hilfe nötig haben. Warum sonst! Du stehst im Weg.“
Ich trat einen Schritt zurück:
„Warum fragst Du sie immer, wen sie gesehen und getroffen
haben, als ob du jemanden suchst? Warum willst du wissen,
wo sie überall waren, wer noch in der Gegend unterwegs ist –
warum. Oma?“ Sie zog den Sauger unter dem Schrank hervor
und machte ihn aus. Dann riss sie den Stecker aus der
Buchse:
„Hast Du nichts anderes zu tun, als mich vom Arbeiten
abzuhalten?“ Sorgfältig legte sie sich Kabelschlingen um ihren
Arm.
„Es ist wegen Gerhard, nicht wahr? Du suchst ihn.“ Ihre Hand
hielt inne.
„Gerhard ist tot.“ Eine Feststellung. Dann fuhr sie mit ihrer
Arbeit fort. Ich wartete und schwieg. Sie hing die Schlingen
sorgfältig an den Haken am Gerät. „Willst du nicht noch
rausgehen vor dem Essen?“ Sie lehnte den Staubsauger an
die Wand und ging zum Fenster: „Schön ist es, richtig schön.
Ich glaube, es kühlt sich doch etwas ab ...“ Diese Stille ohne
den Staubsaugerkrach. Ihr breiter Rücken regte sich nicht.
Hielt sie den Atem an? In der Spiegelung sah ich ihr weißes
Haar.
105
„Ich denke doch auch oft, dass Gerhard kommt, Oma. Er
könnte uns helfen, nicht wahr?“ Sie öffnete jetzt beide
Fensterflügel weit:
„Uns braucht niemand zu helfen, Nelly-Kind. Wir kommen gut
zurecht.“ Sie drehte sich langsam zu mir, lächelte: „Mach dir
mal keine Sorgen.“
„Wenn er jetzt aber doch …“
„Onkel Gerhard ist 1942 vor Stalingrad gefallen. Basta.“ Ich
ging auf sie zu.
„Aber ihr habt ihn doch nie für tot erklären lassen. Onkel Fritz
hat gesagt, Ihr hättet sonst viel mehr Lastenausgleich
bekommen. Und dann dieser Brief vom Roten Kreuz. Wenn er
jetzt doch in Gefangenschaft … Ihr habt es nicht gemacht!“
Sie schlug das Fenster so energisch zu, dass es schepperte:
„Onkel Fritz! Was versteht der von Lastenausgleich! Onkel
Fritz redet viel, wenn der Tag lang ist.“ Warum war sie so
wütend? „Geh jetzt. Geh spielen!“ Ich kam noch näher.
„Wahrscheinlich war er in Sibirien! Wie Makalewski! Sie haben
Zigtausende verschleppt. Haben wir in Geschichte gehabt.
Vielleicht ist er verletzt worden. Ist entstellt. Er schämt sich.
Oder er hat sein Gedächtnis verloren. Weil er einen Stein auf
den Kopf bekommen hat in einem Bergwerk zum Beispiel …“
„Hör sofort damit auf!“ Sie hielt sich die Ohren zu.
„Aber Oma: Stell dir nur mal vor – ein Geruch, ein Geräusch
und – zack – alles ist wieder da, und er macht sich auf den
Weg zu euch, zu uns …“
„Was redest Du da …“
Sie kam auf mich zu. Aber ich blieb stehen.
106
„Vielleicht ist es einer von den Männern in Not, vielleicht sogar
ein Kumpel von Makalewski. Er ist sogar genauso alt! Oder er
kennt Gerhard. Hast du ihn danach gefragt?“ Jetzt ließ ich
mich nicht mehr stoppen. Ich wusste, ich war auf dem
richtigen Weg: „Du wartest doch auch auf ihn. Wie Mama! Du
weißt es genau: Sie wird nie wieder richtig normal, wenn
Gerhard nicht endlich kommt.“ Sie hob die Hand, kam näher.
Ich wich zurück vor ihren wilden Augen, doch ich musste
einfach weiterreden: „Aber das ist Dir ja jetzt nicht mehr
wichtig. Du bist ja nur noch dauernd weg. Du willst uns ja
auch gar nicht mehr helfen. Du schaust einfach zu, wie alles
durcheinander kommt. Wie sie herumirrt, Selbstgespräche
führt, sich nur noch verkriecht … Du bist lieber bei diesem
alten Schleimer, diesem hässlichen …“ Ihr Schlag traf mich
mitten ins Gesicht. Ich starrte sie fassungslos an, rieb mir
Wange und Nase, die brannten wie Feuer. Oma hatte mich
noch nie geschlagen. Niemals. Sie kramte sofort in ihrer
Schürzentasche nach einem Taschentuch. Da sah ich etwas
im Augenwinkel. Ich drehte mich um: Hinter mir stand Mama.
Ihr Lächeln war merkwürdig verrutscht. Ich streckte reflexartig
die Arme aus, trat einen Schritt auf sie zu.
„Hallo, Mama“. Oma führte das Taschentuch zu ihrer Nase,
als wolle sie sich schnäuzen:
„Inge, Liebes …“. Doch Mama drehte sich um, ging davon.
Verwirrt blickte ich ihr nach. Was hatte sie vor? „Los!“ Oma
gab mir einen Schubs in den Rücken. Ich stolperte Mama
hinterher. Oma nickte aufmunternd, als ich mich umblickte. Ich
ging durch den Flur zur Waschküche. Mein Gesicht glühte,
meine Knie zitterten, aber plötzlich war ich sehr erleichtert,
107
dass Mama da war. Sie stieg vor mir zwei Treppen zur
Waschküche hoch, trat durch die Tür.
„Mama, weißt du, ich wollte sowieso …“ Ich holte tief Luft. Ich
hatte keinen Schimmer, was ich sagen sollte. In der Tür
wandte sie sich zu mir um. Dann tat sie etwas, was sie noch
nie getan hatte. Sie schloss die Tür und drehte vernehmbar
zweimal den Schlüssel herum.
Mit einem hellen Kiesel konnte man Muster malen auf die
roten Sandsteinstufen: Ringelschlangen, Punkte, fremdartige,
geflügelte Wesen, sich verschlingende Wege nach Nirgendwo
… Ich hatte, den Kopf gesenkt, ewig auf den Stufen der
Musikschule gesessen. Mittwoch um diese Zeit hatte Stefan
Geigenunterricht. Gleich würde er die Treppe herunter
kommen. Doch er kam nicht. Niemand kam. Als ich mich zu
wundern begann – überhaupt war es so still – stieg ich hinauf
zum Tor. Ich versuchte die große Messingklinke herunter zu
drücken. Verschlossen. Natürlich, ich hätte es wissen können,
in den Ferien machte auch die Musikschule Sommerpause.
Warum hatte ich nicht längst nachgesehen, wo er blieb?
Ratlos schaute ich die leere Straße hinunter. Eigentlich fast
gut, dass keiner da war. Ich wollte nicht, dass meine Nase
und meine Augen so rot aussahen, ich wollte nicht, dass
Stefan mich jetzt so sah – oder seine doofe Schwester – oder
noch schlimmer: mein Gemeinschaftskundelehrer! Ich konnte
niemanden treffen! Nicht jetzt. Ich trottete die Straße entlang,
an den niedrigen Hecken der gepflegten Vorgärten und den
mannshohen Toren vorbei. Eine Gehwegplatte, nächste
Gehwegplatte, nicht auf die Rillen treten. Nichts denken,
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nichts fühlen – nur hier sein, Fuß vor Fuß setzen. Zehn
Schritte Schatten, ein paar Schritte Sonne, acht Schritte
Schatten. Alle Häuser sahen ähnlich aus: Rauputz, der
Windfang aus Glasbausteinen, drei Fassadenfenster – zwei
unten, eines oben – das spitze Dach. Hinter vielen Toren
bellten Hunde. Der dort knurrte hinter der schmiedeeisernen
Vier auf dem Holztor, war der schwarze Dobermann mit
Maulkorb, der sonnabends immer vor dem Edeka angekettet
war. Auf einem Dach wehte eine Deutschlandflagge, in einem
Garten drehten sich winzige Windmühlen, dann kam Nr. 17.
Natürlich guckte ich zu dem Fenster unten rechts. Das
mongoloide Kind. Von Oma wusste ich, es konnte eigentlich
um diese Uhrzeit nicht daheim sein. Seit ein paar Monaten
wurde es morgens von einem Kleinbus weggebracht und
abends wieder abgeliefert. Sie hatte die Stimme gesenkt, als
sie es erzählte. Und ich hatte zurückgeflüstert: Ob sie es mal
wieder gesehen hätte? Ob es noch so dick war? Sie hatte
genickt.
Als ich noch zur Grundschule ging, liefen die Kinder auf dem
Schulweg extra an Nr. 17 vorbei. Alle wollten es ansehen.
Auch ich hatte oft am Zaun gestanden. Den Ranzen schief auf
einer Schulter, hatte ich zum Haus hinübergestarrt. Wir
redeten nicht darüber, aber wir wollten wieder sehen, wie es
uns, halb versteckt hinter den Stores, mit offenem Mund so
anglotzte ohne jemals sein Gesichtchen, sein fleischiges,
altersloses, zu einem Lächeln zu verziehen. Immer war es die
Oma des Kinds gewesen, die uns dann mit einer müden
Handbewegung weggescheucht hatte, bevor sie das Kind
vom Fenster, von unseren Gaffblicken, fortzerrte. Aber oft
109
konnten wir uns erst losreißen, wenn wir kurz drauf auch noch
dies leicht winselnde Geplärre aus den Tiefen des Hauses
hörten. Erst dann schlappten wir weiter der Schule entgegen,
schweigend meist, doch manchmal legte später im Unterricht
einer von uns seine Finger in die Augenwinkel, machte
„Chinesenaugen“, blies die Backen auf und ließ halb eine
dicke Zunge heraushängen. Dann kicherten wir – und
schlugen, irgendwie erschrocken, die Hände vor den Mund.
Ich hatte das Kind noch niemals draußen gesehen, nicht im
Vorgarten, nicht auf dem Spielplatz, nicht an der Hand der
Erwachsenen in der Stadt. War es das, was mich plötzlich
aufschluchzen ließ, als ich vor der Nr. 17 stand, wo die dicken
Vorhänge zugezogen waren wie bei uns? Plötzlich sah ich es
vor mir: das einsame Kind, das all die Jahre in diesem Haus
eingesperrt war, Stille, das Ticken der Uhr, die dämmrigen,
vollgestellten Zimmer, in die nie andere Kinder kamen, um mit
ihm zu toben und zu spielen, die traurige Großmutter als
einzige Gesellschaft – wo waren eigentlich die Eltern?
Schniefend schleppte ich mich die heiße, schweigende Straße
entlang nach Hause. Wie hatte ich bloß immer so grausam
sein können? Wie hatte ich nur mitlachen können? Ich wusste
ja nicht mal, ob das arme Kind ein Junge oder ein Mädchen
war. Nicht mal das hatte mich interessiert! Ich dachte immer
nur an mich, an meine lächerlich kleinen Sorgen. Deshalb
hatte ich auch Mama nie helfen können. Ich tat nicht, was
nötig war für meine Mutter. Statt mit Karl herumzuknutschen,
hätte ich nach ihr sehen müssen, ich hätte ihr Gesellschaft
leisten, hätte nachsehen müssen, ob sie genug isst, ob sie
110
irgendwo Lebensmittel versteckt hält …Ich hätte verhindern
müssen, dass alles durcheinander kommt.
Ich stolperte ums Haus herum zu meiner Hollywoodschaukel,
kroch unter die Haube. Sofort fühlte ich mich wie in einem
sumpfigen Teich unter Wasser. Alles schimmerte unter dem
Plastik grün und roch modrig-dumpf. Ich drehte mich vom
Rücken auf den Bauch und vergrub das schon wieder
schweißfeuchte Gesicht im Polster der Hollywoodschaukel.
Stank das Kissen nicht nach Herrn Nowottnys Eau de
Cologne? Angewidert richtete ich mich auf. Warum hatte ich
diesen Ort nur je geliebt? Alles war fremd geworden und
nichts als Stille hinter geschlossenen Türen. Alle außerirdisch
verreist; was aus mir wurde, war weltenweit niemandem
wichtig. Es hatte sich nicht mal jemand die Mühe gemacht,
heute früh die Plane über der Schaukel zu entfernen, dabei
war gar kein Regen in Sicht. Überhaupt: warum regnete es
nicht endlich einmal? Warum kam er nicht, der erste
Frühnebel, die erste nächtliche Kälte? Es war fast September,
aber die Hitze pappte wie ein nasser, schlapper Lappen.
Warum konnte der Sommer nicht aufhören? Der Herbst sollte
endlich beginnen mit Altweibersommer, Blätterwirbel und
Kastanien auf der Straße. Es sollte sein wie letztes Jahr:
Erntedankfest in der Kirche mit Omas Kürbissen vor dem
Altar, Sturmböen, die über die leeren Kartoffeläcker tobten,
dass der Sand noch auf dem Rathausplatz zwischen den
Zähnen knirschte, dann Sankt Martin, Nikolaus, Weihnachten
… ja: wenn bloß bald Weihnachten wäre! Oma sollte
Kokosmakronen backen und Anisplätzchen und die Kugeln
aus dem Keller holen. Ich würde gerne wieder in die Schule
111
gehen, Scheiß-Algebra lernen, sogar meinen herumschreienden Chemielehrer ertragen, im Handarbeitsunterricht
Stuhlschoner häkeln, Weitwurf üben ... Und nachmittags
könnte ich zum Turnen gehen oder mit hochgezogenen Knien
im Ohrensessel in der Waschküche sitzen und Mama zum
Erzählen bringen. Nur Klavierspielen, das würde ich bestimmt
nie mehr. Ich wollte, dass Herr Nowottny mit der Hitze für
immer verschwand wie die Außerirdischen, nachdem sie ihre
Sommersouvenirs wieder dort abgeliefert hatten, wo sie sie
geholt hatten.
War da etwas? Schritte? Rascheln von Blättern? Ein leises
Räuspern? Oder hoppelte nur der Igel, der unter dem Ginster
wohnte, über die Terrasse? Ich hielt den Atem an. Konnte
man unter der Abdeckung womöglich meine nackten Füße
sehen? Vorsichtig zog ich die Knie etwas höher, schon
rasselten leise die Ketten. Sofort hielt ich inne, horchte.
Nichts. Nur das Gezwitscher der Vögel. Trotzdem: Ich war
jetzt sicher, keinen Meter entfernt, stand jemand auf der
Terrasse. Ich saß still. Da hörte ich es, dies Atmen. Nun
wusste ich, wer es war. Ich kannte viele Arten, wie er atmete:
wie er Luft einsog, wenn er nachdachte, wie er förmlich
Energie trank, wenn er draußen war bei den Tieren. Ich hatte
seine kleinen Atemstöße an meinem Ohr so gemocht, wenn
er von hinten versuchte, meinen Hals zu küssen.
„Nelly?“ – es war ein fragendes, zögerndes Nelly, ein Nelly mit
gesenktem Kopf, das mich überraschte. „Bist du da?“ Ich
rührte mich nicht, atmete mit ihm gemeinsam. Sah er meine
rechte Fußspitze? Ich rollte die Zehen ein. „Nelly, du musst
zuhören!?“ Was bitte konnte ich hier auch sonst tun? „Nelly,
112
hörst du?“ Ob er jetzt wieder seine Hände in den
Hosentaschen vergrub, ob er von einem Bein aufs andere
trat? „Ich weiß doch auch nicht, warum …“ Fast trotzig. Dann
schwieg er. Ob sich meine Knie unter dem Plastik
abzeichneten? „Nelly: ich finde dich gut. Wirklich.“ Tiefes
Einatmen „ … du bist mir total wichtig … bloß … ich meine,
du bist so furchtbar jung.“ Ach nein?! Wenn ich Fünfzehn oder
Sechzehn gewesen wäre, hätte ich bestimmt auch nicht
gewollt, dass er so ist, dass er so … mich so gegen meinen
Willen ... Wieder brannten meine Augen. Was hatten bloß alle
immerzu mit meinem Alter? Er zog hilflos die Luft hoch. Die
Stille dehnte sich. Stille und Hitze – Ich schwitzte grässlich
unter den Armen, atmete mit offenem Mund, weil meine
Heulnase verstopft war. Zudem kroch ein prickelnder Schmerz
mein rechtes Bein hoch. Bestimmt würde ich gleich einen
Krampf in der Wade bekommen. „Vielleicht zu jung …?“ Ganz
vorsichtig versuchte ich das Bein ein paar Millimeter nach
links und rechts zu bewegen. Sofort war das schabende
Geräusch am Planenstoff zu hören. „Nelly“, rief er und trat
hörbar einen Schritt näher: „Ich hätte nicht … hey, ich weiß
das doch!“ Verdammt noch mal, warum sagte er nicht, was er
zu sagen hatte? „Ich meine, …“, er atmete tief ein, „es ist nur,
weil …“ Sag, dass es dir Leid tut und dann geh.
„Ich muss doch weg.“ Was redete er da? „Meine Tante hat es
mir erzählt. Sie haben sich so geeinigt. Meine Mutter will, dass
ich mit ihr zu meiner Tante nach Ulm ziehe. Schon bald.
Schrecklich bald. Schon im Herbst.“
113
Am selben Abend begann der Angriff. Ich hatte mich
gezwungen etwas zu essen. Ich hatte alleine in der Küche
gestanden, hatte an einem Wurstbrot gekaut, als ein jäher
Schmerz mich zusammenzucken ließ. Ich hatte den Fuß
geschüttelt, doch da war etwas. Ein Gewicht. Etwas, was an
meinem Strumpf hing: ein Tier, das sich verbissen hatte!
Entsetzt hüpfte ich auf einem Bein, doch es ließ nicht von mir
ab. Mit Schwung kickte ich es in die Luft. Es flog im weiten
Bogen gegen den Kühlschrank, prallte ab, fiel auf die Kacheln.
Eine Maus berappelte sich und huschte zur Tür hinaus. Als
ich mich umschaute, sah ich im Augenwinkel einen Schatten.
Ich drehte mich um: Eine weitere graue Maus glitt von der
Anrichte auf den Boden. Irgendwas hatte sie im Maul. Jetzt
erst sah ich, dass eine Klappe des Büffets nur angelehnt war.
Und ich entdeckte noch etwas: Köttel. Kleine schwarze
Mauseköttel. Sie lagen auf der Arbeitsfläche, direkt neben
dem Brotkasten, aus dem ich doch eben noch – völlig in
Gedanken – eine Schnitte genommen hatte. Als ich die
Schranktür aufklappte, zitterten mir bereits die Hände vor
Ekel. Da sprang mir, ungefähr in Brusthöhe, eine Maus
entgegen. Schreiend stolperte ich rückwärts, knallte gegen
den Blechmülleimer und rief so laut ich konnte:
„Maaaamaaa!!!“
Ich rannte durch die Diele, riss die Tür zur Waschküche auf
und starrte sie an. Sie saß im Schein einer kleinen Lampe in
ihrem Ledersessel neben dem Bügelbrett, ein Buch im Schoß,
und lächelte. Als ich vorhin nach ihr gerufen hatte, hatte sie
nur durch die geschlossene Tür geantwortet, sie habe schon
gegessen, ich solle mir etwas aus dem Kühlschrank nehmen.
114
Ich hatte nicht gewagt, die Klinke zu drücken, hatte Angst, es
könnte abgeschlossen sein. Ich blickte auf ihren Schoß, auf
das Federbett auf ihren Knien. Kaum anzunehmen, dass ihr
kalt war bei mindestens 25 Grad im Zimmer. Wollte sie hier
schlafen? schoss (es) mir durch den Kopf, dann stammelte
ich: „Mäuse! Überall im Haus sind Mäuse. Ich habe eben in
fünf Minuten drei Stück in der Küche gesehen. Wer weiß, wie
viele es sind. Sie scheißen überall hin!" Sie lächelte noch
immer und schüttelte sachte den Kopf. „Sie tun nichts. Wenn
sie satt sind, verschwinden sie wieder. Wie die Ratten damals
im Zimmer bei Tante Gertraud. Aber für Babys können sie
gefährlich werden, die Ratten. Wenn sie sie anknabbern,
meine ich …" Sie erwiderte lächelnd meinen fassungslosen
Blick, „an den Zehen zum Beispiel. Oder die Finger, die
fressen sie manchmal. Und dann der Typhus, verstehst du?“,
Sie legte ihre Hand auf den Schutzumschlag: „Kopfläuse sind
auch grässlich und Wanzen erst. Wanzenbisse tun
schrecklich weh, hast Du das gewusst?" Dann nahm sie ihr
Buch wieder auf: Der Handtuchmörder. Täuschte ich mich,
oder war die linke untere Ecke des Schutzumschlags
angenagt?
„Du?“ Ein Strahlen glitt über Karls Gesicht, als er mich in
seiner Haustür stehen sah. Ich zog an seinem Arm, schüttelte
den Kopf:
„Du musst kommen!“ Er schlüpfte in seine Latschen und folgte
mir über den Kiesweg. Unablässig redete ich auf ihn ein:
„Mäuse, eklige, unzählige – Mäuse, die kacken, und fressen
und beißen und Krankheiten übertragen.“ Er sah mich von der
115
Seite an. „Mäuse“, schrie ich fast. „ bei uns zu Hause!“ Ich
ging ihm voran durch die Haustür, zum Besenschrank. Ich
hängte einen Blecheimer über seinen Arm, streckte ihm den
Schrubber entgegen. Er legte seine große Hand auf meinen
Unterarm. Ich zog ihn weg, wendete mich ab. Karl folgte mir
mit dem Schrubber in die Küche. Ich begann sofort, die Türen
der Küchenschränke aufzuklappen, Geschirr und Vorräte
auszuräumen. „Worauf wartest du?“ Ich zerrte Mehl-,
Rosinen-, Zuckertüten hervor: „Schau dir das an! Schau bloß
mal her!“ Karl blieb unschlüssig in der Tür stehen, betrachtete
mich. „Diese schwarzen Körnchen hier – alles Mausekacke.“
Triumphierend hielt ich ihm ein Marmeladenglas unter die
Nase, auf dessen Deckel mehrere Köttel lagen. Mein Blick
ging zum Büffet: „Pack an!“ Mit vereinter Kraft schoben wir es
von der Wand ab. Ein grauer Schatten huschte an Karls
Füßen vorüber: „Was hab ich dir gesagt: Jetzt siehst du´s
selbst!“ Begriff er denn nicht: Feinde! Und: „Da!“ schrie ich,
zerrte an seinem Hemd und stolperte mit dem Besen der
Maus hinterher, die plötzlich wieder aufgetaucht war, nun
dreist im Türrahmen saß. Auch Karl stürzte sich nun mit
gestrecktem Schrubber auf das Vieh, doch der Eimer an
seinem Arm kam scheppernd meinem Besen ins Gehege. Der
Besen fiel um, der Eimer krachte zu Boden, die Maus war
weg. „Verdammt!“ Warum war er so ein Idiot? Ich lief der
Maus hinterher, rannte im Zickzack durch die Wohnung, die
Zimmerecken mit Blicken absuchend. „Wir müssen die Möbel
abrücken“, schrie ich, und zog schon an einer Schmalseite an
der Anrichte, die sich keinen Millimeter rührte. „Dahinter sitzen
sie. Garantiert.“
116
„Das hat doch keinen Sinn“, sagte Karl und fasste dennoch an
der anderen Seite an. Spielend hob er das Eichen-Ungetüm
an und wuchtete es einen halben Meter in den Raum hinein.
Ich beugte mich über das Möbel, starrte auf einen
abgebrochenen Bleistift, Murmeln, einen verschrumpelten
Apfel und einen dicken, grauen Staubflusenknäuel, in dessen
Mitte sich etwas bewegte: „Den Eimer“, schrie ich: „Den Eimer
– schnell!“ Doch als Karl ihn über das graue Etwas gestülpt,
eine Illustrierte zwischen Boden und Eimer geschoben, dann
das Ganze vorsichtig angehoben und die Zeitung entfernt
hatte, war nichts weiter darin als grauer, verfilzter Staub. Kopf
an Kopf starrten wir in den Eimer, während ich mit dem
Bleistift in dem Staubgeflecht herumhackte. Karls Haar roch
leicht nach Wind und Äpfeln. Mir war elend.
„Weiter“, rief ich: „Das Klavier!“, und riss ihm den Eimer aus
der Hand. Wir öffneten den Klavierdeckel, wir leuchteten mit
der Taschenlampe auf messingfarbene Seiten, wir wuchteten
das Instrument millimeterweise von der Wand ab. Kniend
betrachtete ich im Taschenlampenkegel die kleinen
schwarzen Köttel vor der verstaubten Fußleiste. „Wir müssen
saugen“, rief ich. „Alles voller Dreck. Bakterien. Hol den
Staubsauger.“ Wir schoben Schränke und Kommoden durch
die Wohnung, hingen sogar den Spiegel ab, fegten
Kotkügelchen zusammen, saugten, spurteten mit Eimern
voller Spülwasser in der Hand durch die Zimmer. Irgendwann
hielt mir Karl eine Limoflasche vors Gesicht:
„Trink wenigstens etwas.“ Ich schüttelte energisch den Kopf,
zwängte mich an ihm vorbei. Mein Herz raste im Jagdfieber.
117
Ich musste sie besiegen. Sie waren scheinbar überall. Wie
war es nur möglich, dass wir nichts von ihnen bemerkt hatten?
Mit dem Handrücken wischte ich mir feuchte Haarsträhnen
aus der Stirn.
„Hier! Komm her“, rief ich triumphierend und blickte hasserfüllt
in zwei dunkelbraune Knopfaugen: „Schnell.“ Ungerührt putzte
sich die Maus ihre Pfoten, keinen Meter von mir entfernt. Das
also war er, der Gegner. Wie unscheinbar sie waren, wie
klein, ja so winzig, dass man lange an ihnen vorbeisehen
konnte, doch im Verborgenen eroberten sie immer mehr
Raum, sie vergifteten schleichend unser Leben, unsere
Familie, bis wir untergingen … Als Karl in der Tür erschien,
war sie bereits in einem schmalen Spalt unter der
Schrankwand verschwunden. Wir verschlossen ihn, zur
Sicherheit gleich mit mehreren Brockhausbänden. „Weiter“,
rief ich, richtete mich so schnell auf, dass sich vor meinen
Augen kurz alles drehte und Karl, erschrocken über mein
Taumeln, mein Handgelenk fasste. „Geht schon“, rief ich,
entzog meine Hand und begann bereits damit, weitere Bücher
aus dem Regal zu zerren, denn ich bildete mir ein, auch auf
dem Brett verräterische Köttel gesehen zu haben.
„Es tut mir echt leid, Nelly, hast du das verstanden?“ Er
musste direkt hinter mir stehen: „Das auf dem Feld tut mir
total leid!“ Er betonte jedes Wort, als sei ich taub. Karl hätte
längst hinter dem Sofa saugen sollen. „Nelly, bitte …“
Wir verloren Zeit. Ich drehte mich um, nahm ihm wortlos den
Staubsauger aus der Hand und drückte auf „AN“. Lautes
Dröhnen setzte ein.
118
„Du kannst mit den Büchern weitermachen“, schrie ich und
zog das Gerät hinter mir her. „Wir werden nachher noch das
Sofa umdrehen müssen.“ Wir mussten doch sicher gehen,
dass sie keine Nester in den Polstern gebaut hatten.
Als ich schon begonnen hatte, die Blumentöpfe von der
Fensterbank zu räumen, war Karl es, der plötzlich „Hier!“ rief
und mit dem Schrubber in einer Zimmerecke wild hin und her
fuhr. Ich stürzte zu ihm. Diesmal hatten wir Erfolg. Zwei kleine
graue Bestien trieben wir mit unseren Jagdwaffen in vielen
Haken durch den ganzen Raum, dann durch die Terrassentür
hinaus in den Garten. Wir verriegelten so schnell, als wären
es Ungeheuer, die durch das Glas durchbrechen könnten.
Erschöpft ließ Karl sich in einen Sessel fallen. Sein staubiges
Gesicht war gerötet. Schweigend sah er mich an. Ich lehnte
mich noch immer mit dem Rücken an die Tür, rang nach Luft.
Er beugte sich langsam vor, streckte seine Hand aus.
„Komm doch mal her, Nelly …“ Ich schüttelte nur schwach
den Kopf. Dann ließ er sich in die Polster zurücksinken,
schloss die Augen. Was war nur plötzlich geschehen? Alles
löste sich auf. Nicht mal die schreckliche Katze war mehr da.
Sicher lag sie irgendwo dort draußen und wartete, dass alles
gut würde. Aber nichts würde mehr gut.
Die Uhr tickte. Es war längst spät abends. Ich stand auf und
zwängte mich durch den Flur, der nun voller Möbel stand,
Treibgut einer Katastrophe. Die Tür zur Waschküche war
angelehnt – wie ich sie vor Stunden verlassen hatte. Mama
war in ihrem Sessel eingeschlafen. Die Decke und das Buch
waren von ihren Knien gerutscht. Ihr Kopf lag sonderbar
verrutscht auf der Seite. Noch immer brannte die Leselampe.
119
Auf dem Bügelbrett putzte eine Maus sorgfältig ihre
Vorderpfoten. Ich lehnte den Kopf an den Türpfosten.
„Was ist hier los?“ Der energische Ton ließ mich
zusammenzucken. War ich eingenickt? Die Maus war
verschwunden. Hatte ich sie nur geträumt? Neben mir stand
Oma. Sie hatte noch den kleinen gelben Hut auf, die
Abendtasche energisch unter den Arm geklemmt. „Sagt mir
mal einer, was hier passiert ist.“
Ich wusste am nächsten Tag nicht mehr, wie ich ins Bett
gekommen war. Ich erinnerte mich noch, dass Oma Karl nach
Hause geschickt hatte, der unvermittelt neben mir gestanden
hatte. Was war nur in mich gefahren? Dieser Tränenstrom
und all die Worte, von denen ich nicht wusste, woher sie so
plötzlich kamen. Ich wusste nur noch, ich hatte mich an Omas
Schulter geklammert, als sie vor mir stand:
„Was los ist?“ schrie ich: „Das weißt du ganz genau! Du bist
schuld. Es ist alles Deine Schuld. Mama wird verrückt. Und
überall die Mäuse.“ Mama sah unter ihrem Federbett
erschrocken zu mir auf. So schmal sah sie aus, so schutzlos,
doch ich hatte einfach weiter schreien müssen: „Alles, alles ist
jetzt durcheinander gekommen. Und ich will gar nicht
erwachsen werden. Ich will niemals erwachsen werden. Das
ist schrecklich, dann wird man so wie ihr. Dieser parfümierte
Kerl. Du bist doch alt: Uralt!! Warum machst Du das? Lässt
dich von dem begrapschen. Lässt uns allein. Ihr sollt doch auf
MICH aufpassen. Und ich will niemals bluten und auch keine
Vorlagen. Ich will, dass ihr endlich für MICH da seid...“
120
Als Oma mir am kommenden Morgen das Frühstückstablett
ans Bett brachte wie damals, als ich Masern hatte, sah sie
fast aus wie früher. Über dem schönen gelben Kleid trug sie
ihre Kittelschürze und an den Füßen ihre Latschen. Nur die
Haut unter ihren Augen schimmerte bläulich.
„Der Kammerjäger ist da“, sagte sie. „Mischka ist erst mal
drüben bei Karl. Pass gut auf, wo Du hintrittst, wenn Du ins
Bad gehst – wegen der Fallen.“ Auf dem Teller lagen drei
belegte Brötchenhälften und ein Apfel, geschält und in
gleichmäßige Achtel geschnitten. Oma zwang mich sonst, die
Äpfel mitsamt Schale zu essen. Ich trank vorsichtig einen
Schluck dampfenden Kakao. Mir tat alles so Leid. Im Gehen
wandte sie sich um: „Ach, ja. Karl war schon hier. Er will
unbedingt zu dir“. Besorgt musterte sie mich. „Ich hab ihm
gesagt, dass du Ruhe brauchst.“ Kein verschwörerisches
Augenzwinkern, kein Grinsen mehr. Ich nickte dankbar.
Als sie fort war, zog ich das Laken über den Kopf und atmete
meinen abgestandenen Atem und den warmen, etwas
schweißigen Schlafgeruch ein. Schon jetzt war es stickig im
Zimmer. Ich lag wie früher, wenn ich nicht aufstehen und zur
Schule gehen wollte. Ich schloss die Lider über den
Augäpfeln, die sich anfühlten wie in Sand paniert. Wo war
Ulm? Irgendwo im Süden. Weit weg? Warum konnte ich nicht
immer hier im Bett bleiben? Ich hatte mir als Kind oft
vorgestellt, ich hätte beide Beine in Gips wie Tine damals,
nachdem sie als Mutprobe von der Großen Grabenbrücke
gesprungen war. Ich hatte es mir immer wunderbar gedacht:
Die Stille des Hauses, Tabletts mit Fruchtschnitzen und
Kakao, Omas große Hände auf dem Schutzumschlag des
121
Märchenbuchs, aus dem sie las, bis mir langsam die Augen
zufielen – und wenn ich sie wieder öffnete, würde ich Mamas
sanftem Lächeln begegnen …
Ich richtete mich auf und griff mein Buch auf dem Nachttisch.
Ich las: „(Kitschiger Ausschnitt aus Desiree)“ Warum meldete
sich Stefan nicht?
Mit wackligen Knien setzte ich mich an den Mittagstisch, als
wäre ich zum ersten Mal nach langer Verbannung wieder in
Gesellschaft.
„Mama ruht sich aus“, sagte Oma und stellte eine dampfende
Auflaufform vor mich hin – Nudelauflauf, mein
Zweitlieblingsgericht nach Backhähnchen. „Ich hab ihr mein
Zimmer oben gegeben. Sie kommt später runter.“ Oma setzte
sich auf ihren Stuhl gegenüber und faltete die Hände im
Schoß: „Komm, Herr Jesus …“. Ich tat es ihr automatisch
nach und senkte den Kopf. „ … segne, was du uns bescheret
hast“, als sei jede Mahlzeit gesegnet gewesen wie zu jener
Zeit, als ich Omas Beterei noch für eine alberne Verzögerung
des Essens hielt. Der Auflauf roch nach Hack, Tomaten,
zerlaufenem Käse. Würde Oma jetzt wieder sein wie früher?
Doch in meinem Hals saß etwas Sperriges, als hätte ich einen
ihrer Scotch-Brit-Schwämme verschluckt. Oma sah mich von
der Seite an:
„Keine Sorge: alles soweit sauber.“ Sie verteilte Auflauf auf
unsere Teller: „Ich sag dir, das war eine Plackerei!“. Sie hatte
in der Nacht die Küchenschränke wieder eingeräumt,
angefressene Tüten weggeworfen, gewischt, die Möbel
zurechtgerückt. Ich blickte mich um. Selbst die Fußleisten
122
blitzten. Ihr Kopf ruckte in Richtung Flur: „Sie sind aus Mamas
Zimmer gekommen“, sagte sie. Und mir wurde klar, dass
weder Karl noch ich gewagt hatten, diese Tür zu öffnen. „Im
Bettkasten haben sie sich vollgefressen“, sagte Oma und
strich mit dem Löffel den Käserand in der Auflaufform glatt.
„Hunderte, hab ich gedacht! Und jetzt stell dir bloß vor:
Gerade mal 27 von den ollen Dingern hat der Kammerjäger
gefangen: Siebenundzwanzig. Und das war´s.“ Sie steckte
den Löffel aufrecht in die Mitte der Form – wie den Mast eines
Segelboots. Wir schwiegen. Sie goss mir ein Glas Milch ein.
Vorsichtig führte ich den ersten Bissen zum Mund.
Kochendheiß. Ich hustete mit halb geöffnetem Mund, ließ die
Gabel sinken:
„Hat vielleicht jemand für mich angerufen?“ Omas Hände
fuhren rhythmisch über ihre Oberschenkel.
„Matschiges Obst, braun-verfaulte Kartoffeln, grün gewordene
Wurstscheiben, Maden … alles im Bettkasten.“
Normalerweise drängte sie mich immer sofort zu essen, damit
nichts kalt wurde. Sie zog den Löffel wieder heraus, strich
über die Käsefläche: „Bett abgezogen, alles durchgewaschen.
Möbel abgerückt. Der Kammerjäger hat mit angepackt. Gleich
Teppichschaum auf den Nadelfilz, die Leisten mit ATA
abgerieben …“ Wieder steckte sie den Löffel in die
Käsewüste. „Verwestes Hühnerfleisch weißt du, woran dieser
Geruch erinnert?“ Sie blickte aus dem Fenster. „Es gibt
Gerüche, die vergisst man niemals.“ Ich saß still. Plötzlich
suchte sie meine Augen: „Deine Mutter kann so vieles nicht
vergessen, verstehst du?“ Und dann roch ich es auch. Die
Wohnung wurde noch immer von dem Geruch durchzogen.
123
Ich war sicher, es drang durch die Ritze unter Mamas
Zimmertür, es war nur ein Hauch, aber unerträglich: süßlicherstickend. Ich führte die Serviette zur Nase. „Du musst
essen, Kind. Mein Gott, vor lauter Reden haben wir noch
keinen Bissen angerührt“. Die Übelkeit stieg langsam in mir
hoch.
„Oma, wir müssen etwas tun.“ Sie erwiderte meinen Blick. Sie
sah plötzlich so ungewohnt müde aus. „Wegen Mama.“ Wann
hatte ich ihr das zuletzt gesagt? Es konnte noch nicht lange
her sein. Ich sprang auf, holte tief Luft, schluckte: „Du musst
Papa anrufen.“ Sie schüttelte leicht den Kopf, sah mich dabei
an. Wir wussten beide: Er hatte noch niemals eine Tour
abgebrochen. Er wollte es nicht. Immer sagte er, wir
bräuchten schließlich die Provision. Sie hatten ihn noch nicht
mal angerufen, als ich nach dem schlimmen Fahrradunfall an
meinem achten Geburtstag drei Tage mit Gehirnerschütterung
liegen musste.
Ich stand vorsichtig auf: „Entschuldige“. Langsam verließ ich
das Zimmer. In der Tür drehte ich mich um: „Ich will, dass du
das heute machst …“ – Dann stürzte ich ins Bad.
Oma saß in ihrem braunen Cordsessel, Mama und ich auf
dem Sofa. Es war wie früher. Fast. Ein maskierter Täter hatte
von Herrn Kessler 50.000 Mark gefordert. Außerdem war
seine Frau Kamilla verschwunden. Wir guckten Derrick.
Mama war tatsächlich gekommen. Seit dem Abend, als sie
„Was bin ich?“ geguckt hatte, und ich oben Omas Geheimnis
durch das Zuckertütchen aufgespürt hatte, hatte der
Fernseher beinahe immer geschwiegen. Ich hatte es nicht
124
einmal bemerkt. Sonst schauten wir fast jeden Abend, Oma
immer, Mama meist und ich oft. Ich zog die Beine hoch,
rutschte noch ein wenig weiter hinüber zu Mama. Ich spürte
die Wärme ihrer Hüfte an meinen Füßen. In einem Schälchen
lagen Salzstangen. Salzstangen halfen gegen Übelkeit, sagte
Oma. Ich hatte sie oben in der Anrichte gefunden. Die
Packung war ganz unbeschädigt gewesen. Ich hatte das
Gebäck in ein Schälchen gelegt, und den letzten Käse in
Würfel geschnitten und auf ein Brett gehäuft. Es sah schön
aus.
„Der hat die Kamilla nicht entführt“, sagte ich knabbernd, und
meinte den Mann mit der Maske. „Der ist zu alt. Die Folge
heißt doch „Kamillas junger Freund.““
Draußen war es noch hell, aber Oma hatte die Jalousien fast
völlig runtergelassen und die Stehlampe angeknipst. Es war
gemütlich wie im Herbst, nur die Fensterflügel standen offen
wegen der Hitze, die noch immer kaum nachgelassen hatte.
„Möchtest du auch?“ Ich streckte Oma das Schälchen hin.
Sie hatte mir vor etwa einer Stunde Magentropfen gegeben,
die tatsächlich halfen. Dafür schmeckte nun in meinem Mund
alles nach Krankenhaus.
Ob sie schon mit Papa gesprochen hatte? Ihre Hände wühlten
in der Schale. Mir war, als wiche sie den ganzen Nachmittag
schon meinen Blicken aus. Ein Pistolenknall. Erschrocken
blickten wir auf: Hatte der Alte geschossen? Omas Fuß auf
dem Polsterhocker wippte, wie immer, wenn es im Fernsehen
spannend wurde. Ich betrachtete Mama: Ihre nackten
Unterschenkel unter dem etwas zerknautschten Kleid, das sie
schon gestern getragen hatte; ihr Haar, das immerhin
125
gekämmt war. Aber ich wusste, dass es Oma war, die ihr
vorhin in der Diele, als ich noch Käse geschnitten hatte, einen
Kamm in die Hand gedrückt hatte: „Mach dir mal ein bisschen
die Haare, Inge“, hatte sie geraunt.
Mama lächelte unbestimmt in Richtung Fernseher. Sie sah
aus, als ob sie fröstelte. „Möchtest du vielleicht deine Decke?“
Ich zerrte das Wollplaid unter mir hervor und legte es um sie,
doch es glitt sofort wieder von ihren Schultern. Hatte das
Telefon geklingelt? Ich horchte. Wohl doch nicht.
Saß Stefan jetzt auch vor dem Fernseher?
Derrick zeigte an einer Kneipentheke Fotos einer schönen
blonden Frau herum. Ob Mama von dem Film überhaupt
etwas mitbekam?
„Was meinst du, Mama – lebt Kamilla überhaupt noch?“ Sie
schüttelte schwach den Kopf und ihre Hand suchte tastend
wie die einer Blinden nach dem Schüsselchen. Ich nahm es
vom Tisch und hielt es direkt unter ihre Finger. Sie griff nach
einer Salzstange und führte sie vorsichtig zum Mund ohne
den Blick vom Bildschirm zu wenden.
„Die ist längst mausetot“, sagte Oma, „von dem alten Kessler
vergewaltigt und abgemurkst.“ Oma verschränkte die Arme:
„Wirst schon sehen.“
Ich war den Nachmittag in meinem Zimmer gewesen, hatte
versucht zu lesen. Zweimal hatte es an der Tür geklingelt.
Mein Herz hatte wild geschlagen, aber beim ersten Mal hatte
ich mich gezwungen, liegen zu bleiben. Vermutlich war es
sowieso nur einer von Omas Männern in Not. Trotzdem hatte
ich halb erwartet, dass ich Omas Schritte vor meiner Tür
hören würde, doch alles war still geblieben. Als es zum
126
zweiten Mal geklingelt hatte, war ich aufgesprungen und zum
Fenster gelaufen, von dem aus ich Kiesweg und
Eingangsbereich überblicken konnte. Karl. Ich huschte hinter
die Gardine, betrachtete seinen irgendwie traurigen Rücken.
Es war nicht zu verstehen, was er sagte, doch Oma, die vor
die Haustür getreten war, hob die Hände und schüttelte
energisch den Kopf. Einmal konnte ich kurz sein Gesicht im
Halbprofil erkennen. Plötzlich drehte er sich in meine Richtung
und tastete mit Blicken die Fassade des Hauses ab. Schnell
duckte ich mich. Als ich mich wieder aufrichtete, ging er unten
am Küchenfenster, keine drei Meter unter mir, vorüber. Ich
schob meinen Kopf vor bis meine Stirn das Glas berührte:
Wenn er jetzt hinauf schaute, würden unsere Blicke sich
treffen. Warum hatte ich nicht nach ihm gerufen?
„Oma, hat eigentlich jemand für mich angerufen?“ Sie beugte
sich zu mir hinüber, packte meinen nackten Arm:
„Was hab ich dir gesagt?“ Harry zog aus der Mülltonne des
Alten ein blutiges Messer und ließ es vor Derricks Augen in
eine sterile Plastiktüte gleiten.
Als der Alte verhaftet, das Salzstangenschälchen leer und ich
wieder alleine im Zimmer war, blieb ich einfach weiter auf dem
Sofa sitzen. Blicklos starrte ich in das bewegte Bunt. Erst, als
nur noch das Testbild flimmerte, stand ich schwerfällig auf und
drückte den Aus-Knopf. Ein Bitzeln kam aus dem Kasten.
Dann war nur noch das Zirpen der Grillen draußen zu hören.
Ich tappte blind zum Sofa, ließ mich wieder auf die Polster
fallen, rutschte langsam in die Waagerechte und zog mir
Mamas Wolldecke zum Bauch. Im letzten Blaugrau erkannte
ich, wie durch die Löcher in den Jalousien das Schwarz
127
hineindrang. Ich schloss die Augen. Ich. Das Zimmer. Über
mir diese dünne Hülle aus Stein und Glas. Darüber nichts als
das riesige, unendliche Dunkel – eine unvorstellbare Kuppel
aus Ferne. Lichtloses Nichts. Wenn die Außerirdischen jetzt
durch die Rillen hineinschauten, würden sie wissen: Sie
konnten mich holen. Ich würde mich nicht wehren.
„Papa, bist du´s?“
„Nelly? Was ist denn los? Ist was passiert?“
Ich hatte ihn noch nie angerufen.
„Ja… Nein.“
Früher Samstagabend. Wieder lief im Hintergrund der HotelFernseher. Eigentlich hätte Papa jetzt bei uns zu Hause sein
sollen, aber Oma hatte früh morgens mit ihm telefoniert, und
uns danach berichtet, er käme später. Er müsste am nächsten
Morgen, am Sonntag, noch mit einem wichtigen Kunden
reden, der erst in der Nacht von einer Reise zurückkehrte. So
etwas passierte dauernd.
„Papa, hat sie dir von den Mäusen erzählt?“
„Oma sagte, ihr hattet ein kleines Ungezieferproblem.
Zwanzig Mäuse kommen schnell zusammen. Wie hat Mischka
sich geschlagen?“
„Sie ist abgehauen, hat sich verkrochen. Was dachtest du
denn? Hör zu: es war total schrecklich. Du machst dir keine
Vorstellung. Sie hatten die Macht im Haus überno …Ich
meine, sie haben wirklich alles vollgekackt, sie waren überall,
wirklich in jeder …“
128
„Nelly, ich bin morgen Nachmittag wieder da, dann kannst du
mir alles erzählen. Vielleicht muss ich Montag nicht mal nach
Rüsselsheim, das wäre doch was.“
Was lief da im Hintergrund? Die Sportschau. Samstag war
Sportschautag. Warum hatte ich daran nicht gedacht? Papa
war aus unerfindlichen Gründen Eintracht-Frankfurt-Fan. Ich
beugte mich vor, um auf die Uhr zu sehen. Noch wenige
Minuten bis zur Start-Melodie.
„Die Rathausbuchhandlung in Rüsselsheim kann ich am
Mittwoch gut zusammenlegen mit dem Papiergeschäft …“
„Papa! Sie kamen aus Mamas Bettkasten. 27 Mäuse. Nein: 29
sogar. Zwei haben wir rausgetrieben. Sie haben Unmengen
von Essen in Mamas Bettkasten gefunden! Verstehst du?“
„…“
Oma und ich, wir hatten nie zuvor vor ihm davon gesprochen,
dass Mama Essen versteckte.
„Es war alles schon vergammelt, verschimmelt … total stinkig,
begreifst du!“
„…“
„Papa! Unmengen! Es ist nicht das erste Mal … Sie macht
ganz merkwürdige Sachen …“
Er räusperte sich. Es klang, als setze er sich aufrecht hin:
„Glaub mir, die Hitze macht uns allen zu schaffen. Inge konnte
Hitze noch nie gut vertragen. Rate mal, wieviel Grad es
gestern in meinem Firmenwagen waren? Rate mal … Das
glaubst du nicht …“
„Nein, sie wird verrückt. Du musst kommen, Papa. Sofort. Du
musst mit ihr reden, du musst zum Arzt mit ihr …“
129
Er schwieg. Er dachte also nach. Er hatte gehört, was ich
gesagt hatte. Er würde etwas tun. Er würde nach Hause
kommen …
„Vielleicht solltest du dich auch mal abkühlen. Ein Mädchen
wie du sollte an einem schönen Feriensonntag wie diesem mit
einer Freundin im Schwimmbad sein statt …“
„Papa, ich hab keine Freundin.“ Mir schossen schon wieder
die Tränen in die Augen. Er sollte doch bloß zuhören: „Aber
darum geht es jetzt gar nicht, es ist wegen Mama … Oma
kümmert sich nicht so wie früher, weil sie … Oma ist …“
„Komm, komm. Du bist ja ganz durcheinander.“ Im
Hintergrund erklang die Titelmelodie der Sportschau. Ich
konnte hören, wie er sich vorbeugte, um lauter zu drehen. Die
Eintracht spielte jetzt gegen Stuttgart. „Wir reden über die
Sache, wenn ich zu Hause bin. Kommt schon alles wieder in
Ordnung. Bald fängt auch wieder die Schule an, dann hast du
Geburtstag und …“
Ich knallte den Hörer auf.
Am kommenden Vormittag war es, als ich Stefans Rechte in
meine genommen und begonnen hatte, mechanisch über
seinen Handrücken zu streichen. Es war einfach geschehen:
„Bitte“, hatte ich geflüstert und seine Hand ergriffen, die sich
kühl und weich angefühlt hatte. Die Straße vor Karls Haus war
bestimmt der mieseste Ort, um Stefan zum ersten Mal zu
berühren. Ich hätte auch gar nicht vor ihm stehen und leise
betteln sollen, dass er mit mir ein paar Meter gehen – nur so –
und ein bisschen mit mir reden sollte. Immer wieder hatte
130
Stefan sich ängstlich zum Küchenfenster umgeblickt, von dem
aus Karl uns hätte beobachten können.
„Na, gut“, hatte er gesagt und mir behutsam seine Hand
entzogen. Dann hatte er sich gebückt und behutsam sein
Fahrradschloss wieder einschnappen lassen, das er erst
wenige Minuten zuvor aufgesperrt hatte. Auf seinem Hals
hatten rote Flecken gebrannt.
Ich hatte Stefan am frühen Vormittag kommen sehen, als ich
den Müll rausbrachte. Für einen kurzen Moment hatte ich
gedacht, er wollte zu mir und mein Herz hatte schneller
geschlagen als es sollte. Den Plastiksack noch in der Hand,
hatte ich mich hinter unsere Tonne gekauert. Er hatte sein
Rad neben der Pforte zu Karls Haus angeschlossen, keine 50
Meter von mir entfernt. Wie ein Student wirkte er, vielleicht wie
einer, der gerade vom Schwimmen kam: die schmale Brille,
ein weißes, langärmeliges Hemd, das bis zu den Ellbogen
aufgekrempelt war, das blonde Haar zerzaust. Er blickte den
Kiesweg hinunter, als hielte er Ausschau nach mir. Den
Müllsack an der Brust, drückte ich mich erschrocken
rückwärts in die Koniferen. Nadeln pieksten in meinen Hals
und meine Ohren, der Sack stank nach Katzenfutter und es
gab wirklich keinen Grund, warum ich nicht aufrecht auf dem
Weg stand und einfach „Hallo, Stefan“ rief. Ob ihm aufgefallen
war, dass unsere Haustür aufstand? Ich hörte das Quietschen
von Karls Pforte. Als ich hinter der Tonne hervorlinste, war er
verschwunden.
Nadeln rieselten von meinen Schultern, als ich ächzend
aufstand. Ich stopfte den Müll in die Tonne, dachte: Schluss
damit! Ich würde einfach mit ihm reden!
131
Nun trottete er also tatsächlich neben mir die Straße entlang.
Mindestens ein Meter Luft lag zwischen uns. Wir schwiegen
und richteten den Blick auf den Asphalt. Es war nicht mehr
weit, bis wir im Sichtschatten der Garagen verschwunden sein
würden. Bald drei Stunden war er bei Karl gewesen. Drei
lange Stunden, in denen es still geblieben war in Karls Garten,
sich kein Vorhang bewegt, die Terrassentür sich nicht geöffnet
hatte.
„Es geht ihm nicht gut?“ Ich sprach, als könne er uns noch
immer hören. Stefan steuerte den schmalen Durchgang
zwischen den Garagen zu den Feldern an. Unwillkürlich
verlangsamte ich.
„Er hat es mir erzählt“, sagte Stefan und blieb stehen. „Alles.“
Nun lief ich weiter, an ihm vorbei, die Arme verschränkt:
„Was?“ Er folgte mir.
„Er hat gesagt, dass er sich daneben benommen hat.“ Ich
schnaubte. Dann schlug ich nicht den Weg über die Felder
ein, sondern den schmalen Spazierweg entlang der Häuser.
„ … schlimm daneben benommen …“
„Warum bist du gar nicht mehr gekommen?“, fragte ich und
bückte mich nach einem großen Stock.
„Es tut ihm total Leid, weißt du?“ Er lief jetzt neben mir. Der
Weg war so schmal, dass unsere Schultern sich fast
berührten. „Er will nur, dass du noch mal mit ihm redest, sagt
er.“ Mit der Spitze des Stocks malte ich beim Gehen
Schlangenlinienmuster in den Sand:
„Wo ist eigentlich deine Geige?“
„Er will, dass ich dir das sage. Dass es ihm ernst ist.“
132
„Bist du nur deshalb mitgekommen?“ Ich beschleunigte, ließ
den Stock im Takt meiner Schritte kleine Löcher in die Erde
hacken. Ich spürte, dass er hinter mir stehen geblieben war:
„Nein …“ Es klang traurig. Dann lauter: „Nein. Weißt du doch
…“
„Du musst nicht mit mir hier rumlatschen, weiß du?“ Stefan
setzte sich nun wieder in Bewegung. Unsere Schritte, der
Stock. Er holte langsam auf, bis er direkt hinter mir ging. Er
war nicht viel größer als ich. Fast spürte ich seinen Atem an
meinem nackten Hals. Stromstöße durchfuhren meinen
Rücken: Wie unvorstellbar, wie naheliegend war es, wenn er
jetzt, genau jetzt, diese schmale, kühle Hand auf meinen
Nacken legte …
„Aber Karl muss doch weg. Nach Ulm. Das weißt du doch,
oder?“ Karl. Karl. Karl. „Er hat doch nur uns, Nelly …“ Stefan
sagte es so leise, dass ich erst nicht sicher war, dass ich
richtig verstanden hatte.
Nelly, hatte er gesagt. Nelly. Schön hatte es geklungen.
Irgendwie nannte er mich sonst nie beim Vornamen.
Ich drehte mich ihm zu, sah ihn an – sah von unten, durch
meine Wimpern hindurch, die Lippen leicht geöffnet in seine
Augen mit den geweiteten Pupillen.
Sein Hals wurde wieder fleckig, unsere Gesichter waren kaum
eine Handbreit voneinander entfernt. Da trat er einen Schritt
zurück:
„Ich bin sein Freund, Nelly.“ Es klang flehend. Er vermied jetzt
mich anzusehen: „Ich hab ihm versprechen müssen … Er ist
doch in Ordnung, auch wenn er manchmal etwas …“, er
suchte nach Worten, „ … rau ist.“
133
Ich warf den Stock weg:
„Er ist nicht rau, er war brutal.“ Ich schob meinen Blusenärmel
hoch, zeigte es ihm – diesen ovalen blau-grünen Fleck. Stefan
starrte mit offenem Mund. „Zwischen uns beiden ist nichts
mehr! Definitiv. Klaro?“ Ich zerrte den Stoff wieder runter.
„Ich bin sowieso zu jung für ihn, das hat er gesagt. Frag ihn!“
Musste nicht sein, dass er sah, wie meine Unterlippe zitterte.
Ich ging mit erhobenem Kopf an ihm vorüber, zurück in
Richtung der Garagen: „Außerdem könntest du ja zur
Abwechslung auch mal von dir reden, statt immer nur von
Karl.“ Ich sprach mit halb zurückgewandtem Kopf, „Oder hast
du auch diesmal wieder eine Hiobsbotschaft für mich dabei.
Wenn du nicht für Karl sprichst, scheint das ja der einzige
Anlass zu sein, der dir erlaubt, mit mir zu reden …“
Ich hörte, wie er versuchte mich einzuholen. „Na, ja. Nein.
Nicht wirklich … Es ist überhaupt nicht so, wie du denkst.
Wenn du wüsstest … wenn wir könnten …“
„Was heißt das: nicht wirklich?“
Wieder standen wir uns gegenüber.
„Nichts.“ Ich wartete: „Stefan!“ Er tat, als müsse er
Mückenschwärme verscheuchen.
„Was bedeutet: „nicht wirklich?““
„Es muss gar nichts bedeuten.“
„Was?“
„Du weißt es bestimmt ja eh schon … Ist ja auch weiß Gott
kein Geheimnis. Das Haus von diesem Novottny, diesem
Klavierlehrer …“, er rieb sich die Nase.
„Weiter …“
134
„ … steht zum Verkauf, in der Sparkasse hängt das Bild.“
Stefan sah mich erwartungsvoll an, als wäre damit alles
gesagt.
Zu verkaufen. Nowottny ging weg. Großartig, Nowottny ging
weg! War es etwa vorbei? Gehörte Oma wieder uns? Hatte
sie ihn weggeschickt? Dann würde Oma ja wieder wie früher
für Mama da sein, für mich …
„Er will mit ihr in den Schwarzwald, sagt der Briefträger.“
Stefan war einen Schritt auf mich zugekommen. Als er mein
Gesicht sah, sprach er schnell weiter: „Du weißt, der alte
Nadler trinkt, der redet den ganzen Tag nur Mist. Der hat
keine Ahnung. Auf so ein Geschwätz darf man nichts geben.
Den hätten sie eh schon längst vom Dienst suspendieren
müssen, den Suffkopf …“
„Oma wird … Sie will?“
Er fasste mich am Ellenbogen: „Nelly, du musst sie selbst
fragen!“
Auf dem Treppenabsatz vor dem Fenster blieb ich stehen. Ich
war lange nicht bei ihr gewesen, nicht seit der
Buchtelgeschichte. Die Stores drüben bei Karl waren wieder
zugezogen. Er öffnete sie gar nicht mehr.
Ich blickte zum Himmel: Bläue mit feinen, weißen Schlieren,
aber es war etwas kühler geworden in der letzten Nacht.
Täuschte ich mich, oder kamen Wolken auf?
Ich drückte langsam die Klinke herunter. Oma wurde fast
verdeckt von einem großen Strauß gelber Rosen.
Ich ging um den Tisch herum und setzte mich neben sie auf
das Sofa.
135
„Von ihm?“
„Ich frage Dich auch nichts.“ Erst jetzt sah ich, was sie tat. Sie
hatte ein großes Einweckglas zwischen ihre Beine geklemmt,
halb gefüllt mit Zucker. In ihren Händen raschelten Tütchen.
Auf dem Tisch stand ein fast leerer Schuhkarton.
„Nein!“ Ich stürzte mich auf sie, versuchte ihren Händen die
Beutelchen zu entwinden. „Was tust Du da?“ schrie ich:
„Deine Sammlung! Die gehören doch mir. Alle. Du hast sie mir
versprochen…“ Ich krallte meine Finger in ihren Arm: „Das
darfst du nicht!“ Sie war stark. Sie fuhr einfach fort, Papier
aufzureißen. „Oma, bitte!“
„Ja, sie gehört dir, wenn ich gestorben bin. Aber noch bin ich
nicht tot“, stieß sie vor. Schließlich hielt sie doch inne. Der
Zucker zerstäubte auf ihrem geblümten Schoß, als ich ihre
Hand unvermittelt losließ. Ich ließ mich in die Couch sinken,
einen blau-weißen Würfelzucker aus dem Hofbräuhaus
zwischen den Fingern.
„Warum machst Du das?“ Meine Stimme klang belegt. Sie
stellte das Einmachglas auf den Tisch.
„Es sind Dinge. Nichts weiter. Kein Ersatz für das Leben. Und
zum Leben ist man nie zu alt. Auch wenn du das nicht
verstehen willst.“ Sie grinste schief: „ … oder zu jung.“
Ich nahm mit beiden Händen Zuckerpäckchen aus dem
Karton, legte sie auf den Tisch und ordnete sie. Erst nach
Farben. Dann Kante an Kante. Wie Mama ihre
Taschentücher. Eine Straße. Manche Tütchen knirschten ein
wenig.
„Schau nur: „Rat-haus-café“ – kaum noch zu lesen …
Vielleicht hat es ja schon eine weite Reise hinter sich. In einer
136
Handtasche – einem Koffer? Oder ist das eines von denen,
die Papa mitgebracht hat?“ Ich rückte es mit zwei Fingern
zurecht. „Vielleicht hat er es in seiner Jackettasche
herumgetragen.“
„Du wirst groß. Du wirst auch dein Leben leben“, sagte Oma.
„… Weißt du noch, Oma, das hier?“ Ich hob ein goldenes
Röhrchen hoch. „Haben wir das nicht aus dem Museumscafé
in Hamburg? Oder diese …“ Drei gleiche Beutelchen, gestreift
– aneinandergelegt wirkten sie wie ein Zebrastreifen. „Schön,
nicht?“ Das rote daneben – wie ein Ausrufungszeichen.
„Man kann sich nicht weigern groß zu werden, Nelly. Deine
Mutter … – Inge, die durfte nicht mal ein Kind sein.“
„Und guck mal, die Bunten aus Wien!“ Ich strich darüber: „Die
kriegen wir doch immer von der Frau Powicek, oder? Wie geht
es überhaupt der Frau Powicek?“ Ich legte sorgfältig ein gelbweiß kariertes Päckchen an. „Müsste die nicht längst aus dem
Krankenhaus raus sein?“ Ihre Augen folgten meinen Händen.
Bunte Landschaften, Erinnerungen. Oft war ich stundenlang
bei ihr hier oben gewesen, und während sie ihre Kisten
sortiert oder Briefe an Tauschpartner geschrieben hatte, hatte
ich Oma von den Welten erzählt, die ich vor mir sah, wenn die
Papierchen in meinen Fingern knisterten: Ein Liebespaar
unter den Säulen des Terrassencafés im Astoria, ein
einsamer Heiratsschwindler, der mit einem winzigen
Löffelchen in seinem Mocca rührte, während er an der Bar
sein nächstes Opfer ausspähte. Würde es die Dame in Türkis
werden, die mit glasigen Augen an ihrem Martini nippte?
„Nelly, du bist doch fast vierzehn …“
137
„Ist das neu? Das kenn ich noch gar nicht.“ Ich drehte ein
grün-blaues Röhrchen zwischen den Fingern. „Gehört das
auch zu den Wienern?“
Oma nahm es mir aus der Hand. Ich dachte, sie wollte die
Aufschrift studieren, aber sie ließ es unbesehen in einen
Karton fallen:
„Behalte sie!“, sagte sie. „Nimm sie alle mit. Aber pack dir
Dein eigenes Zimmer damit voll.“ Sie stand auf. Zucker
rieselte auf den Teppich, als sie zum Schrank ging. Sie zog
drei weitere Kartons hervor, die sie auf meinen Schoß stellte.
„Manchmal muss man aufräumen.“ Dann ging sie zurück, griff
sich ebenfalls einen Stapel: „ … damit wieder Platz ist für
Neues, verstehst du das?“ Sie marschierte zur Tür hinaus.
„Oma“, rief ich und stolperte hinter ihr her. „Gehst du weg?“
Sie steuerte mit großen Schritten durch den Flur. Ich lief fast,
um sie zu überholen.
„Die Inge, die kann nichts aufräumen. Gar nichts außer ihrer
Bügelwäsche ...“
„Oma, bleib stehen!“ Ich zerrte an ihrem Blusenärmel.
Ungeduldig stoppte sie. Fast wäre ich in sie hineingelaufen.
„ … das ist das Problem.“ Dabei erwischte ich mit dem
Ellbogen einen ihrer Kartons. Sie fing ihn mit Müh und Not
auf. „Pass doch auf!“ Wir luden die Schachteln vor meiner
Zimmertür ab.
„Oma“, rief ich wieder: „ … gehst Du mit ihm weg?“ – und ich
schob mich dicht an sie. Ich wollte sie zwingen mich
anzusehen, doch sie drehte einfach ab, lief zur Treppe zurück
und die Stufen hinab. „Jetzt sag doch!“, rief ich ihr nach. Erst
unten vor der Küchentür gelang es mir wieder, mich vor sie zu
138
drängen: „Was machst du denn jetzt – ziehst du fort? Verlässt
du uns? Mich? Mama?“ Einen Moment lang sah sie mich an,
ihr Blick war unruhig, ihr Mund öffnete sich … – dann schob
sie mich einfach zur Seite und ging zum Kühlschrank:
„Jetzt? Was ich jetzt mache? Brombeermilch, was sonst?“ Ihr
plötzliches Grinsen erschreckte mich.
„Brombeermilch?“ Ich stellte mich in den Türrahmen; sah
ihren dicken Nacken, sah den Küchenschrank zuklappen, sah
ihre runden Arme, die den Glaskrug umarmten, die Schüssel
mit den Beeren, ihr selbstgefälliges Gesicht im Profil.
„Kipp sie ins Klo“.
Das Rad ruckelte auf dem alten Plattenweg, aus dessen
Fugen Grasbüschel wuchsen. Ich entdeckte die Baracken
schon von weitem. Wenn ich früher hier entlang musste, war
ich besonders schnell in die Pedale getreten. Doch diesmal
würde ich gleichmäßig weiter radeln. Wie heiß es nun doch
wieder geworden war! Die Mittagshitze brannte auf meinem
Haar und ich wusste nicht, war das der Grund, dass mir so
schummerig war. Jeder im Ort raunte es einem zu: “Gesindel“
lebte hier, Asoziale, Penner, Drogensüchtige, womöglich
geflohene Häftlinge – und Zigeuner … die stahlen angeblich
Kinder und verkauften sie: ein Schandfleck seien sie, die
Baracken.
Ich zwang mich, fast bis an den Zaun vor dem östlichsten
Seitengebäude heran zu fahren. Kasernen der Amerikaner
sollen die Gebäude früher gewesen sein, und nur, weil die
den Abriss angeblich nicht zahlen wollten, standen die vier
Baracken noch immer. Quasi ein rechtsfreier Raum sei das
139
dort, hatte Herr Behrend letztens über den Gartenzaun
geschimpft, nichts könne die Gemeinde unternehmen, nur
weil die Amis ihre Hand auf dem Gelände hätten. Womöglich
böten die Hütten ja RAF-Terroristen Unterschlupf, mutmaßte
er: Verbrechern, die mit ihren Maschinengewehren und
Handgranaten schon die nächsten Morde vorbereiteten oder
dort einen Keller herrichteten, um Entführungsopfer gefangen
zu halten.
Ich atmete tief durch. Ich brauchte die Gruselgeschichten
nicht zu glauben. Ich konnte mich gut verteidigen. Papas
Taschenmesser lag schwer in meinem Rucksack. Ich warf das
Rad hinter einen Baum ins tiefe Gras, nahm ihn vom
Gepäckträger und kauerte mich hinter Brombeersträucher. Es
stank nach Brennnessel und Pisse. Mein Herz jagte. Wo
waren all die Terroristen, die hier angeblich wohnten? Still und
geheimnisvoll lagen die zweistöckigen Gebäude in der Sonne.
Längst war der Putz abgebröckelt, widerliche Schmierereien
und unleserliche Buchstaben bedeckten die letzten Putzreste.
Im dichten Gras vor einem vergitterten Kellerfenster stand ein
verrosteter Kühlschrank, dessen Tür aufklaffte. Ob dort Ratten
nisteten? Ich setzte den Rucksack auf und schlich, keuchend
vor Aufregung, durch das Gestrüpp. Dafür hatte ich mir extra,
trotz der Hitze, Bluejeans und Turnschuhe angezogen. Ich
trampelte die Dornen herunter und linste ängstlich zu den
Fenstern. Manche waren mit Pappe abgedichtet, andere
waren eingeworfen worden, die restlichen starrten mich mit
schwarzen Scheiben böse an. Attention, stand mit roter
Ölfarbe auf einer zugenagelten Tür. Ich folgte ein Stück weit
dem massiven Drahtzaun, der ganz um das Gelände herum
140
lief. Vor ein paar Jahren erst hatte die Stadt ihn erneuern
lassen, doch ich wusste, hinten, zum Wassergraben hin, war
er umgestürzt worden. Jetzt entdeckte ich, dass jemand auch
an der vorderen Seite des größten Gebäudes mit einem
Bolzenschneider zwei Löcher in den Draht geschnitten hatte,
groß genug, dass sich auch ein Erwachsener durchzwängen
konnte. Ich huschte hinter eine große Pappel. Dann sah ich
den Tisch und erschrak. Eigentlich waren es nur übereinander
gestapelte Kisten, doch obenauf, auf einem Brett, qualmte in
einem Blechdeckel voller Asche eine Zigarettenkippe;
daneben standen auf einer Bank ein halbvoller Bierkasten und
drei einzelne offene Flaschen. Nun erkannte ich die Bank:
Nummer Sieben gestiftet-vom-Modehaus-Oskötter.
Unwillkürlich musste ich grinsen. Wie kam die hier her? Mit
diesem massiven Untergestell aus Eisen war sie bestimmt
tonnenschwer, und der Stadtpark war bald drei Kilometer
entfernt …
„Was zum Teufel machst du hier?“ Eine Männerhand hatte
sich von hinten um meinen Hals gelegt. „Was spionierste hier
herum?“ Eine raue Männerstimme.
„Loslassen …“, japste ich, „… bitte.“ Es schienen mehrere zu
sein, die hinter mir standen. Jemand riss mir den Rucksack
von den Schultern. Waren es die Drei, deren Flaschen auf der
Bank standen? Warum nur hatte ich nicht hinterlassen, wo ich
hinwollte?
„Sag schon!“ Dieser klang ziemlich piepsig – und jung.
Vielleicht kam es mir nur so vor, dass sich der Griff um ein
Winziges lockerte, als sich ein Mann in mein Blickfeld schob.
„Hippie“, hätte Oma bestimmt über ihn gesagt. Er trug einen
141
wuchernden Vollbart und über seine nackten Schultern fiel
blondes, struppiges Haar. Sein schmaler Oberkörper war glatt
und braungebrannt. Bei genauerem Hinsehen wurde klar: Der
war höchstens fünf Jahre älter als ich. Hungrige dunkle Augen
musterten mich, verharrten auf meiner Brust unter dem
dünnen Baumwollstoff. Unwillkürlich kreuzte ich die Arme. Mit
einem Finger hob er mein Kinn an. Er wartete. Ich erwiderte
trotzig seinen Blick. Bubi, dachte ich. Blöder Bubi. Er nickte
dem Mann hinter mir leicht zu: „Neugierige Mädels, die überall
rumschnüffeln, brauchen wir hier nicht“, piepste er.
„Makalewski“, stieß ich hervor: „ … ich muss zu ihm.“ Der
Hippie nickte leicht. Der Druck um meinen Hals ließ nach.
Schon dachte ich, ich sei frei – langsam ließ ich die Schultern
sinken, und versuchte den Kopf nach hinten zu drehen – da
bohrte sich auch schon etwas Spitzes in meine Nierengegend.
„Vorsichtig, Kleine“, sagte Piepsi. Hatte der andere etwa mein
Messer im Rucksack entdeckt? „Woher kennst du
Makalewski?“, fragte er.
„Meine Oma …“, sagte ich und wusste in diesem Moment
nicht mehr, wie sie mit Nachnamen hieß. „Meine Oma im
Birkenweg“, redete ich weiter: „So ein bisschen rund ist die
und weißhaarig … Sie gibt ihm immer etwas, Makalewski,
meine ich. Kliebchensuppe und solche Sachen … Kennen Sie
Kliebchensuppe?“
„Birkenweg 12?“, fragte eine dritte Männerstimme hinter mir.
Ich nickte möglichst deutlich, damit der mit der spitzen Waffe
es auch bestimmt mitbekam.
„Lass sie los“, rief der Dritte und trat vor mich hin: „Hallo,
Nelly!“ Verwirrt starrte ich den Mann an, der mich einen guten
142
Kopf überragte. Wo seine Nase hätte sein sollen, war früher
ein schreckliches Loch gewesen, jetzt hatte ihm anscheinend
jemand ungelenk im Zickzackstich aus roten Hautlappen eine
Ersatznase gefertigt. Vor Schreck merkte ich erst gar nicht,
dass der Druck in meine Nieren verschwunden war. Plötzlich
sprang ein kleiner Dicker im Trainingsanzug vor mich und hielt
mir grinsend seinen ausgestreckten Zeigefinger vors Gesicht:
Das war also das „Messer“ gewesen.
„Nichts für ungut. Wir müssen hier halt aufpassen“, sagte der
Kleine, der fast kahl war und hielt mir seine runde Hand hin,
die ich geistesabwesend schüttelte. Ich musste immerzu den
Mann ansehen, den ich gekannt hatte, den Wolfsmann, wie
ich ihn bei mir nannte. Sein entstelltes Gesicht mit den
erstaunlich blauen Augen versuchte ein Lächeln. „Wo ist denn
die kleine Nelly?“ hatte er immer früher gesagt, als er noch
regelmäßig zu uns gekommen war, und dann hatte er mit mir
reden, mich auf den Schoß nehmen wollen. Oma hatte ihn
nicht gehindert. So hatte ich, kalt vor Angst, in diesem
merkwürdigen Dunst der Männer in Not auf seinen breiten
Oberschenkeln gesessen, hatte, den Blick starr zu Boden
gerichtet, mit anhören müssen, wie er von seiner Tochter
redete. Nie hatte er mich dabei mit seinen schmutzigen
Händen berührt. Er sprach bloß von seiner Klara – oder hieß
sie Karla? Klarissa? – seinem „Püppchen“, seinem „wilden
Wolfsmädchen“, wie er sagte, das er zuletzt im Krieg gesehen
hätte, als es fünf Jahre alt gewesen sei. Und Oma fragte nicht,
ob es noch lebte, das Mädchen, und warum er nicht zu Frau
und Kind zurückgegangen war, einem Kind, das doch
inzwischen Mitte Dreißig sein musste, wie mir nun einfiel.
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Immer, wenn er gegangen war, schenkte Oma mir
Himbeerbonbons, die sie oben neben der Teedose verwahrte:
„Das war lieb von dir, Nelly.“
Eines Tages in der Adventszeit – ich musste etwa acht Jahre
alt gewesen sein – in einer Zeit also, als fast alle Männer in
Not irgendwann vorbei kamen, um sich von Oma ihr
Päckchen mit Rasierseife, Schokolade und Socken
abzuholen, hatte auch er vor der Tür gestanden. Ich hatte ihn
durch das Drahtglas erkannt, dieses Gesicht mit dem
schwarzen Nichts in der Mitte. Er hatte einmal geklingelt und
ich hatte die Hand schon über der Klinke, aber etwas hinderte
mich, sie niederzudrücken. Ich stand wie angewurzelt und
starrte auf die unbewegliche, an den Rändern zerfließende
Gestalt auf der anderen Seite der Tür. Ganz langsam zog ich
die Hand zurück und wich zurück. Völlig reglos blieb ich etwa
einen Meter vor der Tür stehen. Aber er tat auch gar nichts. Er
klingelte kein weiteres Mal. Er klopfte nicht. Er sprach auch
nicht, dabei hätte ich durch den Briefschlitz in der Tür jedes
seiner Worte verstehen können. Wenn er bloß irgendetwas
gesagt hätte, oder wenn Oma oder Mama gerufen hätten, was
denn sei, warum ich nicht aufmachte, ich wäre bestimmt aus
meiner Erstarrung erwacht und hätte ihm ohne zu zögern
geöffnet. Schließlich musste doch zumindest Oma in der
Küche das Klingeln gehört haben. Doch alles blieb still, und so
standen wir also einfach nur dort, er und ich, zwischen uns
das Glas. Als er sich – nach wenigen endlosen Minuten –
doch plötzlich rührte, erschrak ich. Als wisse er noch durch
das Graumilchige hindurch genau, wie mir zumute war,
bewegte er sich wie in Zeitlupe, als er nun ein kleines Ding
144
aus seiner Jackentasche zog, sich ganz langsam vorbeugte
und das Ding durch den Briefschlitz schob. Es raschelte nur
ein wenig, als es auf der Fußmatte aufkam. Dann trat er ein
paar Schritte rückwärts und schon war er fort. Ich wagte nicht,
mich zu bewegen. Erst, als er schon eine Weile
verschwunden war, bückte ich mich verstohlen. Es war ein
winziges Päckchen, kaum zwei Finger hoch und wenige
Zentimeter lang, eingewickelt in zerknülltes Zeitungspapier.
Die Stille des Hauses kribbelte im meinem Nacken. Vorsichtig
zupfte ich an dem Papier, wickelte etwas aus. Dann sah ich,
dass es ein kleines Tier war, das offenbar mit einem
Taschenmesser aus einem Ast geschnitzt worden war. Es lag
auf der Seite, als ob es schliefe, den ein wenig zu langen,
irgendwie traurigen Kopf vorgestreckt, den buschigen
Schwanz um den Körper gelegt. Ich strich mit dem Zeigefinger
über die Schnauze. Der kleine Wolf war wunderschön.
„Nelly, wo bleibst du?“ Oma.
„Komme gleich.“ Ich huschte in mein Zimmer, zog mein
samtenes Schmuckkästchen aus dem Schrank und legte es
zwischen Kommunionuhr, silbernes Kreuz und das Armband
mit den Glücksanhängern. Dann ging ich in die Küche.
Bei jeder Beichte hatte ich an den Wolf gedacht – und dann
doch immer etwas anderes gebeichtet.
Der Mann war nie wieder zu uns gekommen.
„Nelly: eine Freundin!“, rief er nun, und es klang fast stolz.
Habt ihr nicht mal was zu trinken für das Mädel? Los, Ronny
hol Wasser.“ Ronny hieß also der kleine Dicke. Er lief
145
tatsächlich erstaunlich behände zur Baracke zurück, während
mich der Hippie noch immer musterte:
„Das ist Tilo. Sag mal anständig Guten Tag.“ Tilo gaffte mich
an. Langsam streckte er seine Hand aus, die weich war wie
ein Marshmallow.
„Tschuldigung“ – piepste er und seine linke Hand fuhr
erklärend zum Hals. Unwillkürlich rieb ich mir den Nacken.
„Makalewski ist unterwegs“, piepste er. „Ist morgen wieder
hier. Wahrscheinlich.“
„Setz dich doch“, sagte der Wolfsmann, dessen Namen ich
nicht mehr wusste, und schob mich zu der Oskötterbank: „Wie
geht es deiner Oma? Gut hoffentlich?“ Ich ließ mich neben
dem Bierkasten nieder, nickte. „Diese wunderbare Suppe!
Kliebchensuppe, hieß die, sagtest du?“ Die beiden standen
vor mir. Tilo drehte eine Bierflasche in der Hand, musterte
meine Beine. „Wie groß du bist. Wie hübsch“, sagte der
Wolfsmann. „Kein Kind mehr.“ Ich überwand mich und blickte
in seine blauen Augen oberhalb der zerstörten Nase.
„Du hast doch nicht etwa Ärger zu Hause?“ fragte er.
Ronny trat aus der Barackentür, in einer Hand eine
Wasserflasche, in der anderen einen gepunkteten
Plastikbecher. Wir schauten ihm schweigend zu, wie er, noch
im Laufen, die Flasche aufschraubte. Er hatte etwa zwei
Dutzend dunkle Haare über seine Halbglatze gekämmt, die
ansonsten blank und trocken in der Sonne glänzte. Er schien
überhaupt nicht zu schwitzen in seiner Trainingsjacke.
„Jeder hier hat Ärger mit irgendwem, weißt du“, sagte der
Wolfsmann. Das Wasser gluckerte frisch in den Becher.
Ronny reichte es mir mit einer Art Verbeugung. Ich schloss
146
kurz die Augen, weil ich nicht nachschauen wollte, ob der
Becherboden sauber war. Es schmeckte gut, leicht metallisch.
Die drei Männer sahen mir beim Trinken zu. Ich nickte
dankbar. Der Wolfsmann nahm Ronny die Flasche ab: „Keine
Ahnung, was du hier willst …“. Er goss mir ein zweites Mal
ein: „ … aber wir werden dir helfen.“
Die kleine Reisetasche aus hellem Rindsleder gehörte Mama.
Ich hatte sie aus dem obersten Fach ihres Schranks gezogen.
Papa hatte sie ihr vor vier oder fünf Jahren zu Weihnachten
geschenkt, dabei wusste er genau, dass sie seit Jahren,
vermutlich seit ihrer Hochzeitsreise, nicht mehr fortgefahren
war. Sie hatte sich überschwänglich bedankt. Immer wieder
waren ihre Hände über das helle Leder gestrichen, als sei es
ihr sehnlichster Wunsch gewesen, so eine edle, gut
verarbeitete Tasche für ihre Reisen zu besitzen.
Das Lederknäuel, das ich jetzt in meiner Hand hielt, hatte
kaum noch Ähnlichkeit mit dem Prachtstück: zerdrückt und
staubig war es und es roch muffig nach Tier. Doch der
Gestank nach dem scharfen Desinfektionsmittel, das der
Kammerjäger im Zimmer versprüht hatte, war noch schärfer.
Schon kehrte die Übelkeit zurück. Mit angehaltenem Atem
trug ich die Tasche hinüber in die Küche, entstaubte sie
sorgfältig von innen und außen mit dem Schwamm und rieb
sie dann trocken. Auf dem Innenboden lag noch immer eine
glänzende Pappe: „Beachten Sie: Damit Sie auf vielen Reisen
Freude an unserem Modell BLF00203 haben …“
Ein paar Monate lang hatte ich damals tatsächlich geglaubt,
dass wir nun im Sommer gemeinsam in die Ferien reisen
147
würden; ja, dass wir jetzt wie die anderen im Juli unser
Gepäck in den Kofferraum laden könnten – Taschen, Koffer,
Ball, Luftmatratze – und dann losfahren würden in Richtung
Süden, dem Brenner entgegen. Unterwegs im Auto, stellte ich
mir vor, würden wir hartgekochte Eier essen und lauwarmen
Früchtetee trinken, würden zusammen lachen und einander
auf die ersten Palmen aufmerksam machen, die am
Straßenrand auftauchten.
Warum nur hatte Papa ihr die Tasche geschenkt? Ob er sich
manchmal vorstellte, irgendwo am Meer mit ihr Hand in Hand
am Strand entlanglaufen zu können wie die Liebespaare im
Fernsehen?
Ich packte meinen blauen Lieblingsbecher und ein kleines
Holzbrett ein, Zwieback, Brot, Käse, Fischbüchsen, eine
Limoflasche. Dann holte ich aus dem Bad mein Waschzeug,
etwas gegen die Mücken im Wald, außerdem das Messer aus
dem Rucksack, schließlich die Wolldecke vom Sofa – eng
zusammengerollt. Ein großer Rucksack wäre besser, aber mit
der Tasche auf dem Gepäckträger würde es auch irgendwie
gehen.
Als ich auf ihrem Stuhl vor ihrem Schrank balancierte, war es
plötzlich genau wie früher, als ich dort oben nach den
Süßigkeiten gesucht hatte, die sie immer vor Ostern und
Nikolaus vor mir versteckt hatte: aufgeregt war ich, voller
Vorfreude und schlechtem Gewissen – und immer stellte ich
mir vor, wie sie gleich dort unten stünde und mich mit diesem
halb amüsierten Blick ausschimpfte, während sie mir schon
die Hand entgegenstreckte, um mir herunter zu helfen. Doch
Mama kam nicht. Sie war auch nicht in der Waschküche. Das
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Haus war leer – wieder einmal. Das einzige Lebenszeichen,
das ich gefunden hatte, war ein Zettel von Oma in der Küche:
„Bin bei Frau Würsching. Toast ist noch im Tiefkühlfach.
Papa muss nach Rüdesheim – kommt erst morgen
Nachmittag.“
Ich hatte das Papier in den Müll geworfen. Ich hatte geglaubt,
er hätte verstanden, dass es wichtig war. Einmal noch wollte
ich ihm alles erklären: dass es doch so nicht weitergehen
konnte, dass jetzt er dran war … Dass es jetzt nur noch von
uns beiden abhing – von ihm und mir. Wir mussten Oma
aufhalten. Wir mussten Mama helfen, damit sie nicht mehr so
… durcheinander war, so traurig …
Ich hatte warten wollen auf ihn.
Ich nahm Papas Cord-Schirmmütze vom Garderobenhaken.
Prüfend schob ich sie vorm Spiegel in den Nacken. Ich stopfte
die Haare unter die Kappe, reckte den Hals: Beim Trampen
würde ich fast als Junge durchgehen.
Musste ich die Sache eben alleine in Ordnung bringen.
Oben in meinem Zimmer öffnete ich den Schrank: Jeans
wären gut, aber ich hatte nur die eine, die ich trug. Oma
mochte „dieses überteuerte amerikanische Zeug“ nicht.
Trotzdem: Hosen mussten sein, Turnschuhe, zwei Blusen,
einen Pulli, falls es doch noch kühl würde, besser auch die
Regenjacke. Wie lange ich wohl brauchen würde? Vor den
Klassenreisen hatte immer Oma für mich gepackt. Aber das
war, als ich noch ein Kind war … Wäsche fehlte noch, der
schöne, neue Bikini, vielleicht doch ein Lieblingskleid?
Dann öffnete ich mit dem Silberschlüssel die Schatulle: traurig
schlief der kleine Wolf in den vergilbten Zeitungsseiten. Ich
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berührte vorsichtig seinen Schweif. Wie sorgfältig er
gearbeitet war! Die Krallen seiner Pfoten waren leicht
gespreizt, als sei er stets auf Feinde gefasst. „Das schaffen
wir“, flüsterte ich und erschrak über meine Stimme. Ich steckte
ihn in das Außenfach der Reisetasche. Aus einem
Briefumschlag, den ich in einem alten Pferdebuch versteckt
hatte, holte ich den Hunderter, den ich von Mama und Papa
zu Weihnachten bekommen hatte, dann ging ich die Treppe
hinunter.
Es stank wirklich furchtbar in Mamas Zimmer. Ich atmete in
meine Handkuhle, versuchte zugleich ungeschickt, das Bild
abzuhängen. Ich wollte es nur außen, am Silberrahmen,
berühren. Ich musste es mitnehmen. Es gab keinen anderen
Weg. Der finster blickende Paul – und Gerhard: Sein
komischer Haarwirbel auf der Stirn, die Eulenaugen, die mich
freundlich und fragend anblickten. Mit Makalewski hatte er
nicht die geringste Ähnlichkeit, ich hätte es gleich merken
müssen. Im Hinausgehen fiel es auf: Die Tapete schimmerte
ein wenig heller an der Stelle, an der das Bild gehangen hatte.
Nichts ahnend würde Mama sich auf ihr Bett legen, würde ihr
Lächeln an diese Stelle an der Wand richten, würde begreifen:
Er war weg. Sie hatte nicht mal mehr ihn. Und es war das
einzige Bild von ihm, das sie hatte retten können.
Ich durfte sie nicht enttäuschen.
Auf der Straße hinter den Garagen fummelte ich noch einmal
prüfend an den Spanngurten herum, die die Tasche auf dem
Gepäckträger halten sollten. Mir war noch immer so flau.
Niemand kam um die Ecke, nicht Mamas Rad, nicht Papas
150
Audi, Oma blieb verschwunden, die Gardinen vor Karls
Fenstern blieben zugezogen. Ich fuhr los. Hätte ich ihnen
noch einen Zettel schreiben sollen?
Ich fuhr los. Ich würde es irgendwie hinkriegen. Ich war fast
erwachsen. So gut wie 14. Der Wolfsmann würde mir helfen
…
Niemand zu sehen in der vormittagsstillen Weiherstraße
außer ein paar Bauarbeitern, die kochendes Bitumen auf dem
Asphalt vor der Bäckerei verteilten: Nackte Oberkörper,
dunkle Hosen, Schaufeln, die hin und wieder, die Sonne
reflektierend, aufblitzten. Die Luft um die Männer waberte in
der Hitze. Fata Morgana, dachte ich: was für ein Wort – und
dann war das Bild im Kopf: gleißendes Licht der Wüste,
Männer in schwarzen Gewändern, die auf Kamelen in die
Oase einritten. Dattelpalmen, deren Zweige im Wüstenwind
zitterten. Früchte, die auf den gestampften Boden prasselten,
dazu das warme Ocker der Lehmhäuser, die Fenster –
Höhlen, hinter denen Kühle wartete, kaltes Wasser, das sich
in einem Innenhof in eine Schale ergoss, silberne Tabletts mit
Süßigkeiten, Gebäck, die schmalen Hände verschleierter
Frauen …
Ein gellendes Hupen ließ mich schlingern. Unbeholfen sprang
ich vom kippenden Rad, die Tasche glitt durch die Gummis
auf den Boden. Wo kam der Mercedes direkt vor mir her?
Verwirrt starrte ich durch die staubige Windschutzscheibe,
hinter der ein Mann, der mir vage bekannt vorkam, die Faust
schüttelte. Richtig, ich hatte nicht nach rechts geblickt.
Mühsam zerrte ich das Rad zur Seite und die Tasche wieder
zurecht. Erst als das Auto an mir vorbei rollte, erkannte ich
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das viereckige Gesicht von Karls Vater und hob halbherzig die
Hand. Nun sah ich auch: Im Fond saß die zarte Frau Ehm, die
müde meinen Gruß erwiderte. Langsam rollte der weiße
Wagen in unsere Straße. Ob Karl die Küche inzwischen
geputzt hatte? Ob er wusste, dass sie heute zurückkamen?
Für einen kurzen Moment war mir, als müsste ich
kehrtmachen, als sollte ich jetzt dort sein, oben auf dem
Treppenabsatz neben ihm stehen, wenn sie unten die Haustür
aufschlossen …
Unmöglich. Ich musste doch Gerhard holen, damit nicht noch
mehr durcheinander kam. Meine Hände umfassten fest die
Lenkergummis: Nein, ich schuldete ihm nichts, rein gar nichts.
Ich schuldete niemandem etwas. Ich musste weiter, ich
musste tun, was ich mir vorgenommen hatte. – Nach vorne
schauen … Ich trat in die Pedale. Vor mir nichts als Häuser,
das graue Band der Straße und geparkte Autos.
Zu den Kasernen ging es noch vor dem Ortsschild links in den
Wald hinein, danach über den Plattenweg durch die
Sumpfwiesen. Ich bog rechts ab. Ich hatte nicht vorgehabt
zum Neubauviertel zu fahren, aber war es nicht gleich, wo ich
meine Suche begann? Hatte ich denn jemandem
Rechenschaft abzuliefern? Niemand auf der Welt wartete auf
mich.
Die Straße zwischen den schäbigen, rosa-weißen
Hochhäusern war breit, die endlosen Parkbuchten rechts und
links kaum besetzt von schmutzigen, kleinen Autos. Vor
einem tiefer gelegten Opel mit offener Motorhaube kickten
Jugendliche eine Bierdose über den Parkplatz. Aus den
Boxen dröhnte Heavy Metal-Lärm.
152
Ich wollte sie bloß vorher noch einmal von Ferne sehen –
ihren schmalen Rücken auf dem Fahrrad … Ich hätte ihr so
gerne gesagt, dass sie sich nicht sorgen sollte, dass alles gut
würde.
Böse schaute eine ältere Frau vom Balkon herunter, die im
dritten Stock ihre Blumen goss. Irgendwo plärrte ein Baby auf
einem Balkon. Ein trauriger Mann im Unterhemd rauchte eine
Zigarette und starrte mir nach. Blickte in diesem Augenblick
womöglich auch Irene von einem der Balkone herab? Wenn
sie schon aus dem Urlaub zurückgekehrt war, würde sie sich
jetzt vermutlich mit ihrem fleisch-lachsfarbenen Blumenbikini
da oben sonnen – oder mit ihrem pickligen Freund Bono unter
einem der Sonnenschirme herumknutschen, während ihre
Mutter als Krankenschwester im Hospital die neuesten
Geschichten aus der Siedlung herumerzählte. Durch das
Balkongeländer hätte Irene sehen können, wenn Mama hier
mehrmals in der Woche (oder jeden Tag?) durchradelte oder
wenn sie die glutheiße Straße entlanglief, einen Namen vor
sich hinmurmelnd. Ja, sie und Bono hätten sich das Maul
zerreißen können oder Irenes Mutter? – Auch die
Jugendlichen … Und die Alte mit der Gießkanne, überhaupt
jeder von den Leuten dort oben auf den unzähligen Balkonen,
die sich sonnten, aßen, rauchten, knutschten, gafften, hätte es
herumtratschen können.
Mir war schwindlig. Ich sollte nicht hochstarren. Ich stieg ab
und schob. Wann kam endlich diese blöde Linde?
Die meisten Bäume waren winzig oder völlig vertrocknet. Der
Rasen auf dem schmalen Streifen zwischen den Eingängen
war gelb und voller Kaugummis und Papierchen. Dazwischen
153
ein Schild: Komfortable Wohnungen, auch für Sie im „Quartier
Azurro“. In der Zeitung hatte gestanden, dass es den
versprochenen Einkaufsmarkt in Fußweite noch immer nicht
gab, ebenso wenig wie einen Kindergarten oder die Buslinie
zum Bahnhof. Was suchte Mama eigentlich gerade hier?
Die Linde stand in einer schmalen Lücke zwischen zwei
Azurro-Klötzen, sie war gewaltig und uralt, mit einem Stamm,
den zu umfassen es drei Menschen gebraucht hätte, und
einer majestätischen Krone. Jenseits des rauschenden
Hellgrüns erstreckten sich endlos die Felder. Ein Trampelpfad,
der unter dem Baum begann, führte durch sie hindurch. Zu
beiden Seiten des Pfads leuchtete die Wegwarte – ein helllila
Band, das sich im letzten, noch nicht abgeernteten Weizen
verlor. Mamas Rad war tatsächlich genau dort unter dem
Baum angeschlossen, stand aber doch ein paar Zentimeter
entfernt. Ich wusste, die Rinde zu beschädigen, wäre ihr
unerträglich gewesen. In ihrem Fahrradkorb lag ein länglicher
Laib Brot. Es war locker in transparentes Papier eingewickelt,
an dem offenbar der Fahrtwind gezerrt hatte. Richtig, heute
früh hatte es nur Toastbrot aus dem Gefrierfach gegeben. Ich
beugte mich vor, um den frischen Brotduft einzusaugen, doch
ich roch nichts. Wie gut sich die Kruste anfühlte. Speichel
sammelte sich in meinem Mund. Ich brach das Endstück ab,
begann zu kauen. Es war weich und frisch und schmeckte
leicht nach Kümmel. Mir war, als hätte ich nie zuvor besseres
Brot gegessen. Gierig riss ich ein weiteres Stück ab. Sie hatte
ans Einkaufen gedacht. Verrückte dachten nicht ans
Einkaufen für ihre Familie. Verrückten war es egal, ob ihre
Kinder Toast essen mussten. Ich wickelte das Papier wieder
154
sorgfältig um den angegessenen Laib, schlug die Enden nach
unten ein, wie Mama es mir beigebracht hatte. Kauend lehnte
ich am Stamm.
War es diese gewaltige Linde, zu der es sie immer wieder
zog? Wollte sie in Ruhe nachdenken und war einfach froh,
dass sie hier im Viertel kaum einer kannte? Als ein dürres
Kind mit Ball schräg gegenüber durch die Hochhaustür
hinausschlüpfte, blitzte das Glas schrill auf im Morgenlicht.
Meine Augen blieben an den Eingängen hängen. War es hier
gewesen: War sie einfach hinüber gegangen zu den
gleichförmigen Klingelbrettern? Hatte sie dort auf
irgendwelche silbernen Knöpfe gedrückt, hatte sich ängstlich
geräuspert und dann wildfremde Menschen durch die
Gegensprechanlage gefragt: „Entschuldigen Sie bitte, aber
kennen Sie vielleicht einen Gerhard?“ So konnte es nicht
gewesen sein. Nicht Mama. Mama war schüchtern,
zurückhaltend … Ich riss mich vom Anblick der fremden
Fassaden los. Mama brauchte so was doch nicht zu tun. Ich
drehte mich weg, dem Pfad zu: Nein, dorthin wollte sie
bestimmt, immer los über Wiesen und Felder, dem lila Band
folgend. Wie Karl mochte sie bestimmt einfach gerne
stundenlang über die Äcker laufen, immer ihren Gedanken
hinterher. Es wird irgendein besonderer Tag gewesen sein,
als sie meinte, sie müsste unbedingt einen Fremden nach
unserem Gerhard fragen. Es musste ein Tag gewesen sein,
an dem ihr die Sehnsucht ganz unerträglich geworden war –
als sie, wie Desirée, „ganz von Sinnen“ war vor Schmerz.
Vielleicht war es ja der Jahrestag gewesen, an dem er
verschwunden war? Nein, der war im tiefsten Winter. Sein
155
Geburtstag? – Wurde er nicht auch noch Fünfzig dieses Jahr?
Ein runder Geburtstag, natürlich! Oder doch sein Namenstag,
den sie immer so schön gefeiert hatten? – Nur ein
unglücklicher Zufall, dass einer von diesen dummen
Hochhäuslern es in der Stadt herumerzählt hatte (Irene? Ihre
Mutter?), dass so die böse Nachrede zu Stefans Vater und
von dort zu Stefan gelangt war.
Ich trat ein paar Schritte auf den Weg und blickte suchend die
Landschaft ab, dieses Muster aus Heugelb und Sandbraun,
begrenzt nur durch ein kleines Birkenwäldchen. Vielleicht lag
sie einfach glücklich dort irgendwo unter einem Baum? Einen
Arm über die Augen gelegt, würde sie vor sich hinsummen,
über sich den Tanz der Birkenblätter im Wind, während von
ihr unbemerkt, eine Ameise von ihrem nackten Zeh herunter
auf die Welt blickte. So in Gedanken bückte ich mich, pflückte
ein paar Blumen, Gräser dazu, aus denen Samen rieselten,
eine Taubnessel … zuletzt ein Grashalm, den ich um den
Strauß wickelte, um ihm Halt zu geben. Dann legte ich ihn in
den Korb neben das Brot.
Sie war nicht mehr da, meine Hütte. Ich hätte geschworen,
dass ich noch im Dunklen zu ihr hätte finden können. Und nun
brannte hell die Sonne und ich stolperte nur zwischen
Stämmen und Büschen umher. Nichts schien mehr vertraut.
Schloss ich die Augen, sah ich genau vor mir, wie es
ausgesehen hatte: die dichte Fichtenschonung, die
Sichtschutz gab, dann, urplötzlich, ein heitererer Raum: lichter
Mischwald. Und dort, inmitten all der Linden und Eichen,
stand sie schon: die einzige Blutbuche weit und breit.
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Zeltförmig hatte ich damals um ihren Stamm die dicken Äste
gebreitet, die ich von weither geschleppt und schließlich mit
Laub und Zweigen getarnt hatte. Etwa dreißig Meter dahinter
senkte sich der Boden zu einer moorigen Kuhle, vielleicht
entstanden aus einem Bombenkrater. Dort hatte ich oft
Spuren von Wildschweinen entdeckt. Auf der anderen Seite
der Senke musste die kleine Grasfläche sein. Ich hatte noch
immer dieses sanfte Grün vor Augen, das unter den wenigen
Stämmen wuchs …
Die Fichten meiner Erinnerung waren in Wahrheit Kiefern und
sie nahmen kein Ende. Die sperrige, modrig riechende
Tasche schleppte ich wie einen Rucksack auf dem Rücken,
die Henkel vor der Brust umklammert. Mein Rücken war nass
vor Schweiß und die Zweige schlugen mir immer wieder ins
Gesicht. Mit jedem Schritt wurde die Tasche schwerer. Ich
hatte mir alles so schön gedacht. Schon als kleines Kind hatte
ich so gerne in meiner kleinen Hütte schlafen wollen. Wieder
und wieder hatte ich Gerhard davon erzählt, während ich die
Stämme herangezerrt hatte: eine Nacht nur wollte ich mal hier
im Wald sein. Der Geruch der warmen, modrigen Erde, der
Ruf des Käuzchens und niemand auf der Welt wusste, wo ich
war. Oma hatte damals, als ich bloß gesagt hatte, wie schön
es wäre, sofort abgewinkt: „Der Boden ist kalt. Du wirst dir den
Tod holen. Außerdem: nachher irrst du heulend zwischen den
Bäumen herum und Mama kriegt vor Sorge die ganze Nacht
kein Auge zu.“
Ich starrte auf die undurchdringliche Nadelwand. Nun war ich
bald erwachsen, war hier in „meinem“ Wald, aber es war, als
ob er mich absichtlich in die Irre führte, mich verstieß. Als ob
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es um mich herum merkwürdig raunte, so fremd und
unheimlich, dass ich mich zwingen musste, nicht immerzu
hinter mich zu blicken. Was war los mit mir? Mama hatte
Recht, es gab keinen Grund, Angst zu haben. War ich nicht
früher als Kind halbe Tage hier im Wald gewesen, ganz
alleine – nur in Gesellschaft von Gerhard? Ich setzte mich auf
einen Baumstumpf, kramte in der Tasche, bis meine Finger
etwas Kühles, Glattes ertasteten: Glas. Vorsichtig zog ich das
Bild aus der Tasche. Eulenblicke, die ironisch grinsten: Wo
war sie hin, die mutige kleine Nelly? Er sollte nicht so gucken.
Dieses Verständnisvolle, dieses Traurige – nicht jetzt. Ich warf
das Bild in die Tasche zurück … Da hörte ich dieses tiefe
Brummen. Ich rührte mich nicht, lauschte. Das kannte ich,
auch das hatte doch stets dazugehört wie meine braunfleckigen Harzhände, wie das Blätterrascheln unter den
Füßen, wie der hohle Klang meiner zwischen den Stämmen
hallenden Stimme, die Gerhard Geschichten erzählte, ihn
umschmeichelte, prahlte … Nun wusste ich es: Das Brummen
kam vom nahen Kiesteich, in dem ich nie hatte baden sollen,
der gewaltigen brummenden Schwimmbagger und der
gefährlichen Tiefenströme wegen. Es kam von links, und da
wusste ich auch plötzlich wieder, wo ich war, ahnte schon den
schmalen Weg, der sehr bald auch nach links weisen würde,
dem lichten Mischwald und meiner Buche entgegen. Und ich
lief schneller. Die Tasche nun als Schutzschild vor Gesicht
und Brust haltend, stolperte ich leichtfüßig durchs Geäst, pfiff
sogar vor mich hin, bis ich erwartungsgemäß nach kaum
hundert Metern die Abzweigung fand, der Weg sich weitete,
das Gestrüpp sich lichtete. Mein Wald. Mein Weg. Meine
158
Hütte. Als sie plötzlich vor mir lag, stand ich wie erstarrt.
Unglaublich. Alles war vollkommen unverändert: der Baum,
die Kuhle, das helle Grün, die Hütte. Ich warf die Tasche ins
Laub und rannte die letzten Meter fast bis zum Eingang.
Makalewski lag rücklings auf der Oskötterbank und
schnarchte. Sonst war niemand in der Nähe. Der Bierkasten
war leer, er stand jetzt im Gras. Die Barackentür, hinter der
Ronny verschwunden war, um Wasser für mich zu holen,
(wann war das: Vorgestern? Vor Wochen?) war nur
angelehnt, aber ich wagte nicht, hineinzugehen. Ich setzte
mich ins Gras und gähnte. Wie lange ich in der Bude
geschlafen hatte, wusste ich nicht. Ich hatte vergessen, meine
Uhr mitzunehmen.
Makalewski hatte unter einer weiten Turnhose haarige weiße
Waden voller Narben. Ich versuchte nicht hinzuschauen. Bis
vor kurzem hatte ich an Männerbeinen nur Papas schmale,
fast haarlose Beine mit den bläulichen Äderchen
wahrgenommen. Plötzlich waren überall Männerbeine. Im
Schwimmbad war ich von ihnen umgeben gewesen, ich
wusste auch genau, wie die muskulösen, braungebrannten
Schenkel von Karl aussahen, sah die glatten
mondscheinfarbenen Knie von Stefan vor mir. Warum kamen
eigentlich bei Desiree Männerwaden niemals vor?
Die Schatten der Bank reichten schon bis zu meinen
ausgestreckten Füßen. Vermutlich war später Nachmittag.
Oma würde längst von Frau Würsching zurück sein, Mama
aus der Siedlung. Ob Oma Karl gefragt hatte, ob er wüsste,
wo ich sei? Ob Karl vermutete, ich sei bei Stefan? Ob Oma
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und Mama zusammen gegessen hatten? Ich dachte an das
Brot. Was Mama wohl gedacht hatte, als sie die Blumen
gefunden, das Brot ausgepackt hatte? Ich hätte es mitnehmen
sollen. Die feste krosse Kruste, der leichte Geschmack nach
Kümmel … Ich hatte zwei der Fischkonserven im Wald leer
gemacht und war noch immer schrecklich hungrig. Und
durstig. Ich schmeckte noch das wunderbar metallische
Wasser. Ob ich doch nachschauen sollte, was hinter der Tür
war?
Etwas Weiches legte sich plötzlich auf meine Schulter – als
drückte jemand ein in der Sonne erwärmtes Marshmallow auf
meine Haut: Ich blickte mich erschrocken um. Tilos Hand!
„Fühlst dich wohl bei uns, was?“ piepste er und sein breites
Grinsen entblößte einen fehlenden Eckzahn. Ich zog die Knie
an, dachte: „Blöder Bubi“, während er um mich herum kam,
sich direkt vor mir aufbaute. Keinen halben Meter vor mir:
dünne, braungebrannte Waden mit blonden Haaren und
Mückenstichen unter zu engen, weißen Shorts. Er roch stark
nach billiger Seife.
„Weißt nicht wohin, was?“ Ich schwieg. „Hast Hunger, was?
Durst?“ Makalewski schnarchte ungerührt. Der Bubi folgte
meinem Blick: „Hackedicht, der Alte.“ Er ging auf die Bank zu,
versetzte ihr einen unsanften, festen Tritt, der das Stahlgerüst
leicht nach hinten kippeln ließ, doch Makalewski rührte sich
nicht, setzte bloß kurz in seinem Schnarchen aus – nur um
dann um so lauter weiter zu schnorcheln. „Siehste?“ Er grinste
wieder: „Kommst du mit in meine Bude?“ Seine Hand wies
irgendwie nach oben in Richtung Haus.
„Nee.“
160
„Ist kuschelig. Sag ich dir“, piepste er. Wo steckte denn der
Wolfsmann?
„Voll sauber alles.“ Ich schüttelte den Kopf, blickte ins Gras.
„Ist wichtig für eine wie dich, weiß ich doch.“
„Lass mich in Ruhe“. Ich kriegte es kaum raus. Meine Zunge
klebte am Gaumen.
„Hab auch Wasser, Bier, alles …“ Plötzlich kauerte er sich vor
mich ins Gras: „Sogar Ritter-Sport-Schokolade.“ Wieder fasste
er mit zwei Fingern mein Kinn. Ich roch seinen Tabakatem:
„Hab dich doch nicht so …“ Es klang flehend. Ich rutschte
reflexartig so weit ich konnte nach hinten, meine Hand sauste
dabei durch die Luft, erwischte ihn irgendwo zwischen Schläfe
und Ohr. Erschrocken wich er zurück, funkelte mich böse an
…
„Lass bloß die Finger von dem Mädel.“ Ronny rannte, soweit
seine kurzen Beine es erlaubten, kam eiernd über den Weg
vom Barackeneingang zu uns gesprintet. Er schubste den
immer noch verdattert auf der Erde kauernden Tilo einfach mit
einem Schulterstoß ins Gras, dann hielt er mir seine
ausgestreckte Hand hin.
„Der meint´s nicht so.“ Ich kam mühsam hoch. „Ist eigentlich
ganz okay, weißte.“ Mit wackligen Knien stand ich vor Ronny,
der gerade mal so groß war wie ich. Ein leicht-süßlicher
Geruch umgab ihn. „Ist der Notstand hier, weiter nichts.“
Seine Hand ging andeutungsweise in Richtung seines
Hosenschlitzes, wies dann auf Tilo wie auf einen unartigen
Hund. „Kommen manche nicht gut klar mit, gerade die
Jungen.“ Tilo starrte stur ins Gras, rührte sich nicht. Ronny
lächelte mich freudig an: „Alles wieder in der Reihe?“ Er war
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stolz auf sich, hatte die Sache hier in Ordnung gebracht. „Was
ist, kommste mit?“ Er nahm vorsichtig mein Handgelenk, zog
mich in Richtung Eingang: „Kann auch Spiegeleier, und
Bohnen. Und der Gregor kommt auch gleich. Holt bloß
Tabaknachschub.“ Richtig: Gregor hieß der Wolfsmann mit
richtigem Namen. Ich ließ mich durch die Tür führen, fand
mich in einem waschküchenartigen Raum wieder, in dem es
neben einem fettverklebten Herd und einer fast leeren Spüle
auch einen großen Tisch mit Stühlen gab. Über einer Lehne
hing ein gelblich verfärbtes Feinripp-Unterhemd. Zwei
geschossene Stahltüren führten offenbar in weitere Räume.
Ich wählte einen Küchenhocker, der halbwegs stabil wirkte.
Während ich Ronny zusah, der am Herd hantierte, wurde ich
langsam ruhiger, fühlte mich fast geborgen in dieser „Küche“.
Dabei: Wer war überhaupt dieser kleine, dicke, fremde Mann
in seiner müffelnden Trainingsjacke, der mit einem gefährlich
aussehenden Klappmesser eine dicke Scheibe Schinken
abschnitt, Butter in eine schmuddelig aussehende Pfanne
gleiten ließ. Und wer wohnte hier eigentlich noch alles? Als
könnte er Gedanken lesen, sagte er:
„Ist kein Ort hier für ein Mädel wie dich.“ Er griff in das
Backofenfach, holte eine kleine Weinbrandflasche hervor, wie
sie im Regal neben der Supermarktkasse standen, und nahm
verstohlen zwei gierige Schluck. Ich starrte die Wasserflasche
an, die ich neben dem großen Tisch entdeckt hatte. „Zuviel
Männer hier, verstehste?“ Ich konnte nicht widerstehen. Ich
bückte mich, griff nach der Flasche, setzte sie sofort an. Ohne
zu fragen, ohne auch nur einen Gedanken an irgendwelche
Bakterien zu verschwenden, trank ich sie gierig halb aus. Als
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hätte ich nie köstlicheres Wasser getrunken. Ronny sah mir
zu, während sich der Raum mit dem Duft gebratenen
Schinkens zu füllen begann. Sein Blick streifte meine etwas
knappe Bluse, wanderte dann zur halb geöffneten Tür: „Man
wird nen andrer, wenn man so lebt, weißte.“ Er kippte eine
Dose rote Bohnen auf den Schinken: „Gibt nicht viele, die
nicht vergessen, wie sich einer benimmt, der nen Herr ist.“ Er
kramte eine Gabel aus der Schublade: „Gregor ist so einer.
Gregor ist ne andere Nummer wie wir. Der rührt nicht mal nen
Schnaps an.“ Die Bohnen blubberten. Ronny schlug ein Ei
über der Pfanne auf, salzte: „Was suchste hier? Was willste
von Makalewski?“
„Gerhard“, sagte ich schließlich: „Gerhard Bögel. Mein Onkel.
Der war in Sibirien. Na ja, so gut wie sicher. Der Makalewski
doch auch. Vielleicht kennt der ihn ja. Vielleicht hat er was von
ihm gehört.“ Ronny schwieg, betrachtete das Ei. In der Stille
hörte man die Fliegen, die um die nackte Glühbirne kreisten.
„Der Gerhard ist verschwunden im Krieg. `43 war das. Dabei
war der ein ganz Kluger … Der hätte sich nicht … Wenn der in
Russland in Gefangenschaft geraten ist, dann … Der wär
bestimmt irgendwie … durchgekommen.“ Ronny rührte in der
Pfanne herum. Dann holte er die Weinbrandflasche wieder
aus dem Ofen, nahm einen weiteren tiefen Zug. Ich wollte,
dass er etwas sagte: „Hätte doch sein können, nicht wahr?“
Ronny trug die Pfanne zu mir, stellte sie vor mich auf den
Holztisch. Sofort begann ich das Bohnen-Ei-Gemisch in mich
hinein zu schaufeln. Köstlich. Ronny schaute mir zu:
„Wat machste, wenn der Makalewski nichts weiß?“
163
„Wenn nicht“, schmatzte ich, „wenn nicht, dann muss ich
eben … Dann such ich den eben woanders. Wegen meiner
Mama. Dann such ich eben in ganz Deutschland. Irgendeiner
wird ihn schon getroffen haben.“ Gierig trank ich den Rest der
Wasserflasche in einem Zug aus. „Ich muss den Gerhard
finden!“
Wie gut, dass ich hier war; dass Ronny mir half und der
Wolfsmann, der sicher auch gleich zur Tür reinkäme …
„Und wenn du den gar nicht finden kannst?“ sagte Ronny
plötzlich, „weil der längst tot ist, krepiert. Draufgegangen wie
die meisten?“
Dass ich mir irgendwas am Fuß gezerrt hatte, als ich versucht
hatte, die schwere Tür nach draußen aufzutreten, merkte ich
erst später, fast zurück bei der Hütte, als mir auch einfiel, dass
ich Ronny nicht mal gedankt hatte für das Essen, stattdessen
einfach aufgesprungen war und losgebrüllt hatte, dass er nicht
so einen Mist reden sollte ... Erst im Wald realisierte ich auch,
dass es niemand anders als der Wolfsmann gewesen sein
konnte, der mir irgendwann laut „Nelly“ hinterher gerufen
hatte, als ich wie ein Blitz über den Panzer-Plattenweg
geradelt war, meiner Bude entgegen. Dabei war es doch klar,
dass es natürlich gar nicht mein Vater hätte gewesen sein
können, wie ich kurz annahm, weil der bestimmt nicht mal
wusste, dass es hier Baracken gab, und der in Rüdesheim
war oder sonstwo und dass Tilo auch bestimmt nicht, wie ich
noch im Vorüberrennen geglaubt hatte, gerufen haben wird:
„Ich komme, wart`s nur ab …“, weil Tilo doch keinen
Schimmer hatte, wo meine Hütte war und, weil er doch auch
164
eigentlich ganz okay war, wie Ronny gesagt hatte …
Hauptsache ich war wieder daheim, in meiner Bude, im Wald,
in Sicherheit …
Nacht. Schattenschwarz.
Wo war das Licht? War nicht eigentlich Halbmond? Der
eigene Atem, laut wie Brausen. In der Hütte bleiben? –
Undenkbar: Alles um mich war Rascheln und Wispern.
Panisch kroch ich ins Freie, stieß mir hart einen vorstehenden
Ast in den Nacken. Nur nicht wimmern jetzt. Nur leise. Sich
mit dem Rücken zur Hütte ins Dunkle kauern, Knie anziehen,
lauschen, Decke um die Schultern. Pockernder Schmerz
hinten am Hals. Im Dickicht war was, das hat sich auf mich
gerichtet, wie Saugarme – lauernde Augenpaare? Ruhelos
tasteten meine Blicke die Schemen finster-knarrender
Baumstangen ab. Das Messer? Hände auf Hosentaschen.
Nein. Im Rucksack, in der Hütte – unerreichbar. Was war da?
Bloß das Rascheln alten, vertrockneten Laubs im Wind. Sonst
nichts. Sicher nicht. Nicht doch vorsichtige, berechnende
Schritte über morsche Zweige? Gar nicht da sein. Sich
auflösen. Todeswald. Wie kam das Wort jetzt her?
Selbstmörder gingen in den Wald, knüpften sich auf. War ich
sieben, als sie es geflüstert hatten in der Hofpause? Auf der
anderen Seite des Orts im Pfauenwald war´s, da hatten sie
einen jungen Mann von einem Baum abgenommen. Ganz
gelb soll er schon gewesen sein im Gesicht, erzählte Rüdiger,
der Sohn vom evangelischen Pastor, und voller Fliegen.
Warum das einer machte? Darüber hatten wir immer wieder
geredet. Traurigkeit, hatte Rüdiger gesagt. Schlimme
165
Traurigkeit, hatte ihm sein Papa gesagt und ich hatte Mama
beobachtet an den Tagen, an denen sie fast nichts redete und
beim Bügeln innehielt und die weißen, gestärkten Laken
anstarrte als bargen sie ein schlimmes Geheimnis. Eine
schöne Frau, eine Verheiratete aus dem Ort, sollte schuld
gewesen sein, hieß es dann plötzlich. Und für eine Weile
hatten sich die Erwachsenen umgeblickt in der Kirche, als
suchten sie wen – und wir durften nicht mehr zum Spielen in
den Pfauenwald, wo es lange schon keine Pfauen mehr gab.
Kam von dort hinten ein Knacken? Schlich da einer von der
Wildschweinkuhle her durchs Gestrüpp? Schliefen
Wildschweine nachts? Ich duckte mich noch tiefer.
Herbst kroch jetzt langsam aus dem Boden, feuchte, kalkigriechende Kühle … Todeswald. Wald der Soldaten im Schnee
… Wenn die Flocken wirbelten, wenn wir Kinder
hinausrannten in den tanzenden Wirbel, verkroch sich Mama.
Sie blieb im Bett, verschloss die Tür hinter sich. Und Oma
sagte: „Die Mama ist krank“ und verquirlte Rotwein und Ei und
Zucker, als hätte jemand Angina, trug das Glas in ihr Zimmer
und blieb lange fort. Als wäre es nicht immer wieder das eine
Bild, das sie krank machte im Winter, von dem Oma erst
erzählte, als ich neun war oder zehn schon, aber dafür wieder
und wieder, damit ich auch bestimmt verstand, wie das war
mit „meiner Mutter“: Das Bild vom toten Soldaten im Schnee
auf der Flucht. „Aufgequollene Gesichter halber Kinder, Nelly,
kannst du dir das vorstellen?“ hatte Oma gefragt, als wäre es
gut, sich so was vorstellen zu können. „Gesichter wie das
Jungengesicht von Gerhard … Auf die ist man getreten aus
Versehen, verstehst du, auf die Gesichter unter dem
166
Schnee…“ Und ich hatte wieder an diesem schrecklichen
Husten gewürgt, wenn sie davon erzählt hatte. „Das hat sie
gesehen und zuerst unter den Sohlen der viel zu großen, vom
Gerhard geerbten Schuhen gespürt, immer wieder, als wir uns
mühsam durch die riesigen Wälder geschleppt haben, gegen
den Schnee an, die Kälte, die Erschöpfung – immer Richtung
Westen … und es hat nichts genutzt, dass ich versucht habe
sie da wegzuzerren …“
Warum nur hatte ich nicht doch einen Brief dagelassen auf
dem Küchentisch? „Liebe Mama, ich komme bald zurück und
ich werde nicht alleine sein. Du wirst dich wundern. Ich bringe
eine Überraschung mit. Mach dir bloß keine Sorgen …“
Vor der Haustür würden wir stehen, den Gong ertönen lassen
und warten. Schon durch das Drahtglas würden wir sie
kommen sehen. Die Tür würde sie aufreißen und einen
Moment lang würden ihre Blicke zwischen uns beiden hin und
her gehen, sich unsicher auf seine Eulenaugen hinter der
Brille richten, fragend, ängstlich, vielleicht sogar erschrocken,
würden sein ironisches Lächeln erkennen, den Haarwirbel
rechts an unserer beider Stirn. Alle Zweifel würde sie beiseite
wischen, würde einfach mit einem Schrei auf ihn zustürzen,
ihre Arme um seinen Hals werfen. Und Gerhard müsste meine
Hand loslassen, um sie zu umarmen, während Oma plötzlich
im Flur stünde, fragend, dann fassungslos, und Oma würde
seinen Namen stammeln und immer wieder mit ihrer runden
rauen Hand über seinen Unterarm fahren und „Junge“ sagen,
einfach „Junge“, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
Und es wäre gar nicht schlimm, dass er vielleicht so komisch
aussähe wie Makalewski mit dieser roten Haut und den
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Kratern im Gesicht und den traurigen Augen, denn er wäre ja
jetzt zu Hause bei uns und würde sich schnell erholen. Und
wenn ihm auch noch ein Bein fehlte oder ein Arm, vielleicht
sogar ein Auge oder gar die Nase, dann würden wir uns
bestimmt nach einer Weile auch an den Anblick gewöhnen
und sogar immer öfter vergessen wegzugucken, wie es mir
schon jetzt beim Wolfsmann passierte. Oma würde ihm
Kliebchensuppe kochen, Papa würde abends am Esstisch mit
ihm Bier trinken, mit seinem Schwager, und ihm von der
Rechtschreibreform erzählen oder den Problemen mit dem
Rasenmäher …
Wo kam das Glitzern her? Silbrig glänzte es auf hellen
Stämmen. Dort, irgendwo links musste der Mond jetzt
zwischen den Wipfeln stehen. Oder waren es die Reflektionen
des Raumschiffs, das jetzt reglos über den Wipfeln stand,
leise surrend wie die Mückenschwärme zwischen den
Bäumen? Und die Außerirdischen verharrten an ihren
Guckluken, noch immer zögernd, ob sie schon die Heimreise
zu ihrem Planeten antreten oder doch noch ausharren sollten,
weil hier eine wichtige Mission auf sie wartete … „Helft mir“,
flüsterte ich hinauf zu den silbrigen Kronen. Und ein leichter
Wind fuhr zwischen den Stämmen hindurch, dass ein
Rauschen durch den Wald ging und ich kurz die Augen
schloss. „Merk dir: Der Wald ist dein Freund, was auch immer
passiert!“ hatte Mama gesagt. Natürlich. Was war nur mit mir
los gewesen? Meine schönen Bäume ringsumher, mein
kleines Gebüsch, ein Uhu, der geräuschlos zwischen den
Stämmen hindurchglitt: mein lieber Dorfwald, nur wenige
hundert Meter entfernt von den nächsten Häusern. Keine
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Ungeheuer. … Ich gähnte. Mein rechter Fuß war
eingeschlafen. Ich stand mühsam auf, hüpfte auf einem Bein.
In der Hütte wartete mein Nest frischen, weichen Laubs …
Makalewski bot auch wach einen erbärmlichen Anblick, wie er
da im Morgenlicht zusammengesunken auf der Oskötterbank
kauerte, in der zitternden Hand eine Flasche Wasser. Alle
paar Sekunden sog er an ihr, als gäbe es jedes Mal aufs
Neue die Chance, dass plötzlich Schnaps aus ihr floss.
„Gibasher, Ronny, bitte. Du hascht was“, nuschelte er, als sie
leer war und starrte Ronny düster an, der auf der anderen
Seite des Kistentisches ungerührt Kartoffeln schälte, die er in
einen Blecheimer plumpsen ließ. Der Wolfsmann, so nannte
ich Gregor immer noch bei mir, saß neben Makalewski. Er zog
eine dünne, selbstgedrehte Zigarette aus einem zerdrückten
Tabakbeutel, zündete sie gemächlich mit einem
Benzinfeuerzeug an und reichte sie Makalewski, der sie gierig
zwischen seine Lippen schob, die, wenn er nicht trank,
unablässig Unverständliches murmelten. Ich blickte noch
einmal um mich in den lichten Wald hinein, bevor ich hinter
meinem Baumstamm hervortrat, mich räuspernd bemerkbar
machte.
„Nelly-Mädel. Da ist sie. Was hab ich gesagt. Komm zu uns.
Setz dich!“ rief der Wolfsmann, winkte mich zu sich und
deutete auf einen umgekippten Hocker im Gras. „Ich wusste,
dass du heute Vormittag wiederkommst. Couragiert wie deine
Großmutter“, sagte er grinsend, während ich mich setzte.
Auch Ronny nickte mir blinzelnd zu:
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„Näher. Nur näher. Wir beißen nicht. Und Tilo ist weg. Der
musste zum Amt.“
„Der lässt sowieso die Finger von dir. Hab ich mir gestern
vorgeknöpft“, sagte der Wolfsmann und klaubte eine weitere
Zigarette für sich aus dem Beutel. Jetzt sah man: Seine Nase
war aus sechs Teilen zusammengestückelt. Die Naht auf dem
Nasenrücken war merkwürdig schief, als sei der Chirurg
seitlich abgerutscht. „Du willst mit Makalewski reden? Kannste
jetzt. Haben wir für gesorgt.“ Er blickte zu dem nun rauchend
verstummten Kumpel, versetzte Makalewski einen leichten,
aufmunternden Stoß: „Die Nelly kennst du doch. Von der Oma
im Ort, die dir die gute Suppe macht.“ Makalewski starrte mich
mit glasigem Blick an. „ … die gute Mehlsuppe, weißt schon“.
Mühsam nuschelte Makalewski schließlich:
„Mettwurststullenunsaft“ Ich nickte. „Gutes Kind. Gute Omma“,
brachte er heraus, nickte mir zu. Wir waren alte Bekannte. Der
Wolfsmann zog an seiner Zigarette:
„Frag ihn, was du wissen willst. Das mit dem Konzentrieren ist
nicht seine Sache. In dem Kopf, da ist schon zuviel passiert,
verstehst du? Da ist kein Platz für Gerede. Also, leg los und
mach´s kurz.“ Er gab Ronny ein Zeichen, der daraufhin, wie
verabredet, ein halbvolles Weinbrandfläschchen aus der
Tasche seines Trainingsanzugs zog, es aufschraubte und
über den Bierkastentisch reichte. Makalewski trank so gierig,
dass sein Adamsapfel hüpfte und die Augen fast aus den
Höhlen traten.
„Mein Onkel …“, sagte ich und hatte plötzlich einen Kloß im
Hals. Blödes Herzklopfen. Ich knüpfte das Handtuchbündel
auf, in das ich den Silberrahmen eingeschlagen hatte, legte
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das Bild vor ihn auf den Tisch: „Gerhard … er ist
verschwunden.“ Ich räusperte mich: „ … vermisst In
Stalingrad.“ Bei dem Wort verschluckte sich Makalewski, er
steckte abrupt den ausgestreckten Arm mit der Flasche in die
Luft, starrte mich an:
„Schtalin …“ In seinem Gesicht spiegelte sich vollkommene
Leere. Der Wolfsmann legte ihm vorsichtig die Hand auf den
Arm, drückte ihn behutsam herunter:
„Ist gut. Hör zu.“
„Er hat überlebt. Bestimmt. Ein Kamerad hat es geschrieben
ans Rote Kreuz, Hartmut hieß der. In Gefangenschaft soll der
Gerhard gekommen sein, hat er gesagt. Du musst auf das
Bild gucken. Da …“ Ich schob es direkt vor ihn: „Ich meine,
den erkennt man doch. Diese Augen, also, … das Gesicht
merkt man sich doch, oder? Den Scheitel, dieser Blick?“
Makalewski hielt die Augen gesenkt. Betrachtete er das Bild?
„Gerhard Bögel. Unteroffizier. Ich weiß nur das Regiment nicht
… – oder heißt das Kompanie?“
„Einemijonfünfeneunzischtausend“, nuschelte Makalewski:
„Mijonfünfeneunzischtausend kaltgemacht.
Hungerschlägekälte …“ Er hob nicht den Blick, saß
zusammengesunken, die Hand mit der Weinbrandflasche
zitterte. „Draufgegangen in Lagern. Alle …“ Keiner von uns
rührte sich: „So kalt … schecklischkalt … Rüdi, Vogelkopf,
Hans: erfroren – oder der eiserne Bert, kein Essen,
nischtnischt.“ Seine Stimme wurde immer leiser: „…. Ebi,
Franz, tot. Alle tot ...“
Stille. Das Messer und die halbgeschälte Kartoffel lagen
reglos in Ronnys rauen Händen. „Neunzischtausend gefangen
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in Schtalingrad …“ Ich wusste, ich sollte aufhören, ihn in Ruhe
lassen.
„Aber es haben doch auch welche überlebt. Du hast doch
Sibirien auch überlebt …“ Wie weinerlich und nasal meine
Stimme klang. „Der Hartmut doch auch. Der lebt und der hat
doch den Brief geschrieben …“ Fast unhörbar murmelte er
etwas vor sich hin, schüttelte dabei den Kopf:
„Workuta“, meinte ich nur zu verstehen, weil Oma erzählt
hatte, dass er dort im Lager war.
„Gerhard“, beharrte ich. „Er war jung. 18 Jahre erst, ein
Sportler …“
„Sechstausendvonneunzischtausend“, nuschelte er, „alle
anderen …“ Sein Mund stand offen, die Hand auf dem Tisch
zitterte.
Da war wieder dieses schreckliche Gefühl in meinem Hals,
dieses Grässliche, Bittere, das Würgen, das langsam in mir
aufstieg und mich schlucken ließ, immer schlucken,
wegschlucken, was da hochkam … Ich sprang von meinem
Hocker auf, doch diesmal war Ronny schneller. Er stand
neben mir, packte mich am Arm und zog mich mit sanfter
Gewalt zurück auf den Hocker. Ehe ich mich versah, hatte ich
die kleine Flasche im Mund und etwas unsagbar Scharfes
versengte meine Kehle. Während ich mich noch prustend von
dem Schreck erholte, wischte auch schon das raue Frottee
meines Handtuchs gründlich über mein Gesicht. Als ich es
wegschob, begegnete mein Blick auf der anderen Seite des
Tischs den schwermütigen Augen von Makalewski. Er
betrachtete mich ganz konzentriert, starrte mein Gesicht an,
das sicher fleckig war, meine geröteten Augen, über die mein
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Handrücken fuhr, ignorierte sogar die frisch gedrehte
Zigarette, die der Wolfsmann ihm hinhielt. Plötzlich wirkte er
vollkommen wach:
„Bögi“, flüsterte er und er nickte wie zur Bestätigung für seine
Eingebung. Jetzt huschte sogar etwas wie ein Lächeln über
seine verwüsteten Züge: „Bögi – hab ich gekannt.“ Hörte ich
Recht?
„Gerhard Bögel – Bögi? Meinen Onkel?“
„Guter Junge: Bögi mit der Brille.“ Wieder nickte er versonnen.
„Wo ist er? Hat er überlebt? Wo kann ich ihn finden?“ Seine
Hand wischte unbestimmt durch die Luft:
„Bögi. War in Hamburg. Große Freiheit.“ Seine Finger
schossen nun blitzschnell über den Tisch, griffen nach der
noch fast vollen zweiten Weinbrandflasche, die Ronny vor mir
abgestellt hatte. „Sankpauli“, murmelte er – und
„Aufereeperbahnnachsumhalbeins grölte er plötzlich, dass die
Spucke flog: amüsierstssudich… Dann brach er plötzlich ab,
murmelte nachdenklich: „Fünf Jahre her? Oder drei Jahre?“ Er
stürzte den Alkohol hinunter.
„Wann denn? Wo denn?“ Ich sah ihm zu, wartete mit offenem
Mund, lauschte seinem Schlucken. Als er endlich absetzte,
war alles vorüber. Makalewski saß wie erstarrt. Er blickte nur
noch, die leere Flasche im Schoß, ins Ungewisse. Bloß seine
Lippen bewegten sich fast unmerklich, er war wieder im
Gespräch mit seinen Dämonen.
Schließlich blickte ich von Ronny zum Wolfsmann:
„Habt ihr das gehört? Er kennt ihn. Er hat Sibirien überlebt.
Makalewski kennt ihn. Ist das nicht großartig?“ Ich sprang auf:
173
„Wenn er erst bei uns vor der Tür steht – Mensch, das wird
ein Tag … Die werden staunen.“
Doch Ronny war nun wieder damit beschäftigt, Kartoffeln zu
schälen und der Wolfsmann verteilte Tabakkrümel auf einem
Zigarettenpapierchen:
„Makalewski hat viel erlebt“, sagte er unbestimmt und leckte
die Klebefläche an: „Er ist ein guter Kerl, verstehst du?“
„Klar, ist er das. Er wird mir helfen. Es wird ihm noch einfallen,
wo und wann er ihn zuletzt gesehen hat, ob vor drei oder fünf
Jahren, und dann …“
Da sah ich, dass Tilo, der Bubi, an der Pappel lehnte, die gut
zehn Meter entfernt stand. Ich hatte ihn nicht kommen hören.
Als unsere Blicke sich trafen, grinste er und seine Zunge fuhr
feucht über seine Lippen. Ich funkelte ihn böse an und blickte
weg. Er hatte mein Erschrecken bemerkt.
„Habt Ihr kapiert: Gerhard lebt!“ Ich schrie es fast.
„Drei Jahre“, sagte der Wolfsmann, „können manchmal auch
13 Jahre sein – oder 23 …“ Mit zwei Fingern rollte er eine
kleine gleichmäßige Tabakwurst: „… wenn man viel zuviel …“,
er zögerte. „ …Tod gesehen hat.“ Er blickte mir noch immer
nicht in die Augen. Die letzte Kartoffel rumpelte in Ronnys
Eimer.
„Ihr kennt doch Leute fast überall – bestimmt auch in
Hamburg. Jemand wird sich schon an sein Gesicht erinnern.
In den Notunterkünften …“
„Kommst nicht weit ohne Kohle.“ Ronnys Hand schob
behutsam die Kartoffelschalen auf dem Tisch zusammen:
„Hartes Pflaster da oben.“
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„Und die Bullen“, ergänzte der Wolfsmann, „die suchen nach
dir. Garantiert.“ Ich konnte es einfach nicht fassen. Er klebte
sorgfältig seinen Tabakbeutel zu: „N´Mädel in deinem Alter,
das fällt auf.“
„Ihr wolltet mir helfen …“, stammelte ich.
„Was ist mit deiner Mama? Deiner Oma?“ Der Wolfsmann sah
jetzt Ronny in die Augen, der leicht nickte: „Wie lange warten
die jetzt schon auf dich? Was meinst du, wie geht`s denen?“
Ich schüttelte nur den Kopf. „Deiner Mama geht´s schlecht,
oder? Deshalb bist du hier. Ist doch so?“ Ich kämpfte mit den
Tränen. Erst jetzt suchte er meinen Blick, beugte sich über
den Kistentisch: „Nelly-Wolfsmädel. Die brauchen dich zu
Hause. Fahr mit deinem Papa nach Hamburg. Der hat Geld,
ein Auto …“
„Ihr habt doch keine Ahnung“, schrie ich, „überhaupt keine
Ahnung“, und ich versetzte dem Tisch einen Stoß und
stolperte dann rückwärts durchs Gras zu meinem Rad: „Dann
halt nicht. Ich brauch euch gar nicht. Ich brauch niemanden.“
Auch Ronny war jetzt aufgesprungen, rang die Hände, tat
einen Schritt in meine Richtung: „Nelly, nu bleib doch ma.“
Doch ich sprang auf mein Rad und raste zum zweiten Mal
davon, als sei ich auf der Flucht, doch diesmal war ich fest
entschlossen: Ich würde nie wieder zurückkehren.
Ich schoss wie ein Pfeil über den huckeligen Plattenweg in
Richtung Ort. Mit jeder Drehung der Räder stießen sich meine
Gedanken an meiner Schädeldecke wund: Die Bude, der
Wald, ich allein …. Allein! … Hamburg. So weit. Wie kam ich
an Geld? – Hunger … Erdbeeren und Sahne, Butterstullen mit
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Salz … Buchteln, Spiegeleier … Ronny – sein Lächeln, seine
Hand mit der Pfanne. Der Wolfsmann: Deine Mama braucht
dich. Würde Tilo mich suchen? Die Nacht, die Schatten … die
Angst …
Niemand war zu sehen hinter mir auf der leeren, heißen
Straße. Wohin jetzt? Ich lehnte mich vor, trat noch schneller in
die Pedale:
„Bögi hab ich gekannt“ – Gerhard lebt. Gerhard in Hamburg.
Gerhard, der Mama umarmt. „Mein Junge“. Wo war Oma
jetzt? Wie ging es Mama? Saß sie in der Waschküche?
Weinte sie? Und Papa? War er wieder weggefahren? Suchte
er mich?
Ich sollte besser zurück zu meiner Bude. Es war gefährlich
hier. Aber warum bloß sah das Städtchen zwischen den
Feldern so schrecklich friedlich aus? Als lebten dort nur
glückliche Menschen. Als gehörten alle zusammen wie eine
große Familie. Was zog mich so? Die Sonnen-Reflektionen
auf den rötlichen Dächern? Der Klang der Glocken, die Elf Uhr
schlugen? Die wogenden Pappeln vor den Resten der
Stadtmauer? Ich konnte nicht aufhören zu treten, atemlos am
Ortsschild vorüber zu sausen, die leeren Straßen entlang.
Vielleicht erkannte mich doch jemand aus meiner Klasse?
Vielleicht – ich erschrak – hatten sie mein Bild schon in der
Zeitung gebracht? Nur eine knappe Woche noch, bis die
Schule begann: bestimmt waren sie alle inzwischen längst
zurück aus dem Urlaub. Ich hatte nicht vorgehabt in die Nähe
des Schwimmbads zu radeln, doch es war dieses leise
Raunen in der Luft, dem ich folgte: dieses Vibrieren, das
schließlich mehr und mehr zu Juchzen und Kreischen wurde:
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vom Schwimmbad her flutete es die umliegenden Straßen. Es
kam mir vor, als sei es ewig her, dass auch ich dort hinter der
Mauer auf der Decke gelegen hatte, Karl mit seiner großen,
warmen Hand über meinen heißen Rücken gefahren war…
Schneller, nur schneller … Nicht an Karl denken …abbiegen,
ohne nachzudenken, immer auf dem Bürgersteig entlang. War
hier die Schrebergartensiedlung? Ich hatte erst nicht einmal
bemerkt, was ich da leise vor mich hinsummte: An der Saale
hellem Strande … Da noch hätte ich gesagt: „Nowottny? Was
hätte ich bei dem denn sollen?“ Nowottny gehörte nicht zu
uns. Ich war auch noch nie bei ihm gewesen. Einmal hatte er
Oma und mir das Foto eines einstöckigen adretten
Holzhäuschens mit Veranda gezeigt, das er allein bewohnte.
Achtlos wäre ich dran vorüber geradelt, hätte nicht ein Haufen
Sperrmüll-Gerümpels davor gelegen, der mich zum
Ausweichen auf die Straße zwang. Ich sprang vom Rad –
atemlos, gehetzt, noch immer. Da erst erkannte ich es: Das
Häuschen sah schäbiger aus als auf dem Bild. Das ehemals
dunkle Holz der Verkleidung war grau geworden und schlierig
vor Feuchtigkeit. Die Ziegel waren bemoost und selbst das
kleine Rasenstück vor der schiefen Veranda zeigte kahle
Stellen wie das Fell eines kranken Hundes. Ich schloss das
Rad am Drahtzaun an und besah mir den Sperrmüllhaufen.
Irgendwie hatte ich geglaubt, jemand der stets Anzüge trug,
nach Eau de Toilette duftete und Perlendes anstimmen
konnte, lebte zwischen Samt-Chaiselongues und
Bücherwänden. Hier türmten sich neben alten
Küchenschränken nur mehrere Plastikküchenstühle und aus
einer gelben Pappkiste, in die jemand Dutzende zerlesene
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Krimis geworfen hatte, ragte ein zerbrochener Besen hervor.
Ich dachte schon, der Müll gehörte doch zu einem anderen
Haus, als ich vor der Eingangstreppe genau den gleichen
gelben Karton entdeckte wie den, der an der Straße stand.
Das Gartentor war nur angelehnt. Nichts rührte sich hinter den
zwei dunklen Fenstern. Die Straße hinter mir war leer, das
Grundstück gegenüber war durch eine mannshohe Hecke
abgeschirmt. Ich schlich über den Plattenweg zur hölzernen
Veranda. Die Dielen knarrten, als ich mich vorbeugte, um
durch eines der Fenster zu blicken, sonst blieb alles still. Ich
erkannte sofort die Kissenhüllen auf dem schäbigen
Wohnzimmersofa. So eine hatte ich im Handarbeitsunterricht
häkeln müssen und Oma hatte mir dabei geholfen.
Schneckenförmig rund waren sie und so bunt wie ein
Regenbogen, und während mein Werkstück oval und knotig
geraten war, hatte Oma nach meinem Hilferuf innerhalb
kürzester Zeit spielend den bunten Kreis fertig gehäkelt, mit
Seide unterlegt und zu einem runden Stuhlschoner vollendet,
für den ich eine Eins bekam. Aber auf dieser Couch lag ein
halbes Dutzend der Dinger. Oma musste sie für ihn gehäkelt
haben. Hier musste sie daran gearbeitet haben, viele Stunden
lang, während er vermutlich gegenüber in dem alten
Ohrensessel gesessen hatte. Ich hatte nach der Sache im
Wald nicht so gerne darüber nachdenken wollen, was Oma
und er eigentlich die ganze Zeit über taten, wenn sie
zusammen waren. Das hier, das war so … normal! Es war wie
Dinge, die ein altes Ehepaar tat. Würde Oma wirklich gehen?
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