Ich«

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Peter Handke: Immer noch Sturm
Personen:
»Ich«
Meine Mutter
Meine Großeltern
Gregor, »Jonatan«, der älteste Bruder der Mutter
Valentin, der zweitä1teste der Brüder
Ursula, »Snezena«, Schwester der Mutter
Benjamin, der jüngste Bruder
EINS
Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist
da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mitteigrund, und daneben oder dahinter
oder sonst wo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder
Spätäpfeln, dunkelroten. Sanft abschüssig erscheint diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie
sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick. Ich habe sie vorzeiten, in einer anderen
Zeit, gesehen, und sehe sie jetzt wieder, samt der Sitzbank, auf der ich einst mit meiner
Mutter gesessen bin, an einem warmen stillen Sommer- oder Herbstnachmittag, glaube ich,
fern vom Dorf, und zugleich in der Heimatgegend.
Ungewohnt weit war und ist jener Heimathorizont. Ob das Gedächtnis täuscht oder nicht: aus
der einen, dann der anderen Ferne ein Angelusläuten. Und auch wenn das wieder eine
Täuschung ist: im Nachhinein scheint es, daß die Mutter und ich uns an der Hand halten.
Überhaupt geschieht in meinem Gedächtnis da alles paarweise; die Vögel fliegen zu Paaren
im Himmel, die Schmetterlinge flattern paarweise durch die Lüfte, paarweise schwirren die
Libellen, undsoweiter. Das Apfelbäumchen freilich ist mir, zusammen mit den
nachleuchtenden Äpfeln, solcherart in wieder einer anderen Zeit begegnet, in einer
Nachtsekunde, in einem Tagtraum, oder wann. Ich bin zunächst dagesessen mit geschlossenen
Augen. Jetzt schlage ich sie auf. Und was sehe ich nun? Meine Vorfahren nähern sich von
allen Seiten, mit dem typischen Jaunfeldschritt, deutlich von einem Fuß auf den andern
tretend. Einzeln kommen sie daher, ausgenommen das Großelternpaar, einzeln die mehr oder
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weniger oder vielleicht gar nicht verwirrte Schwester meiner Mutter, und ebenso einzeln
wandern mir deren drei Brüder daher, jeder auf einem eigenen Weg, oder Nichtweg.
Der jüngste purzelt eher, läßt sich rollen, wie übermütig. Einzeln steuert ein jeder auf den ihm
scheint‘s vorgegebenen Ort oder Stehplatz zu, bis auf meine Großeltern wieder, welche sich
auf die Bank setzen. Gar nicht alt ist dieses Paar, und ausnahmslos jung deren fünf Kinder,
selbst der Erstgeborene, der Einäugige dort mit dem dichten Schnurrbart, geboren doch
ziemlich lang vor den andern. Der jüngste der Söhne ist fast noch ein Kind, und meine Mutter
erscheint mir buchstäblich blutjung, und beinah als heimliche Geliebte des mittleren Bruders,
des schon früh weithin bekannten Frauenhelden. (»Blutjung« ist dagegen ihre kaum ältere
Schwester angeblich nie gewesen.) Und daß ich‘s nicht vergesse: Sie alle erscheinen mir in
Schwarzweiß, nicht nur ihre Gewänder, und alle schön, wie eben nur welche in Schwarzweiß.
Seltsam, daß diese Gestalten da ganz und gar nicht den Vorfahren ähneln, wie sie im Leben,
oder auf Photographien, oder in den Erzählungen sich mir eingeprägt haben. Sie sind es nicht,
weder in Aussehen noch Haltung noch Mienen. Und zugleich sind sie es. Sie sind es! Und
dazu paßt es, daß sie mich jetzt auf kleinsten. Um so sichtbarer muß ich so wohl geworden
sein:
Eine heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug,
schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner
Vorfahren.
Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den andern, daß ich als einer erscheine, der
schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar. Meinem Alter nach könnte ich zum
Beispiel den ziemlich bejahrten »Vater« der blutjungen »Mutter« darstellen.
Deren jüngster Bruder, das Fastkind, ist, mit mir im Schatten, immer wieder, sagen wir,
dreimal, zur Seite getreten, und ich bin ihm nachgerückt. Und zugleich ist die Sippe, geleitet
von meiner Mutter, mir auf ähnliche Weise nähergerückt und hat einen eher lichten Halbkreis
um mich gebildet. Diese gemeinsame Bewegung hat mich freilich nicht geängstigt: Ich bin
zuletzt meinen Leuten entgegengekommen und habe ihnen nacheinander die Hand gereicht
(eine andere Berührung kam ja, oder kommt, bei unsereinem kaum in Betracht).
Nur vor der Mutter dann habe ich im Abstand innegehalten, und habe gesagt: »Da seid ihr
nun, Vorfahren. Die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht
in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr laßt mich nicht in Ruhe, nicht und nicht.
Hallo, Frau Mutter! Seit einer Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und noch immer
redest du mit deinem landfremden Akzent, als ob die Truppen Napoleons weiterhin die
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Herren von Kärnten und Kram wären, du Karawankenfranzösin du. Guten Tag, Großmutter,
stara mati, dober dan. Guten Tag, Großvater, stari oce, dober dan, tesar, bzw. Zimmermann.
Guten Tag, Onkel und Taufpate Gregor, moj stric in moj boter, mein Onkel und mein Pate,
dober dan. Guten Tag, teta, das ist:
Tante, Ursula, keine Angst, und schon gar nicht hier, vor mir. Cheers, Mutterbruder Valentin,
Englischsprecher of our family, Schachmeister, und auch sonst ein kleiner Meister.
Guten Tag und dober dan, stric Benjamin, Fastkind du, dem die Erde der Tundra, gemäß dem
Spruch auf dem Gedenkstein, leicht sein sollte.
Und jetzt du, Mutter: So jung wie jetzt warst du in meinen Tag- wie Nachtaugen nie. Und
auch eine andere Erscheinung bist du jetzt, mit anderen Zügen, einer anderen Stimme, einem
anderen Akzent, anderen Augenfarben. Und doch bist du dieselbe. Du bist es. Aber sag: Wo
sind wir jetzt alle zusammengekommen? Denn unsere Gegend scheint das hier nicht zu sein,
bis vielleicht auf den Apfelbaum da. Nur schauen bei uns zuhause die Äpfel ganz anders aus,
wie eben Äpfel zum Hineinbeißen, zum Stehlen. Und dieses Dörrzeug da verlockt einen
weder zum Hineinbeißen noch zum Obstdiebwerden, und schon gar nicht zum Sündebegehen.
(Obststehlen war in unserer Gegend ja nie eine Sünde — oder mittlerweile doch?) Und unsere
Gegend und das Gelände hier: erst recht kein Vergleich. Was soll das-da-da eigentlich
darstellen? Eine Heide? Die Steppe? Die Taiga?
Die Tundra? Für mich: zum Davonlaufen. Nur daß das nächste Gelände ziemlich sicher noch
um eins gottverlassener ist, und die übernächste Station ganz sicher eine Jauchenstation, und
die überübernächste todsicher ein Minenfeld, und so fort, bis zuletzt an gar keinen Ort.«
Die blutjunge Mutter hat gleich geantwortet: »Auch ich habe dich nicht gleich erkannt. Und
bevor du ins Reden kamst, war ich — unsicher. Aber so weiß ich, du bist es, mein Sohn.
Mein Sohn, der nie zu uns hier, zur Familie, zur Sippe gehören wird, Vaterloser du, der du
Ersatz, Halt und Licht suchst bei deinen Vorfahren. Und jetzt zu deiner Frage, die wieder
einmal keine war: Doch, das hier ist unsere Gegend. Es ist das Jaunfeld, im Land Kärnten,
slowenisch Koroška, lepa Koroška, das schöne Kärnten.
Und da hinten irgendwo mußt oder kannst du dir unsere Saualpe oder die Svinjska planina
vorstellen, die, obwohl sie ja nach außenhin daliegt wie eine Riesen-Sau, in Wirklichkeit nach
dem Blei, in unserer Haussprache svinec, heißt, dem Blei oder svinec innen im Berg, von
welchem die wüsten Sommergewitter auf der Svinjska planina oder Saualpe her - -‚ her - -‚
hilf mir, Sohn, nein, hilf mir nicht, herrühren, herstammen, und ebenso unser Haus- und
Familienname, erinnere dich, nein, erinnere dich nicht, du hast seit je ein schlechtes
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Gedächtnis, merk es dir, Sohn. Und merk dir: Sau haben, heißt bei uns hier: Glück haben,
und: Auf die Saualpe gehen, heißt bei uns: glückselig gehen, ohne Bleifüße gehen.«
Ich habe kurz ihr Spiel mitgespielt wie sie das meine zuvor:
»Und was muß ich mir dort hinten für einen Totschlägerberg, für ein Jammertal, für eine
Teufelsschlucht, für eine Drachenwand, für ein Steinernes Meer, für eine Mammutfurzklamm,
für einen Selbstmördergrat vorstellen?«
Die Mutter hat mein Spiel nicht mehr mitgespielt: »Dort hinten kannst du dir die Karawanken
denken, und dahinter dann Slowenien, Jugoslawien.«
Ich, in einem Versuch, weiterzuspielen: »Aber Jugoslavija, das gibt es doch seit einer
Ewigkeit nicht mehr, nicht das königliche nach dem Ersten, und erst recht nicht das ohne
König nach dem Zweiten Weltkrieg. Was für eine Art von Zeit soll hier eigentlich gelten?
Wann ist das, jetzt? Die Heide-Steppenzeit, oder was? Die Sonntagsschürzenzeit? Die
Knickerbockerzeit? Die Butterfaßzeit? Die Apfelveredelungszeit? Die Mistausfuhrzeit?
Die Kukuruz- oder, wie war das Wort, Türkenschleißzeit, wo ihr alle abends beim
Maisschälen im Stall gehockt seid und euch beim Geschichtenerzählen und Liederabsingen
eine andere Zeit vorgegaukelt habt? Oder doch die Realzeit, die historische, die beschissene,
die auf ewig verlorene, von euch und auch mir verlorene, und ihr Kümmerer, wir Kümmerer,
bleischwer verloren in ihr?«
Darauf die Mädchenmutter: »Unbekannte Gestalt, bekannte Sprache. An deiner Sprache
erkenne ich dich, Affensohn. An unserer Sprache sind wir alle Versammelten hier zu
erkennen, erkennen wir uns wenigstens untereinander, jeder von uns Unsrigen den andern als
einen Unsrigen. Keiner in der Gegend hat so gesprochen wie wir. Keiner im ganzen Land
spricht so wie wir, wird so gesprochen haben wie wir. Zeigt es ihm.«
Allgemeines Innehalten. Die Wortmeldung kommt dann von dem Mutterbruder, den ich als
»Valentin« angeredet habe. (Als er vortritt, sehe ich, daß er tatsächlich etwas wie
»Knickerbocker« trägt.): »Ich, der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hat, der einzige ein
bißchen reich und, na ja, mächtig Gewordene, verdanke das vor allem dem Umstand, daß ich
mich von unserer Haus- und Sippensprache, der vermaledeiten, losgesagt habe.
Ja, verdammt soll sie sein, diese Sprache, die dem Benjamin und dem Gregor da, dem einen
im hintersten Rußland, dem andern gleich hier auf der vermaledeiten verbleiten Saualpe, das
Leben geraubt hat, unserer Mutter das Herz zerbrochen hat, unserem Vater den Hut über die
Augen, die Ohren und dann auch noch den Mund gedrückt hat, mit dem Schweißband als
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Selbstknebel, die Sprache, die meiner Schwester Ursula ihren Liebsten, ihren Einzigen, ihren
Bräutigam abspenstig gemacht hat, noch bevor die Liebe spruchreif, geschweige denn
hautnah werden konnte — nur, wie sagst du, >gebräutelt< hat der Mann, gebräutelt habt ihr
beide, nicht wahr, jahrelang, bis daß deine Sprache euch geschieden hat, dein Bräutigam sich
verzupft hat — ausgebräutelt —‚ und du alleingeblieben bist, Schwester, mit deiner Sprache,
deinem Ersatzbräutigam.« (Sie hat, wenn ich recht gehört habe, eingeworfen: »Nein, dem
wahren!«) »Und verflucht soll sie sein, unsere Sprache« — er hat sich jäh an mich gewendet
— »die, gesprochen von ihr, meiner Lieblingsschwester hier, oder, wenn du willst, deine, na
ja, warum nicht, Mutter, sie kann ja nichts dafür, Frau ist Frau, verflucht sei sie, unsere
Sprache, die, gesprochen von meinem darling, meinem Darling Clementine, in den Ohren
nicht bloß der Dorf-, sondern auch sämtlicher Landmannschaften das Begehren geweckt hat,
so daß ein jeder, der hörte, wie die da, speziell sie, unsere Sprache sprach, sie, die da, auf der
Stelle haben wollte. Seltsam übrigens, wie eine gewisse Sprache und eine gewisse Art, sie zu
sprechen, einen auf die Sprünge bringen kann, habe ich‘s nicht am eigenen Leib dann
erfahren, als ich bei dem Ausgang in Narvik die Lappländerin reden hörte, gar nicht zu mir,
weit weg, am anderen Ende der Straße, und im selben Moment hier an meiner Rippe, daß es
mich buchstäblich überrieselt hat —‚ bloß daß derjenige welcher, der mein Sweetheart dann
heimgeführt bzw. geschnappt hat, dein Vater war — mehr brauche ich dazu nicht zu sagen‚
und wie der Vater, so der Sohn, mehr ist darüber nicht zu sagen.« Allgemeines Innehalten
wieder. Die Großeltern haben sich danach auf die Bank in der Heidesteppe oder im
»Jaunfeld« gesetzt, mit ihrem halbwüchsigen jüngsten Sohn in der Mitte. Und dann ist die
von mir als ältere Schwester der Mutter angeredete und »Ursula« genannte düstere, auch
düster gekleidete junge Frau zu Wort gekommen: »Alle wart ihr gegen mich, von klein auf.
Nie habe ich meinen Platz bei euch gefunden. Bei keinem Spiel habt ihr mich mitspielen
lassen. Und wenn, dann habt ihr mich bei der ersten Gelegenheit ausgelacht. Besonders du,
Schwester: Ah, wie du mich auslachen konntest. Alles ist mir vergangen bei deinem
Auslachen, vergangen, alles. Und wenn ich mich im Abort eingesperrt habe, hast du vor der
Tür, der mit dem Herzen, herzlos weitergelacht. Herzlos, herzlos. So bin ich vor euch
davongelaufen in den Wald, aber der Wald, speziell unser finsterer Fichtenwald, hat mir nie
gutgetan. Genauso finster wie er bin ich aus ihm zurückgekommen, in euren Augen die
Spielverderberin. Dabei glaubte ich lange an das Glück, gerade an das meinige, und konnte
mir nichts Schöneres vorstellen, als mitzuspielen, mit euch, mit meiner Familie. Nur waren da
alle Rollen besetzt, und still dabeisitzen, wie unsere Mutter, kam für mich nicht in Frage. Ich
wollte mittendrin sein und mich einmischen, einmischen, mich. Warum bloß? So war es
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gedacht, ja, so gedacht war es. Folglich bin ich wohl wirklich zu der verkümmert, als die ihr
mich von klein auf gesehen habt, zu der Person, die in unserer Gegend >der ledige Unwille<
geheißen wird, eine, die die anderen spüren läßt, daß sie nicht geliebt wird. Ja, niemand hat je
mich geliebt, auch die Mutter nicht. Ich habe ihr bloß von meiner Geburt an erbarmt.
Aber was habe ich vom Erbarmen? Ich spucke darauf Euer Auslachen und das Erbarmen
haben mich gleich nach der Schulzeit aus dem Haus gejagt, und ich habe bis zum Krieg als
eine, für die im Haus kein Platz war, als Magd in der Fremde gelebt, wie das seinerzeit eben
für uns Aushäusige üblich war. Und mitten im Frieden, den ihr anderen so himmlisch
gefunden habt, nicht wahr, Gregor, du Obstbauer, so biblisch, waren meine Gedanken schon
längst im Krieg. Im Krieg, so habe ich gedacht, werde ich endlich meinen Platz finden.
Im Krieg werde ich geliebt werden. Und so ist es dann ja auch gekommen? Wenn ich das nur
wüßte. Im Haus waren zwar von einem Tag auf den andern drei Plätze frei, und man hieß
mich willkommen, liebevoll, wie mir vorkam, sogar du, Schwester.
Aber ... aber ... Früher einmal war noch am ehesten mein Platz im Stall bei den Kühen und
Pferden gewesen, oder in deinem Obstgarten, Gregor, gelegentlich.
Aber jetzt: nirgends mehr.
Vielleicht stimmt er also doch, der andere Spruch aus der Gegend: Einen Platz findet nur, wer
ihn selber mitbringt? Habe ich vielleicht nie das, wie soll ich sagen, Platzhaben verkörpert?
Und bin vielleicht gerade so für euch zur Spielverderberin geworden, schlimmer, zur
Unglücksstifterin? Nicht ihr habt mir also keinen Platz gelassen, sondern ich bin schon
platzlos geboren, und demgemäß auf Krieg aus, auf Welt- wie Familienkrieg? Erbarmen,
Mutter. Hast du mir nicht erzählt, daß in unserer Sprache hier >Mutterleib< und >Erbarmen<
dieselbe Wurzel haben?«
Schon während dieser wohl familienüblichen Suada hat ihre bis dahin vollkommen still neben
Mann und »Benjamin« auf der Bank in der Heide sitzende Mutter aus ihrer Feiertagstasche,
oder was das ist, das Strickzeug, Wolle und Stricknadel, umständlich und auffällig
geräuschvoll hervorgekramt und an einem bereits begonnenen Strumpf, oder was,
weiterzustricken sich angeschickt. Ihr Mann, mein Großvater, hat, im Gegenzug, ein kariertes
Feiertagstaschentuch, ein eng zusammengefaltetes, aus der Innentasche seines Sonntagsrocks
geholt, es ebenso umständlich aufgefaltet, bis es in seiner Beinahgeschirrtuchgröße prangte,
und hat sich hineingeschneuzt. Dazu hat er dann uns im Kreis eine seiner familienüblichen
Kurzgeschichten erzählt: »Lang, bevor ich eure Mutter kennengelernt habe, lang vor dem
Ersten Weltkrieg, bin ich einmal von den Gendarmen für ein paar Stunden eingesperrt
worden, in den Gemeindekotter — für unsern Letzten hier erklärt: in das Arrestloch neben der
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Gendarmerie, nein, nicht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wofür wir sonst bekannt
sind — ich muß dich leider enttäuschen.
Und zwar kam das so: Ich war damals schon ausgelernt als Zimmermann, aber mit Frauen:
nichts, und wieder nichts. Ich habe mich an keine herangetraut, was ja ein anderer Sippenzug
ist, mit gewissen Ausnahmen, dann allerdings heftigen, siehe zum Beispiel den Valentin da,
den Deftigen, nomen est omen, den über die Gemeindegrenzen und über das Jaunfeld hier im
gesamten Kärntner Becken bekannten — sagt man heute noch so? — Weiberer, der — so
sagte man zu meiner Zeit noch nicht — nichts anbrennen hat lassen und kein Bett hat kalt
werden lassen, außer sein eigenes ... Also:
Wie zu einer Frau kommen, ich, ich!, endlich? Damals habe ich noch kaum deutsch
gesprochen, wie fast alle vom Land hier, Schule? gefehlt — entschuldigt, unentschuldigt.
Ein bißchen Deutsch beigebracht hat mir zuerst ein Wanderzimmermann, aus Bremen, oder
Hamburg, oder Eckernförde, oder wie die Löcher dort im Norden halt heißen, und dem sind
unsere Mädchen nur so zugelaufen und zugefallen, nicht wahr. Warum bloß? Die einen von
uns meinten, wegen seiner besonderen Zimmermannstracht, hinter der die girlies eben nicht
Johnny Cash oder Graham Nash vermuteten, sondern, operettenvernarrt, wie sie waren — so
war das damals noch —‚ einen verkleideten Zaren, oder wenigstens einen seiner Matrosen.
Und die andern: Weil er deutsch sprach. Hat nicht auch deiner Mutter dann so ein
Deutschsprecher den slawischen Kopf verdreht, mon petit fils, moj vnuk, mu engene, mi
nieto? Hochdeutsch sprechen hat bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein in unserer Gegend
nicht bloß die Haus- und Hoftore geöffnet. Wer rein deutsch sprach, versprach, ein Herr zu
sein. Deutsch, das war damals der Magnetpol für die hiesigen Weiberleut. Aber wie es kam,
daß euer Vater als Junger damals in den Kotter gesperrt wurde? Es war ein Mittwoch — ich
weiß nicht, warum ich euch mit dem Wochentag behellige —‚ es war der Markttag in Völkermarkt, oder Bleiburg, oder wo. Und verhaftet bin ich worden, weil ich mir dort an einem
bestimmten Stand Rindsaugen gekauft habe, einen ganzen Kübel voll, der da angeboten
wurde, zum Rindssuppekochen, so war das damals, und weil ich mit diesen Augen, ganz
schön glitschig waren die, nicht wenige sind mir aus der Hand geglitscht, dann quer durch die
Stadt die jungen Frauen, auch einige nicht so junge, beworfen habe — dabei habe ich die
Augen nicht einmal geschmissen, die Mädchen schon gar nicht bombardiert, sie denen eher
zugeworfen — zugedacht, zart, fast wie Rosen, na ja, noch dazu wie Rosen ohne Dornen,
unschuldig. Und unschuldig war ich ja wirklich. Denn was hatte mir der deutsche
Zimmermann in meiner Frauennot geraten? —«
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Hier hat den Erzähler endlich die düstere seiner zwei Töchter unterbrochen: »Vater, die
Geschichte hast du uns schon tausendundeinmal erzählt, nur daß der Augenwerfer immer ein
anderer war, der Dorftrottel, der Hausstock des Nachbarn oder sonstwer. Vater, warum willst
du seit jeher ablenken? Warum kannst du nicht einmal ernst sein? Sind wir nicht letzten Endes
fast alle verlorengegangen, nicht nur wir, sondernunser ganzes Volk? Vorletzter Akt: der
allgemeine Jubel, letzter Akt: der große Fall, sang- und klanglos. Wenn unsere Geschichte
keine Tragödie ist — was dann? —«
Hier wird sie ihrerseits von ihrem Vater unterbrochen. Er ist dazu sogar von der Sitzbank
aufgesprungen. Und er spricht laut, beinahe schreit er, und kommt dann gar kurz ins Brüllen:
»Tragödie: das Wort will ich nicht gehört haben! Da sind mir die blödesten anderen
Fremdwörter noch lieber: >Karnickel<, >Lumberjack<, >Konfitüre<, >Pumpernickel<,
>Etagere<, >Klobrille<, >Rosenkohl<, >Streuselkuchen< ... In unserem Haus ist kein Platz
für eine Tragödie und kein Platz für eine Tragödin. Und so beklage dich auch nicht, daß du
hier nie deinen Platz gefunden hast, du Requiemsüchtige. Klageweiber:
nicht bei uns! Kein größerer Widerspruch als unser Volk und die Tragödie. Eine >Tragödie<?
Kannitverstan. Sooft uns etwas tragisch gekommen ist: augenblicks abgeschalten. Unser
Innerstes, es sträubt sich gegen das Tragische, gegen das Tragischtun, das Tragischauftreten.
Unsere Lieder sind oft traurig? Ja, gar zu oft, und so traurig, daß sie mir über den Hals hinauf
stehen, zu den Ohren hinaus stauben, mit dem ersten Jammerton schon auf die Blase drücken.
Unser Volk nennt sich oft, gar zu oft, Volk des Leidens? Ja, aber Leiden und Erleiden, sie
sind doch nicht tragisch! Das Passive, die althergebrachte, heißgeliebte, vielbesungene
Leideform, was hat die denn Tragisches? Unsere Geschichte hier kennt keine Tragödie die.
Tragödie setzt voraus: Aktivgewordensein, Aktivwerden, so oder so. Und unsere Natur war
seit jeher antitragisch und demgemäß mit der Zeit auch gegen das Handeln.« (Kommt er nicht
allmählich durcheinander, zu spüren auch an seinem Leiserwerden?) »Oder ist unsere Natur
seit jeher gegen das kollektive Handeln gewesen, und ist sie demgemäß mit der Zeit
antitragisch geworden? Hat unsere Natur demgemäß unsere Geschichte bestimmt? Oder hat
umgekehrt unsere Geschichte unsere Natur bestimmt? Unsere Leidensgeschichte:
kommt sie aus unserer passiven Natur? Oder kommt unsere passive Natur aus unserer
Leidensgeschichte? Und sind wir nicht doch einmal aktiv geworden, aktiv wie kein Volk
sonst weit und breit mitten in Europa?« (Unvermittelt wird er nun doch wieder heftig) »Es ist
das Wort! Das Wort geht mir auf die Eier! Tragisch, Tragödie. Lappalie. Kamelie. Zichorie.
Geranie. Waschschüssel statt unser Lavoir. Geschirrschrank statt Kredenz. Jacke statt Rock.
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Bohnerwachs! Schnürsenkel! Käffe! Aprikosen! Apfelsinen! Pfannkuchen! Kai! Jürgen!
Uwe! Thorsten! Gunter ... Gernot ... Giselher ... Spülen
Plätten ... Pinkeln ... Laufen statt Gehen ... Mit eurer Fremdsprache habt ihr unsere heilige
Heimatluft entheiligt!! Tragödie: dieses Wort kommt mir nicht über die Schwelle! Gloria! —
Ein einziges reichsdeutsches Wort hat mich allerdings aufhorchen lassen: >Bleibe<. Bleibe ...
Bleibe! — statt der ewigen Leier mit >Heimat!< und >domovina<!« Er hat sich wieder
gesetzt, die Taschenuhr aus der Tasche seines Feiertagsgilets gefingert und sie aufgezogen. Er
hält sie ans Ohr. Das allgemeine Innehalten.
Und dann noch einmal der Großvater: »Wer >Schrank< sagt statt >Kasten<, >Jacke< statt
>Rock<, und >Káffe< statt >Kaffee<, der hat schon die Heimat verloren. Der hat schon die
Heimat verraten. Und wer Wörter wie >Preiselbeeren< und >Frühäpfel< in den Mund nimmt,
wird nie ein Henker sein. Was ich bin, was wir sind, sind wir von Haus aus, von unserem
Haus aus, und ohne Haus sind wir nichts.«
Und was sehe ich jetzt? Der von mir eingangs »Gregor« geheißene Einäugige, das älteste der
Geschwister, tritt vor, mit seinem Jaunfeldschritt, der da einem Tanz gleicht, und verkündet,
oder spielt nach Sippenart Verkünder: »Nach dem Gloria die feierliche Lesung aus dem
heiligen Buch der Familie.« (Er zeigt mir und den andern dieses Buch, das sehr große, eher
schlanke, in altersfleckiges Packpapier geschlagene.) »Mein weithin berühmtes Werkbuch
zum Obstbau, Titel: >Sadjarstvo!<, das ist Obstwissenschaft, mit Rufzeichen!, oder eben
Obstbau, eine Mitschrift von mir, Gregor Svinec oder Gregor Bleier — wie unser Name, wie
du weißt, oder nicht weißt, dann zwangseingedeutscht wurde —‚ aus dem Winter und
Frühjahr neunzehnhundertsechsunddreißig, der schönsten Zeit meines Lebens, die ich, wie ihr
wißt, oder nicht wißt, jenseits der Staatsgrenze zugebracht habe, in Maribor pod Dravom, zu
deutsch Marburg an der Drau, im damaligen ersten, dem königlichen Jugoslawien, in der
Landwirtschaftsschule dort oder wo, nein, genau dort, alldort. Und ich schlage euch das Buch
jetzt auf wie es kommt. Vorher aber drücke ich meine Lippen darauf und rieche daran.«
(Er tut das und wendet sich dann wieder an mich.) »Mach mir das nach, Täufling, und laß das
Buch dann im Kreis gehen.« (Gesagt, befolgt — wobei jeder von uns das Buch küßt und
beschnüffelt nach seiner Art; bloß die finstere Schwester verweigert die Annahme. Das Buch,
zurück in des Verfassers Händen, wird dann gemäß der Ankündigung aufgeschlagen.)
»Jabolko Welschbrunner: Plod debel, pravilno oblaste oblike.« (Er hat gestockt, mit einem
Blick auf meine blutjunge Mutter, worauf diese vorgetreten ist und übersetzt hat.) »Der
Welschbrunnerapfel: Dicke Frucht, in der Regel von runder Gestalt.« (Ihr Bruder fährt in der
Lesung fort.) »Koa gladka, zelena, pozneje rumena na sonni strani ivordee barvana.«
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Meine Mutter übersetzt: »Die Haut glattgrün, später gelb, an der Sonnenseite lebhaft rot
gefärbt.« Der Einäugige: »Na drevesu zori v prvi polovici oktobra in poaka do vigredi.«
Meine Mutter, seine Schwester: »Auf dem Baum reift er in der ersten Hälfte des Oktober und
hält sich bis in den Frühling.« (Allmählich sind die anderen in Lesung und Übersetzung
eingefallen, bis auf, siehe oben, und die Großmutter bewegt nur stumm die Lippen. Hat sie
womöglich eine stumme Rolle? Dafür unterstützt sie kräftig den Rhythmus mit ihrem
Strickzeug.) Der Einäugige: »Drevo raste zelo mono in daje nato redne in bogate pridelke.«
Fast alle: »Der Baum wächst sehr stark und gibt dann regelmäßige und reiche Erträge.«
Der Einäugige: »Uspeva v vsaki zemlji in legi.« Fast alle: »Er gedeiht in jeder Erde und
Umgebung .. . « Hier mischt sich die dunkle der Schwestern ein: »Lega heißt >Lage<! Nicht
>Umgebung<! >Lage< und >Umgebung< sind nicht das gleiche!«
Der Einäugige: »Jabolko Welschbrunner je zelo pripravno za izdelavo sadnih sokov —«
Fast alle: »Der Welschbrunner Apfel. Er ist sehr geeignet zur Erzeugung von Fruchtsäften —
« Die Finstere: »Von >Obstsäften<! — das Wort >Fruchtsaft< gab es damals noch nicht!«
Der Einäugige: »Jabolko Welschbrunner je zelo pripravno za izdelavo sadnih soko ker ima
mnogo kisline.« Alle (bis auf mich): »Der Welschbrunner ist sehr geeignet zur Erzeugung von
Obstsäften, denn er hat viel Säure.« Der Einäugige: »Maribor, devet in dvajesetega februara
tiso devetsto etintrideset.« Alle (bis auf mich): »Marburg, am siebenundzwanzigsten Februar
neunzehnhundertsechsunddreißig.« Und der Vorleser hat seinen Codex geschlossen, ihn kurz
wieder geküßt, und ist damit an seinen Platz oder sonstwohin zurückgetreten. Und dann von
neuem das allgemeine Innehalten.
An dieser Stelle meiner Zeitreise, oder um was es sich handelt, hat sich endlich das jüngste
der Geschwister, der von mir eingangs als »Benjamin« Angesprochene, das Fastkind, als
Einzelperson bemerkbar gemacht.
Aus dem Sitz heraus, zwischen seinen Eltern dort, läßt er sich unversehens hören: »Ob ... ob
... ob mir jemand erklären kann, wieso die Birnen manchmal die Form von Äpfeln haben, nie
aber ein Apfel die Form einer Birne? Und wie erkenne ich, ob im Apfel drinnen ein
Ohrenschleicher sitzt? Und warum ist nach neunhundertneunundneunzig gelben Maiskolben
plötzlich einer schwarz? Und warum haben alle männlichen Mitglieder unserer Familie trotz
der neun Schuhlöffel im Haus an den Fersen heruntergetretene Schuhe? Und wer ist der
Erfinder des Schuhlöffels? Und warum versteckt sich beim Erbsenschälen jedesmal eine
einzelne Erbse hinten in der Schote? Und warum rutschen mir die Zitronenkerne, wenn ich sie
aufheben will, jedesmal zwischen den Fingern weg? Und warum verliere ich, wenn ich den
Hof kehre, aus dem Besen jedesmal eine Rute? Und warum bleibt mir bei jedem Schluck vom
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Kaffee die Untertasse wieder an der Tasse kleben? Und warum ekle ich mich so vor der
Milchhaut im Mund? Und überhaupt vor der Milch, wo ich doch, nicht wahr, Mutter, dir
angeblich noch als Vierjähriger überall in Haus und Hof und Flur nachgegangen bin, mit
einem Schemel in der Hand, auf den ich mich gestellt habe, um so im Stehen deine
Muttermilch einzusaugen?« (Zu mir hin) »Schau nicht so blöd, du Neffe! So etwas ist
möglich!« (Wieder im Kreis) »Warum all der Ekel in mir, der ständige Ekel?
Familienkrankheit, oder bloß meine eigene? Ekel vor dem Morgengrauen. Ekel vor der sich
duckenden Katze. Ekel vor dem eigenen Namen — überhaupt einen Namen zu haben.
Ekel vor dem Loch zwischen den Rippen des Gekreuzigten, von der Lanzenspitze des
römischen Soldaten. Ekel vor der Berührung des Sonntagsrockärmels hier auf meinen
Handrücken. Ekel vor der haarlosen Wulst und Ritze zwischen den Beinen des angebeteten
Nachbarmädchens. Ekel vor den Wahlplakaten mit den Monstern, die einander befetzen. Ekel
vor Weihnachten. Ekel vor dem schwanzeinziehenden geliebten und als Kadaver dann
beweinten Hund. Ekel vor dem Geruch der nassen Hühnerfedern. Ekel vor der Fremde, schon
vor all den fremden Wegen nach dem heimatlichen Dreieckkreuzweg am Dorfende, Ekel
allein schon vor dem Nachbarkorridor, dem Nachbarstall, der Nachbarlaube, wo die
Weintrauben doch um einiges süßer sind als bei uns daheim. Und gesteigerter Ekel vor dem
Nachbarort, und erst recht dann vor der Nachbartalschaft, wo der Dialekt ein klein wenig
anders ist als bei uns — Ekel, unbeschreiblicher. Und nicht mehr zu steigernder Ekel vor der
nächstgelegenen Stadt, und so von einer Stadt hierzulande zur andern. — Seltsam freilich, daß
mein Ekel Halt macht jedesmal an den Grenzen, auch bloß in Gedanken an die. Das andere
Land, gleichwelches: Ekel undenkbar, ich ekelfrei. — Und so wie der Ekel vor dem Raum, so
auch vor der Zeit, eher vor den Zeiteinheiten, der Stunde, der Woche, dem Monat, dem Jahr,
vor allem dem Jahr, und womöglich noch ärger vor der Minute, allein schon vor dem Wort—
Mi-nu-te ... — Und wieder seltsam, daß der Ekel sich kaum bemerkbar macht vor dem Tag,
und völlig verschwindet vor der Nacht, und fast Sehnsucht wird vor dem Ostertag, dem Tag
der Auferstehung, und noch stärker in den Nächten vor Weihnachten, vor dem Tag der
Geburt, und daß ich mich dann nach einer anderen Zeitrechnung, nein, nicht >Rechnung<,
Ekel vor jeder Rechnung, vor den Zahlen überhaupt — daß ich mich nach einer anderen Zeit
sehne. — Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, und jeder Schritt wird
Unermeßlichkeit.
Ekel vor meiner ewigen Sehnsucht. Und Ekel vor meinem, unserem ewigen Heimweh.
Heimweh nach der Sitzbank vor dem Haus, nach dem Räuchergeruch in der Speisekammer,
nach dem Apfelgeruch im Keller, nach dem Angeschautwerden von der Mutter, nach den
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Schimpflitaneien des Vaters, länger als je die Allerheiligenlitanei in der Kirche, und je länger,
je lieber, Heimweh, vermaledeites, nach dem einen Auge meines einäugigen ältesten Bruders,
nach den Prahlereien frisch aus den Liebesnächten des anderen Bruders, nach dem Geraune
und Geraunze der düsteren Schwester, Heimweh, elendiges, nach dem Singen der hellen
Schwester — auch wenn ich mir jeweils die Ohren zuhalten möchte, wenn sie dann
wirklichwahr mit ihrem Singen anfängt. Heimweh, kaum außer Haus, nach Haus und Hof und
Familie. Elendiges, ekelhaftes ewiges Heimweh! — Warum habt ihr mich bloß Benjamin
genannt? Ewig muß ich der jüngste sein. Warum nicht Hans? Lukas? Absalom? Mein Name,
mein Gefängnis. Absalom! Absalom!«
Und wieder das allgemeine Innehalten. Dann ein Gesang, von dem ich erst mit der Zeit
bemerkte, wer ihn angestimmt hatte: des Vorredners Schwester, meine blutjunge Mutter.
Obwohl ihr Singen, und auch, was sie sang, nicht so trübsinnig war, wie ich es befürchtet
hatte, hielt ich mir zunächst unwillkürlich die Ohren zu, nach dem Vorbild ihres kleinen
Bruders, von dem ich im übrigen nicht nur den Widerwillen gegen ein gewisses Singen geerbt
zu haben scheine. Ob er und ich dann im Laufe der Begebenheiten von selber die Hände von
den Ohren genommen haben, oder ob sie ihm von jemandem heruntergeschlagen worden
sind, worauf auch ich . ..: ich kann mich jetzt, im Licht des heutigen Tages, nicht mehr
erinnern. Wessen ich mich entsinne: daß wir beiden, Benjamin und ich, zumindest beim
Anheben des Lieds, als die entschiedenen Nichtsänger unserer Sippe wirkten, als Verstockte.
Seltsam, daß sich mir dabei die Strophen des Jungmutterliedes Wort für Wort eingeprägt
haben:
»Das Jahr neunzehnhundertsechsunddreißig war unser glückliches Jahr. Es war ein Jahr von
Sonne und Schnee. Sonne und Schnee, und das war schon die ganze Geschichte.
Bistheimgekehrt, Bruder, aus dem anderen Land und hast mir das andere Land mitgebracht.
Hast mir den Stolz auf unsere Sprache beigebracht: Sonne und Schnee. Hast aus unserer
Keusche ein Anwesen gemacht, und aus unserem Hühnerdreckhof eine Hofstatt, und aus
Haus und Hof eine Liegenschaft, hast Haus und Hof und Feld zusammengedacht zu unser
aller Grund: Sonne und Schnee.
Im Jahr neunzehnhundertsechsunddreißig ging ein großes Jammern hier durchs Land. Die
Nachbarin heulte vor der leeren Vorratskammerwand, der Nachbar knirschte mit den letzten
Zahnstummeln, die Nachbarskinder nährten sich von Maikäfern, Erdäpfelschalen und
Hummeln. Ein Volk von Knechten mit Hungerlohn, von Arbeitern ohne Arbeit, von
Freigelassenen ohne Freiheit, von Wählern ohne Wahl, von Unbezahlten ohne Zahl, von
Feinden innerhalb der friedlichsten Gemeinden. Und Obdachlose vom Obdachsattel bis
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Montafon, aus dem Sattel Geworfene von der Walhalla bis nach Gralla, Alteingesessene nur
noch in den Gefängnissen, Schlägereien selbst bei den Begräbnissen, fortdauernd der
Bürgerkrieg das ganze liebe Jahr, lang nach dem kalten zwölften Februar.
Das Jähr neunzehnhundertsechsunddreißig war unser glückliches Jahr. Es war ein Jahr von
Sonne und Schnee. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Während mein einer Bruder
uns jenseits der Grenze das Land und die Sprache fand, zog mein zweiter Bruder Werktag für
Werktag mit unserem Vater von Bauer zu Bauer, quer über die Sau- oder Bleialpe als
minderjähriger Wanderzimmermann und Sonntag für Sonntag von Witwen- zu Witwenbett
als Schaut-her-was-ich-alles-kann. Und während mein einer Bruder uns hier die Brache mit
Obstbäumen umheckte und sich und uns, hört, zum ersten Mal in unserer Geschichte, die
Freiheit, hört, sie, die Freiheit, absteckte, ließ mein jüngster Bruder nichtsahnend sich
internieren, um in einer sogenannt höheren Schule als erster von uns unsere Unkultur zu
verhexen, und was geschah dann? Umgehend heimgeflüchtet aus dem Heim, nichts wie heim
aus dem Griechischen, dem Lateinischen, heim aus dem Deutschen, gleich heim in den Stall
zu den seichenden, furzenden, scheißenden Tieren, nichts wie heim in den heimischen Dialekt
und zu seinen Lauten aus dem Land namens Ur, unbeleckt von jeglicher Geisteskultur.
Den Stall auszumisten, wurde dann seine Lust, und in der stockdunklen Rauchküche zu sitzen
und auf die Räucherwürste zu spitzen, wurde unserm Jüngsten dann zum Ersatz für die Zitzen
der Mutterbrust. Und das war nun die ganze Geschichte. Neunzehnhundertsechsunddreißig:
unser glückliches Jahr. Ein Jahr von Sonne und Schnee —«. Ins Wort gefallen ist ihr hier ihre
finsteräugige Schwester: »— und von Weh, und noch einmal Weh. Und Fliegen zuhauf, nicht
bloß auf den Augen des Ackergauls. Dein eines Auge hast du so verloren, Gregor, in deinem
glorreichen Jahr, nicht wahr? Und deine Braut hat dich verlassen in diesem Jahr, aus mit dem
Paar, nicht wahr? Und keine Frau weit und breit, welche unser Einauge mehr angeäugelt hat
nach dem Jahr, für immer aus mit dem Paar, nicht wahr? Und der Blitz, der in den
Volksempfänger gefahren ist:
aus mit der Volksmusik. Und die Jauchengrube, in der du um ein Haar ertrunken wärst:
typisch Nichtschwimmer, tipien neplavalec. Und die Dachlawine, die deiner Lieblingskuh das
Genick gebrochen hat: und du? Nicht versichert, typisch. Ein Jahr von Sonne und Schnee, ein
Jahr wie jedes andere, ein Jahr von Jauche, Unglück und Weh.«
Ob an dieser Stelle wieder ein Innehalten erfolgt? Mir scheint zumindest, aus einem solchen
heraus komme die folgende Stimme mir zu Ohren, wobei eingangs wieder nicht deutlich wird,
wer der Sprecher ist. Ah, es ist der Angesprochene, der Einäugige. Er ist es, der antwortet:
»Und doch war das unser glückliches Jahr, wenn auch unser einziges. Danach gab es nur noch
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ein paar glückliche Tage, nein, einen einzigen — immerhin. Und unser glückliches Jahr, es
fing nicht erst an mit dem von euch allen gemeinsam umkränzten Haustor bei meiner
Rückkehr aus der Obstbauschule in Slowenien, und es hörte schon gar nicht damit auf. Mitten
im Sommer war das, zwischen Fronleichnam und Mariä Himmelfahrt, nach der zweiten
Mahd, wenn kaum mehr welche Wiesenblumen blühen, und trotzdem habt ihr, hast auch du,
noch Blumen gefunden, gottweißwo, und sie in den Torkranz geflochten.
Unser Sippentriumphbogen. Ja, meine Lieblingskuh, >und so weich zu melken!<, das hast du
selber gesagt, wörtlich. Und der Hausmost alsdann, die erste Pressung, Äpfel und Birnen
gemischt, der säuerliche Jakob Lebel mit der süßen Angoulemka, genannt nach der
Königstochter aus Angoulème in Frankreich, der Zar-Alexander-Apfel — da habt ihr euren
Zaren und Zimmermann — mit der Guten Luise von Avranches, die grünhäutige,
weißfleischige Magdalenenbirne mit dem speziell dickbäuchigen Scheckigen Kardinal.
Und das novemberliche Sauschlachtessen alsdann, die Sau verstummt und abgebrüht, der
Schnitt in ihren Rücken, und wie der weiße Speck zum Vorschein kam, fünf, sechs Finger
dick, und dazu der von der Mutter auf den Herd gestellte Topf mit Sauerkraut, und ihr Ruf:
>Kommt!<, und wie wir alle dann um den Mund herum und auch sonstwo fettig waren, und
wie wir auch dem Nachbarn etwas von dem Segen brachten — womit es freilich bald danach
aus war, keiner dachte mehr an den Nachbarn, wenn im Haus gefeiert wurde, und bald war
ohnedies nichts mehr zu feiern. Glückliches Jahr bis noch in den nächsten späten Frühling
hinein, oder? Ostern: daß doch immer Ostern wäre, oder? Und daß wir zum Essen, wie
damals zu Ostern, immer noch >Segen< sagen könnten, und daß >himmlisch< nicht bloß so
ein Wort wäre. Und die erste Mahd alsdann: Wie in aller Herrgottsfrühe unterwegs zu den
Wiesen jeder von uns mit der Sense der erste sein wollte, und wie wir dabei — das gibt es
auch schon längst nicht mehr, nicht einmal das Wort — wie wir dabei — jauchzten, nein,
juchzten, und beim Arbeiten dann sangen: >Mrzla rosa, ojstra kosa, rada reze travnike< —
übersetz das deinem Bankert, Schwester.« (Was meine Mutter unverzüglich befolgt:
»Kalter Tau, scharfe Sense schneidet gern die Wiesen«). »Wo gibt es das denn noch, ein
Jauchzen? Ein Juchzer? Wie heilig in jenem Jahr auf unseren Liegenschaften alles doch
verrichtet wurde. Und wie alles, was das Herz begehrte, daheim erzeugt wurde. Hast du nicht
selber, Finsterschwester, mich ja einmal >Königsbauer< genannt?«
Und was hat die Angeredete geantwortet?: »Einaugbauer, sei‘s drum. Und was du da hast
verkündet: das falsche Evangelium, die falsche frohe Botschaft. Wenn ich mich jetzt davor
bekreuzige —« (sie tut das) — »— so nicht vor Gottes Namen, dem Wort Gottes. Die Arbeit
heilig verrichtet? Daß ich nicht lache.« (Sie lacht so freudlos, wie ich das in unserer Familie,
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und nicht bloß da, allein von ihr im Gedächtnis habe — hat sie überhaupt gelacht?) »Eine
Zeitlang im Jahr haben wir ja noch alle zusammengearbeitet. Aber wie hast du da fluchen
können, hast mit deinem Fluchen sogar unsern weithin fluchberühmten Vater in den Schatten
gestellt. Nicht bloß geflucht hast du, sondern verflucht, verwünscht, verdammt:
Verfluchte Sonne, verfluchter Regen, verdammter Steilhang, mitsamt den Weizengarben in
der Wegkurve umgestürzter Leiterwagen: verdammt sollst du sein, und dazu das Pferd, und
die verfluchte Wegkurve, und überhaupt die ganze gottverlassene Gegend. Es hat genügt, daß
dir ein Apfel auf den Kopf gefallen ist, und du hast den ganzen Baum mit Ausreißen bedroht.
Hast deine Stiefel nicht von den Füßen bekommen, und dafür den Stiefelknecht zerschmettern
wollen. Ein Pfropfreis ist dir vertrocknet, und du hast es in Grund und Boden verdammt, und
darüber hinaus die heimische Erde und Luft, undsoweiter, bis zur Welt und zum Weltraum im
ganzen. Es stimmt schon, daß du der Friedlichste unter Tausend warst. Aber du konntest eben
auch anders sein, ganz anders, und das hast du später im Krieg der Welt ja auch bewiesen.
Süß war dir das Arbeiten, ja. Aber im Handumdrehen konnte es dir sauer werden, sauer der
Schweiß statt schön salzig, das selige Dahintun auf einmal unselig. Und mit deinem
Umschlagen vom Begeistertsein zum Vermaledeien hast du allen um dich herum Angst
gemacht. Über das Fluchen unseres Vaters haben wir, heimlich zumindest, lachen können, vor
deinem Verfluchen hätte ich mich jedesmal verkriechen mögen, ich habe mich davon
mitgemeint und mit- verflucht gefühlt. Begeistert war ich von dir, und entgeistert hast du
mich, Bruderherz. Und so, in dem Sechsunddreißigerjahr, als sich dann gezeigt hat, daß das
Selbsterzeugte, die Liegenschaft, das Anwesen, das Gut, dein Königshof eben doch nicht uns
alle ernähren konnte, war es mir anfangs sogar recht, von Zuhause weggehen zu müssen, in
die Fremde, als Dienstmagd. Und was für Segen bekamen wir Hundertschaften, wir
Hekatomben von Mägden und Knechten dazu essen? Hauptspeise: trockene Brotrinden,
übergossen mit siedendem Wasser. Und welchen Most haben wir getrunken? Die erste
Pressung? Ein Witz. Die zweite, bei der die Obstmaische noch einmal zerkleinert, mit Wasser
versetzt und dann noch einmal gepreßt worden ist — die gewässerte? Auch ein Witz — die
war für die Gäste.« (Hat sie sich nicht längst vom Bruder weg zu mir oder sonstwem, zu
einem erweiterten Kreis hin gewendet?) »Für uns Springerinnen und Springer, ja, so hießen
wir, so heißen wir Mägde und Knechte, gibt es als Trank die dritte Pressung. Verfahren?
erspart. Geschmack? erspart. Und wo schlafen wir? Irgendwo, in einem Stall, im Stall
irgendwo. — Im Krieg dann, mit den Partisanen im Wald, habe ich mich freilich zeitweise
nach so einem kuhwarmen Stall gesehnt. — Und was haben wir zum Anziehen? Ein Gewand
aus so hartem Leinen, daß es einem ständig in die Haut beißt, als hätten wir Läuse, und
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außerdem haben wir wirklich Läuse. Und was arbeiten wir Springer in die Kreuz und in die
Quer durch das heilige Heimatland denn so Heiliges? Sammeln den heiligen Tau in
Parfümfläschchen zur Ausfuhr nach Übersee? Nein, ausfahren tun wir jetzt in der
Vorkriegszeit höchstens den Mist auf die Felder, für die Saat des Wintergetreides, und
verteilen dann dort den das ganze Jahr über im Stall vom Vieh noch einmal und noch einmal
gepreßten Most, nein, Mist, die dreihundertdreiunddreißigste Pressung, so fest und schwer
geworden, daß wir zum Ausstreuen eine eigene Mistgabel brauchen, eine besonders starke —
und, hört!, gleichmäßig verteilen den heiligen Mist!, auf daß auf dem Roggen- und Weizenfeld keine unheiligen Fenster entstehen — auseinandergegabelt der Mist, und emporgegabelt
die Herzen — heilig, heilig, heilig!«
Und wieder ist jetzt ihr Vater aufgesprungen von der Sitzbank in der Heidesteppe: »Genug
gelästert, Saudirn du, mannslose, Vierzehntageregenwettergesicht,
Holzpantoffelklappergespenst, Leichenbitterin ohne eine Leiche, uns -Jauche-in-die- OhrenTropferin, Herrgottswinkelverpesterin, du mit dem Trauerprofil lang vor dem Trauerfall.« Er
ist allmählich über seine Litanei ins Lachen geraten, worauf wir andern, auch die
Geschmähte, mehr oder weniger einstimmen — bis auf deren Mutter —‚ worauf er sich
wieder faßt, oder so tut:
»Kein Wort von Gott hier bei uns! Daß mir keiner von euch seinen Namen ausspricht, kein
Allmächtiger, kein Barmherziger, kein Heiliger, und schon gar kein Alleiniger! Und keine
Rede von Religion in unserer Mitte, weder so noch so. Das ist weder der Ort für Gottes Lob
noch für Gottes Lästerung, verstanden?! Schon ein bloßes >0 Gott!< oder >Ach, Gott!< oder
>du lieber Gott!< von euch, und ihr —« (er gerät wieder ins Lachen, angesteckt von uns
andern, bis auf ...‚ und seinerseits uns ansteckend, undsoweiter) »— sollt mich
kennenlernen.« Dann von neuem das allgemeine Innehalten. Der Vater, aufgesprungen, hat
sich nicht mehr gesetzt. Jetzt erhebt sich auch seine Frau, meine Großmutter, von der Bank
inmitten des weiten Jaunfelds, nachdem sie ihr Strickzeug eingepackt hat. Und ebenso steht
der jüngste Sohn auf. Wie mir scheint, schicken sich alle zum Gehen. Doch dann höre ich
meine blutjunge Mutter, an die finstere Schwester gewendet: »Aber feiert nicht auch ihr
Mägde und Knechte eure Feste? Feste, wo nicht nur Brotrinden gegessen, nicht nur Most mit
neunzig Prozent Wasser getrunken wird, wo nicht nur die Leinenkleider an euch reiben, wo
nicht nur die Läuse sich in euch zerbeißen, wo nicht nur der Mist schwer wiegt? Bist du nicht
vielleicht die eine, die nie was zu feiern findet, Schwester, die ewig unfrohe Fronfrau?«
Und dann der mittlere Bruder, der eingangs von mir mit »Valentin« angeredete: »Ah, nichts
Anschmiegsameres als eine festfeiernde Magd. Meine liebsten Jagdgründe, die Sklavinnen.
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Mein Vorzugswild. Mein Freiwild. Kein willigeres. Keine mütterlicheren Liebhaberinnen.
Auch die, die mir mit ihren vom Kartoffel-, Verzeihung, vom Erdäpfelklauben, vom
Saufutterkochen, vorn Sauerkrautraspeln beinhart gewordenen Fingernägeln den Rücken oder
sonstwas zerkratzt haben. Selbst die eine, die mir in dem bestimmten Moment in den Mund
gespuckt hat. Und sogar diejenige welche, die was, wie ich mit ihr hinter das Festzeit
gegangen bin, vor meinem Bauch ein Schnappmesser hat aufschnappen lassen. Nichts
Züngelnderes, wenn ich so sagen darf. Rot, hot, wie die Amerikaner sagen. Mit einem Wort:
gottvoll. — Du schaust so neidisch aus deinem einen Auge, Bruder, stimmt‘s?« Und der
Einäugige hat kurz geantwortet mit »Da«. Und darauf der allerjüngste der Brüder, das
Fastkind, an seine düstere Schwester gerichtet: »Von mir aus lästere weiter, Schwester,
unheilige Kümmernis, Schierlingsmunde, Krieglinde, Krampfhilde, Übelheid und Ekeltraud.
Auch ich bin der Feind der Zeit, von neunzehnhundertsechsunddreißig bis
neunzighundertsechsunddreißig, bin gegen die Zahlen und gegen alles Zählen. Nieder mit
dem Jetzt. Nieder mit dem Hier.«
Noch ein Innehalten. Und dann das gemeinsame Aufbrechen, gemächlich. Unwillkürlich
meine Frage, an niemand Bestimmten: »Was habt ihr heute gefeiert?« Antwort, über die
Schulter, des Einäugigen, Gregor: »Unser Hausfest. In unserer Gegend hat es das bisher nicht
gegeben. Ich habe es bei uns eingeführt, nach meiner Rückkehr aus Jugoslawien, wo es slavje
heißt, das Fest des Hauses und der Familie. Heuer feiern wir es zum ersten Mal.«
Darauf die Düsterbraue: »Und, was mich betrifft, zum letzten Mal. Dem sein slavje:
Propaganda. Mit all seinem Propagieren unseres Slawentums und Auf-die-Fahne-Schreiben,
unserer Haus- und Hofsprache als einer Markt-, Stadt-, undnein, nicht Landes-, vielmehr
Staatssprache hat er dem Haus kein Fest beschert, und schon gar kein frohes, sondern den
Zwist. Der mit seinem ewigen Jugoslawien. Seinen höchst- persönlichen Traum hat er,
voreilig, wie er ist, uns allen aufzwingen wollen. Der da ist es, der den Sturm sät zwischen
uns, den hitzigen, herz- und kopfkrankmachenden Südsturm, von jenseits der Karawanken,
den Jauk — wie der sich schon ausspricht, Jauk! —‚ den Jauk, den Krieg.«
Aber wer mischte sich da ein, sorgte, allein mit der Stimme, für eine Art vorläufigen
Friedens? Obwohl weder Gesten noch Mienenspiel mir auffielen, erkannte ich nach dem
ersten Satz, daß es die Mutter der fünf war, die da sprach — so hat sie doch keinen stummen
Part in der Geschichte?: »Gehn wir alle zusammen heim. Es wird bald Abend, und im Herbst
wird es hier draußen schnell kühl. Die Nußschalen im Baum vor dem Haus sind schon fast
alle aufgeplatzt, und die ersten Nüsse sind abgefallen. Ich habe sie uns in einem Korb auf den
Tisch im Eßzimmer gestellt.« Darauf, im allgemeinen gemächlichen Weggehen, einer, oder
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eine (es konnte auch die mit der gerade noch bösen Zunge sein): »Und was gibt es sonst zum
Nachtmahl, Mutter?« Darauf die Mutter, meine Großmutter: »Das frischgebackene Brot,
backo fenwarm, und dazu die eigenhändig frischgestampfte Butter, mit den Wassertropfen
oben auf dem Klumpen.« Einer, oder eine:
»Und das ist alles? Bauchwehessen!« Die Großmutter: »Seichwurst und gekochter Schinken,
mit dem Osterkren —« Einer, eine: »Meerrettich, wie die Deutschen es hören wollen —«
Die Großmutter: »Schweinsbraten mit Erdäpfeln und Bratäpfeln. Kärntner Nudeln —« Einer,
oder eine: »Mit den Maden in der Käsefüllung?« Die Großmutter: »— und dazu Krautsalat
mit Kümmel und Steinpilzsalat in Olivenöl aus Montenegro —« Einer, oder eine: »Nicht für
mich!« Die Großmutter: »Apfelstrudel im Oblatenteig —« Einer, eine: »Wie die Hostien bei
der Heiligen Kommunion, so geschmacklos —« Die Großmutter: »— mit Zimt und Zucker
und Rosinen aus Mazedonien. Halva vom letzten Kirchtag —« Einer, oder eine: »Muß denn
zuletzt bei uns immer noch was Türkisches auf den Tisch kommen? Immer noch
Türkengefahr?« — Die Großmutter: »Halva, übersetzt einfach >Süßes<, beträufelt mit Honig
—« Einer, oder eine: »Hoffentlich nicht aus Attika oder gar Antalya!« Die Großmutter: »—
geschleudert von eurem Vater im Bienenhaus beim Obstgarten.« Einer, oder eine:
»Und was gibt es zu trinken? Hoffentlich nicht wieder nur den ewigen Holler-, Verzeihung,
Holundersaft und den Most, von dem sich einem der Arsch zusammenzieht?« Hier hat in
meiner Erinnerung der Einäugige oder Obstbauer von seiner Mutter das Antwortspiel
übernommen: »Weder Holler noch Most — Apfelsaft, jabolni sok, vom jabolko, das ist Apfel,
Welschbrunner, und, wer will, trinkt mit mir heute einmal vino, Wein, den von jenseits der
Karawanken dort — hier bei uns —« Einer, oder eine: »Bei uns<, sagst du, du?« — Der
Einäugige: »— Ja, bei uns, hier bei uns wächst ja kein Wein —‚ den Wein aus Slowenien,
von Maribor, Ormo, Jeruzalem.« Darauf einer, oder mehrere: »Halleluja!«
Eine tiefstehende Sonne hat von der Seite, oder von sonstwo, über die Heide gestrahlt und die
Gesichter meiner Sippenleute ausgeleuchtet, während sie, wie mir scheint, da und dort
geradezu übermütig sich auf den Heimweg machen. Ein paar Gesprächsbruchstücke sind mir
noch zu Ohren gekommen:
»Abendrot, Morgenkot.« — »Morgenrot, Abendkot.« — »Wer kann mir die Krawatte
binden?« — »Ah, eine Laufmasche!« — »Ich muß noch das Vieh füttern.« — »Morgen zum
ersten Omnibus!« — »Ob wir noch einmal alle so zusammenkommen werden?« (Gesungen)
»Gehn wir auf die Alm, fahr‘n wir übern See . . . « Sie haben dabei einander geschubst,
gerempelt, untergehakt, ein Bein gestellt, getreten, in den Schwitzkasten genommen,
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umschlungen, auf dem Buckel getragen, den Arm auf den Rücken gedreht wie zum Ab
führen.
Und so sind meine Vorfahren abgetanzt, und ich bin auf der weiten Flur allein
zurückgeblieben. Ein paar Schritte bin ich ihnen, glaube ich, nachgegangen und habe dann
meinerseits innegehalten, und dann gerufen: »So bleibt doch. Bleiben wir zusammen. Stand
by me.« Und was sehe ich Bejahrter da? Meine blutjunge neunzehnhundertsechsunddreißiger
Mutter, die als einzelne noch einmal zurückkommt und mir folgendes an den Kopf wirft:
»Hör auf mit deinem Geschrei. Natürlich bleiben wir bei dir, wo denkst du bin? Weißt du
denn nicht, daß wir bei dir bleiben bis ans Ende deiner Tage, und vielleicht noch darüber
hinaus, du Erztrottel? So sind wir allesamt gemacht, und so wird hier gespielt. Aber du, Sohn:
bist du bei uns geblieben? Wirst du bei uns bleiben? Hast du uns nicht immer wieder abtun
wollen? Uns loswerden? So bleib du mit uns. Hast du denn nicht gemerkt, daß du gar nicht
anders kannst, du Obstgartenflüchtling? Daß wir, ob du willst oder nicht, dich führen? Daß
wir dich bestimmen, und nicht nur, wie du zeitweise gemeint hast, zu deinem Unglück, du
Piaukel? Bleib bei uns, denn so bist du gemacht, und demgemäß sind deine Früchte. Und so
dein Spiel, so steht dir frei zu spielen. Du hast im übrigen keine Wahl, es ist dein einziges
Spiel, seit jeher, dein einziger Bauplan. Bleib bei uns, Sohn.«
ZWEI
Und so ist sie dann verschwunden. Und niemand mehr als ich auf der Heide. Ich habe mich
auf die Bank gesetzt, an den Rand. Das Licht hat gewechselt, und Wind ist aufgekommen, ein
leichter, kein Sturm, gerade so stark, daß die 99 Äpfel im Baum in eine schwache Bewegung
geraten sind. So sitze ich lange im gleichmäßigen, kaum hörbaren Wind. So bin oder habe ich
dagesessen. Und irgendwann einmal werde ich, nachdem ich eine Zeitlang die Lippen bewegt
habe, auch laut geworden sein: »Ihr Vorfahren ihr: Ihr macht mir ganz schön zu schaffen.
Wann gebt ihr endlich Ruhe? Wie kommt es bloß, daß ihr fortwährend auftretet? Und das
nicht nur in den Träumen, die, im Unterschied zu den meisten Träumen sonst, wirklicher sind
als je das laufende Datum, sondern auch im Laufe der Tage? Eine ältere Frau mit Kopftuch
fingert an der Kasse des Supermarkts oder wo langwierig das Kleingeld aus ihrer Münzkatze,
und die Großmutter meine klaubt womöglich noch endloser herum in ihrem Sparstrumpf
beziehungsweise -socken. Im Bus oder wo sitzt vor mir ein gar nicht so alter Mann mit einem
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etwas zu kleinen Hut auf dem Kopf, und auch wenn er den Hut gar nicht abnimmt, nimmt ihn
auf einmal dann der Großvater ab, und ich habe klar vor mir wie zu seiner Zeit nie seine
schweißverklebten Haare, die ewigbleiche Stirn mit der Kerbe des Schweißbands, und den
ewiggebräunten Nacken mit der Haut, die gemustert ist von dem Netzwerk, dem überfeinen,
aus lauter Fünf- und Sechsecken — kaum ein Viereck zu erkennen, seltsam, und schon gar
kein Quadrat, seltsam. Im Fernsehen oder wo ein junges Kriegsopfer aus einem arabischen
oder sonst einem Land unterwegs zur Grabgrube: der Jüngste unserer Sippe. In einem irischen
Pub oder wo die Reproduktion eines Gemäldes von einer Meßfeier in einer Farmerhütte, ein
Tisch in den Altar verwandelt, und im Hintergrund der Stube die Kredenz mit den geblümten
Kaffeetassen, daneben der Butterstampfer und zwischen Priester vorn am Altar und Stampfer
hinten unsere Sippe vollzählig versammelt, so vollzählig, wie sie mir zu ihrer Zeit nie vor
Augen gekommen ist, und durch die Reihe alle so stillbegeistert bei der Sache, die Blicke
ausgerichtet auf Altartisch, Kelch, Priester, sogar auf das heilige Buch, wie das den
Erzählungen meiner Mutter ziemlich widersprach, und beim längeren Hinschauen doch nicht,
wieder seltsam. In einem Western oder wo: aufgespielt zum Tanz, und die da tanzen, und wie,
und die da aufspielen zum Tanz, und wie: alles die Unsrigen, auch die Tölpel, auch die
Grämlichen, auch wenn es nicht bloß sieben sind, sondern siebzig. Aber zurück zu den
Vorfahrenträumen: Wie habe ich gesagt — daß die wirklicher sind als sonstwas? Nein,
wirksamer. — Schönes Wort übrigens: wirksam. — Inwiefern wirksam? Gebieterisch.
Inwiefern gebieterisch? Ich soll. Was soll ich? Die Altvorderen überliefern? Zu großes Wort,
und außerdem falsch. Nein, es gibt keine großen Wörter, nur welche am falschen Platz, im
falschen Moment. Die Ahnen hochhalten? Das tue ich ohnedies, aber darum geht es nicht.
Ihnen nachspüren? Sie zu Wort kommen lassen? Sie auftanzen lassen, wie sie vorzeiten
gemalt sind auf dem Stirnbrettern der slowenischen Bienenhäuser? Weiß nicht, weiß nicht,
weiß nicht. Was ich weiß: ich soll. Ein schlechtes Gewissen beschert ihr mir, von Zeit zu Zeit
jedenfalls, Leute. Schlechtes Gewissen weshalb? Wegen meiner Undankbarkeit. Ganz schön
lästig seid ihr mir, Leute, von Zeit zu Zeit. Andererseits: wenn ihr dann eine Zeitlang nicht
auftretet, weder tagsüber noch im Traum, bekomme ich wieder mein schlechtes Gewissen,
dann allerdings so: Was habe ich bloß falsch gemacht, daß ihr mir nicht mehr erscheint? Was
habe ich Böses getan, daß ihr nichts mehr von mir wollt, meine Leute? Was habe ich
verbrochen, daß meine Ahnen mich fallengelassen haben wie einen verlorenen Sohn oder wie
einen stinkigen Erdapfel? Mein Spiel, Mutter? Ohne euch kein Spiel. Wer spielt mit mir?
Kommt wieder. Gebt mir zu tun. Fordert mich. Kitzelt‘s aus mir heraus. Laßt mich nicht
allein in meiner falschen Ruhe.«
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Wie gewünscht, betritt auf das Stichwort hin meine Mutter den Plan, die Heide, die Steppe.
Immer noch sehr jung wirkt sie auf mich, nur ist sie nicht mehr das resche junge Mädchen
vom Land wie in den Vorszenen. »Herausgeschwanzt«, wie man in der Gegend einmal gesagt
hat, kommt sie mir vor, städtisch offene Haare im Gegensatz zu dem Haarkranz gerade noch,
und zu »herausgeschwanzt« paßt auch der Fuchsschwanz um ihren Hals, mit dem Fuchskopf
samt Glasaugen hinten, die funkeln, sooft sie sich im Daherstöckeln
— fast hätte ich gesagt »scharwenzeln« — um sich selber dreht. Ziemlich hoch sind die
Stöckel, und ziemlichen Krach macht sie damit, auch Wind, in dem die Äpfel im
Heideapfelbäumchen buchstäblich losrasseln, als seien sämtliche Kerne in den Gehäusen aus
dem Lot geraten. Oder habe ich mich getäuscht? Und die junge Frau da, die sich nun wie
eingeübt an das Bäumchen lehnt, ist gar nicht die Mutter von mir Angejahrtem, der von der
Bank aufgesprungen ist und einen großen Schritt auf sie zugetan hat? Wie auch immer: Ich
stocke, und dann frage ich: »Wer sind Sie?« Und die Unbekannte antwortet: »Einmal darfst
du raten, Alterchen.« Und ich: »Frau Mutter.« Darauf die Mutter: »Woran hast du mich
erkannt?« Ich: »An Eurer Stimme, Frau Mutter, ohne Akzent und ohne Dialekt.« Die Mutter:
»Das kommt vielleicht vom Theater- spielen seinerzeit, vor dem Einmarsch der Deutschen.
Auch wenn wir bloß eine Laiengruppe waren, und die Stücke, die wir aufgeführt haben, halt
unsere alten Volksmärchen waren, und wir gespielt haben nie in einem Theater, höchstens im
Pfarrsaal, und meistens irgendwo in einer Scheune, was sage ich, in einer Tenne, aber
jedesmal vor voller Scheune oder Tenne, und manchmal bei schönem Wetter auch draußen im
Freien, auf der Wiese, immer vor voller Wiese, oder auch hier draußen auf dem freien
Jaunfeld, beim Apfelbaum, immer vor vollen Äpfeln. Und seinerzeit vor dem Einmarsch war
ja fast fortwährend schönes Wetter.« Und ich: »Frau Mutter: Ich hätte Euch erkannt auch
ohne Eure Stimme, in jeder Verkleidung, als Spanierin mit Ohrringen wie auf der Kaffeedose
bei uns daheim, als Star in einem UFA-Film, als Piratenbraut in einem Film mit Errol Flynn,
als balkanische Braut mit dem Kopf des in der Schlucht gefallenen Geliebten im Schoß, als
Dienstmädchen im Deutschen Reich, als Rächerin, als Gärtnerin, als Mörderin — auch meine!
—‚ und sogar von Grund auf verwandelt, in Gestalt einer buntscheckigen weißbewimperten
Kuh ohne Hörner, verwandelt in einen zerschlissenen Hackklotz, in das Kleeblattmuster in
dem hölzernen Scheißhaus bei uns daheim, in einen Kugelblitz, der einschlägt in unseren
Herrgottswinkel.« — Die Mutter, nachdem wir zwei uns auf die Bank gesetzt haben wie eh
und je: »Wie geht‘s dir, Sohn?« — Ich: »Ich kann nicht klagen.« Die Mutter: »Ja, stimmt,
klagen konntest du schon von klein auf nie. Und was machen die Frauen?« Ich: »Bel pacific.«
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Die Mutter: »Und dein Garten?« Ich: »Bel paese. Nur der Kirschbaum hat zu wenig Sonne,
die Kirschen sind klein und sauer.« Die Mutter:
»Schaust du noch immer so viel Fußball im Fernsehen? Und schreist dabei allein durchs
ganze Haus?« Ich: »Ich schaue keine ganzen Spiele mehr, nicht einmal die Endspiele,
höchstens eine Halbzeit, meistens die zweite. Und schreien tu ich dabei immer noch, nur nicht
mehr im Haus, immer irgendwo in einem Café, mit irgendwelchen Fremden, die tun mir gut,
das tut mir gut. Und immer noch halte ich mit den Verlierern.«
Die Mutter: »Was liest du gerade? Immer noch alle die Nebelkrähen, wo einem das Buch aus
der Hand fällt, weil darin nichts als das Unheil krächzt, das mir schon im Leben genug durch
die Rippen fährt?« Ich: »Seit langem lese ich nur noch Geschichtsbücher.« Die Mutter: »Seit
wann interessiert meinen Sohn denn die Weltgeschichte?« Ich: »Ich lese die Geschichte
unserer Gegend und unserer Leute hier, soweit man die zurückverfolgen kann.« Die Mutter:
»Das ist ja nicht weit ... Und was bringt dir so ein Lesen? Was nützt es dir? Was kannst du
davon gebrauchen?« Ich: »Nützen: nichts. Gebrauchen: sehr wenig. Es macht einen hilflos.
Hilflos, hilflos. Und es bringt mich in Wut.« Die Mutter: »Und was machst du mit der Wut?«
Ich: »Nichts. Hilflos, hilflos. War ich einmal der innige Leser, so bin ich jetzt bei der
Ortsgeschichte der dramatische. Hilflos dramatisch. Denn wie die Geschichte bloß
dramatisieren? Oder doch nicht ganz so hilflos: Ich lese unsere Geschichte und stoße mich
davon ab.« Die Mutter:
»Aber wohin?« Ich: »Woanders hin, vielleicht aufs offene Meer.« Die Mutter: »Oder in einen
Sumpf. In einen Tümpel. In die Jauchengrube, wo du ersäufst. Wie ich sehe, bist du also
weiterhin unterwegs mit deinen Expeditionen an Ort und Stelle, aber hoffentlich nicht mehr
so gefährlichen?« — Ich: »Doch, gefährlichen. So muß es sein, Mutter.« Und wieder das
Innehalten, ein beiderseitiges. Darauf ich:
»Du redest von >seinerzeit< und >damals<, Mutter. Fehlt uns das >Einst< und ein
>Vorzeiten<. Wie kommt das? Was ist das für eine Zeit, da wir zwei hier auf der Bank im
Jaunfeld sitzen? Was für ein Jahr? Was ist inzwischen geschehen?« (Ich zu mir selber: »Ah,
seinerzeit die Fortsetzungsromane in der Kirchenzeitung jeweils mit dem Vorspann: >Was
inzwischen geschah<!«) Die Mutter auf unserer Bank, mit erhobenem Kopf, ohne mich
anzuschauen: »Was inzwischen geschah:
Meine Brüder sind im Krieg für Großdeutschland, das auch bei uns ... bestimmt, alle drei.
Sogar Gregor der Einäugige hat zwangseinrücken müssen, was sage ich, hat für ... Soldat
werden dürfen, als Funker oder was. Jedenfalls darf er noch nicht für sein neues ... Vaterland
mit der Waffe in der Hand ... kämpfen. Er schreibt schöne Briefe nachhause, von Holland, wo
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keine Front ist: Endlich einmal keine Berge, keine Saualpe, kein Obir und keine Koschuta,
keine Karawanken, kein himmelverrammelnder Triglav oder Dreikopf. Ebene nach Ebene bis
ans Meer Das Meer! Das Meer! Und der Himmel über Delft. Und die Tulpenfelder von
Haaaarlem. Und die fetten Kühe. Was für Euter. Holland ist das Land, wo Milch und Honig
fließen!« Sie springt auf und spielt ihren abwesenden Bruder vor: »Und die Freude der
Einheimischen an unseren siegreichen Truppen. Unsereiner kann sich an den holländischen
Freudenschreien und sonstigen Lauten, fern vom Balkan, nicht und nicht satthören. Und erst
die Meisjes, mit so großen Augen, so schönen, daß sie mein Milchauge übersehen, anders als
alle die Mädchen bei uns daheim! Und stellt euch die Freude meinerseits vor, liebe Eltern und
Schwestern, als ich im befreiten Holland bei einem Ausgang ausgerechnet auf den Baum
stoße, der uns auf der Obstbauschule im endlich auch befreiten Jugoslawien als der König der
Apfelbäume beigebracht worden ist, der, welcher den allererstklassigen aller Äpfel trägt, den
Marktführer unter allen Äpfeln, den haarigen, den zotteligen Boskop, den boskopski kosma!
Ja, der Boskop, richtiger >Boskoop< hat, wie schon der Name sagt, zur Heimat Holland, eben
das Dorf Boskoop, und von so einem Baum habe ich hier endlich in Natur stehen und ihn
salutieren dürfen, den kerzengeraden, von keinem Westwind zu biegenden Stamm, und die
Krone, die nach jedem Blitzschlag unverzüglich wieder zur Pyramide auswächst. Und erst die
zotteligen Früchte, die bei uns zuhause sicher noch zotteliger wären, blutrot marmoriert an der
Sonnenseite — die werden weder runzlig von außen, noch faulen sie von innen. Und stellt
euch vor: diese Boskoopski halten durch, sie bleiben dick und fett und marmoriert mindestens
bis Ostern — halten sich vielleicht bis zum Ende des Krieges, do konca vojne!« (Sie
verändert unversehens die Tonlage.) »Nas ne bodo odvadili slovenine. Sie werden uns die
slowenische Sprache nicht abgewöhnen. Weit mehr als früher werden wir nun unsere
Muttersprache ehren. Was uns die Mutter gegeben hat, wird uns niemand entreißen.
Was wir sind, das sind wir, und niemand kann uns vorschreiben:
Du bist ein Deutscher. Kar smo, to smo, nihe nam ne more predpisati: ti si Nemec. Eine
grausame Zeit ist das, und am liebsten möchte ich alles verkehrt machen. >Ein Auge
zudrücken<, sagt Ihr? Das wäre für mich Einäugigen bitter. Wenn ich tot bin, werde ich es
Euch bekanntgeben. Aber unverhofft kommt oft, das ist meine Hoffnung. Verflucht, wie die
Zeit dahingeht — das einzig Gute. Und so grüßt Euch Euer Euch liebender Sohn und Bruder
Gregor.«
Die Mutter wird sich dann wieder zu mir gesetzt haben. Und wieder werden wir dort auf dem
freien Feld innegehalten haben. Schließlich habe ich gefragt: »Du hast den ganzen Brief
auswendig gelernt, Mutter?« Die Mutter: »Ich weiß alle Feldpostbriefe Gregors auswendig,
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und auch die zwei von Benjamin, und auch den einen von Valentin — obwohl da kaum was
zu behalten war. Oder doch? Warum ich mir das angetan habe? Es war ein Wunsch. Und dann
war es eine Lust. Ich habe mir die fernen Nachrichten meiner Brüder vorspielen wollen, wie
die Sagen und Legenden damals aus meiner Laientheaterzeit. Und nicht bloß die Nachrichten
— auch die Sprache der fernen Brüder, unsere Sprache, die nirgendwo sonst gesprochen wird,
unseren Tonfall, der oft etwas ganz anderes sagt als die Wörter, und an dem wir einander
erkennen — der hiesige Tonfall, das ist doch, bei Gott oder wem, unsere kostbarste Art und
Weise. Mit der sind wir bisher noch immer einander gut gewesen, auch wenn sonst nirgends
mehr etwas uns gut war. Es drängt mich, unsere Art Sprechen nach- und vorzuspielen — ob
aus Liebe zu den Meinigen oder zu unserer Sprache: ich weiß es nicht. Nur ist unsere hiesige
Spielweise seit Jahren strengstens verboten, und nicht erst mit dem Kriegsausbruch.
Unsere Laienspielgruppen sind aufgelöst, und im übrigen auch unsere Sängergruppen — was
dir wohl nur recht ist, Sohn: du brauchst für die nächste Zeit bei keinem Chor das Tremolieren
deiner Mutter mehr zu fürchten — dafür gibt‘s inzwischen ganz andere Tremolos, und ganz
anders zu fürchtende . . . « — Und ich: »Noch einmal:
Welches Jahr seit Christi Geburt habe ich mir hier jetzt vorzustellen? Und was noch ist
inzwischen mit den Unsrigen geschehen?« — Und die Mutter: »Sagen wir, es ist das Jahr
neunzehnhundertzweiundvierzig, und wieder ein später Sommer wie vor sechs Jahren, oder
ein früher Herbst, das Getreide, bis auf die Ajda — ah, verbotenes Wort!, verboten unsere
Sprache —‚ den Buchweizen, eingebracht, das Vieh noch auf der Weide. Seit drei Jahren
Weltkrieg, in der Gegend kaum zu spüren, höchstens im Fehlen der jungen Einheimischen —
dafür noch und noch junge Tänzer von anderswo ... Unser Benjamin gemeiner Infanterist im
Osten irgendwo. Aber er hat noch nicht in den Kampf dürfen, gedurft. Auf dem einzigen
Photo sitzt er in Uniform undsoweiter auf einem sogenannten Waffenrad, sozusagen
startbereit, in Wirklichkeit hockt er darauf wie der Affe auf dem Schleifstein — wenn dir
dieser Ausdruck noch etwas sagt.« (Und neuerlich ist die Mutter von der Bank aufgestanden
und spielt den abwesenden zweiten Bruder nach oder vor.) »Dem Benjamin hat der Krieg
bisher nur Gutes gebracht. Er ist, so schreibt er nach- hause, dank des Krieges erwachsen
geworden. Und lichtscheu, wie er früher war, hat er dort oben in der Tundra die Sonne
schätzen gelernt. Nach drei Monaten ohne, schreibt er, ist sie heute zurückgekommen. Der
erste Fleck Sonne, seit dem 17. November. Hurra, die Sonne! Vor allem ekelt er sich rein vor
gar nichts mehr. Milchreis: eine meiner Lieblingsspeisen. Angewachsene Ohrläppchen eines
Kameraden: zum Küssen. Schwimmhäute zwischen den Fingern eines anderen Kameraden:
der Himmel scheint durch. Die Stimme des Feldwebels: Ruf zur Feldmesse. Die Kothaufen in
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der Latrinengrube: Erinnerung an die lustigen Ringelschwänzchen der Ferkelchen daheim im
Schweineställchen. Tages- und Nachtmärsche von fünfzig Kilometern: nema problema,
umgerechnet in Werst sind es entschieden weniger. Überhaupt:
>Werst< sagen können statt >Kilometer<! Dnjepr, Don, Wolga, Amur statt >Gurk, Glan, Gail
und Lavant<! >Voskressenje< statt
>Auferstehung<! Auch Singen freut mich inzwischen. Ich bin in unserem Zug sogar der
Vorsänger, habe beim Essenrequirieren in den russischen Dörfern meine Stimme entdeckt, der
Krieg hat mich zum Tenor gemacht! Und ihr solltet euren kleinen Bruder, den mit den zwei
linken Beinen, einmal beim Tanzen sehen. Ich tanze hier im Felde mit den Mädchen, dass es
nur so kracht. Und kein Mädchen, das unsere heimische Sprache nicht lieber hat als die
übliche im Heer und mich mit — glaubt mir, oder glaubt mir halt nicht. Sonja! Natascha!
Asja! Daran könnt ihr sehen: der Krieg mich zum Dichter hat gemacht. Unsere
Jaunfeldgegend hat endlich den, der ihr seit der letzten Eiszeit hat gefehlt, auch wenn sein
Fehlen allgemein unbemerkt ist geblieben — den Dichter, mich! Wäre es möglich, so würde
ich euch meine Feldpostbriefe alle auf der weißen Birkenrinde schreiben, wo schon die Zeilen
selber ein Gedicht sind.« (Die Mutter wechselt unversehens wieder den Tonfall, liest
gleichsam zwischen den Zeilen.) »An Birken fehlt es uns in Rußland ja nicht. Und schlank
wie Birken sind wir alle geworden. Schlank ist die neue Mode. Marschieren, marschieren, bis
einem weiß vor den Augen wird. Weiß am Tag, weiß in der Nacht, und wieder weiß am Tag.
Marschieren, marschieren, an den leeren Zeilen der Birkenrinden vorbei, an den leeren Zeilen
der Kartoffeläcker vorbei, an den leeren Zeilen der Kraut- und Rübenäcker vorbei, an den
leeren Zeilen der tausend leeren Dörfer vorbei, bis wir vor leeren Zeilen nur noch leere Zeilen
sehn, und auf und zwischen und hinter all den leeren Zeilen kein >Auf<, kein >Zwischen<
und kein >Hinter< mehr, und keine Welt. Ob noch einmal die alte, die gute Zeit
wiederkommt? Ja, die alte, die gute! Und so grüßt Euch Euer Tundrajüngling Benjamin.«
Und dazu dann die Mutter, wie ungespielt: »Ja, ohne den Krieg hätten wir nie einander
geschrieben. Ohne den Krieg hätte ich nichts Schriftliches in der Hand von meinen Brüdern.
Ah, Krieg!
Gelobt seist du, Krieg! Durch dich sind meine Brüder in der Welt herumgekommen.«
Hier ist es dann wieder zu einem beiderseitigen Innehalten von Mutter und Sohn gekommen.
Aus diesem heraus hat sich die junge Frau neben mir ansatzlos aufgeschwungen und ist an
den Rand des Steppenfelds gestöckelt. Und ebenso ansatzlos wendet sie sich jetzt dort an
jemand, zumindest mir, nicht Sichtbaren: »Hail Sick, Herr Obersturmkommandant! Wir
freuen sich, dir zwischen uns zu haben. Gut gewichst sind Stiefel deinige. Prosim, mach,
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damit ich sich aber recht fürchte vor dich, Herr Untersturmwart! Daß ich sich Stürme zu deine
braune Seite! Und daß Heimatschuß deiniger nicht losgeht in Hintenland deiniges! Hitro,
beeil sich, und reich uns deine Hand, bevor vielleicht Volkssturm losstürmen auf der Heide
gegen letzte roza!« Die Antwort läßt nicht auf sich warten — eine Stimme aus der von der
Mutter angesprochenen Richtung, oder von woandersher, die in bestem Hochdeutsch
zurückspricht: »Da hast du deinen Volkssturm, Frau Untermensch: Lern erst einmal deutsch.
Deine Tarnung: perfekt — Respekt. Gekleidet wie Eva Braun und die Frisur von Heidemarie
Hatheyer. Sogar deine Stimme — nicht gerade Zarah Leander, auch nicht Lale Andersen, aber
immerhin — na, mir fällt jetzt der Name nicht ein. Deine Sprache, die hat dich verraten.
Sprache? Daß ich nicht lache. Und rede dich nicht heraus mit dem Nichtwissen vom
Oberbefehl, in der Öffentlichkeit hierzulande ausschließlich deutsch zu sprechen. Wie, du
wagst einzuwenden, das hier sei kein öffentlicher Ort? Du hast die Stirn, dich in deinem
Untermenschkauderwelsch zu suhlen, vor einer deutschen Öffentlichkeit? Über den
Wurzenpaß mit dir. Hauruck, über den Hunsrück mit euch hinnigen hunnischen Hundlingen!
Hinunter mit aich zum Triglav; zum Trigon, zum Trasimener See, zu den Tuareg — daß wir
native speakers unter sich bleiben endlich —«
Die Stimme ist abgebrochen, und da erst habe ich bemerkt, daß, wer da gesprochen hatte,
meine Mutter höchstselbst war, als eine Art Bauchrednerin.
Die junge Frau ist zu mir bejahrtem Sohn zurückgestöckelt, dann aber im Abstand auf dem
weiten leicht geneigten Heideplan geblieben. Ich habe mich über die Schulter zu ihr
gewendet: »Warum machst du den Feind nicht weiter nach, Mutter? Schon die längste Zeit
fehlt mir in unserer Geschichte ein Gegenspieler. Einer, der aufmischt und
durcheinanderbringt. Oder der die peinlichen Fragen stellt. Der nicht bloß das Maul aufreißt,
sondern den Rachen. Und suchet, wen er verschlinge.« Die Mutter wendet ihrerseits den Kopf
über die Schulter zu mir — die Augen des Fuchses und ihre: »Sohn, keine Sorge. Geduld —
die allerdings nie deine Stärke war. Der Gegenspieler, oder die Gegenspieler, sie sind von
Anfang an vorgesehen.« Und ich: »Woher weißt du das?« Und die Mutter: »Ich weiß es nicht,
ich ahne es, mir schwant es. Und mir schwant, daß sie aus unseren eigenen Reihen kommen
werden, aus unserem eigenen Stamm, womöglich aus unserm eigenen Haus. Im Lauf der
Begebenheiten wird dir dies alles klar werden. Kann sein, daß auch ich selber mich eines gar
nicht fernen Tages auf der Gegenseite finde oder mich dorthin verloren haben werde, in
meinem ewigen Übermut und meiner ewigen Fröhlichkeit, die mich seit jeher anstecken, zu
glauben, daß wir alle zusammengehören, und daß wir alle einander gut sind, und daß im
Grund, Krieg hin, Krieg her, alles auf Erden gut ist
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Seltsam: Seit ich lebe, war ich noch keinmal traurig. Hungrig, ja. Halberfroren, ja. Im Wald
verirrt, ja. Vom Hund gebissen, schau, hier, ja. Vom Pferd in die Rippen hier und hier
getreten, ja. Von der Kuh einmal fast zu Tode getrampelt, hier und hier und hier, ja. Von einer
Hornisse zwischen die Augen gestochen und einen ganzen Monat lang blind gewesen, nicht
bloß einäugig, ja. Aber traurig gewesen: noch nie. Eigentlich widernatürlich, oder? Dagegen
meine ewig traurige Schwester, meine Schwester Finsterbraue, ärger als bloß traurig, auch
wenn sie gar keinen Grund dazu hat — freilich hat sie fast immer einen Grund ... Du mit
deinem Frohsinn! fährt sie mich an, als könne jemand Fröhlicher nur ihr Feind sein.
Eine bloße Feindeinbildung? Ja. Aber kann schon passieren, daß aus so einer Einbildung ein
leibhaftiger Feind herausspringt. Möglich, daß ich jetzt und hier geradeauf dem Sprung zum
Feindwerden bin, und nicht allein für meine Düsterschwester. Schon, wenn ich mich im
Spiegel sehe, meinen Aufzug, meine neue Frisur, die Wimperntusche, der Lippenstift ... Der
Feind der Sippe, des Stamms, des Volkes von hier: ich? Wie seltsam, daß nicht einmal dieser
fürchterliche Gedanke mich traurig stimmt. Ich, unser aller Feindin: Horror. Und doch hindert
der keinen Moment meine Lebenslust. Die Lebenslust ist es also, die mich in der Kriegszeit
bestimmt zum Feind? Weiß nicht, weiß Gott. Wie es mich wundert, daß ich nicht traurig bin.
Ob mir im Lauf der Begebenheiten alles klar werden wird?«
Und wieder kommt es zu einem Innehalten. Dann wendet sich die Mutter zu der Stelle, wo sie
zuvor die Stimme gespielt hat: »Derjenige, welcher, den ich mir dort drüben aus dem Bauch
geredet habe, das war kein Feind. Es handelt sich zwar um jemand Tiefbösen. Aber ich erlebe
ihn nicht als unseren Gegenspieler. Er taugt dazu nicht. Er ist unserer Geschichte nicht
würdig. Ja, richtig gehört: nicht würdig! Wenn ich könnte, würde ich ihn einfach nur
auslachen und all dem seine Oberen mit, bis zum obersten Oberen hoch oben in seinem
Jagdhundezwinger im Zwergengebirge. Und die ganze Gegend hier wird bezeugen, daß ich
eine Meisterin im Auslachen bin. Ich habe es damit sogar schon bei dem und jenem probiert.
Doch es hat da nicht funktioniert. Und das heißt was? Es hat den Betreffenden zwar den
Schwanzeinziehen lassen, vorläufig, aber mich selber hat es kaum erleichtert. Ich war also
doch beschwert, ich? Seltsam, wieder. Was man durch Reden nicht alles entdecken kann! Ich
hatte mich demnach mit meinem Auslachen befreien wollen, ich? Befreiend? Nichts da. Und
so ist es dann zum Bauch- reden gekommen. Ungeplant — es fährt jedesmal, wenn die
Fuchtelkaspars mit ihren Schlagstöcken in die Kreuz und die Quer schlagen, mir aus dem
Bauch — der eigentlich für was andres herhalten sollte — ... Bauchreden, Nachäffen, wie das
befreit, in der Einsamkeit! So bin ich also einsam? Seltsam. Was man durch Reden nicht alles
entdecken kann. Nachäffen, als eine Erlösung, momentane. Freilich, wißt ihr: So ein
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Nachäffen bringt nur etwas, wenn es passiert im Vorübergehen. Sowie ich dann absichtlich
weitertue, oder es mir überhaupt von vorneherein vornehme: Sense. Die stumpf bleibt. So
eine Nachahmerei, die bedrückt mich bloß noch mehr. Bedrückung ist also im Spiel, im
luftigen Frühherbst neunzehnhundertzweiundvierzig? Seltsam. Was man ... Ob mir im Laufe
der Begebenheiten noch alles . . . ?« — Die Mutter hat das nur so in sich hineingemurmelt.
Und zuletzt dann, wenn ich richtig gehört habe: »Damals bei unseren Laienspielen kam es
nicht in Frage, jemanden nachzumachen
Es war auch noch nicht nötig, wie jetzt im Krieg, bei all den fremden, bösen, Nagelschuh-,
Peitschenhieb- und Gewehrkolbenstimmen .. . «Innehalten wieder? Dazu bleibt diesmal keine
Zeit. Die Schwester meiner Mutter, die eingangs »Ursula« genannte, kommt nämlich
dahergestürzt, im Aufzug fast einer Schweinemagd, mit den klassischen Holzschuhen
undsoweiter, und fällt die andere Frau, die wie weltstädtisch gekleidete, augenblicks an.
An-den-Haaren-Reißen, Stockschläge — wenn auch bloß in die Luft —‚ Rempeln, Stoßen,
Beinstellen, Zu-Boden- Werfen — all das stumm. Danach erst läßt die Landarbeiterin sich
hören, an die gleich wieder Aufgestandene gerichtet:
»Das dafür, daß du dir einen von denen draußen angelacht hast. Daß du mit einem
Anderweitigen gehst. Während ich im Stroh hinter dem Ziegenstall übernachte, kugelst du mit
deinem reichsdeutschen Ziegenbock durchs Doppelbett des Hotels >Tigerwirt<. Während die
Eltern sich allein zuhause abschuften, am Rand der Erschöpfung, am Rand der Verzweiflung
über die drei ins Dritte Reich zwangsrekrutierten Söhne, sitzt ihr zweisam im Strandbad Mitte
und schaut eurem zweisamen Zigarettenrauch nach, wie er von euren zwei Zigarettenspitzen
hinaus auf den reichseigenen Wörther-, Ossiacher, Turner- und Keutschacher See segelt.
Während unseren Brüdern dort draußen in Holland, dort droben in Norwegen; dort drüben in
Rußland nicht bloß das Reden, sondern auch das Singen in unserer Sprache, das noch ganz
anders lebenswichtige, das nothelferische, untersagt ist, unter Arrestandrohung verboten des
einen Bariton, des zweiten Tenor, des dritten Baß, trällert ihr zwei Hübschen drinnen am
Tisch des Offizierskasinos die Habanera, und du flötest ihm den weißen Holunder an sein
angewachsenes Ohrläppchen, und er schmachtet und schmatzt und speichelt dir seinerseits
seinen weißen Flieder durch deine Fetzen durch bis auf die Haut. Wie hast du bloß so
vergessen können, wer du bist? Wer wir hier sind? Was wir darstellen? Was unser Platz ist
auf Erden? Du hast uns verraten? Schlimmer: Du hast uns vergessen, schöne Schwester!
Suchst die Liebe wie eh und je in einer fremden Sprache, in einem andern Land. Warum nur?
Warum?«
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Während die Dienstmagdschwester so redet, sind die Eltern, meine Großeltern, aus dem
Hintergrund auf den Plan getreten, im ländlichen Arbeitsgewand diesmal, Schürze,
Gummistiefel, undsoweiter. Sie sind ums Kennen älter geworden, und erscheinen inzwischen
ungefähr gleich alt wie ich, der Enkel. Der Großvater hat in jeder Hand einen Brief,
offensichtlich Feldpost, offensichtlich ungeöffnet. Die beiden haben still zugehört. Was sie da
hören, scheint neu für sie. Entsprechend kommt es dann vom Vater: »Stimmt es, was deine
Schwester da sagt? Ist es wahr, daß du mit einem von den anderen gehst?« Und darauf die
Frau mit dem Fuchs: »Ja, ich gehe mit einem anderen. Und er geht mit mir.« Der Vater: »Was
soll das heißen?« Die Tochter: »Ich liebe ihn. Und ich glaube, er liebt mich auch.« Der Vater:
»Du glaubst. Die Liebe! Das Wort will ich nicht gehört haben. Noch niemand hat bisher bei
uns hier von Liebe geredet. Und solange ich zu bestimmen habe, soll auch niemand hier so
ein Wort in den Mund nehmen dürfen, Liebe nicht und nicht ljubezen.« Sie:
»Dann, liebe Mutter, lieber Vater, sag ich es halt anders —« Und sie knöpft ihren weiten
Straßenmantel auf: kräftig vor- gewölbter Bauch. Worauf Vater und Magdschwester
zurücktreten, während die Mutter, meine Großmutter, vortritt, stumm, und ich? bin von der
Bank inmitten der Heidesteppe aufgestanden, ebenso stumm. Worauf die Mutter — meine —
mich näherwinkt: »Wolltest du dich nicht immer gefilmt sehen, Sohn, im Rücklauf, als
Heranwachsenden, als Kind, als Säugling und zurück noch vor deiner Geburt? Da hast du den
Film. Schau, da in meinem Bauch: du!« Worauf ich schaue. Worauf die Schwangere mich
auffordert: »Leg deine Hand drauf!« Worauf ich zurückzucke. Worauf der Großvater sagt:
»Ja, wenn das so ist . . . « Worauf die Düsterschwester fragt:
»Wann ist das passiert?« Worauf meine Mutter antwortet:
»Passiert? Im späten Frühling. Vigredi. Zwischen Flieder- und Holunderblüte. Zwischen
Mitternacht und vier Uhr früh. Im >Tigerwirt<, oder wo wir gingen und standen. Die Liebe:
meine Bestimmung. Und etwas Schöneres als meinen Bauch hat unser Jaunfeld nur zu allen
heiligen Zeiten gesehen!«
Darauf von neuem das allgemeine Innehalten. Und dann setzt sich der Großvater zu mir auf
die Bank und winkt auch der mit mir schwangeren Tochter, sich zu setzen. Er öffnet den
einen Brief und gibt ihn ihr zu lesen. Sie sagt zuerst den Namen des Absenders: »Valentin.«
Und erst, nachdem sie den Brief für sich still gelesen hat — er ist nicht gar lang —‚ liest sie
ihn der Restsippe vor, diesmal ohne die Stimme des Bruders zu spielen oder zu sein, mit dem
Vorspruch: »Seltsam: Der große Weiberheld ist der einzige unserer Brüder, der nichts von
einer Kriegsbraut schreibt.« — »Ihr lieben Angehörigen! Es geht mir blendend. Aber ich weiß
eh, daß Ihr Euch keine Sorgen um mich macht — wenn, so wärt Ihr übrigens die einzigen, ich
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selber habe mir noch nie Sorgen um mich gemacht, weiß gar nicht, was das ist, eine Sorge, in
unserer Stallsprache ein hart in den Ohren klingendes Wort:
skrb, otrok ga skribi er sorgt sich ums Kind —« Die Vorleserin unterbricht: »Das hat der
Zensor durchgestrichen, aber wenn man‘s weiß, ist es noch lesbar.« Und sie liest weiter:
»Mir kann nichts geschehen, das war mir schon von klein auf klar, damals, als der Blitz
eingeschlagen hat in die Tenne, und später dann, als der Heimwehrmann oder was der halt
war, vielleicht war‘s ja bloß ein eifersüchtiger Ehemann, auf mich geschossen hat. Wo wir
sind —« Wieder unterbricht sie: »Der Brief ist im Frühsommer geschrieben, war zwei Monate
unterwegs«, und liest weiter: »Wo wir sind, scheint noch um Mitternacht die Sonne.
Mein Problem sind die Mücken, mein Blut schmeckt ihnen wohl besser als das der
Kameraden. Mit den Eisbären ist erst im Winter zu rechnen, aber Du weißt ja, daß ich ein
geborener Jäger bin. Die Engländer halten noch still, was von ihnen zu uns herüber kommt,
sind nur die Namen ihrer Fußballmannschaften, die mir übrigens helfen, wenn ich nicht
einschlafen kann: Aston Villa — Wolverhamp ton Wanderers — Tottenham Hotspurs —
West Bromwich AJbion — Leeds United — Manchester United — Red Stars Newcastle —
Partisan Belfast . . . « Die Vorleserin: »Auch da hat der Zensor geschwärzt, und ich hoffe, ich
habe die Namen nicht ganz falsch entziffert.« Sie liest zuende (wie zwischen den Zeilen?):
»Wie langweilig ist der Krieg — vor allem langweilig. Jeder Tag gleich. Kein Sonntag, kein
Feiertag. Wieviel Nützliches könnte zuhause geleistet werden, das dem Land ganz, ganz
anders zugute käme. Heimkehren, Arbeiten! Wie sehne ich mich nach einer ordentlichen
Arbeit, statt mich zu langweilen bis zum Endsieg! Du fehlst mir, Schwester. Dir habe ich
immer alles erzählen können. Aber diese Zeit kommt wieder. Und ich komme wieder als
Millionär. Heil Euch, Heil Dir, Nordlichtsohn Valentin —«
Innehalten. Alsdann öffnet der Großvater den zweiten Brief und reicht ihn meiner Mutter zum
Vorlesen. Sie fängt wieder für sich zu lesen an und unterbricht sich gleich: »Seltsam, da
schreibt ja gar nicht Benjamin selber —< Und dann läßt sie nur noch etwas wie einen Japser
hören, einen Laut, wie solche Laute, ob des Schreckens, des Abscheus oder auch der Freude
und des Entzückens, überhaupt eins der gemeinsamen Familienmerkmale gewesen sind. Und
so antwortet auch jetzt dem Japser meiner Mutter ein ganzer Chor, Großvater, Großmutter,
Schwester, und sogar ich Ungeborener japse mit. Und dann steht die Schwangere auf und
entledigt sich ihrer Schuhe und ihres Mantels, die sie dahin und dorthin schmeißt, weit weg,
außer Sichtweite. Und in der Folge steckt sie, geradezu zeremoniös, ihre Haare auf, so wie die
am Anfang waren. Und der Brief? Ich erinnere mich nicht — vielleicht bin ich aber, mit dem
Japsen, momentweise blind geworden? Was ich dann sehe: den Brief in der Hand der
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Magdschwester. Und was ich von ihr höre: »Ich hab‘s gewußt.« Hat sie den Brief dann
vorgelesen? Mir scheint, nur in Bruchstücken: »... bis zum letzten Atemzug, tapfer vor dem
Feind ... Feind ... hat nicht gelitten ... für Fürer und Fatalant ... werden ihm ein ehrendes
Andenken bewahren ... die Feindeserde sei ihm leicht ... laiht ... laiht ... laiht . . . « Und
daraufhin? Wieder ein gemeinsamer Sippen- oder gar Volkschorlaut — und ich wieder mit
dabei —‚ jetzt freilich kein Japsen, vielmehr etwas anders Einsilbiges, zwischen einsilbigem
Gewimmer und Geheul, für auf Trauerkultur eingespielte Ohren unschön anzuhören, an der
Peinlichkeitsgrenze, aber so war es nun einmal bei uns, und so ist es, und außerdem ist unser
Volkschor nach dem einen Laut gleich wieder verstummt.
Wer läßt sich danach, nach dem Bruchteil einer Minute oder eines ganzen Jahres, als erster
hören? Der Großvater, und wenn er im Lauf der Begebenheiten bisher eher in sich hinein
geflucht hat, so flucht er jetzt erstmals aus sich heraus: »Verflucht sollen sie sein. Daß die
Deutschländer alle der Schaitan hole, vom Arnulf bis zum Ziegfried, von den Anneliesen bis
zu den Zieglinden. Daß Deutschland, Deutschland nichts und nichts wird in der Welt. Von der
Maas bis zur Memel nichts und nichts und noch einmal nichts, und dazwischen da und dort
ein vertrockneter Mäusedreck, ein Bandwurm in einem Nachttopf, eine verrostete Türklingel
in einem kaputten Zahnputzglas im schmutzigen Schnee. Nie wieder jemand Deitschen sehen
mit seinem deitschen Schädel, seinem deitschen Gestell, mit seinem deitschen Knochenbau,
mit seinem deitschen Scheitel im Haar, mit seiner deitschen Fahrrad- klammer um das
deitsche Hosenbein, mit seiner deitschen Schuhgröße für seine deitschen Haxen. Nie wieder
jemand Deitschen hören, mit seiner Luftzerhackersprache, mit seiner Eintongabelstimme, mit
seinem Trommelfelldurchstoßbrüllen, mit seinem sonoren Kreidefreßwolfsäuseln. In der Luft
zerrissen sollen die Deutschen werden. Von den Marsbomben verschüttet. Im Feuersturm
endlich mit einem Schatten, ihrem ersten, ihrem letzten.« Und er tut dann einen großen Schritt
auf seine schwangere Tochter zu: »Und verflucht sei der Liebeswurm in deinem Liebesbauch.
Verflucht sei die Frucht deines Leibes. Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen,
verflucht sei der Name des Herrn in Ewigkeit!« Und er hat dabei ausgeholt wie zum Schlag,
und ich auf der Bank — habe ich mich geduckt? bin ich zurückgezuckt? Und meine Mutter?
Hat sich nicht von der Stelle gerührt, hat nicht mit der Wimper gezuckt.
Es war die Großmutter, die ihren Mann dann zur Ordnung gerufen hat, indem sie ihm den
Arm auf die Schulter legte und sagte: »So ist Benjamins Taufkerze jetzt also zur Totenkerze
geworden. Laßt uns nachhause gehen und sie anzünden. Außerdem muß das Vieh im Stall
gefüttert werden, und die Eier im Heu gehören eingesammelt, bevor der Iltis sie aus saugt.
Ah, wie ungeschickt er war. Als Ministrant bei der Heiligen Messe hat er die
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Weihrauchschüssel umgeworfen und bis zum Schlußsegen die einzelnen Körner eingeklaubt,
und dem Pfarrer den Wein neben die Finger gegossen, und die Glocke zur Wandlung des
Brots in den Leib Gottes nicht zu läuten aufgehört, bis über das Vaterunser hinaus zum Agnus
Dei. Und wieviel Kraft er dabei hatte in den Händen. Erinnerst du dich, wie du ihm einmal
den Riesenschlüssel gegeben hast zum Aufsperren des Mostkellers? Zwar hat er die Tür nicht
aufbekommen, aber den Schlüssel mittendurch gebrochen, so stark war er. Ungeschick läßt
grüßen? Ja, jetzt gerade grüßt es, nicht wahr?« Die Großmutter und ihr Mann setzen sich
langsam in Bewegung, weg von der Heidesteppe, heimzu? Dabei fährt sie weiter fort: »Das
Brot ist noch im Backofen, es darf nicht schwarz werden. Und einmal war er ein Zwerg im
Schultheater und ist das ganze Stück nur dagesessen im Schneidersitz und hat nichts getan als
genäht, und sich dabei dauernd gestochen, und danach hat er gesagt: >Das war, weil die
Mutter zugeschaut hat!< Seinen Feiertagsrock im Kasten auf der Galerie überm Hühnerhof:
den soll der da —« (sie zeigt auf mich) »— bekommen, wenn er soweit ist, nach dem Krieg
einmal, und auch die Firmungsuhr, nicht wahr? Schau doch, dort läuft ein Hase, im Zickzack.
Und wie schön die Wolken sind, mit einem Goldrand wie auf dem Altarbild in der
Pfarrkirche. Und das Gras ist schon naß, vom Abendtau. Ja, eine Seite ist ausgerissen aus dem
Buch unseres Lebens, ratsch. Ich kann nicht glauben, daß er tot ist. Gott liebt es,
zurückzukehren, hat der Pfarrer in der letzten Predigt gesagt. Ob das stimmt? Und morgen ist
Sonntag. Vergiß nicht das Kartenspiel am Nachmittag. Königrufen! Es riecht nach Herbst.
Riechst du ihn auch?« — Darauf ihr Mann: »Du mit deiner ewigen Versöhnlichkeit. Mit
deinem Friedenswahn. Friede auf Erden? Unmöglich.«
Inzwischen haben sich in gleicher Weise die zwei Schwestern auf den Heimweg gemacht.
Und wieder hat das allgemeine Abgehen etwas von einem Tanz, einem — wenn es das gibt —
der Trauer. Am Rand des Felds angelt die Düsterschwester sich den von meiner Mutter
weggeworfenen hellen langen Straßenmantel und zieht ihn sich über ihr Magdgewand, und
sagt dazu: »Das wird mein Tarnkleid sein. Unsichtbar werde ich damit sein, im Winter, in den
Wäldern, den unsrigen!, in den Bergen, den unsrigen!, im Schnee.« Die Mutter darauf:
»Das heißt also —« Ihre Schwester: »Ja, das heißt es. Ich ziehe in den Krieg. Ich gehe in den
Krieg. Ich purzele in den Krieg, in den meinen, in den unsrigen. Eine von unsern grünen
Kadern in den Wäldern der Petzen, des Kömmel, des Ursulabergs.« Meine Mutter dann: »Es
ist aus mit meiner Freude. Nie wieder werde ich mich freuen.« Und darauf ihre Schwester:
»Bist du sicher? Du — ohne Freude?« Und darauf — beide sind schon außer meine
Sichtweite geraten — noch die Mutter: »Ja ... nein ... ja!«
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DREI
Und wieder bin ich als einziger auf der Bank inmitten des Jaunfelds zurückgeblieben. Wind,
ums Kennen stärker als bei meinem ersten Alleinbleiben. Von den 99 Äpfeln etwas wie ein
Klirren. Irgendwann bin ich ins Erzählen gekommen. Zuerst rede ich dabei eher in mich
selber hinein. Und erst in der Folge fange ich an, mich zu äußern, klar und deutlich — soweit
jemand wie ich dazu fähig ist. Beinahe gerate ich mit der Zeit sogar in ein Verlautbaren, für
Momente vergleichbar einem Nachrichtensprecher, oder spiele das eher, so wie ich mich
zunehmend verspreche, verplappere, verstottere, immer wieder steckenbleibe. Und so sage
und spiele und stottere ich: »Grüne Kader<: >Grün< ist ja klar — der Wald, die Wälder. Aber
>Kader<: Sind die nicht etwas Höheres? Offiziere? Kommandeure? Soweit mir bekannt ist,
waren diejenigen, die sich selber mit dem Namen >Grüne Kader< schmückten, nichts als
ratlose und verlorene Häuflein von Burschen — am Anfang kaum eine Frau dabei —‚ die sich
in die Wälder geflüchtet hatten, weil sie nicht in den Krieg wollten. Der Weltkrieg der
Schwaben, der svabi, wie bei uns daheim die Deutschen hießen, war nicht der ihrige. Und
übrigens war noch nie ein Krieg der ihrige, der unsrige, gewesen. Aber immerhin >Häuflein<,
da und dort ein paar, die sich tief im grünen Tann zusammengefunden hatten, und warteten,
wie es nun weiterginge. In die Wälder aufgemacht hatte sich zuvor ein
jeder ganz für sich allein, blindlings. Nur nicht in den Krieg. Sich erst einmal allein im
Unterholz verkriechen, nicht gerade in Panik, andererseits, die erste Zeit dort jedenfalls,
vollkommen hoffnungslos. So hoffnungslos waren sie nicht immer seit
neunzehnhundertdreiunddreißig gewesen. Am Anfang des Krieges hatten sie noch auf den
Beistand des großen russischen Bruders, auch Sprachbruders, gehofft. Aber der hat ja dann
unverhofft mit den Schwaben paktiert. Kein Ausweg für die Alleingelassenen mehr als ab in
die Wälder — in die äußerste der Ausweglosigkeiten? Ja, eine Zeitlang. Und ich möchte
wissen, wie diese Vereinzelten dann die Kraft gefunden haben, einander durch die Fichten-,
Föhren- und Tannennadeln hindurch zusammenzupfeifen. Fest steht, daß fast alle die Kerle
kräftige Bronchien hatten. Gemäß unserer Geschichtsschreibung — wobei die
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Geschichtsschreiber danach in der Regel die Grünen Kader selber waren — hatten die
Waldmenschen im Frieden, als ihre Sprache noch geduldet war, durch die Bank im
Kirchenchor gesungen, und seltsam, daß der Solosänger im Chor später, bei den
Kaderhäuflein, tatsächlich so etwas wie ein Kapo wurde. Und fest steht weiter, daß vielleicht
fürs erste die Ausweglosigkeit vorherrschte, nicht aber die Hilflosigkeit. Denn die Flüchtigen
in den heimischen Wäldern kannten dort ein jedes nur mögliche Versteck und wußten sich
auch zu versorgen. Nicht wenige von ihnen hatten im Vorkrieg als Holzfäller gearbeitet. Und
die meisten von ihnen hatten daneben gejägert, nicht als vom Grafen oder sonst einem Herrn
bestellte Jäger, wo denkt ihr hin — nein, als Wilderer. Sie konnten allesamt mit der Jagdbüchse umgehen, und diejenigen von ihnen, die dann in den Krieg gezwungen worden waren
und nach einem Heimaturlaub, oder wie das hieß, in die Bergwälder gingen, genauso mit
Handgranaten, Maschinenpistolen, -gewehren. Ein verlorener Haufen blieben sie trotzdem,
verloren im ehemals eigenen Land, das für sie weiterhin das eigene war, mehr denn je! Sich
einen Namen gegeben zu haben, das war immerhin nicht nichts. Aber diese Grünen Kader:
was konnten sie tun? Wie kämpfen? Wie Widerstand leisten, sie, die trotz des stolzen Namens
armselig Versprengten, Spärlichen, gegen die schon beim ersten Schritt an den Waldrand
lückenlos zuschnappende Übermacht? Wie widerstehen, oder einfach bloß überstehen?
Anders wurde das erst, als von jenseits der Grenze der im besetzten Jugoslawien
allgegenwärtige Widerstand, den die durch die Wälder irrenden Grünen Kader lange nur vom
Hörensagen gekannt hatten, übergriff auf sie nordwärts über die Karawanken, und sie sich,
anders unverhofft, als Teil des europaweiten Widerstands sahen. Weg mit dem
maulheldischen Namen! Keine Grünen Kader waren sie mehr, die über den Namen hinaus
nicht wußten, was sagen und was tun, sondern Teil der Résistance gegen die
weitherrscherlichen Unholde und Tunichtgute, ein Heer, eine Armee, vom Peloponnes
nordwärts bis zur Svinjska planina, von der Koralpe westwärts bis La Rochelle — die Armee
der Partisanen, und >Partisanen<, so hießen sie jetzt, zusammen mit all den übrigen, und
ließen sich von der Übermacht auch, anders stolz als früher, gut und gern >Banditen< nennen.
Nie hatten sie und ihre Vorfahren hierzulande Krieg geführt? Jetzt war er da, ihr Krieg, ja, ihr
Krieg, geführt von den einheimischen ehemaligen Kirchenchorsängern, den Tenören,
Baritonen, Bässen, welche als Partisanen den einzigen organisierten militärischen
andauernden Widerstand innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reichs leisteten, als das
Heer der Partisanen, und zuletzt auch als Sieger. Fragt sich nur, was der Krieg ihnen gebracht
hat, und was der Sieg, ihnen, und dir und mir. Fragt sich nur, was das für ein Frieden war
nach Krieg und Sieg, und ob überhaupt. Fragt sich, wo die Krieger sind, wo sind sie
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geblieben? Fragt sich, fragen wir, fragt ihr, fragen sie, fragt wen oder was, fragt den Himmel,
fragt die SINGER-Nähmaschine, fragt den verrosteten Schlitten, fragt alle, nur nicht mich! —
Jetzt wollte ich endlich den Klartext reden, dem auszuweichen man seit jeher mir vorwirft —
wieder nichts . . . «
Als ich über die Schulter blicke, sehe ich knapp hinter mir die beiden überlebenden Brüder
meiner Mutter stehen. Sie sind wohl schon vor einiger Zeit auf den Plan getreten. Aber wieder
einmal war ich derart in mich versponnen, daß ich ihr Daherkommen nicht bemerkt habe.
Beide sind augenscheinlich auf Heimaturlaub, für Gregor den Einäugigen, den ältesten, ist das
nicht der erste Tag daheim, er trägt Zivilkleidung, ländlich-sonntägliche und, was sehe ich
da?, schiebt etwas wie einen Kinderwagen hin und her, während er in der anderen Hand eine
Baumschere, oder was es ist, hält. Valentin dagegen scheint gerade erst nach einer langen
Fahrt zu Schiff und im Zug aus dem Postbus gestiegen — er ist noch in der Uniform eines
»Gebirgsjägers« der weißgottvonwas und schleppt etwas wie einen Seesack. Erst jetzt auch
höre ich, da und dort in dem weiten Jaunfeld, den feiertäglichen fernen Klang von
Kirchenglocken. Ein hohes Fest ist vielleicht im Gange. Pfingsten? Mariä Himmelfahrt? (Das
Grünen auf der Flur paßt eher zu Pfingsten.) Für die beiden Brüder existiere ich nicht,
jedenfalls nicht als der von jetzt, der längst Erwachsene. Sie reden wie ohne Zeugen, und
doch ist mir, ich sollte sie bezeugen. Von Zeit zu Zeit habe ich dann sogar mein Notizheft
gezückt und mitgeschrieben. Etwa Folgendes:
Gregor zu Valentin: »Keine Zehen abgefroren, Valentin?« — Valentin zu Gregor: »Ich reibe
sie regelmäßig mit Schnee ein. So bleiben sie gut durchblutet.« — Gregor: »Mir summen
immer noch die Ohren von meinem Funkgerät. Dabei bin ich schon seit einer Woche auf
Heimaturlaub.« — Valentin: »Gemeinsam mit dir auf Urlaub daheim, Gregor. Wer hätte das
gedacht. Die Oberen vom Heer meinen es gut mit uns.« — Gregor: »Sie hätten es noch besser
meinen können, indem daß sie Benjamin mit seinen noch nicht zwanzig Jahren und seinem
von Geburt an gelähmten Zeigefinger den Dienst mit der Waffe erspart hätten.« — Valentin,
nach einem Schweigen, mit einer fremden Stimme, welche die seines gefallenen Bruders
darstellt: »Schießen ist für die anderen. Wenn ich abdrücke, dann höchstens beim Scheißen,
oder bei der Tatjana —« — Gregor, ebenfalls mit der fremden Stimme: »Aber leider Gottes
läßt sie mich nicht.« Beide gemeinsam den Toten spielend: »Hätt‘ ich eine Mauser, ich
schösse weder links, ich schösse weder rechts, ich schösse nicht des Morgens, ich schösse
nicht des Nachts, ich ließe es wohl krachen, aber ganz anders als gedacht.« — Valentin: »Und
weißt du noch, wie er damals gleich nach seinem letzten Schultag als Schmiedlehrling
angefangen hat?« — Gregor: »Gerade noch hat er die Schultasche vom Buckel genommen
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und einen Moment danach war ihm schon das Lehrlingsgewand, das blaue, mit der zu kurzen
Hose, den zu kurzen Ärmeln, übergestreift.« — Valentin: »Es ist ein sehr kalter Morgen
gewesen, nicht nur für den Sommer, als er sich auf den Weg in die Schmiede gemacht hat.«
— Gregor: »Und weißt du noch, was er dabei so von sich gegeben hat?« — Und wieder
spielen sie beide gemeinsam den Toten nach: »Herrschaften, für mich hat es sich ausgefroren,
von heute bis in alle Ewigkeit!« Dann Valentin:
»Und weißt du noch, was meine liebe Schwester uns von ihm geschrieben hat, als er nach
einem Jahr Taiga- und Tundrakrieg erstmals —« — Gregor: »— und letztmals —« —
Valentin:
»— Fronturlaub hatte? Wie die Schwester gemeint hat, daß nach so einer Zeit sein Ekel oder
seine Heikeligkeit von ihm weggeblasen, aus ihm herausgebrannt sein müßte.« — Gregor:
»Und wie sie ihm zum Willkomm einen Kaffee vorsetzte, mit einem einzigen, einem
kleinwinzigen Fetzen Milchhaut darauf —« — Valentin: »— und wie er da die Tasse auf der
Stelle weit von sich weggeschoben und gesagt hat —« — Wieder sie beide einander den
Toten vorspielend: »— >Kommen Sie gestern!« Und wieder sind die zwei Brüder in ein
Schweigen verfallen, wobei nichts geschah als das Hin- und Herschieben des Kinderwagens.
Und dann Gregor: »Zum Wundern, daß seit jeher in unserer Sippe immer die gleichen paar
Geschichten weitererzählt werden. Und alle sind sie nur kurz, und bei keiner weiß man
eigentlich, warum sie im Umlauf ist, was so überliefernswert an ihr ist, was sie überhaupt
miteinander zu tun haben, bis vielleicht auf den ewigen Ekel.« — Valentin:
»Die Geschichte von unserem Vater als Kind: Wie er zum Pfarrer geschickt worden ist mit
der jährlichen Naturalienabgabe, einem dicken Sack mit Äpfeln in der Schiebtruhe
Gregor: »— in der Carriola —« Beide gemeinsam: »— und wie unser Vater dann zum Pfarrer
sagt: >Herr Geistlicher Rat, hier bringe ich Ihnen die Äpfel von unserem Scheißhausbaum!«
— Gregor: »Und die Geschichte von der schwachsinnigen Dienstmagd, die irgend jemand hat
geschwängert, und der man das Kind nach der Geburt hat weggenommen. Es ist aufgezogen
worden von den Hofleuten, und eine der Hoftöchter hat ihm die Mutterstelle vertreten. Und
eines Tages, das Kind hat schon sprechen können, hat es sich beim Spielen am Weidezaun in
den Ruten dort verklemmt und ist nicht mehr freigekommen, und der Stier hat schon vor ihm
gescharrt, und sein Schreien hat die Schwachsinnige weit weit weg gehört, und sie ist
dahergerannt und hat das Kind aus dem Zaun gezogen, und danach, zuhause, hat das Kind
seine vermeintliche Mutter, die Hoftochter halt, gefragt: —« Und wieder reden die zwei
Brüder unisono: »— »Du, Mutter, warum hat die Blöde eigentlich so weiche Hände?« Ein
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Schweigen ist dem wiederum gefolgt, und dann hat einer der beiden, ich weiß nicht mehr,
welcher es war, den anderen gefragt:
»Meinst du, wir werden noch jemals im Chor singen?« Der andere: »Nein. Jedenfalls in
keinem Kirchenchor.« Sie versuchen nun eine Art Chorgesang im Duett, mit dem letzten Satz
der gerade erzählten Geschichte: es mißlingt, noch einmal, und noch einmal — Mißklänge
zum Ohrenzuhalten. Darauf der eine: »Mir scheint, ich kann nur noch allein singen — wenn
überhaupt.« Und der andere: »Ich auch.« Nichts geschieht darauf wieder als das Hin- und
Herschieben des Kinderwagens, skandiert vom Klappern der Baumschere. Valentin: »Wozu
hast du die Baumschere dabei? Ist denn schon Baumschnittzeit?« Gregor: »Nein. Und
trotzdem möchte ich, seit ich in Fronturlaub bin, immerzu etwas beschneiden. Lichten.
Durchblicke schaffen. Oder dem Bengel da den Zipfel abschneiden. Ihn brüllen hören, ich,
sein Pate wider Willen. Unzeit! Zuwider waren mir immer die Zwischenzeiten im Jahr — die
Kirschen längst geerntet oder von den Amseln gefressen, leer die Kirschbäume im ganzen
Land, nichts als Gewackel der Blätter und der leeren Stengel mit den vertrockneten Kernen,
und kein Obst sonst noch reif außer den bleichen Frühäpfeln, die nicht einmal einen Namen
haben, und im Vergleich mit denen eine Hostie ein Leckerbissen ist. Und jetzt auch noch
dieser Windelscheißer da. In den Kirschbaumschatten, den kranken, mit dir, Krankgeburt.« —
Valentin: »Und das sagst du, seit jeher der Zarteste von uns allen? Die Sanftmut in Person?
Der Herzhafte? Der uns jedesmal Versöhnende? Der Gerechte?« — Gregor: »Ich will nicht
mehr der Gerechte sein. Wenigstens nicht in der Jetztzeit. Und ich habe die Unversöhnlichkeit
beschlossen gegenüber dem Feind, die Unbarmherzigkeit beschlossen, beschlossen, selber
Feind zu sein.« — Valentin: »Du und Beschließen — nichts Fremderes. Du und Feind —
nichts Widersinnigeres. Du und das bloße Wort >Feind< — Fremdsprache der Fremdsprachen
in deinem Mund, in deinem — Reich, ja, lieber Bruder, in unserem Reich.« — Darauf
Gregor: »Ich spucke auf mein Reich —« Und mir scheint, er hat dabei tatsächlich
ausgespuckt, in die sämtlichen Himmelsrichtungen »— ein Desperado bin ich inzwischen,
und nichts sonst mehr. Es geht mir ja selber gegen den Strich, daß ich sogar in dem käsigen
Säugling da den Feind sehe. Aber so ist es, so ist es gekommen. Da liegt er, strahlt mich an,
grapscht nach mir mit seinen zu keiner rechtschaffenen Arbeit geschaffnen Grapschhändchen,
blubbert mich an mit seinen blassen Lippen, bei denen klar ist, daß davon in alle Ewigkeit nie
ein Laut in unserer heiligen Muttersprache sich wird aufschwingen, geschweige denn ein Ton,
nicht einmal ein Mucks — winkt mir in einem fort zu mit seinen Schlackeröhrchen,
durchsichtig und fettig wie Butterpapier Feind hört mit. Ja, den Feind stellt der mir dar, den
Kuckuck, der uns Heimische bis auf den letzten Piepser und Flaum aus dem Nest wird
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schmeißen. Winzling, Vorform des großen Feinds, des Usurpators. Familienfeind —
Volksfeind. Heraus aus der Wiege — in die Hundehütte mit dem Bankert.« Dabei hat er den
Wagen mit »mir« drin hin und her geschoben, wenn auch nicht gerade sanft, zuletzt gar mit
einem Tritt, und nach wieder einem kleinen Schweigen wird Valentin ihm entgegengehalten
haben: »Ist es nicht schade, Gregor, daß du dir, und mir, und uns allen so deinen letzten
Urlaubstag vergällst?« — Darauf sein älterer Bruder: »Ja, die Fronten warten schon, in allen
Richtungen des hiesigen Himmels, der unsere Heimstätte, naa hia, naa domovina ist: die
Ostfront, die Westfront, deine Nordfront in Norwegen, meine Südfront auf dem Balkan. Aber
sollen sie warten!« — Darauf Valentin: »Was willst du damit sagen?« — Gregor: »Daß ich
die Fronten wechseln werde, heute.« — Valentin: »Du wirst in die Wälder gehen, du?« —
Gregor: »Ja, ich, oder wer, oder was.« — Valentin: »Du bist bereit, zu töten, du?« — Gregor:
»Ja, ich, oder wer.« — Valentin: »Du wirst auf Menschen schießen? Du, der beim
Sauschlachten jedesmal in den Dachboden ist abgehaut? Der davongerannt ist, wenn der
Vater einem Hasen die Kehle hat durchgeschnitten? Der sich heute noch hinter der Mutter
versteckt, wenn das kopfabgehackte Huhn kreuz und quer über den Hof kugelt? Der jede
erfrorene Biene anhaucht, um sie zum Leben zu erwecken? Der jedesmal der Katze die Maus
abjagen will? Der einen jeden von der Schaufel entzweigeschnittenen Regenwurm wieder
zusammenspeicheln möchte, mit der eigenen Spucke? Du: eine Handgranate abziehen und
durch das offene Fenster auf die kartenspielenden Gendarmen schmeißen?« — Gregor: »Ja,
ich. Ich!« — Valentin: »Wie willst du überhaupt zielen, halbblind wie du bist? Schon bevor
du dein Auge hast verloren, hast du auf dem Kirchtag bei den Kunstrosen und den Stoffbären
ständig danebengeschossen. Wer regelmäßig hat getroffen, das war ich. Und wenn der Vater
und ich dich haben zum Wildern mitnehmen wollen, hast du ein jedesmal dringend in deinen
Obstgarten müssen, zum Stützen eines angeblich zu schweren Astes, zum Veredeln einer
Mostbirne.« — Gregor: »Das war einmal. Haben wir nicht andauernd gesagt und es uns
untereinander von klein auf vorgehalten, daß in unserer Familie, in unserer Sippe, in unserem
Volk die Entscheidung fehlt? Daß wir auch deshalb Pechkinder sind? Daß wir allesamt nichts
Rechtes haben zustandegebracht, weil wir uns nie, und nie, und noch einmal nie für oder
gegen etwas entschieden haben?« — Valentin: »Was für eine Entscheidung, Bruder? Gegen
die Fremdherrschaft? Gegen die Zwangsherren von der Isar, vom Main, vom Rhein und von
der Elbe?« — Gregor: »Zum Beispiel.« — Valentin: »Keine Chance. Nema anse. Die
obrigkeitliche Gewalt läßt keinen Spielraum, und schon gar nicht die jetzige deutsche.
Undeutsche Umtriebe? Im Handumdrehen ausgetrieben, und als Handlanger und
Handumdreher unsre eigenen Leute, die hiesigen, in rauhen Mengen, und alle mit unseren
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heimischen schönen Namen. Was für eine Entscheidung, Bruder? Für unsere Mutter-, Vater-,
Kinder- und Haus-, Herd- und Stall-Sprache, für unsere slawischen oder illyrischen oder
ostgotischen oder sonstwelche Urlaute, in denen angeblich, wie du behauptest, die Seele von
unsereinem sich ausspricht, die angeblich die Sprache der Liebe und des Landes selber ist?
Für die Sprache, die mir zum Beispiel höchstens zeitweise ein bißchen Stallwärme gibt?« —
Gregor: »Ja, für die, meine, unsere Sprache.« — Valentin: »Auch unsere Sprache, lieber
Bruder, dragi brat: keine Chance. Was mich betrifft: ich habe mich längst entschieden. Und
meine Entscheidung heißt: Westen. Westwelt. Heraus aus der Eingeschlossenheit in die Berge
und in die verstockte berglerische Sprache. Ins Offene. Weltbürger werden. Mir persönlich
hat der Krieg bis jetzt fast nur Gutes gebracht, nicht wahr? Sogar Deutschland ist für mich
schon der Westen, das Weltoffene. Sagen wir hier denn nicht: Hinaus nach Deutschland!? In
Deutschland draußen, nicht wahr? Und zu den Balkanrichtungen dagegen: Nach Maribor,
nach Ljubljana — hinunter. Und erst recht nach Belgrad — hinunter, hinunter. Und wenn wir
von unseren eigenen Orten reden: in Eisenkappel drinnen, in Zell Winkel drinnen, in
Gaffizien drinnen, in Heiligenblut drinnen, im Lavanttal drinnen, im Mölltal drinnen, im
Bärental drinnen, nicht wahr? Deutschland: immerhin, von hier aus erlebt: draußen. Der
Westen. Und erst England! Und erst recht Amerika! Was ich dank dem Krieg außer
Schachspielen vor allem gelernt habe: das Englische! Das ist mir eine Sprache, lieber Bruder.
Du willst wissen, wie ich dazugekommen bin? Militärgeheimnis. Love me tender. O my
darling Clementine. Long distance information, give me Memphis, Tennessee. In the
midnight hour, I gonna shake my tambourine. Come closer. Do you feel it? Knocking on
heaven‘s door ... Long as I can see the light
We shall gather at the river —« Er unterbricht sich: »Bist du dir bewußt, lieber Bruder, daß
aus Widerstand, wenn der sich durchsetzen will, notgedrungen Krieg wird? Willst du den
Krieg?« Und darauf Gregor: »Diesen ja. Ich war ja immer bereit, meine Feinde zu lieben.
Aber die jetzigen — nein! — Kein Menschenschlag auf der ganzen Welt war friedlicher, war
friedfertiger als wir hier. Wir, ja wir, haben den Frieden auf Erden verkörpert, gelebt, gespielt,
vorgespielt, getanzt, vorgetanzt! Und jetzt — müssen, ja müssen wir hier den Krieg
verkörpern, wir, wir!«
Nachzutragen ist, daß während der Szene von irgendwoher meine Mutter auf den Plan
getreten sein muß, unbemerktsowohl von mir auf der Bank als auch von ihren zwei Brüdern,
dem einen von zuhause abschiednehmenden und dem andern, eben erst da angekommenen.
Jetzt ruft sie des letzteren Namen, und wir anderen wenden uns über die Schulter ihr zu. Sie
trägt das Magdgewand ihrer Schwester, welches an ihr ganz und gar nicht so wirkt. Zugleich
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mit ihrem Ruf hat sie ihre Bienenschutzhaube, oder was es ist, abgenommen — sonst wäre sie
wohl kaum zu erkennen gewesen. Valentin streift seinen Militärsack ab, und sie geht mit
großen Schritten auf ihn zu, legt einen Arm um ihn und lehnt die Stirn an die seine. Der
Sippenwindjammer, siehe oben, im Chor — dieser Chor tut‘s also noch —‚ in den auch
Gregor einstimmt, aber gleich wieder abbrechend. Die Schwester reicht dem Ankömmling
etwas, in das der hineinbeißt oder auch leckt: eine Bienenwabe? Ja, denn sie sagt dazu: »Ein
gutes Honigjahr. Vor allem der Honig von den Manna-Eschen, jede weiße Blüte voll Saft,
jede Rippe voll Honig.« — Gregor:
»Dort unten auf dem Balkan bewillkommnen sie einen nicht mit Honig, sondern mit Brot und
Salz.«
Und wieder dann ein Verstummen, bis Valentin auf oder in den Kinderwagen zeigt: »Und der
Mann dazu?« — Die Schwester: »Heim ins Reich.« Valentin: »Geflüchtet oder gezwungen?«
— Sie: »Denk, was du willst.« — Valentin: »Was mich angeht: Ich habe bis jetzt immer die
Flucht ergriffen, schon bevor so etwas in Frage ist gekommen.« — Sie: »Still! Es war Liebe.
Es ist Liebe.« — Valentin: »Wenn unser Vater das hört: >Liebe< ... Wie lange wart ihr
zusammen?« — Sie:
»Eine Nacht.« — Valentin: »Eine einzige?« — Sie: »Ja. Und die zählt mehr als zehntausend
andere.« — Gregor, sich einmischend: »Seltsame Mathematik. Wie zählt sie? Wo steht sie
geschrieben? Wo ist sie gebucht?« — Sie: »Im Buch des Lebens.« — Gregor: »Bist du
sicher?« — Sie: »Ja! Da steht es, für immer.« (Valentin ist zuletzt eingefallen und redet dann,
über den Kinderwagen gebeugt, solo weiter.) »Das Ergebnis gibt ja tatsächlich eine Ahnung
davon: wie glückselig unser Bankett daliegt. Das Gesicht zwar das einer kleinen Ratte. Aber
wie die lacht übers ganze Gesicht, für nichts und wieder nichts! Sonnig und wonnig.
Wahrscheinlich hat er sich schon in der Gebärmutter —« — Sie: »— unter meinem Herzen!«
— Valentin: »— unter deinem Herzen all die neun Monde lang gefreut, hinaus in die Sonne
zu kommen, hat es gar nicht erwarten können und ist schon ab dem dritten, vierten Monat
ständig ungeduldig in deinem Bauch auf und ab gehüpft?« — Sie: »So ist es.« — Valentin:
»Bist du sicher, daß er kein Idiot ist?« — Sie:
»Ja. Nein.« — Valentin: »Ich sehe einen bösen Mond aufgehen. Eine Biene wird ihn in die
Unterlippe stechen, und er wird ein ganzes Jahr lang ein Elefantenmensch sein. Wegen
eingewachsener Zehennägel wird er bis zur letzten Volksschulklasse barfuß gehen. Mit sieben
wird er mit seinem Himmeleinfangblick in eine Jauchengrube fallen und um ein Haar drin
ersaufen, und mit zehn wird aus demselben Grunddelten, bin doch keine von den Zuzüglern
aus Iserlohn oder aus Buxtehude oder von wo, die, jetzt hier eingenistet, wenn in der Nacht
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draußen vor dem okkupierten Haus ein Kürbis vom Stapel rumpelt, sich unter die okkupierten
Betten verkriechen und schreien: >Hilfe, die Partisanen!<. Und wie sie erst schreien, wenn
eine Dachlawine in den okkupierten Hof rutscht, oder wenn nach dem Regen eine Mine den
okkupierten Stall verschüttet: >Banditen! Titomörder!< — Aber Angst habe ich wohl.« —
Gregor (der immer noch den Kinderwagen mit »mir« hin und her schiebt): »Um den da
drinnen, um mein liebes Patenkind? Dem kann nichts geschehen, das sieht sogar ein
Halbblinder wie ich.« — Meine Mutter: »Ich weiß, dem kann nichts geschehen, vorderhand.
Angst habe ich um uns andere, um die Eltern, um unsere Liegenschaft, unser — An- wesen,
unser — Land. Seltsam: auch um dich habe ich keine Angst, Gregor.« — Gregor: »Ja, wo ich
jetzt hingehe, heißen die Fluren >Jenseits der Angst<.« — Meine Mutter: »Daß unsere
Schwester in den Wald gegangen ist: den Schwaben ist das Putz wie Stengel. Eine Frau, aus
unserer Gegend, was soll die kämpfen, und noch dazu eine Dienstmagd in Holzpantoffeln, in
Zockeln, und noch dazu eine kurzsichtige, und noch dazu eine mit x-Beinen, über die sie
schon in der Küche ständig stolpert, und wie erst querwaldein. Aber du, ein vereidigter
großdeutscher Soldat, zu den Partisanen: das werden sie uns übrige büßen lassen, sie können
gar nicht anders, das ist, ich weiß nicht, wo habe ich das gelesen, im Hermagoras Kalender
oder wo, das physikalische Gesetz der Geschichte. Aussiedeln werden sie die Eltern. Klingt ja
fast schön, das Wort: ich siedele aus, wir siedelen aus, wir Aussiedeler auf dem
Aussiedelerschiff unterwegs nach Neufundland, Neuseeland, Neuschottland,
Neubraunschweig, Neujaunfeld, Nova Podjuna. Aber in der Wirklichkeit jenseits der Wörter
werden unsere Eltern Ausgestoßene sein, Heimatvertriebene, Verschleppte,
Zusammengepferchte in einer Fremde, wo es für sie weder etwas zu besiedeln noch gar zu
bestellen gibt, und wenn zu bestellen, dann ausschließlich die Felder und die Fabrikhallen
ihrer Herren und Damen Sklavenhalter, im Spessart, im Teutoburger Wald, im Schwarzwald,
im Harz, im Hunsrück, in der Eifel und im Riesengebirge. In den Baracken und um die
Baracken herum: ein anderer Wald als deiner, einer aus Schildern, und jedes Schild ein
Verbot, und jedes zweite Verbot geschmückt mit einem Totenkopf, und das Hauptverbot für
unsere Barackeneltern: die eigene Sprache zu sprechen, die Stuben- und Küchensprache, die
Natur-Sprache. Nur sie zu singen wird zeitweise erlaubt sein, an Sonntagen, zusammen mit
den anderen Aussiedlern, auf dem besonnten Rundplatz inmitten der heimeligen
Siedlerhütten. Aber das wird ein Gesang sein, wie nur Leute ihn singen, die wissen, daß sie
nie wieder heimkehren werden.«
Gregor, nach einem Schweigen: »Aber dafür gehe ich doch in die Wälder: daß es einmal für
alle die Unsrigen eine Heimkehr gibt.« — Meine Mutter: »Was redest du da — die Eltern sind
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doch daheim. Erst wenn du den Wald wählst —« — Gregor: »Und außerdem habe ich meine
Uniform schon verbrannt.« — Meine Mutter: »Na und? In den Magazinen warten doch andre,
noch und noch.«
Wieder ein Schweigen. Dann läßt sich Valentin hören: »Es sind Gerüchte im Umlauf, wonach
man für gewisse von den Unsrigen, zum Beispiel solche, die den Partisanen ein Schwein
schlachten oder bloß einen Laib Brot überlassen, etwas ganz Spezielles bereithält. Solche
werden nicht ausgesiedelt, heißt es. Sie bleiben angeblich im Land und arbeiten hier ihre
Strafe ab, in Camps. Diese Camps sollen hauptsächlich aus gut gelüfteten Werkstätten und
Fabrikhallen bestehen, Tag und Nacht rauchende Schlote, wie man sie aus englischen
Industriegebieten kennt — das heißt, wie ich sie kenne, fragt mich nicht, woher. Nach
Meinung der einen wird dort Kriegsmaterial hergestellt — eine Geheimwaffe gegen Rußland
oder gottweißwen, eine Art Goethe-und-Schillerorgel gegen die Stalinorgel. Aber die
Mehrheitsmeinung ist, daß es in den Camps in erster Linie um Produktion für friedliche
Zwecke geht. Dank solchen Arbeitens, ist zu hören, werden die Camper auf den kommenden
Weltfrieden eingestimmt und als Umgewandelte in die Freiheit entlassen. Nur ist aus diesen
Läuterungsanstalten noch niemand zurückgekehrt. Es gibt angeblich viele Todesfälle, wenn
auch natürlichen Todes, Herzversagen, Herzstillstand, gerade bei den Unsrigen, mit den
starken Gebirglerherzen. Die Briefe aus den Camps sprechen freilich eine andere Sprache —
frische Luft, gesunder Schlaf Paradiesträume, die Nachbarn nachbarschaftlicher als die
zuhause. Auch das Bißchen, was ins Freie geschmuggelt wird, läßt eher Gutes ahnen. Meist
sind das Taschentücher, reinweiße, von den Lagerleuten allerliebst bestickte, unsere Burschen
müssen dort drinnen sticken gelernt haben!, und was sticken die da hinein, in die Tüchlein? —
ausschließlich Heiteres: die lachende Sonne, Sternlein, an allen vier Tuch-Ecken Blümlein,
Himmelsschlüssel, ein Haus, Herzen mit Pfeilen drin, Äpfel, Birnen, Weintrauben, das Auge
Gottes, einen Fußball — und sogar Schriften sticken die Burschen, keine Kassiber, sondern
einen Namen, den eigenen, und dazu, wie in den Baumrinden, vielleicht noch ein
Mädchenname, manchmal auch mehrere! Dünn, sehr dünn, und klein, sehr klein, sollen diese
Tücher sein, und noch dünner sind angeblich die Schriften, oft schwer zu lesen, weil immer
wieder der Faden ausgeht und die Buchstaben durcheinandergeraten sind. Vermutlicher
Grund: sie werden im Stockfinstern gestickt, und der mir das zugetragen hat und von Natur
aus ein Schwarzseher ist, meint: diese Sticker, sie sitzen jeweils, ein jeder allein, in einer
Todeszelle, und dieses Sticken im Stockfinstern wird ihnen zugestanden in der Nacht vor
ihrer Hinrichtung — und sowie das bestickte Tuch alsdann ans Licht kommt, ist das das
Zeichen für die Angehörigen: unser Sohn, unser Bruder, unser Vater — und für die Geliebte
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oder die Geliebten: mein Liebster, unser Liebster —‚ er lebt nicht mehr, er ist für seinen
Verrat am Volkskörper aufgehängt und verscharrt worden. Und schaut her: da ist so ein
Sticktuch, Sticktüchlein —« Er läßt etwas Dergestaltiges zugleich vor den Augen seiner
beiden Geschwister flattern und vorbeiziehen, auch vor dem Kinderwagen mit »mir« darin,
und streift es zuletzt noch über das Gesicht seines älteren Bruders: »Der Blutfleck da hat
nichts zu bedeuten, Gregor — der diesbezügliche Sticker hat sich beim Sticken in den Finger
gestochen.«
Wieder von uns anderen unbemerkt, muß inzwischen, vielleicht schon vor längerem, eine
weitere Person auf den Plan getreten sein. Wir werden ihrer erst inne, als jetzt eine Stimme
losgellt und unsere Köpfe in einer einzigen Bewegung über die Schulter schnellen. Eine Frau
steht da im Halbschatten an der Feldgrenze, in Militärmantel und Lederstiefeln, auf dem
Scheitel, in die Stirn geschoben, die bewußte Mütze mit dem bewußten Fünfzackstern.
Folgend wird sie laut: »Laß dich von dem Valentin nicht herumkriegen, Gregor! Der verdient
seinen Namen nicht — der Starke? Nein, der Schwächling, der Nachsprecher. Die Familie
wird nicht ausgesiedelt. Haus und Hof bleiben unser! Unser Land hier wird unser Land sein
wie noch nie! Die Todeszelle, die wird für die anderen sein, und nicht einmal eine Zelle —
ein Urin-Fleck im Brombeerdorn am Rand des hundertmetertiefen Karstfelsenlochs, und ein
Tritt hinein da in die Foiba! >Ich war ja nur der Koch<, >Ich war ja nur der Nachschub!<
werden sie vorher noch gewinselt haben, und dann im Fallen: >Mutti-i-i . . .
Sie ist dabei aus dem Schatten getreten, und von den übrigen drei Geschwistern kommt jetzt
nacheinander: »Schwester . . . und dann vom Bruder Valentin, mit amerikanischem Akzent:
»Die Dienstmagd als Befehlshaberin. Der Dorftrampel als Brigadier.« Darauf sie, mit
unversehens sanfter Stimme: »Gut bemerkt, Bruder. Und gerade so — die Magd, die das
Sagen hat — ist es der Fall. Aber nennt mich bis auf weiteres, bis zum Ende des Krieges,
nicht mehr bei meinem Taufnamen. Ich bin nicht mehr Ursula. Ich habe bei der Osvobodilna
fronta einen neuen Namen.« — Gregor: »O-svo-bo-dil-na fron-ta, was heißt das?« — Sie:
»Befreiungsfront. Verstehst du denn deine eigene Sprache nicht mehr?« — Er: »Doch. Aber
nur, wenn sie ausdrückt, was man sehen, hören und riechen kann. Wenn sie allgemein wird,
begreife ich sie nicht. In unserer Sprache gibt es ursprünglich doch nichts Allgemeines, rein
gar nichts, und für mich bis heute nicht.« — Sie: »Du wirst den Nutzen der abstrakten
Sprache noch kennenlernen, Gregor. Du wirst lernen: ohne die Abstraktionen fehlt dem
Kampf der Zusammenhalt. Ohne Doktrin kein kommunes Ziel. Ohne Organisation kein
Überbau, und ohne Schlachtordnung: Stehen im Regen. Ohne Literatur keine Basis — Wille,
Wald und Waffen allein tun‘s nicht.« — Gregor: »Was meinst du mit Literatur, Schwester?
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Die Gedichte von France Preeren, die Romane von Ivan Cankar, die >Wildwüchslinge< von
Preihov Voranc?« — Sie: »Unsinn! Reime und Romane sind für die kämpfende Truppe keine
Literatur. Es ist eine Zeit, zu weinen und weich zu werden durch schöne Verse, und es ist eine
Zeit, hart zu werden und auf Linie einzuschwenken kraft einer Sprache, die andere Saiten
aufzieht. Es ist eine Zeit für das Geheimnis, und es ist eine Zeit für den Klartext. Literatur, das
heißt jetzt: Kampfschriften, Flugblätter, Zeitungen, Manifeste. So ein Gedrucktes ist unser
anderes Kampfmaterial. Ohne das wären wir nur ein verlorener Haufen im klirrkalten
Bergwald. Wie lechzen wir nach solcher Literatur! Die Druckmaschinen, welche die
englischen Verbündeten abwerfen, sind, mit den Granaten und den Gewehren, Teil unseres
Arsenals — auch wenn beim Drucken die speziellen, die entscheidenden! ... Lettern fehlen ...
Erst die Literatur hat die Truppe zusammengeschweißt. Nur werfen uns seit neuem die Briten
ausschließlich Druckgeräte ab, bei denen der Hauptteil fehlt ... Und von den anderen
Verbündeten, jenseits der Karawanken, ist, hier im Land, für die Literatur nichts zu erwarten,
oder höchstens in den kyrillischen Buchstaben, die das Volk hier doch nicht lesen kann ...
Aber auch so werden wir siegen, Gregor, zmagala bova ...‚ wir zwei, so wahr es in unser
beider Sprache die Zweizahl, den Dual, gibt, bova ...‚ nicht wahr, Gregor? Und so wirst auch
du dich dastehen wirst du, nicht mehr so wackelig, mit deinen ewigen Äpfeln und Birnen
unter den Füßen, endlich auf festem Boden. Und zugleich wird er dich am Schopf nehmen,
für einen anderen Stern.« — Er: »Ich kann nicht. Ein anderer Name, das gehört sich nicht. Ein
Blitz wird mich dafür treffen, vom Himmel her oder von sonst wo.« — Snezena: »So werde
eben ich deine Umtäuferin sein. Und hör jetzt endlich auf den Kinderwagen mit dem da drin
hin und her zu schieben.« (Hat er gehorcht?) — — — »Also: Ab heute heißt du Jonatan —
wie eine deiner Apfelsorten. Und entsprechend wirst du aktiv werden!« — Gregor-Jonatan,
nach einem Schweigen: »Apfelaktivist.« Und nach einem weiteren Schweigen höre ich von
Valentin: »Geheimnis des Glaubens. Ich wäre eher für >Cox< gewesen, der kommt aus
England, oder, noch besser, für >Ontario<, der kommt aus Amerika .. .
Ich auf meiner Bank inmitten der Heidesteppe habe dann kaum meinen Ohren getraut:
Snezena hat im Anschluß an die Umbenennung eine regelrechte Ansprache an den Täufling
gehalten: »Nun stehst du auf der guten Seite der Geschichte, Kamerad Jonatan. Wir sind im
Krieg gegen ein großes Netz der Gewalt und des Hasses. Die Geschichte wird uns am Ende
recht geben. Die Geschichte, sie entscheidet. Sie spricht die Wahrheit. Die Geschichte ist die
höchste, die letzte, die unwiderrufliche Instanz. Wir Kämpfer in den Wäldern, in den
Karawanken und auf der Svinjska planina, wir sind ihre Vorhut und ihre Herolde. Wir sind
eine junge Truppe, viele von uns sind fast noch Kinder. Aber nach den Heiligen Schriften ist
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die Zeit gekommen, von den Kindereien zu lassen. Unser Volk wird die Rolle spielen, die ihm
zukommt in der Geschichte. Seltsam verschont waren wir bisher von ihr, und waren doch ein
Geschlecht von Rebellen. Und jetzt sind wir da, den Weg zu weisen. Es ist die Zeit, den Weg
der Geschichte zu wählen. Schütteln und rütteln wir, um unser Land neu zu begründen, nach
dem Muster unserer Vorfahren, welche das Land weiter gesehen haben als die Summe bloß
individueller Ambitionen. Die Augen geheftet an den Horizont, laßt uns konfrontieren die
widrigen Winde. Wir sind die Patrouillen der Freiheit, und unser Volk ist dasjenige welches.
Gott hat es berufen, daß es sich auf die Suche macht nach dem neuen Leben. Und in diesem
werden wir unseren Hassern die Hände reichen — sofern sie bereit sind, ihre Fäuste zu
öffnen.«
Bei meinem Blick über die Schulter, im sporadischen Mit- schreiben, habe ich bemerkt, daß
sie selber die Faust geballt hatte — beide Fäuste, und daß Gregor-Jonatan gebannt darauf
gestarrt hat. Ursula-Snezena winkt ihm, ihr zu folgen, und macht sich auf den Weg. Er folgt
ihr zunächst, geht dann jedoch in eine andere Richtung. Sie: »Wo willst du hin? Das ist nicht
der Weg.« — Jonatan: »Ich weiß. Aber ich möchte noch einen Umweg machen.« — Snezena:
»Hoffentlich keinen großen.« — Er schweigt. — Sie: »Laß deine Baumschere hier. In den
Wäldern ist nirgends ein Obstbaum zu beschneiden.« — Jonatan: »Wer weiß. Auf später,
Schwester.« Und er verschwindet vom Plan, in einem großen Bogen.
Die Schneeige hält, ihrerseits im Abgehen, inne, auf einen Zuruf meiner Mutter (die das
Schieben des Kinderwagens übernommen hat). »He, Schwester.« Und die »Kommissarin«
wendet ihr tatsächlich ein Schwesterngesicht zu. Und jetzt meine Mutter: »Wer wäscht euch
eigentlich die Wäsche im Wald, wer näht und flickt, wer kocht?« — Snezena: »Die Frauen,
die Mädchen, Jelka, Andrina, Javora, Milena . . . « — Meine Mutter: »Und du?« — Snezena:
»Auch ich, und auch die Schuhe putze ich den Männern, und auch den Nachschub trage ich
auf den Berg, und auch die Nachtwachen mache ich mit. So ist es gedacht. So ist es
eingespielt. Auf Wiedersehen, Schwester. Sreno. Mit Glück. . .
Weg ist sie. Valentin und meine Mutter sind nun allein, mit mir, im Abstand. Die Mutter:
»Wie fremd einem die aus dem Nachbardorf werden können. Und wie erst die Nachbarn. Und
am fremdesten die eigenen Leute, die Eltern, die Geschwister.« Valentin, auf den
Kinderwagen zeigend: »Und? Mutterliebe? Motherly love?« — Meine Mutter: »Einmal so,
einmal so. Einmal Glück, trauriges, tieftrauriges. Dann wieder ist er mir so fremd, daß ich ihn
verprügeln möchte, mit einem Holzscheit auf den Säuglingsarsch. Ihn, den Aussauger da,
mitsamt dem Kinderwagen in die Brennesseln kippen. Ich allein bin nicht genug für ihn. Er
braucht auch seinen Vater. Ich muß den suchen gehen, draußen im Reich, oder wo.« —
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Valentin: »Und du? Brauchst du den Mann?« — Meine Mutter: »Nein. Nicht mehr.« —
Valentin (höre ich wieder recht?):
»Du hast mich betrogen, Schwester, mit einem anderen! Und was für einem! Wenn‘s
wenigstens ein Apache gewesen wäre, oder ein Navajo, oder ein Athabaske.« — Meine
Mutter: »Ich weiß. Anfangs habe ich mich auch schuldig gefühlt. Später nicht mehr.«
Und wieder das Sippenschweigen. Dann höre ich meine Mutter: »Laß uns jetzt heimgehen,
Valentin, heim zu den Eltern. Seit Benjamin nicht mehr ist, reden die kaum mehr miteinander.
Jeder im Haus schaut von morgens bis abends in einen anderen Winkel. Und der Frischling da
kann sie nicht aufheitern, der schon gar nicht. Was hat der bloß so still zu lachen? sagt die
Mutter. Was glotzt der bloß dauernd himmelwärts? sagt der Vater.« — Darauf Valentin:
»Nein, ich gehe nicht heim. Denn ich, ich werde die Eltern Urlaubstag für Urlaubstag darauf
stoßen, daß ich, der Windige, lebe, und daß er, ihr Liebling, tot ist.« (Er ist dabei ins Singen
geraten, ein gar nicht jaunfelderisches.) »Nein, ich gehe nicht heim, denn wenn ich dort
eintrete, bin ich weniger noch als niemand. Nein, ich gehe nicht in den Wald, denn im Wald
ist es finster, und es lauert dort meine finstere Schwester. Ich gehe dafür ins Nachbardorf, zu
Milka mit dem gelben Band im Haar, und dann ins nächste Dorf, zu Lena mit der weißen
Brust, und dann ins übernächste, zu Angelika mit der Maus im Strohsack. Und dann? Und
dann? Heim in den fremden Käfig . . «
So gehen die Geschwister in verschiedene Richtungen auseinander, und im Verschwinden
höre ich von ihr oder von ihm: »Wie man doch herumverschlagen wird .. . «‚ und als Echo:
»Ja, wie man herumverschlagen wird. Statt daß wir endlich wieder gottgefällig alle hier
zusammensitzen.« Und als Echo: »Ja, gottgefällig zusammensitzen: das ist Tätigsein. Das ist
Politik!«
VIER
Und wieder sitze ich allein auf der Bank in der Heidesteppe des Jaunfelds. Böen von Wind,
Rasseln von trockenem Laub, K]irren von kahlen Ästen wie im Eiswind, Raben, Meisen,
Kuckuckrufe — wie alle Jahreszeiten in einem. Und wieder werde ich mich dann an Klartext
versucht haben und wieder bald mich verhaspelnd, ins Stottern geratend, immer wieder
abbrechend, das Gesagte zurücknehmend, in Frage stellend undsoweiter: »Etwa zeitgleich mit
dem Tag, an dem der eine Bruder meiner Mutter, statt nach dem Urlaub in den Weltkrieg
zurückzukehren, zu den Partisanen in die Wälder der Svinjska planina ging, und ein paar Tage
vor dem erneuten Einrücken des anderen überlebenden Bruders an die Eis- front, kam es, am
zwanzigsten August i 94, zur Feierlichen Moskauer Erklärung, in der die Österreicher zum
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bewaffneten Widerstand gegen die reichsdeutsche Zwangsgemeinschaft aufgerufen wurden.
Solcher Widerstand, der sei die Bedingung für eine Anerkennung der österreichischen
Selbständigkeit nach dem Krieg. Vereinzelt folgten im Land welche dem Aufruf, die aber
vereinzelt blieben. Sie wollten sich zwar widersetzen, wußten jedoch weder wie, noch wo,
noch wann. Nur ein paar fanden den Weg hierher nach Kärnten, wo die Widerständler der
slowenischen Minderheit sich militärisch organisiert hatten. Irrtum, zu meinen, die paar aus
den anderen Bundesländern zu den Partisanen Dazu gestoßenen seien parteipolitisch
Motivierte gewesen, etwa Angehörige der verbotenen Kommunistischen Partei Österreichs.
Diese bestand zwar weiter im Untergrund, aber ihre Führung sprach sich trotz der Moskauer
Erklärung gegen einen bewaffneten Kampf aus, mit der Begründung, es gebe so wenig
geheime Parteimitglieder, daß, würden diese zur Waffe greifen, die Kommunistische Partei
Österreichs Gefahr liefe, bei Kriegsende ohne Mitglieder dazustehen. Die spärlichen
deutschsprachigen Landsleute, die sich den slowenischen Partisanenverbänden in Kärnten
anschlossen, waren vielmehr Deserteure, auch Eisenbahner, und dazu dieser und jener, wie
man heute sagen würde, Irrläufer, ein Bildstockmaler aus Osttirol, ein Maultrommelspieler
aus dem Land ob der Enns, ein früherer Schirennläufer aus dem Salzburger Pinzgau, ein
Senner aus dem Montafon. Und der Kampf, Moskauer Erklärung hin oder her, ging ab dem
Herbst neunzehnhundertdreiundvierzig richtig los — auf Grund der aus dem übrigen
Österreich hier in unser Land und unser Jaunfeld dahergestolperten Verstärkung? Gott allein
weiß es. Hierzuland fanden im Herbst und Winter und im folgenden Jahr jedenfalls die
einzigen Schlachten innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reichs gegen dasselbige
statt. Befehligt wurde die Widerstandsarmee ausschließlich von ehemaligen Holzfällern,
Bauernburschen, Sägewerksarbeitern, Müllergesellen. Irrtum wiederum, anzunehmen, unter
den Anführern seien einheimische Studierte, Lehrer, Anwälte, Ärzte, gewesen. Höchstens,
daß ein paar Priester, für welche das Retten der eigenen Sprache zum Ausüben der Religion
gehörte — Sprache retten ist Seele retten —‚ den Kampf ihrer Lämmer, oder was die halt
waren, insgeheim unterstützten, und daß sogar dieser und jener Geistliche, der den jetzt
vielleicht um so inbrünstiger der Worte Gottes Bedürftigen, und geradezu danach
Lechzenden, die Messe las, das tat mit der an den Feldaltar gelehnten Maschinenpistole. Die
Angehörigen der, wie sagt man, einheimischen Oberschicht, die, wie sagt man, Gebildeten,
fehlten all die Zeit des großen und einzigen Widerstands hierzuland, und sie fehlten bis
zuletzt. Ihr Fehlen war den Bauernburschen nicht etwa recht, es wurde von ihnen beklagt,
wieder und wieder, wenn sie, untereinander sprachlos, nicht mehr weiterwußten. >Unsere
Studierten, wo sind sie, wenn wir sie einmal brauchen? Das Volk, es kann unsere Worte kaum
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erwarten. Aber wir, was haben wir zu sagen? Den Herren liegt nichts an unseren Menschen.
Unsere Gelehrten, sie schonen sich für bessere Zeiten. Aber wir und das Volk, wir brauchen
sie, als Sprecher, als Ausweg. Es genügt nicht, Waffen zu laden, Holz nachzulegen und
Kaffee zu kochen. Gemäß dem Spruch, daß die einen das Vieh versorgen‘, und die andern die
Wörter, und daß beide zusammen das Haus und den Hof versorgen . . .
Über so viel Klartext ist mir mit der Zeit die Zunge schwer geworden. Eine Müdigkeit ist über
mich gekommen, und ich bin von der Bank inmitten des Jaunfelds gerutscht, zu Füßen des
Apfelbaums. In dessen Wurzelmulde ruhe ich nun, wie schlafend, und zugleich in Erwartung
des Folgenden. Und was folgt? Die Großeltern kommen daher, jeder aus seiner Richtung.
Beide, noch immer nicht recht alt, sind im ländlichen blauen Arbeitsgewand. Mein Großvater
zieht ein kurzes, breites, fast viereckiges Boot hinter sich her, meine Großmutter ein
Leiterwäglein voll mit zwei großen Milchkannen. Wortlos lassen sie die Gefährte stehen und
setzen sich auf die Bank, knapp neben mir, als ob es mich gar nicht gäbe. Dann er: »Und?« —
Die Großmutter: »Nichts.« — Der Großvater: »Keine Feldpost von Valentin seit letztem
Sommer. Keine Zeichen von Gregor, obwohl der angeblich die ganze Zeit dort oben im Wald
auf uns herabspäht. Und keine Nachricht von Ursula.« — Die Großmutter: »Die würde nicht
von ihr persönlich sein. Besser gar keine Nachricht.« — Der Vater: »Briefe höchstens von der
anderen. Daß sie für ihren halbdeutschen Kleinen draußen in Großdeutschland weiterhin ihren
Ganzdeutschen sucht.« — Die Mutter: »Wie schön ihre Schrift ist. So war die Schule doch für
etwas gut.« — Der Vater: »Nur: von Brief zu Brief immer weniger Wörter in unserer
heimischen Sprache.« — Die Mutter: »Hm.« — Der Vater: »Hrn.« Und alsdann der Vater,
auf die Kannen zeigend: »Wieviel Liter?« — Die Mutter: »Zweiundzwanzigeinhalb.« — Der
Vater: »Gestern haben sie noch sechsundzwanzig gegeben. Gieß Wasser dazu, bevor du die
Milch ablieferst bei den Schwaben.« — Die Mutter: »Führe mich nicht in Versuchung. —
Und der See?« — Der Vater: »Voll mit Blutegeln. Die warten schon. Können‘s gar nicht
mehr erwarten.« — Die beiden im Chor: »Hrn.«
Unversehens nähert sich den beiden jetzt eine Gestalt. Niemand hat sie kommen sehen. Es ist,
als sei sie aus dem Heideboden gewachsen. Vielleicht rührt das auch davon, daß sie einen
Mantel trägt, einen langen, in der Farbe der Umgebung. Wie sie sich so im Näherkommen um
sich selber dreht und zwischendurch auch rückwärts geht, könnte sie irgendein Müßiggänger
sein. Dazu passen dann freilich weder die Waffe in ihrem Arm noch das geschwärzte Gesicht
— jetzt erst, als sie vor dem Großelternpaar stehenbleibt, wird es deutlich. »Wer da?« entfährt
es dem Großvater, als sei er selber noch im Krieg, im ersten, und dann: »Kdo si? Wer bist
du?« Seine Frau neben ihm scheint es längst zu wissen, sie lacht aber nur still, worauf die
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Gestalt einen Apfel aus dem Bäumchen pflückt und ihn vor sich hinhält, worauf der
Großvater nur den Namen seines Sohnes sagt: »Gregor!«, und die Mutter:
»Jonatan.«
Gregor-Jonatan gesellt sich zu seinen Eltern, indem er sich niederläßt auf der Bootskante,
oder wo. Dabei zeigt sich, daß er unter dem Mantel eine Uniform trägt, keine deutsche, und
auf dem Rücken einen Rucksack, einen spürbar leeren. Er wischt sich den Ruß aus dem
Gesicht. Die drei schauen und schweigen einander eine Zeitlang an. Dann läßt sich die Mutter
hören: »Du mußt hungrig sein.« —Jonatan: »Die halbe Zeit dort oben im Wald reden wir nur
vom Essen. Lammkeule in Speck gebraten, erbarme dich unser. Heidensterz in
Grammelschmalz geschwenkt, bitte für uns. Weißwürste mit Sauerkraut, erbarmt euch unser.
Gekochtes Rindfleisch mit Krensoße, bitte für uns. Hirschschinken mit Wacholder, erbarme
dich unser. Palatschinken mit Preiselbeermarmelade, bringt unseren Mägen den Frieden.« —
Die Mutter: »Hier, in der Kanne« — sie holt zwischen den großen eine kleinere Kanne hervor
— »ist Ziegenmilch, von der nicht registrierten Ziege —« — Jonatan: »— die mit Vorliebe
die Blüten von den Waldreben frißt. Was für eine Milch das gibt, Mutter! Heute noch werden
wir dank ihr im Paradies sein, ein Mundabwischen lang.« Und schon hat er die Kanne im
Rucksack verstaut. Rückwendend hat der Vater aus dem Bootsrumpf ein Bündel von scheint‘s
frisch gefangenen Fischen, Forellen, oder Zander, oder sonstwas, gezaubert und dem Sohn
wortlos hingehalten, der den Schatz wiederum im Handumdrehen einpackt, und sich dann
hören läßt: »Unser Koch wird die Fische heute noch braten, in einem Feuer, wie nur er das
brennen lassen kann, ohne Funkenflug, und ohne Rauch, der uns verrät, mit Reisig, das er
ausschließlich allein holen geht, ein strohtrockenes.« — Der Vater: »Früher bin ich euch
1Km- dem ein jedesmal über den Mund gefahren, wenn ihr >ich< gesagt habt, weißt du
noch?« — Jonatan: »Wie denn nicht, Vater? >In diesem Haus kein Ich!< Und obwohl es in
unsrer lieben Sprache normal kein eignes Wort gibt für >ich< — >ich< bin versteckt in der
Endung des Zeitworts, haben wir damals in der Schule von Maribor gelernt, gledam, >ich
schaue<, ljubim, >ich liebe< —‚ hast du uns seinerzeit in Haus und Hof sogar die versteckte
Ich-Form austreiben wollen, kein >ich fühle<, kein >ich denke<, kein >ich möchte<, und wie
erst die betonte, >ich meine<, >ich denke<, >jaz menim<, >jaz mislim<
>In unserem Haus ist Platz einzig für wir und uns!< hast du gesagt . . . « — Der Vater: »Noch
als Zwangssoldat bei denen dort hast du >ich< gesagt, >ich< geschrieben, >ich< gesungen —
das >Ich< sogar betont! Mir scheint, jetzt aber, dort oben in den Wäldern —« — Jonatan: »Ja,
Vater: Bei uns Kämpfern ist das Wort >ich< aus dem Wortschatz gestrichen.« — Die Mutter:
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»Mein Gregor ein Kämpfer?« — Jonatan: »Ja, Mutter. Es gelüstet uns nach Kampf, nach
offenem. Gar zu lang schon liegen wir versteckt.« Und er streichelt und tätschelt dabei seine
Waffe, und herzt sie sogar? — Der Vater: »Und wann greift ihr endlich an?« — Jonatan: »Es
fehlen uns die starken Waffen — die Engländer werfen die fast nur ab über dem feindlichen
Gebiet,‘ in den Ebenen. Und die Schwaben erwarten uns dort mit den modernsten englischen
Maschinengewehren . . . « Er steht auf zum Gehen. Der Vater: »Wie schön du da stehst!
Wenn ich bedenke, wie wir alle hier in unserem Jaunfeld, ob Weiblein oder Männlein, aus
alter Gewohnheit immerfort von einem Bein auf das andere treten —« Er macht es vor — »—
und wie ich seinerzeit im Ersten Weltkrieg, von der Isonzo-Front bis nach Galizien, mir das
nicht und nicht abgewöhnen habe können ...‚ und wie es in jedem Dorf zwischen Saualpe und
Karawanken mindestens ein Haus mit dem Hofnamen >Beim Zappier< gibt . . . « — Jonatan,
nach einem Schweigen: »Wißt ihr, Eltern, daß wir, wenn wir von den Bergen hinab aufs
Jaunfeld schauen, jedem der Höfe, wo wir Unsrige wissen, einen geheimen Namen gegeben
haben, einen anderen als den grundbüchligen? Das gehört zur — Konspiration, Mutter.
Zum Beispiel: Beim Hinterzauner, Beim Hintergärtner, Bei den Schaben, Beim Hammer,
Beim Glimmerofen, Bei den Gemsen, Beim Buchsbaum, Beim Dreschflegel, Bei den
Tollkirschen, Beim Himmeischlüssel, Beim Zitterer—« — Die Mutter: »Das würde zu uns
passen —« —Jonatan: »Wir hier heißen anders.« Und er fällt in ein gespieltes Flüstern:
»Wollt ihr wissen, wie unser Hof bei den Kämpfern im Wald heißt? — Pn Zavednem. Beim
—« — Die Mutter flüstert auch: »Beim Bewußten?« — Jonatan: »Ja, Beim Bewußten!« —
Der Vater, laut:
»Und was tut ihr die andere halbe Zeit, außer daß ihr euch versteckt haltet?« —Jonatan: »Wir
planen den Frieden — außer wenn uns ‘die Läuse gar zu sehr plagen.« — Der Vater: »So
glaubt ihr also an euren Sieg?« — Jonatan: »Es kann nicht anders kommen.« — Der Vater:
»Warum?« — Jonatan: »Die Geschichte will es so. Und die Geschichte ist die Siegermacht.«
— Der Vater: »Jetzt trumpfst sogar du mit der Geschichte auf, Gregor —« — Jonatan:
»Jonatan . . . « — Der Vater: »In unserm Haus: keine Geschichte! >Beim Bewußten< paßt
nicht zu unserm Haus. Laßt ihm den angestammten Namen.« —Jonatan:
»Zum Bleier?« — Der Vater: »Zum Bleier.« — Jonatan: »Dort oben im Wald ist nicht dein
Haus, Vater. Dort hast du nichts zu bestimmen.« — Die Mutter: »Und wie wird der Frieden
sein?« — Jonatan: »Wir werden nicht mehr die unerwünschten und verwünschten Fremden
sein im Land zwischen den Karawanken und der Svinjska planina. Niemand mehr wird uns
>Verbissene Slawen< schimpfen. Seit jeher sind wir hier die Letzten gewesen, in der
Monarchie, dann in der Republik, dann im Ständestaat, und erst recht jetzt bei den
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Tausendjährigen.« — Der Vater: »Und nach dem Krieg werden wir Letzten die Ersten sein?«
— Jonatan: »Jedenfalls wird dieses Land dann endlich einmal auch unser Land sein, zum
ersten Mal in der — Geschichte, liebe Eltern.« — Die Eltern haben darauf einander nur
stumm angeschaut. Und dann höre ich wieder die Mutter: »Weißt du etwas von deiner
Schwester?« — Jonatan: »Nein. Und im übrigen sind für uns alle Frauen, die mit uns
kämpfen, Schwestern. So reden wir sie auch an, und zum Nebenmann im Wald sage ich
Bruder.« — Der Vater: »Was für eine Sprache du sprichst, Sohn. So hat noch niemand in
unserer Sippe geredet.« — Die Mutter: »So laß ihn, Vater. Nie hast du die deinigen lassen
können.« — Jonatan hat sich inzwischen zum Gehen gewendet. Dabei ist er über mich am
Fuß des Bäumchens Liegenden gestiegen, hat sich kurz über mein Ohr gebeugt und geflüstert:
»Das merken und nicht vergessen! Träum zu, kleiner Träumer. Das kann zumindest nichts
schaden, im Gegensatz zu den meisten anderen Tätigkeiten heutzutage, ein gutes und
schlechtes halbes Jahrhundert nach dem Hier und Jetzt. Ah, Häuptling Morgenwind!« Und
dann ist er, so unversehens, wie er erschienen war, verschwunden und hat die Eltern, meine
Großeltern, auf der Bank in der Heidesteppe alleingelassen. Nachzutragen ist hier, daß kurz
zuvor, wer weiß wann, der eine Apfel von Hand zu Hand gegangen ist und ein jeder einen
Bissen davon nahm, entsprechend dem: »Tut das zu meinem Gedächtnis.« Und mir ist jetzt,
der Satz sei auch deutlich zu hören gewesen.
Zeit ist vergangen, ich weiß nicht mehr, wie. Weder ist es dunkel noch wieder hell geworden.
Auch keine besonderen Geräusche haben ein Zeitvergehen angezeigt. Aber sie ist vergangen,
die Zeit. Die Großeltern sind still sitzengeblieben. Fast kommt es mir jetzt vor, sie seien
erstarrt, oder eher versunken, ein jeder für sich. Vielleicht haben sie auch die Augen
geschlossen. Und der Wind hat vielleicht die Richtung gewechselt? Ja, so wird es gewesen
sein. Und nach einer Zeit werden die beiden die Augen wieder aufgemacht haben. Der Wind
ist kalt. Die Großmutter scheint zu frieren. Ihr Mann reibt ihr die Hände. Dann höre ich sie:
»Sie haben unser Bienenhaus niedergebrannt, mit einem Flammenwerfer. Ein Nachbarkind
haben sie mit dem Kopf nach unten in einen Zwetschkenbaum gehängt. Einer von den
Unsrigen haben sie den Bauch aufgeschlitzt und den Leichnam geschändet.« — Er: »Das hast
du geträumt, Mutter.« — Sie:
»Teils, teils.« — Er: »Sie haben uns gezwungen, unseren Namen anders zu schreiben. Sie
haben unseren schönen Namen eingedeutscht!« — Sie: »Das hast du geträumt, Vater.« — Er:
»Stell dir vor: nicht mehr >Svinec<, s-v-i-n-e-c — nein, wir müssen uns nun >Swinetz<
schreiben, bei schwerer Strafe! Stell dir vor: w statt y, und statt dem c am Ende tz. We, te, zet,
ist das nicht scheußlich? Te, zet, te, zet — zuerst die Hunnen, dann die Türken, und jetzt die
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Schwaben, diese drei. Die schlimmsten aber sind die Deutschen!« — Sie: »Laß sie.« — Er:
»Immer willst du die anderen lassen, Mutter. Immer bist du versöhnlich. Immer willst du allen
gut sein. Jedes Wort ein Evangelium. Kein Wunder, daß wir nicht vom Fleck kommen bei all
dem Laß-Laß-Blei in den Schuhsohlen.« — Und sie: »Die gute alte Zeit — es hat sie
gegeben, hier bei uns im Jaunfeld jedenfalls. Es hat sie gegeben, denn wir haben sie erlebt.«
— Und er: »Ja, sie war kein Schmäh.«
Und wieder unversehens, wie aus dem Boden gewachsen oder vom Himmel gefallen — ohne
Fallgeräusch —‚ steht jetzt ihre Tochter Ursula, mit Kriegsnamen Snezena, vor ihnen und mir
Liegendem. Anders als ihr Bruder ist sie nicht getarnt, so daß Vater und Mutter sie gleich
erkennen. — Vater: »Mojdunaj, Ursula!«, und die Mutter: »Madonna! Jungfrau Maria! Laß
dich anschauen! Snezena!« Und diese läßt sich anschauen. Eine Andeutung des bekannten
Sippenfreudenjammers, oder der Jammerfreude schon wieder vorbei. Snezena geht im Kreis
um Eltern, Leiterwagen, Boot, Baum und mich dort Eingeringelten herum. Auch sie ist, unter
ihrem Mantel, der vielleicht nur ein Tarnleintuch (im Schnee) ist, militärisch gekleidet. Doch
ihre Haltung ist nicht mehr danach, und ebenso nicht ihre Stimme: »In die Rauchküche
eingesperrt ... die ganze Nacht sein Weinen und Schreien
>Laß mich leben, bei meiner Mutter!< ... >Hilfe! Hilfe!<
Noch nie war eine Nacht so lang ... Am Morgen habe ich mich auf die Knie geworfen vor
dem Kommandanten und mit gefalteten Händen gebeten, Sergej zu begnadigen
Aber er hat sich nicht erweichen lassen ... >Verstoß gegen die Partisanendisziplin hat mit dem
Tode bestraft zu werden!< ... Und das alles für ein gestohlenes Stück Butter
>Nicht zum ersten Mal zeigt er sich unserer Befreiungsfront unwürdig — schon vorher ist er
auf Wache eingeschlafen!<
Das mit der Disziplin habe ich ja noch verstanden, aber daß Partisanen einen der ihrigen —
hinrichten! Er war doch trotz allem einer mit uns, einer für uns, im Widerstand ... ihn
erschießen, weil er ein bißchen Butter für sich behalten hat
Wie die Patrouille ihn weggebracht hat, habe ich mich in den Weg gestellt und gerufen:
>Kinder, was tut ihr da?< ... Aber alle haben durch mich durchgeschaut, und am durchesten
der Kommandant — sogar Sergej, der freilich mit riesengroßen Augen — wie sagt man bei
uns? >Die Angst hat große Augen< ... Und wie die Patrouille ohne ihn zurückgekehrt ist, kam
es: >Traurig — doch so ist es halt im Krieg, es geht nicht anders, es muß so sein<, und einer
der Schützen: >Und außerdem, als all sein Betteln nichts geholfen hat, hat er uns in seinen
letzten Momenten noch die Feinde an den Hals gewünscht: Die Deutschen werden mich
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rächen! Die Schwaben sollen euch umlegen! Alle! Dabei, ich bin sicher, hat Sergej das
Verfluchen bloß gespielt — denn wie sagt man wieder?:
Die Angst spielt, aber sie spielt schlecht . . . < Und wißt ihr, wer ihn exekutiert hat? Ihn
exekutieren hat lassen? Wer war der Kommandeur? Wer ist unser Kommandant? Ratet. Nein,
ratet nicht. Wehe, wenn ihr ihn erratet.« (Sie hält im Kreis- gang inne.) »Mir ist dabei
aufgegangen, Eltern: dort, wo getötet wird, gleichwie, gehöre ich nicht hin. Das ist nicht
meine Welt. Für mich gibt es überhaupt keine Welt, ich gehöre nirgendswohin, außer in den
Stall, zu den Kühen und Schweinen. Ich habe vom Töten immer nur geredet. So wie wir in
unserer Sippe ständig vom Umbringen reden — >ich bring den um!<, >ich erschlage die!< —
und nie und nimmer Töter sind. Ich tauge nicht für den Kampf. Wir taugen nicht fürs
Kämpfen, gleich welches. Wir bäumen uns höchstens einmal auf, jetzt, und jetzt. Aber der
wahre Kampf, das andauernde Kämpfen hat bei uns keine Zukunft.« (Sie fällt zurück in ihren
Kreisgang.) »Aber was hat denn Zukunft? Was bloß?« — Die Mutter, irgendwann einmal
dann: »Dort oben in den Lüften wird die Wilde Jagd daherbrausen, und wir, statt daß wir wie
sonst, um uns vor ihr zu schützen, uns auf den Boden legen und untereinander ein Wagenrad
bilden, werden aufrecht stehen bleiben und das Geschwader begrüßen: >Noch wilder! Noch
böser!< In der Nacht, wenn wir schlafen, wird sich die Trota Mora auf uns hocken, und statt
wie sonst keine Luft mehr zu bekommen, werden wir unter ihrem Gewicht aufatmen und
singen: >Trota Mora, noch schwerer! Noch schwerer!< Und jedesmal, wenn einer von uns
wieder im Grab liegt, werden wir sagen: >Da liegt er, unten im Juchhe.< Es führt fürs erste
kein Weg zurück in den Stall, Snezena. Entweder—Oder. Entweder weitertun, als ob nichts
gewesen wäre, oder — kein Oder. Nur das Entweder. Marsch, zurück in die Berge.« —
Snezena: »Was könnt ihr mir mitgeben?« Und wie ihr Bruder hält sie den Eltern einen leeren
Rucksack hin, der von Vater und Mutter aus Boot und Leiterwagen gefüllt wird, begleitet von
einer Litanei, abwechselnd, zu dritt: »Bachkrebse.« — »Apfelstrudel.« — »Erdäpfel, leider
schon mit Keimen.« — »Rauchfleisch, aus hauseigener Rauchküche.<‘ — »Gugelhupf, mit
Zimt, Rosinen und Nüssen.« — »Eier.« — »Butter ... hier . . . « — »Quitten, gegen die
Läuse.« — »Steinpilze.« — »Die nicht, von denen gibt es in den Wäldern übergenug, und
niemand nimmt sie. Pilze und Partisanen, das paßt nicht zusammen.« Und zum
Abschiednehmen hat sich Snezena auf die Bank zu den Eltern gesellt und
durcheinandererzählt: »Wir essen, wenn überhaupt, nur einmal am Tag ... Unser Bunker ist
eine Rindenhütte, wie sie nur Kärntner Holzfäller aufstellen können
Wenn ich unsere Partisanenlieder singe, habe ich zugleich einen Rosenkranz zwischen den
Fingern ... Wir haben mehrere Schreibmaschinen, aber niemand kann tippen ... Die Deutschen
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erkennt man durchs Fernrohr an ihren breiten Gürteln, auf denen >Gott mit uns< steht ...
Manchmal sind wir so müde, daß uns nur noch Lachen aufrecht hält ... Untereinander
erkennen wir uns durch Losungsworte, zum Beispiel >Die Zwetschken sind reif< — >Aber es
ist doch noch nicht Herbst< ... Der Bauer >Beim Buchsbaum< unterstützt uns am kräftigsten,
nur mit dem Wort >Partisanen< kommt er nicht zurecht, er sagt jedesmal >fazani<, die Fasane
... Und im Frühling habe ich einmal auf einer Lichtung kleine Lilien gesehen im hohen Gras
und dabei gedacht: >Mutter!< . . . « Und dann wendet auch sie sich zum Gehen, samt
gefülltem Rucksack:
»Daß ich mich zeitweise im Wald nach dem Kind der Schwester gesehnt habe: seltsam. Nach
dem Wechselbalg mit dem fremdländischen Geschau, den Grottenmolchhändchen, den
Haaren, die wie nasse Hühnerfedern riechen, der Haut, an der man auch nach dem Entwöhnen
die Muttermilch riecht. Als ob nach all dem, was sich zugetragen hat, nur der Anblick eines
unschuldigen Kindes einen reinigen könnte, sogar eines, das schon am Tag seiner Geburt gar
nicht so unschuldig gewirkt hat . . . « Ich habe den Kopf gehoben, um mich ihr bemerkbar zu
machen. Aber sie ist schon verschwunden, so unversehens, wie sie gekommen ist. Der Vater,
oder wer, hat ihr noch ins Dunkel nachgerufen, ob sie etwas von ihrem Bruder gehört habe.
Und Snezena hat aus dem Dunkel zurückgerufen, daß er vom Kurier aufgestiegen sei zum
Kommandanten! Man nenne ihn den Entwaffner, weil es ihm gelinge, mit seinem Bataillon
ganze feindliche Einheiten zu entwaffnen, ohne daß auch nur ein Schuß Munition
verschwendet werde. Und die Mutter, oder wer, hat ihr noch nachgerufen: »Und die Liebe?
Endlich geweckt, vom Krieg?« — Und, weit weg schon, Snezenas Zurückrufen: »Die Liebe
ist etwas Unreifes, und außerdem führt sie zu nichts.«
Und wieder ist, mit den Großeltern auf der Bank inmitten des Jaunfelds, und mir selbst an der
Baumwurzel, die Zeit vergangen. Der Wind hat neuerlich gedreht und ist senkrecht von oben
gekommen, ein Fallwind, wie manchmal in der Wüste der sogenannte San-Andreas-Wind,
einzig über dem Bäumchen, das davon leicht zus ammengedrückt wurde. Die zwei auf der
Bank haben davon kaum etwas abbekommen. Ob sie überhaupt das Fauchen gehört haben?
Und wieder ein Brief, dahergeblasen von dem San-Andreas-Wind. Und wieder ist es der
Großvater, der ihn öffnet. Und er ist es jetzt, der sagt:
»Ich hab‘s gewußt.« Seine Frau nimmt ihm den Brief aus der Hand und liest ihrerseits laut:
»... sein junges Leben für den Virer und unser großes deitsches Fatterland . . . « Beide im
Chor: »Valentin.« Und darauf ebenso ein zweifaches Laut‘‘ ausstoßen, sich anhörend fast wie
ein Aufschnarchen — und Stille. Dann der Vater, oder wer: »Nie hat er in kurzen Hosen
gehen wollen, und erst recht nicht in langen Unterhosen, auch nicht im kältesten Wind.« —
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Die Mutter, oder wer (beider Stimmen hören sich, für mich am Boden zumindest, eine
Zeitlang gleich an): »Das war doch der Benjamin. Der Valentin, das ist der gegen
Hosenträger. Bloß keine Hosen- träger! Entweder gar nichts, oder Gürtel! Die Mädchen
stehen auf Burschen mit Gürtel, am besten mit einer bronzebeschlagenen Schnalle und einer
Lasche, die an der Hüfte ein wenig herunterhängt. Kommst du einem Mädchen mit
Hosenträgern, bist du von vornherein untendurch.« — Der Vater, oder wer: »Und seine
Schrift, einmal ganz nach links, einmal ganz nach rechts, einmal winzig, einmal riesig —
jeden Tag anders.« — Die Mutter, oder wer: »Und seine Fingernägelmonde.« — Der Vater,
oder wer: »Und die Eisenplättchen an seinen Sonntagsschuhen.« Und wieder haben die Eltern
eine Zeitlang geschwiegen. Und dann höre ich klar die Mutter: »Wenn diejenigen von uns,
welche auf dem Boden des Reichs, der einmal unser hiesiger höchsteigener Boden war, von
den Reichsoberen als Reichsfeinde angesehen werden, vor ihnen, den Oberen, zu stehen
gezwungen sind, so ist es, wie du weißt, Vater, den Unsrigen verboten, ihnen, den
Reichsoberen, in ihre Augen zu schauen, ausgenommen den Fall, daß eins unsrer Kinder auf
dem Schlachtfeld oder wo sein Leben geopfert hat für ihr Reich, woraufhin, wie du weißt,
Vater, der Reichsobrige, bevor er dem Unsrigen die traurige und ihn zugleich
stolzmachensollende Nachricht vorliest, dem Unsrigen befiehlt: >Augen hoch!<, was für den
Unsrigen die einzige und einmalige Gelegenheit und einmalige Begünstigung ist, dem
Obrigen in die großdeutschen Augen schauen zu dürfen — verstehst du?« — Der Vater:
»Hrn. So einen langen Satz habe ich von dir meinen Lebtag lang nicht gehört, Mutter.« — Die
Mutter: »Also: Augen hoch!« — Und indem ich mich recke und strecke, sehe ich, daß das
Großelternpaar aufgestanden ist von der Bank — und ihre Augen? hoch, hoch! weit über
irgendjemandes, selbst eines Riesen, Augenhöhe. Und so höre ich sie gemeinsam
himmelwärts spucken — schwach und schwächer, denn es fehlt dem einen wie der andern der
Speichel. Und dann die Mutter: »Sie sollen wissen, daß wir ihre Feinde sind!« Und dann der
Vater:
»Wieder einer ab in Verzweiflung. >So, so!< sagt der liebe Gott. Ah, daß doch auch noch
unser Gregor umkäme, und unsere Ursula, und die andere, mit ihrem Wechselbalg, unter den
Bomben, draußen, dort, in ihrem deutschen Reich. So wären wir wenigstens ganz allein hier.«
Und darauf die Mutter: »Du lästerst.« Und darauf der Vater: »Ja. Ja!« Und darauf die Mutter:
»Lästere weiter! Lästere. Lästere für mich.«
Nahen Gregor-Jonatans jetzt. Ohne Tarnung kommt er daher, geräuschvoll — ohne ein
Geheimverhalten — ein (fast) vollständiges Sichgehenlassen. Auch abgerissen wirkt er, ohne
Waffe, in seinem grauweißen Leintuch — oder Fallschirmmantel — nicht unähnlich einem,
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der Gespenst spielt. Und entsprechend redet er jetzt auch, nach dem »Laß dich anschauen!«
der Eltern, ohne anzusetzen los: »Recht gesehen: nur noch ein Gespenst bin ich.
Berggespenster wir alle. Sie sind so viele unten in den Tälern. Kaum einer von uns glaubt
mehr an den Sieg. Sie haben noch und noch falsche Widerständler eingeschmuggelt bei uns,
die Partisan spielen und uns in Wahrheit verraten, unsere Lager, unsere Bunker. Diese
Reißteufel sprechen unsere Sprache, sie kommen aus unserem Volk, und sind dabei die
Henkersknechte des Herrenvolks, das sich so vornehm im Hintergrund halten und die Hände
im Nichtwissen waschen kann, wie überall in Europa, von der Ukraine bis Oradour.
Reißteufel, raztrganci, Entzweireißer, verkleidet als Pilz- und Almkräutersucher, mit Salz für
das Wild im Rucksack. Wie sagt man: Schlangen, die ihre Beine verstecken. Nur einer hat
sich einmal selber verraten, >ich bin Partisan!< hat er sich vorgestellt, mit einem deutschen
>s<, statt einem slawischen >partizan< — dich haben wir! die Füße an eine Almföhre
gehängt, kopfunter in einen Ameisenhaufen . . . « — Der Vater, oder wer, unterbricht ihn:
»Woher weißt du das? Warst du dabei? Hast du am Ende —?« — Jonatan: »Ich hab‘s mir
erzählen lassen.« — Die Mutter, oder wer: »Man erzählt heute so vieles . . . « — Jonatan fährt
fort: »So wenige sind wir dort oben, gegen die Übermacht unten, und jeden Tag geht einer
von uns drauf. Und nicht einmal begraben können wir unsere Toten. Fliehen, fliehen, fliehen,
durch den Tag, durch die Nächte. Warten auf unsere Verbündeten? Keiner wartet mehr auf
den Feuerschutz der Englischen. Und unsere eigenen Schutzengel? Zwar geben sie uns ein
Stelldichein, aber wie im Volkslied erst in der Sterbenacht, und sie verlängern, wie im
Volkslied, höchstens das Sterben und geben an Trost nicht einmal einen Hauch. Da liegen sie
dann, die Sterbenden, im Schnee, und alles, was wir tun können, ist, ihnen einen Klumpen
Schnee auf die Lippen zu legen, damit sie wenigstens nicht durstig sind, wenn dann der Tod
kommt. Wie habe ich den Schnee einmal gern gehabt. Und wie zuwider ist er mir geworden,
wenn er fällt und wenn er liegt und wir bei den Nachtmärschen bis zum Hals in ihn einsinken.
Immer einer in den Fußstapfen des andern, damit es aussieht, als sei nur ein einziger Mensch
da gegangen. Und an den baumfreien Stellen als Letztgeher die Spuren mit einem Ast
verwischen. Fast eine Erholung, auf dem festen Schnee einer Lawine zu gehen, weil man da
nicht einsinkt und kaum eine Spur bleibt. Bloß ist die verfluchte Saualpe viel zu sanft für
saftige Lawinen. Und wie zuwider ist mir unsere vielbesungene Drau, naa Drava geworden.
Still fließt sie, laut Volkslied wieder, durch unser Land hier, nicht wahr, im Gegensatz zur
lebhaften Save jenseits der Karawanken. Aber nein! Nichts als kalt ist sie, und schmutzig ihr
Wasser, und tief, und um ein Haar bin ich Nichtschwimmer — alle Partisanen sind wir
Nichtschwimmet — ertrunken, als ich in der Nacht mit einem Boot wie dem da, einem
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selbstgezimmerten, eher einem Faß, habe übersetzen wollen, um endlich wieder die
Verbindung, die über- lebenswichtige, herzustellen unter uns Versprengten diesseits und
jenseits. Weißt du, was ich denke bei deinem Boot, Vater? Sarg. Und bei Drau? Grab — und
ganz und gar kein heiliges. Als meinen Feind betrachte ich sie, wenn ich sie von oben dort
sich still in der Sonne durch unser Land schlängeln sehe. Verdammte Drau. Vermaledeiter
Schnee. Auf den Nachtmärschen schlafe ich immer wieder ein, mit offenen Augen, und falle
auf meinen Vordermann, der wiederum auf seinen Vordermann fällt. Am Rand des Verzagens
hat es ansonsten jedesmal ein Wunder gewirkt, wenn einer aus der Kolonne ein Lied
angestimmt hat, ein aus dem Rand des Verzagens geborenes, gleichwelches, es mußte kein
Widerstandslied sein, vielleicht bloß >Ob wohl in der Fremde ein Stern mich kennt . . . <‚ und
eine Kraft ist zurückgekommen. Nur singt bei den Märschen im Schnee inzwischen niemand
mehr. Höchstens räuspert sich einer, oder flucht, und eins der Maultiere schreit auf. Als ein
Toter schleppe ich mich dahin, lasse ich mich dahinschleppen. Eine Zeitlang ist es unterwegs
noch von einem zum andern durch die Kolonne gegangen: >Hast du Verbindung? Halte
Verbindung!< Aber nicht einmal davon ist inzwischen mehr die Rede. Stumm torkeln wir
nachtlang, torkele ich bergauf und bergab, unansprechbar für gleichwelche Verbindung.« Er
hält inne. »Verbindung ist Verbindung, oder? Hauptsache, es gibt noch das Wort, nicht wahr?
Seltsam, wie das, was ich bloß so bei mir gedacht habe, mit dem Aussprechen zweifelhaft
geworden ist ... Und ist dir aufgefallen, Vater, wie ich mehr und mehr >ich< gesagt habe?
Und wieder seltsam, wie die Bilder von uns als Gespenster, als Tote, als Versprengte mich
von Bild zu Bild, von Wort zu Wort etwas anderes haben sehen lassen als Gespenster,
Haibtote, Verbindungslose — das Gegenteil? nein! — etwas anderes ... Soll ich mich stellen?
Was soll ich tun?« — Der Vater: »Bleib bei uns, Gregor. Niemand wird dich hier suchen.
Unser Haus wird nicht mehr überwacht, seit Benjamin
— und schon gar nicht jetzt, seit — Du bist unser Letzter.« Er reicht seinem Sohn den
Feldpostbrief mit der zweiten Todesnachricht. Jonatan liest. Keine Bewegung. Schweigen.
Der Vater dann weiter: »Die Wirtschaft braucht dich. Dein Obstgarten wartet auf dich. Er
vermoost. Die Äste gehören beschnitten. Nicht bloß der Jonatan-Apfel und die Gute Luise
von Avranches fragen nach dir. Du bist ein Apfelmensch, und ein Apfelmensch ist nichts für
den Krieg.« — Jonatan:
»Und du, Mutter? Was sagst du? Du warst in unserer Sippe seit jeher die einzige, die wußte.
Die einzige, die weiß.« — Und seine Mutter? Steht auf und füllt ihm den Tragsack, hast du‘s
nicht gesehen, mit Proviant, einem ganzen Schinken? einem Sauschädel? einem gerupften
Truthahn? Jedenfalls faßt der Sack so viel, als sei er ohne Boden. Und was sagt sie dann?:
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»Marsch, zurück in den Schnee! Zurück über die Drau für ein zweites Bad.« — Und Jonatan:
»Wo steht das geschrieben?« — Und die Mutter: »Im Buch unseres Lebens.« — Und der
Sohn: »Und, was steht da weiter?« — Und die Mutter: »Ja, wenn ich das wüßte ... Nimm dich
am Schopf, und ab.« Und verschwunden ist Jonatan, nachdem er sich am Schopf genommen
hat.
Und wieder vergeht die Zeit, mit den Großeltern auf der Bank in der Jaunfeldheide. Der Wind
weht nun, scheint mir, von allen Seiten, und vordringlich von unten herauf, ein Aufwind, wie
aus dem Erdinneren heraus. Das Bäumchen, in dessen Wurzelnest ich liege, biegt sich samt
Restäpfeln aufwärts, und von den Früchten kommt ein blechernes Geräusch, ein Gerassel, ein
Scheppern. Da heraus höre ich den Großvater, nach einem den Wind übertönenden Seufzen:
»Wie lang dieser Krieg dauert. Im ersten Winter hat man gesagt: Das Ende, oder der Sieg,
oder was, steht bevor. Und jetzt schon der sechste Winter, und der endliche Endsieg angeblich
nur noch eine Frage der Zeit. Aber welcher Zeit?« — Darauf die Großmutter, nachdem auch
sie unseren Seufzer geseufzt hat:
»Ah, der Frieden. Nichts so schön wie seinerzeit der Frieden. Noch dazu in unserer Sprache:
Mir!« — Der Mann: »Wie feierlich ist da alle Verrichtung in Haus und Hof. Das Einspannen
des Pferds —« Die Frau nimmt ihm die Worte aus dem Mund: »Das Einkochen der
Himbeeren, der Brombeeren, der Schwarzbeeren, und zuletzt im Jahr noch der Preiselbeeren,
oben von der Svinjska planina — wie rubinrot die geglänzt haben ... und —« Der Mann
nimmt ihr seinerseits die Worte aus dem Mund: »Und das Einsalzen der Speckseiten —« —
Die Frau: »Und das Einstampfen des Sauerkrauts, das Einlegen der Essiggurken —« — Der
Mann: »Und das Einwintern der Rüben auf den Feldern —« — Die Frau: »Und das Einkellern
der Äpfel im Haus —« — Der Mann: »Und das Eintreten der Söhne und der Töchter in die
Stube —« — Die Frau: »Heilig war der Frieden, heilig, heilig, heilig.« — Der Mann: »Ohne
Politik, ohne Kaiser, ohne Republik haben wir auf unserer Wirtschaft gewirtschaftet —« —
Die Frau: »— und waren unsere eigenen Könige —« Der Mann: »— waren die Festkönige.
So war er, der Frieden. Und wo sind sie jetzt, die Könige?« — Die Frau: »Die Könige des
Friedens sind gestorben, sie haben nichts zum Wirtschaften mehr gefunden.« — Der Mann:
»Und wie wird der kommende Friede sein?« — Die Frau: »— wenn er sein wird ... Manchmal
scheint mir, die Welt ist schon untergegangen. Es gibt nur noch ein Als-ob. Als ob Frieden
käme. Als ob Welt wäre. Als ob Kinder wären.« — Der Mann: »Und das sagst du?« — Die
Frau: »Und das sag ich.«
Dabei scheinen die beiden auf der Bank gar nicht bemerkt zu haben, daß aus dem Himmel
mitten in ihrem Palavern Flugblätter oder was herabgeflattert sind, ein ganzer Schwarm
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davon, hin über das weite Feld. Und als ich jetzt den Kopf hebe und um mich luge, zeigt sich
im Hintergrund unversehens jemand, ungewiß, ob Mann, ob Frau, der mit einer Leiter
dahingeht, etwas wie einer Obstbaumleiter, samt Korb zum Brocken und Pflücksack, dem an
den Rändern gezackten, samt langer Stange zum »Einfischen«. Zwar ist er gleich wieder
verschwunden, aber es folgt ihm eine andere Gestalt, mit einem Ball unter dem Arm, gefolgt
von wieder einer anderen, unterwegs mit einem Vogelbauer, darin ein Schock bunter Vögel
im Durcheinander, gekreuzt von einer weiteren, die in einer Art Flechtkäfig eine riesenhafte
Katze, oder was das ist, zum Tierarzt, oder sonstwohin, bringt, gefolgt von zwei
Rauchfangkehrern, wie Vater und Sohn, gekreuzt von drei Anglern, wie Vater, Sohn und
Enkel. Dann noch einer mit Steinen in beiden Händen. Wird er die schmeißen? Nein, er
benutzt sie, rund, wie sie sind, als Kegelkugeln. Und am Rand der Szene ein Ringkampf?
Nein, einer macht einem andern die Räuberleiter. Und dann wandelt noch der Mann vorbei,
den ich vor einer Ewigkeit gehen gesehen habe am Rand einer Landstraße, im ländlichen
Festtagsgewand, Wind um die Hosenbeine, da geht er von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und
dazwischen zwei einander kreuzend mit »Friedenspfeifen«. Und einer, der im Gehen
Spielkarten mischt. Und Momente einer Schneeballschlacht. Und Apfelwerfen. Und ein paar,
die im Gehen Maiskolben schälen.
Und jetzt kommt aus einem anderen Hintergrund Gregor Jonatan daher, »Militär« wie noch
nie. Und er redet lauthalsschon von weitem, wobei er seine Waffe streichelt und tätschelt:
»Livio, Eltern, zdravo! Kapitulation von denen nur noch eine Frage der Zeit —« Die Eltern
im Chor: »— Frage der Zeit?« —Jonatan: »— von Stunden, von Tagen, von höchstens einer
Woche. Sogar ihre Gendarmen, die allergiftigsten, werden sanft und nennen uns das
Befreiungsheer. Und aus den zwei, drei Österreichern in unserem Heer — ja, ein Heer sind
wir inzwischen! —« Die Mutter, oder der Vater: »Österreicher<?« — Jonatan: »Die deutsch
Sprechenden. Aus den paar Österreichern ist inzwischen ein ganzes Bataillon geworden. Und
die englischen Verbündeten sind wieder wirklichwahr unsere Verbündeten. Sie springen mit
den Fallschirmen ab und kämpfen mit uns, sterben für uns hier, auch Offiziere, besonders die.
Und alle jugoslawischen Völker, alle haben sich inzwischen befreit und sind auf unserer
Seite.« (Er beugt sich für ein Extempore zu mir hinab.) »Ich weiß, Patenkind,
Allgemeinheiten sind nicht deine Sache. Aber für Momente, da sind sie am Platz. Und du
brauchst sie ja nicht alle mitzuschreiben. — Nach dem Krieg werden wir den Leuten im Land
die Hand reichen, und wir werden zusammen zu dem großen freien Europa gehören. Keiner
wird mehr ein Knecht sein hierzulande, kein Volk wird mehr ein anderes unterkriegen wollen.
Zum ersten Mal in unserer Geschichte werden wir frei sein, Eltern. Frei vor allem, unsere
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Sprache zu sprechen. Niemand mehr wird uns im Gasthaus, in der Eisenbahn, im Omnibus, in
den Ämtern anherrschen, gefälligst deitsch zu reden, oder ... Niemand mehr von denen wird,
was uns betrifft, in unserm geliebten Land das Sagen haben. Ja, geliebtes Land, hier: Schon
damals auf der Obstbaumschule drüben in Slowenien hat es mich ständig heimgezogen. Und
auch jetzt im Krieg, sooft ich jenseits der Karawanken war, konnte ich es nicht erwarten,
heimzukommen, hierher zur Svinjska planina, an unsere Sprachgrenze. Heimweh, ewigliches,
domotoje, od vekomaj do vekomaj. Heimweh nach dem schönen Kärnten, nach der lepa
Koroka, weiblich in unserer Sprache ... Wißt ihr übrigens, daß es da eine erste befreite
Republik gibt? Die freie Republik von Zell PfarreSele?« — Der Vater, und/oder die Mutter:
»Zell Pfarre ist doch bloß ein Dorf.« — Jonatan: »Aber ein großes Dorf, ein sehr großes. —
Und wißt ihr, wie meine Truppe einen Vorgeschmack bekommen hat vom bevorstehenden
Frieden jetzt? Und wie ich selber ihn vorgeahnt habe?« (Und neuerlich beugt er sich zu mir.)
»Das ist jetzt was zum Mitschreiben, Patenkind. — Das war, als ich endlich einmal zum
friedlichen Schlafen dort im Bergwald kam. All die letzten Monate, von Nachtmarsch zu
Nachtmarsch, mußten wir immer auf den Steilhängen schlafen — wenn überhaupt von einem
Schlafen die Rede sein konnte. Wir haben uns dabei mit den Füßen von den Bäumen
abgestemmt, sonst wären wir in unserem Halbtotenschlaf hinuntergestürzt, kopfüber.
Nächtelang waren wir allein damit beschäftigt. Und immer wieder sind einige von uns
abgerutscht und dann gefallen, zum Glück meistens ins Dickicht hinein, auch ich. Aber seit
kurzem gibt es keine Nachtmärsche mehr, wir flüchten nicht mehr vor denen. Und ich habe
zum Schlafen meine Mulde gefunden. Ausgelegt ist die mit Farnen und Tannenzweigen, und
darüber ist ein Gemsenfell gebreitet, nein, mehrere Felle! Und ein Gemsenfell auch zum
Zudecken — wenn ihr hier im Flachland wüßtet, wie so ein Gemsenfell warmhält! Und so
liegen wir alle, jeder in seiner Mulde, wie von der Erde verschluckt, in himmlischer Ruhe.
Und dazu erst der Friedensvorgeschmack, ja, Geschmack, Patenkind: Das war, als wir auf
einer Lichtung den frischen Löwenzahn ausgegraben haben, ihr wißt ja, Eltern, den ersten und
feinsten Salat im Jahr. Von einem Moment zum nächsten haben wir alle unsere Waffen
abgelegt — nein, nicht ganz alle, einer hat noch Wache gehalten —‚ haben uns auf den Bauch
geworfen, Dutzende von Kämpfern, die Lichtung voll von Auf-dem-Bauch-Liegern,
welchselbige die Löwenzahnsprossen mitsamt den Wurzeln ausgegraben haben, ein paar mit
den Taschenmessern, die meisten bloß mit dem Eßlöffel, so einem —« — er zeigt den seinen
im Kreis — »— den ein jeder seit Kriegsanfang bei sich trägt — wesentlicher Teil unserer
Ausrüstung! Eimer um Eimer voll von dem frischen Löwenzahn. Und wie wir dann über den
hergefallen sind. Nichts hat uns jemals besser geschmeckt, Leute. Und nichts wird uns je
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besser schmecken. Und so wie das Essen jetzt, so wird der Friede sein! hat dabei einer gesagt,
und danach alle, alle. Und mir nichts, dir nichts haben wir im Anschluß Projekte für den
Frieden gemacht, ein jeder hatte auf einmal eins. Koch, Zimmermann, Feilhändler, Bootb
auer, Schwimmlehrer, Sargtischler, Spielzeugschnitzer. Einer kam gar mit: Politiker. Aber die
meisten haben spontan Löwenzahnsammler gesagt, fürs erste jedenfalls. Und in der Nacht
dann haben wir überall auf der Svinjska planina, oberhalb der Baumgrenze, Höhenfeuer
angezündet —« Und zum dritten Mal wendet er sich dabei an mich, bodenwärts: »Das schreib
jetzt vollständig mit, auch wenn es dir gegen den Strich geht! — Und auf sämtlichen Bergen
unseres Landes, auf der Petzen, auf dem Obir, auf der Koschuta, auf dem Mittagskogel, auf
dem Dobratsch, auf der Gerlitzen, auf dem Ursulaberg, sind andere Höhenfeuer aufgeflammt
und haben den Völkern unten vermittelt, daß nach den Jahren der teuflischsten
Gewaltherrschaft der Menschengeschichte unseren heimischen Völkern der Tag der Befreiung
bevorsteht, und dabei ist mir gewesen, nein, waren wir sicher, daß die Feuer zu sehen
gewesen sind nicht bloß hier über diesem Land, sondern auch auf dem ganzen Kontinent und
sogar jenseits der Meere, bis Alaska, Feuerland und Sumatra. Kein Ländchen war das, kein
kleines Land ist das! Und wißt ihr, was wir am folgenden Morgen unternommen haben?
Diejenigen von uns, die vor dem Krieg noch tanzen gelernt haben, haben denjenigen von uns,
die damals noch zu jung dafür waren und die nichts als vom Wald und vom Widerstand
wissen, das Tanzen beigebracht, damit, wenn der Frieden da ist, alle, alle von uns tanzen
können! Ah, und vergessen habe ich noch zu erzählen — schreib mit, Patenkind, wörtlich! —‚
daß an mir auf der Löwenzahnlichtung ein Wunder geschehen ist. Beim Schmausen dort ist
mein blindes Auge wieder gesund geworden. Ich habe momentlang mit zwei Augen gesehen,
was noch kein Zweiäugiger je gesehen hat. Mein totes Auge, es lebt — da!« — Darauf der
Vater und/oder die Mutter:
»Und was weißt du von deinen Schwestern?« — Und Gregor Jonatan, ein paar Augenblicke
später: »Die eine sucht noch immer draußen im Reich ihrem Kind den Vater, unter den
Bomben. Da wird der Bankert schreckhaft werden. Schreckhaft und vaterlos. Aber vaterlos:
recht so. Vielleicht zu seinem Glück.« — Worauf ich mich einmal einzumischen versuche,
mit traumschwerer Zunge: »Schreckhaft ist nicht ängstlich.« So oder so hat mich niemand der
Meinigen gehört, denn die Großeltern fragen weiter: »Und die andere? Und Ursula? Und
Snezena?« — Jonatan: »Gefangen. Eingekerkert. In der Stadt. Mit mehreren in einer
Todeszelle.« — Vater und/oder Mutter, wieder nach einigen Augenblicken: »Warum rettet ihr
sie nicht?« — Jonatan: »Nur die Bomben können sie retten. Das Brummen der westlichen
Tiefflieger, die einzige Hoffnung, Musik in den Ohren der Gefangenen. Bombt, Bomber,
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bombt. Daß zittern und krachen die Mauern. Bombt, Bomber, bombt! — Wißt ihr, warum die
nordische Rasse geglaubt hat, den Krieg zu gewinnen? Bei ihren Spitzköpfen würden alle
Kugeln vorbeitreffen, wogegen die Feinde mit den runden Köpfen ... Auf bald, Leute! Salam
Aleikum! Friede mit euch! Pax Christi!« Und schon ist er verschwunden.
Und wiederum vergeht die Zeit auf der Jaunfeldheide, um die Großeltern und mich an der
Baumwurzel herum. Es ist dann, als werde nicht nur ich entrückt, sondern auch das Paar auf
der Bank neben mir, und ebenso mit ihm das Boot und der Leiterwagen. Das kommt vielleicht
von dem Sturm jetzt, der aber einzig im hintersten Hintergrund bläst, still, fast ohne Geräusch,
während wir da in der Windstille lagern. In diesem Hintergrund — allein ich sehe es —
herrscht ein anderes Licht als vorne bei uns, ein klares, scharfes, wie nur im Frühling oder
Vorfrühling. Immer wieder tauchen dort Gestalten auf, wahrzunehmen als bloße Silhouetten?
Schattenrisse? Nein, dazu sind sie zu leibhaftig, und zu massiv auch, was dort hinten dann
geschehen sein wird. So habe ich einen Briefträger erblickt, auf seinem Rad, auf dem er
freihändig dahinfährt und sich dabei eins pfeift, bei Rücken- oder Gegenwind, wie auch
immer, und unversehens, wie vom Blitz getroffen, fällt er vom Rad, kollert zur Seite und
bleibt liegen, während aus der aufgesprungenen Posttasche die Briefe durch die Lüfte sausen.
Ein — sehe ich recht? — Frühlingspilzsucher, den Korb voll mit dunklen Morcheln und
hellen Maipilzen, sinkt ebenso jäh in sich zusammen, und die Pilze purzeln und kollern weg
von dem gleichfalls Reglosen. Das gleiche geschieht mit dem Leitermann von vorhin, der dort
scheint‘s auf dem Rückweg ist, gegen den Sturm: da kracht er zu Boden, samt Leiter; und das
gleiche mit dem Rauchfangkehrerduo, das gleiche mit dem Anglertrio. Schußknall? Keiner.
Eine Frau mit einem Wasserschaff auf dem Kopf: desgleichen. Eine Frau mit einem
Windelpaket: desgleichen. Ein Paar mit einem weißen Tuch, deutlich im Sturm, an einem
langen Haselnußstab: desgleichen — sie alle stürzen durcheinander, als werde ihnen der
Boden unter den Füßen weggerissen. Ein paar, die eine spürbar frisch gegossene
Kirchenglocke rollen- ziehen: desgleichen. Eine Hekatombe von Gefallenen wird bald dort
starr gelegen haben. Dazugekommen sind dann noch: der Ballträger, der Kartenmischer, der
Feiertagswanderer, und so fort; ein Koch bepackt mit Kartoffeln, Zwiebeln, Weinflaschen; ein
Priester im Festtagsornat, unterwegs mit einer golden leuchtenden Monstranz, unter einem
Baldachin, getragen von vier Ministrantenknaben. Als letzter, oder auch zwischendrin, quert
eine Gestalt mit einer riesigen Hakenkreuzfahne den Hintergrund. Schwenkt sie die Fahne? Es
scheint nur so, im Sturm. In Wahrheit schneidet die Gestalt, wo sie geht und steht, mit einer
großen Schere die Swastika aus dem Stoff, und danach das Schwarze, rundherum. Durch das
Loch fährt der Sturm und läßt das Restweiß himmelauf züngeln. Und was passiert mit dem
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Fahnenträger? Nichts, gar nichts. Lang und breit, paradiert er auf und ab im Zickzack, dort im
Hintergrund, hin und her zwischen all den Hinstürzenden oder Gestürzten, und ist zuguterletzt
ungeschoren abstolziert, unberührt auch von den Steinen, oder was es ist, die nach ihm aus
allen Hinterhimmeln fallen, und den Vogelfedern, die nachflattern, den ganzen Flügelteilen,
ganzen Vogelleibern, dann Tierschädeln, Tierkörpern, die dem folgen.
Ist neuerlich Zeit vergangen? Immer noch Sturm. Und durch diesen kämpft sich nun jemand
zu uns dreien in den windstillen Vordergrund. Ist er es? Ja, es ist Gregor, mit
Widerstandsnamen »Jonatan«, und er trägt jemand anderen in den Armen. Ist sie es? Ja, es ist
Ursula, mit Widerstandsnamen »Snezena«, die Schneeige, seine Schwester. Und sie lebt nicht
mehr. Oder: Sie lebt noch, einen Augenblick lang, oder täuscht das?, steht, sinkt, sitzt, liegt,
stirbt. Ihre Eltern, meine Großeltern, kommen allmählich zu sich. Und von beiden das: »Ich
hab‘s gewußt.« Und vom Vater, oder von der Mutter dann: »Wann ist es passiert?« —
Jonatan: »Gerade erst. Ich bin zu spät gekommen. Sie hat den Blick nicht von den Folterern
abgewendet. Und so haben die Folterer sie töten — müssen.«
Sturm aus. Helles Licht allüberall auf unserem Jaunfeld, wie nur von der Maiensonne. Eine
Taube flattert daher, und auch wenn sie mir eher papieren vorkommt: es ist eine Taube. Eine
Riesenschrift schwebt aus dem Himmel und tanzt über den Lebenden und den Toten: PEACE
— FRIEDEN — MIR — SHALOM — SALAM. Tausendvogelgesang, samt Nachtigall am
helllichten Tag. Der Vater springt auf, reißt mir den Apfelbaum samt Wurzeln unter dem
Kopf weg, schmeißt ihn ins Nichts, setzt sich zurück auf die Bank und schlägt mit der Faust
darauf und schlägt, und schlägt, bis die Mutter ihm die Hand in die Ellbogenbeuge legt und
sagt: »Ich weiß.« Darauf nimmt er dem Sohn die Tochter ab, bettet sie in das Boot und zieht
dieses aus meinem Blickfeld. Die Mutter steht auf von der Bank und ruft, als sei ihr Sohn weit
weg: »Jonatan!« — Dieser: »Kein Jonatan mehr, Mutter. Der Kampf ist vorbei ... Wir haben
... gesiegt ... Ich bin wieder Gregor. Nur Snezena wird Snezena bleiben, für immer.« — Die
Mutter: »Hat sie noch etwas gesagt?« — Gregor: »Ja: >Unser Vater hat das Wort Liebe ja
nicht hören können. In meinem Haus keine Liebe. V moji hii ni ljubezni. Aber ich liebe euch
alle. Ampak jaz vas vse ljubim.<« Sie gehen mit dem Leiterwagen heimwärts, oder wohin,
Gregor mit der Hand auf der Schalter seiner Mutter, als ob er sich dort abstützt.
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FÜNF
Ich, der Nachfahr, allein auf der Bank inmitten des Jaunfelds, ohne den Baum; in einem
jahreszeitlosen Licht, ohne Luftzug. Neben mir auf der Bank eine Art Seesack ähnlich dem,
mit welchem einst einer der Brüder meiner Mutter im Krieg auf Heimaturlaub gekommen ist.
Ich werde dem Sack einen Stapel von Büchern entnommen und eins nach dem anderen
aufgeschlagen haben. Unterstreichen, notieren, zwischendurch in die Luft schauen. Dabei
geschieht neuerlich eine Verwandlung. Alles bleibt aber auf seinem Platz, nur das Licht wird
zu dem des längst oder gar nicht vergangenen Maientags, und eine Mailuft umweht mich, und
nicht allein mich. Und allseits setzt wieder das Glockenläuten ein, wenn auch aus weiter
Ferne. Wenn dazwischen Sirenen zu hören waren, so zur Entwarnung. Wer sich dann nähert,
das ist Gregor, der Überlebende der drei Brüder meiner Mutter. Er ist nicht mehr in seiner
Partisanen-oder-sonstwas-Uniform, sondern im Feiertagsgewand, wie seinerzeit im Frieden.
Ein bißchen ungewohnt scheint er sich darin zu bewegen, und immer noch hat er eine Waffe
nötig, die aber gar klein ist, oder überhaupt nur ein Luftdruckgewehr? Und als er die Waffe,
oder was sie ist, jetzt mir zuwirft, fange ich sie nicht auf weiche ihr vielmehr aus — rühre sie
nicht an — schiebe sie von mir weg. Unbemerkt hat er dann einen leeren Papiersack
aufgeblasen und ihn an meinen Ohren zum Platzen gebracht, worauf ich gehörig
zusammengefahren bin. Darauf nimmt er eine Zündholzschachtel zwischen die Lippen und
bläst mir den leeren Behälter, wie einen Pfeil durch ein Blasrohr, gegen den Kopf, worauf ich
mich wegducke. „Zdravo. Dober dan“, sagt er dann. »Bog s teboj!« — Ich: »Wie bitte?« —
Gregor: »Ich hab‘s gewußt. Er versteht unsere Sprache nicht, kein Wort. Wärst du doch in
Wilhelmshaven oder Osnabrück geblieben. Zurück mit dir nach Reinbek, Wandsbek, Lübeck.
Gott mit dir!« Er setzt sich zu mir, die Bücher zwischen uns, zieht eine Mundharmonika
hervor und bläst hinein, schlägt eine Maultrommel. Als er dann redet, wendet er sich selten an
mich. Was er sagt, kommt ungerichtet aus ihm heraus, entsprechend auch dem Ton der
Harmonika, in die er zwischendurch immer wieder so ziemlich den gleichen Ton geblasen
hat. »Der achte Mai des Jahres neunzehnhundertfünfundvierzig war der glücklichste Tag
meines ganzen Lebens, und nicht nur für mich, sondern für alle, die in den Wäldern der
Saualpe, der Petzen, der Karawanken für unsere Heimat das Ende des Krieges erkämpft
haben. Zuerst hat mir meine Uniform noch gefehlt. Bald aber nicht mehr. Ungewohnt war es
besonders, nach der langen langen Zeit fast nur versteckt auf den steilen Gemsenpfaden, mich
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frei hier in meinem Jaunfeld bewegen zu können. Ich habe mich an die Ebene erst wieder
gewöhnen müssen, und auch an die freien Hände, und an den unbeschwerten Rücken. Einfach
so auf den alten Feldwegen und am Rand der Landstraße dahinzugehen, in ich es hierzulande
schlecht gesehen — oder überhaupt nicht. Aber an dem bewußten Tag habe ich das Schöne
gesehen, hier, und kristallklar, mit einem, meinem einzigen großen Auge, taglang und über
den Tag und die Tage hinaus. Allein schon, daß die Hausnamen wieder die alten geworden
sind, Schluß war mit den Geheimnamen aus dem Krieg. Nicht mehr >Beim Bewußten< die
Bezeichnung für unser Anwesen, sondern wie seit altersher >Beim Bleier<. Nie hat mir unser
Hausname etwas gesagt — aber jetzt finde ich ihn schön. Und alle anderen zurückgekehrten
Haus- und Hofnamen klingen mir in den Ohren, so wie zu Ostern bei der Auferstehungsfeier
die zurückgekehrten Kirchenglocken — und in der Zwischenzeit, nach dem Tod Jesu am
Kreuz, ist an ihrer Stelle nur das Geklapper der Karfreitagstatschen zu hören gewesen. Diese
Zwischenzeit, sie ist vorbei, und von den zurückgekehrten Hausnamen kommen mir auch die
schön vor, mit denen wir vorher in der Gegend Spott getrieben haben. >Beim Schoißwohl<,
>Beim Faulhaber<, >Beim Pruntzer<, >Beim Wixer<, >Beim Knozer<, >Beim Wanzerl<,
>Beim Figger<, >Beim Zottel<, >Beim Rauber<, >Beim Tscherfler<, >Beim Trentscher<,
>Beim Tschentscher<, >Beim Eierer<, >Beim Schlecker<, >Beim Kropf<, >Beim
Hungerleitner< — die alle hören sich auf einmal genau so schön an wie >Valparaiso<,
>Rijeka<, >Nininovgorod<,
>Savannah/Georgia<. Ah, unendlich schöner! Ah, überhaupt die Schönheit der Orts- und
Flurnamen des Jaunfelds heutigentags, egal welcher, der einsilbigen wie der mehrsilbigen, der
deutschen wie der slowenischen, ob Aich oder Dob, ob Lipa oder Lind, ob Pliberk oder
Bleiburg, ob Saualpe oder Svinjska planina, ob Diex oder Djeke, ob Altendorf oder Stara vas,
ob Gallizien oder Galicija. Und jeder Gupf und jede Mulde prangt mit einem Namen, statt
>C6te Nr. Zwei< oder >Stellung D<. Wie schön ist das. Und erst die Landschaft selber, das
Grün der Wiesen, ohne Flüchtende und Verfolger, das Braun der Wälder, ohne Kugelblitzen
und Rindensplittern, das Blau des Himmels, ohne Bomber, und erst recht das Weiß meines
blühenden Obstgartens, ohne — ohne
ohne, nichts als das weiße Blühen. Und die Drau nicht mehr unser Feind, sondern fürwahr der
stille Fluß.« Er ist in eine Art Sitztanz geraten. »Und die südlichen Berge keine
Wolfsschanzen und Winterfestungen mehr, sondern Teile des Friedenslands. Und das
Trommeln der Bäche an den Bachsteinen das Gegenteil zu einem Kriegstrommeln. Und das
Glimmerflimmern auf dem Grund der Bäche hier. Und auf dem Grund der Bäche, wo diese
langsamer fließen, die Schatten der Wasserläufer oben. Und auf dem Grund der Bäche, wo
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diese schneller fließen, die Schatten der oben dahinflitzenden abgefallenen Blätter zusammen
mit den in der Tiefe dahinrollenden Kieselsteinen. Und so viele Vögel zu Paaren im Himmel.
Und die Feldhütten sind nichts mehr als Feldhütten, mit der Speck-und-Brot-Jause im Korb,
über den ein weißes Tuch gedeckt ist, und mit dem Mostkrug daneben. Und die Heuharfen
hier werden nichts als Heuharfen sein. Und der Dachboden der Dachboden. Und die
Bildstöcke Bildstöcke. Und die Blume, die daneben blüht, ein Frauenschuh. Heute ist der
erste Tag des Friedens hier im Land, und so zeigt er sich uns, Patenkind. Und zeigt, und zeigt:
zeigt, daß niemand mehr uns von hier weghaben wollen wird, daß die Zwangsausgesiedelten
in ihre Heimat zurückkehren werden, daß niemand mehr in der Bahn, im Bus, in den Ämtern
die Stirn haben wird, unserer Sprache wegen uns über den Mund zu fahren. Im Namen der
Unterdrückten hierzuland haben wir unser Recht in die Hand genommen, frei nach dem
Leitspruch des Aufstands der Bauern, eintausendsiebenhundertunddreizehn drüben in Tolmin,
Slowenien: >Der Kaiser ist bloß unser Diener, wir werden die Dinge selber in die Hand
nehmen< — und heute ist der Tag, da wir dieses Recht endlich, endlich erkämpft haben. Spet
gre za staro pravdo, es geht wieder um das Alte Recht. Und dieses Recht kann uns ab dem
achten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig keine Macht mehr streitig machen. Ab heute sind
wir selber eine Macht — wir, die wir nie etwas zu schaffen haben wollten mit Macht und
nicht einmal ein einheimisches oder eingeborenes Wort dafür hatten. Ab heute ist es uns
selbstverständlich, die Macht zu verkörpern, zum ersten Mal in der Geschichte. Und in den
Vortagen habe ich sie sogar gewollt, die Macht, ich! — seltsam. Und wieder seltsam: daß
heute, am ersten Tag des Friedens, so scheint es mir hierzuland, Republik und Königreich
zusammenfallen! Alle Macht war beim Volk, endlich, und gleichzeitig ist unser Sagen-König
Matja mit seinem Heer aus den Höhlen des Petzengebirges nach jahrtausend- langem Schlaf
hinaus ins Land gezogen. Unsere Sprache, unsere Macht. Jenseits der Sprache bricht die
Gewalt los. Höchste Gewalt tötet die Sprache, und mit ihr den Einzelnen, dich und mich. In
der Sprache bleiben. Auf ihr beharren! Sprache, meine, unsere: Hühnerleiter wird
Jakobsleiter. Luft — Morgenluft — Osterluft — Jaunfeldluft! Das sind die Steigerungen.«
Das allseitige Glockengeläut ist längst verklungen. Und jetzt flauen auch die Mailüfte ab.
Kein Frühling mehr läßt sein Band oder was durch die Lüfte wehen. Ich bin von der Bank
aufgestanden und habe, während Gregor noch am Reden war, meine Kreise über das Feld
gezogen. Dann nähere ich mich ihm, wie ein Bote, oder Herold: »Kaum zwei Wochen lang
hat es das gegeben. Gerade zehn Tage Maimorgenluft habt ihr gewittert. Kein Blut mehr
sehen, sondern Leben. Frieden! Dann ist der gute Frieden in einen bösen umgeschlagen; ihr
wieder einmal die Nichtsahnenden. Es war so geplant, von langer, langer Hand. Zehn Tage
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lang der warme, warme ‘Frieden, und dann der kalte, kalte Krieg — der andauert. Der kalte
Krieg, in Kraft getreten ist er, verfügt vom Westen her, aus dem hier im Jaunfeld auch sonst
die kalten Winde wehen. Die Engländer, gerade noch eure, einmal weniger, einmal mehr,
Verbündeten in eurem Sprach- und Freiheitskampf, sind von einem Tag zum andern als eure
Feinde aufgetreten. Aus ist es mit eurer Macht. Sie sind die Machthaber, das Land ist ihnen
zugeteilt, und eure slawischen Brüder im Osten lassen‘s geschehen. Eure Sprache wird schon
wieder befeindet, und ihre einheimischen Gegner, die sie und euch wie eh und je weghaben
wollen, sind ein Herz und eine Seele geworden mit den Besatzern, die nicht bloß eure Kriegswaffen mit Beschlag belegen, sondern auch eure Sprache.« — Gregor: »Auf einmal sind sie
die Ritter der freien Welt, und wir, gerade noch die Freiheitskämpfer mit ihnen zusammen,
sind nun die zu bekämpfenden Drachen. Und ihre Knappen? Die gerade gemeinsam mit uns
Bekämpften — die Brut der tausend Jahre. Gestern habe ich mich mit ein paar Freunden
unterhalten, auf dem Heimweg in der Nacht, und auf einmal sind Steine geflogen gegen uns,
und geschrieen ist worden, dount spik jugoslav! Dis is Ostria! Und keiner von den neuen
Besatzern spricht unsere Sprache, und wenn wir in ihre Ämter bestellt sind, müssen wir uns
über Dolmetscher verständigen, und alle die waren im Krieg mit den vorigen Besatzern
zusammen, diesseits und jenseits der Karawanken, waren unsere Todfeinde, aus unserem
eigenen Volk. Und weißt du, was einem Unsrigen geschieht, wenn er gegen das neue
Versammlungsverbot verstößt? Er wird in eine Zelle gesperrt mit den aus Jugoslawien
geflüchteten Weißgardisten, die mit BeMu killten, und den Heimwehrleuten und Ustascha,
die für AHi mordeten. Und weißt du, was dabei in mir vorgeht? Ich denke an unsere Toten auf
der Saualpe, auf der Petzen, auf dem Kömmel, auf der Koschuta, auf der Sattnitz, und ich
wünsche mir, bei ihnen zu sein, tot, unter meinen Toten, den Meinigen. Und ich zittere, und
zittere. Und der Englische Gruß, das heißt jetzt: den neuen Besatzern den Arsch zeigen!« —
Dann ich als Bote, wobei ich mich zunehmend verspreche: »Die Ausgesiedelten hat man bei
ihrer Rückkehr zurückschicken wollen in die deutschen Lager, und erst einmal waren sie eine
Zeitlang interniert im eigenen Land. Und als man sie endlich zu ihren verödeten Fluten und
leergeplünderten Höfen hat lassen, mußten sie, so es ihnen gelang, wenigstens ein paar
Hühner zu ziehen, einen Teil der Eier abliefern. Und wenn ihr eure alten Feste wieder feiern
wollt und eure alten Theaterstücke wieder spielen, so macht euch darauf gefaßt: Sie werden
gestört werden. Man wird versuchen, eure Feste und Spiele zu verhindern.« — Gregor: »Ja,
ein
>man<, ein Namenloses, hat zehn Tage nach dem Ende des Kriegs den Platz der früheren
Raumverdränger eingenommen und den frischen Frieden in einen faulen umschlagen lassen.
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Mitten im Tanz — eine einzige Einladung war der an alle Welt, mitzutanzen! — stürmt so ein
vermummtes >man< in den Saal und bewirft den Tanzboden mit Äpfeln und Birnen, nicht mit
faulen, nein, den allerbesten einheimischen — und wir? tanzen weiter, nur frag mich nicht,
was für einen Tanz!« — Ich: »Den Weltverdrußwalzer?« — Gregor: »Die
Teufelsaustreibungspolka. Den Fahrt-zur-Hölle-Kolo. Oder, wenn du willst, den Square
Dance, der das Böse wegtanzt, wie in deinen Western. Eine Zeitlang hat es zu unserm Tanz
gehört, die Äpfel und Birnen aufzufangen und in sie hineinzubeißen. Aber dann ... die
Schlägerei, Knochenbrüche, ein ausgeschlagenes Auge. Und frag mich nicht, wie der
zuständige Friedensrichter dann wieder entschieden haben wird.« Er zitiert: »Die
Verletzungen fallen nicht ins Gebiet der Rechtsprechung, denn zu Kirchtagen und Tanzfesten
ist es seit Menschengedenken wie überall in Österreich Sitte, daß man sich prügelt.< Und
mitten in unserm Theaterspielen, dem wiederaufgenommenen, das Zersplittern der Scheiben
und das I<rachen der Steine auf die Bühne, und aus dem Dunkeln das Gebrüll: >Weg mit der
Banditensprache, weg mit euch. Bühne frei für die Quellensprache, die Sprache des Landes,
die einzige Sprache hier!< Wir spielen trotzdem zuende, frag mich nicht, wie. Vermummt und
maskiert sind diese Steinewerfer. Ich war ja selber im Krieg zeitweise maskiert. Aber nie
wieder möchte ich Masken sehen. Es gibt keine friedlichen Masken. Und frag mich jetzt
nicht, was mir und den anderen Kämpfern beim letzten Sonntagsgottesdienst geschah.« —
Ich: »Ich weiß es. Ihr seid zur Kommunionbank gegangen —< — Gregor: »— und wie wir
uns dort niedergekniet haben, um den Leib des Herrn zu empfangen, nach dem wir während
der Jahre im Wald nur so gelechzt haben, ein Bedürfnis sondergleichen war uns allen diese
Kommunion, wie andererseits das Bedürfnis, bei einer Frau zu liegen, ein Bedürfnis? ein
Heimweh!, da —« — Ich: »Da hat der Priester euch, wie ihr da gekniet habt, übergangen, mir
nichts! dir nichts!« — Gregor: »— und den Leib Christi den anderweitigen Kniern
dargereicht, und ich und die Unsrigen sind noch die längste Zeit mit den empfangsbereit
herausgestreckten Zungen dagekniet, bis ich begriffen habe — nein, nichts habe ich begriffen
und werde es nie begreifen. Die gerade noch im Evangelium >Das Leben ist erschienen!<
verkündet haben, haben dieses Leben mit der verweigerten Kommunion wieder verschwinden
lassen, für immer und ewig.« — Ich als Bote oder Berichter: »Viele der Priester im Land sind
neu. Sie waren im Krieg die Mitgewaltigen der fremden Gewaltherren jenseits der Berge und
sind nach ihrer Flucht hier in ihre jenseitige Amtsgewalt eingesetzt worden, während viele
eurer hiesigen Seelsorger, Lehrer, Anwälte und Ärzte euch wieder alleingelassen haben und
ins Neue Jugoslawien übersiedelt sind.« — Gregor: »Das Neue Jugoslawien die einzige
Möglichkeit: zu meinem Kummer, zu meinem Leidwesen! Denn ich gehöre hierher, und
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hierher zieht es mich seit jeher, nur hier bin ich glücklich gewesen, wenn je. Mein Herz ist im
Jaunfeld. Das Neue Jugoslawien, es ist bloß der letzte Ausweg. Ist es einer? Nein, denn würde
ich das Jaunfeld verlassen, wäre es um unser Anwesen, unsere Liegenschaft, unsere
Wirtschaft geschehen. Nicht wenige von uns sitzen nun unten am milden Adriatischen Meer,
in Koper, im schönen Piran, in Portoro, in Ankaran, und — haben Heimweh nach den
Wäldern und dem Schnee allhier, höchstselbst! Sind bedürftig, bedürftig des Hierseins — so
wie mein Bruder Benjamin dort aus der Tundra sich einmal hören ließ: >Jede Seele sehnt sich
nach dem Heimfahren.< Unser ewiges JaunfeldHeimweh — wie ich es satt habe, dieses
domotoje. Und trotzdem werden wir es nicht los, nimmer und nimmer. Denn hier sind wir
zuhause, nicht jenseits der Karawanken, nicht in Slowenien, nicht in Jugoslawien, nicht an der
Adria, nicht in Piran. Zuhause sind wir hier, allhier, im Jaunfeld, zwischen Saualpe und
Petzen, in unserem Kärnten, v nai Koroki. Andererseits: unsere Wirtschaft, sie ist ohnedies
halb tot. Die Schwester im fremden Land, und fremdes Land ist abgebrannt. Und im Haus ein
Wegschaun stumm, um viermal- vierzig Ecken herum. Selbst im Stall wird unsre Sprache
nicht mehr laut, und ohne Kümmel und Essig kein Sauerkraut.« — Ich: »Und das
Allerneueste . . . « — Gregor: »Spiel den Boten.«
— Ich: »Auch den des Unglücks?« — Gregor: »Spiel ihn.« — Ich:
»Die neue Macht hat deinen Obstgarten, den aus dem Vor- krieg, abgebrannt — man braucht
einen Parkplatz für die Panzer.« — Gregor: »Sie waren noch jung, meine Bäume.« — Ich:
»Sie haben geschrieen im Feuer, die Birn- und Apfelbäume, so voller Saft die Stämme, und
als die dann geplatzt sind, hat sich das angehört wie Böllerschüsse —« — Gregor: »— die wir
sonst abgefeuert haben zur Auferstehungsfeier in der Osternacht.«
Eine Zeitlang haben wir in uns hineingeschwiegen und unsere Kreise um die Bank inmitten
des Jaunfelds gezogen. Dann läßt sich Gregor hören: »Jetzt ist sie ganztot, unsere Wirtschaft.
Endgültig entmachtet bin ich — sind wir. Machtlos. Und gerade so geht mir auf, was für eine
Macht ich doch hatte, an der Hand unseres Obstgartens dort. Unsere letzte Macht. Aber was
für eine. Was für ein Verlust, der Verlust dieser Macht. Machtlos, hilflos. Die Deutschen, im
Krieg, haben unsere Häuser und Scheunen abgebrannt, aber wenigstens unsere Obstbäume
haben sie uns gelassen. Und jetzt die Befreier aus West, die Fizzies und die Fuzzies, die
Frankies und die Prizzis, sie geben uns den Rest. Und das aus einem Land, wo mit die
schönsten Früchte herkommen, die edelsten, die schmackhaftesten. Hilf uns, Mister oder Sir
Cox, der du uns mit dem Apfel Cox Orange beschert hast. Obstgärtner, sadjar, William, dem
wir die Wilhiamsbirne verdanken, die mit dem zarten gelbweißen Fleisch, steh uns bei.
Anderer Gärtner, Thomas, der >Fern von der tobenden Meute<, der du der Hardy-Birne
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deinen Namen gegeben hast, steh uns bei. Züchter, dort drüben jenseits des Ärmelkanals, des
>Zitronengelben Vetters<, lahtnik, mit dem Duft nach Wein, bitte für uns. Vater der
>Londoner Adamsrippe<, bitte für uns. Aber ihr Jetzigen jenseits des Kanals, die ihr euch hier
bei uns ärger aufführt als je in euren Kolonien, Bonbon-und-Schoko-Werfer bei Tage,
Flammenwerfer in der Nacht:
Daß euch Folge-Reißteufeln die Zähne ausfallen. Daß eure Wolverhampton Wanderers in die
hinterletzte Spielklasse abwandern, mit der Roten Laterne bis zum Nimmerleinstag. Daß die
Tottenham Hotspurs kalt abgeschossen werden und spurlos verschwinden. Daß Manchester
United auseinander- fällt in Staubpartikel. Daß eure Westbromwich Albions Spiel um Spiel
vergeigen. — Die alten Namen sind zurückgekehrt. Ja! Aber sie sagen nichts mehr. Sie heißen
nichts mehr . . . «
Währenddessen haben wir beide weiter unsere Kreise gezogen, jeder den seinen. Und jetzt
nähere ich mich von neuem meinem Paten als Bote, mit schlecht gespielter
Radiosprecherstimme, mich mehr und mehr versprechend — verhaspelnd — verstotternd:
»Und wieder weiß ich, was du nicht weißt. Und wieder muß ich der Unglücksbote sein, für
ein Unglück, und dann wieder eines. Aber womöglich handelt es sich ja gar nicht um ein
Unglück, vielmehr um den Lauf der Begebenheiten, den Gang der Geschichte? Das erste:
der Bannstrahl im Jahre neunzehnhundertachtundvierzig, von Moskau ausgehend gegen das
Neue Jugoslawien. Und ihr hier, die Waldsoldaten von früher, wie werdet ihr das zu spüren
bekommen haben, in dem Land, das ihr samt dem, was bisher geschah, weiter als euer Land
seht?« — Gregor:
»Die einzigen, die im Neuen Österreich als unsere Bundesgenossen auftraten, wenn auch nur
halbherzig, waren sie doch schon im Krieg dem Kampf an unserer Seite ausgewichen, die
Moskau-Hörer, die werden uns im Hand-um-drehen mit dem gebannten Neuen Jugoslawien
mit in Bann legen. Im Handumdrehen sind wir ein Volk ohne Volksvertreter — wir, die
Sieger. Die uns vordem schlecht und recht, aber immerhin, in der fernen Hauptstadt vertreten
haben, werden sich nicht bloß von uns abwenden, sondern sie werden uns bekämpfen, bis
zum Existenzentzug. Sind wir damit in unserm Geburts- und Kindheitsland endgültig allein?
Wohin sich noch wenden?« — Ich habe inzwischen weiter meinen Kreis gezogen und nähere
mich erneut, als Bote, der sich verspricht, verhaspelt ...: »Wieder ein Jahr ist vergangen, und
in Paris, draußen dort, haben die Außenminister der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten,
Großbritanniens und Frankreichs in geheimen Verhandlungen entschieden, daß das Gebiet
eures Volkes Teil des Staates Österreich zu bleiben hat —« Gregor:
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»— welcher es als ein den Namen >Volk< nicht verdienendes behandelt. Und das ist der
Lohn dafür, daß wir die einzigen waren, die zu mehreren, dann vielen, zuletzt vielen, vielen,
gekämpft haben um die Befreiung des Landes, wie es die Bedingung der Deklaration von
neunzehnhundertdreiundvierzig — wieder Moskau — gewesen ist dafür, daß das Land
Österreich nach dem Krieg sich neu selbständig nennen darf. Ein Land, das uns nicht will,
und das gerade dank uns neu als Staat dastehen darf, in dem Erdteil ganz inmitten. Gang der
Geschichte? Nicht eher Lindwurm, der sich selber in den Schwanz beißt? Und damit ganz und
gar nicht sich selber wehtut?« — Ich habe indessen meinen Kreis gezogen und nähere mich
zum wiederholten Mal in der Rolle eines Boten oder dilettantischen Radiosprechers: »Und
inzwischen sind wieder Jahre vergangen, und das Land ist frei. Die fremden Truppen werden
abziehen. Das rot-weiß-rote Buch, in dem Österreich als Beweis für seinen Freiheitskampf im
Zweiten Weltkrieg zuallererst den Kampf der slowenischen Kärntner anführt: es hat seine
Schuldigkeit getan.« — Gregor: »Wir haben demnach zu gehen, endgültig. Oder zu
verstummen, von Volkszählung zu Volkszählung, von Busfahrt zu Bus- fahrt, von
Wirtshausbesuch zu Wirtshausbesuch. Ein Trost das, wir die Helden in dem rot-weiß-roten
Buch? Wenn ihr mich fragt ... Aber niemand wird mich hier je fragen. Wie habe ich mich seit
jeher gesträubt gegen alles Tragische. Tragödien, meinetwegen, im alten Griechenland oder
bei den Indianern — aber nicht bei uns hier! Schon das Wort ein Fremdwort in unserer
Sprache, und nicht bloß im Haus meines Vaters. Von Hof zu Hof, von Feld zu Feld, von
Bildstock zu Bildstock, von Bergkuppe zu Bergkuppe keinerlei Rede davon. Aber das jetzt ...
Es schreit, krächzt, wimmert, bibbert, nach einer Tragödie — wider meinen Willen, wider
unsere Natur, wider mein Innerstes. Erbarme dich unser! Aber das hätte ich am Anfang der
Messe sagen sollen. Und die ist jetzt wohl zuende, nur der Segen fehlt noch ... Ah, Segen
Höchstens ein Wunder kann uns ins Recht setzen. Aber in der Geschichte gibt es keine
Wunder, nicht wahr? Manchmal wünsche ich die Tyrannei von früher zurück. Die Teufel
seinerzeit wußten wenigstens, daß sie Teufel waren. Die heutigen Teufel dagegen spielen
Engel, und teufeln und teufeln, und teufeln am Morgen, teufeln am Abend, teufeln in der
Nacht ... Und das ist die ganze Geschichte . . . «
Er hat sich zuletzt auf die Bank gesetzt, die zusehends — oder kommt es mir bloß so vor? —
in die Jaunfelderde versunken ist. Lange haben wir miteinander geschwiegen. Gregor dann, zu
mir gewendet: »Halb so tragisch<, wirst du sagen. >Hauptsache, man lebt.< Aber wer ist
man? Und was heißt Leben? Die Geschichte, sie hat mein und unser Leben aufgefressen, das
Lebensgefühl. Und was ist ein Leben ohne Lebensgefühl? Doch, es ist eine Tragödie, eine
zum Lachen.« (Er »lacht«.) »Und außerdem ist es eine Tragödie, an der wir Kämpfer in den
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Wäldern mitschuld sind. Unser Triumph, war er nicht gewesen, im richtigen Zeitpunkt den
Gang der Geschichte erfaßt zu haben? Und wie ging die weiter — zum Lachen.« (Er »lacht«.)
»Jahrhundertelang die Sklaven der Geschichte, haben wir uns eingebildet, endlich ihre Herren
geworden zu sein, und haben gerade so sich zu ihren Opfern gemacht. Heißt es nicht, daß zur
Tragödie die Vermessenheit desjenigen gehört, den sie trifft? Haben wir Wälderkrieger sich
demnach vermessen, als wir selber unser Recht sich angeeignet haben? Vermessen wie? In
bezug auf wen oder was? In bezug auf Gott und die Götter? In bezug auf den Sternenhimmel?
In bezug auf die Selbstbescheidung unserer Vorfahren: >Alles, nur keine Politik! Politik als
Zwang — statt vernünftig im Hause zu wirtschaften!<? Was mich betrifft, den Swinetz
Gregor — nicht einmal die alte Schreibung ist erneuert worden im Land! Nie, auch nicht mit
der Waffe auf den Bergen, ist es mir in den Sinn gekommen, Geschichte zu machen. Man
kann mich damit am Mond besuchen. Nicht einmal an- gemalt möchte ich mich sehen als
Geschichtemacher. Ohnehin wollte ich von klein auf daß immer alles beim alten bleibt — daß
nichts sich verändert, Sommer und Winter, Haus und Hof, Sonne und Schnee, Wind und
Windstille. Wenn ich überhaupt noch einen Wunsch habe: in der Gegenwart meiner Äpfel
und meiner Birnen zu sein. Nur ist es längst Sense mit denen, es zahlt sich außerdem nicht
aus. Zwar heißt er immer noch Cox Orange, aber sein zweiter Name auf den Märkten ist
>Allergikerapfel<, und die Anjoubirne kommt aus den USA, und der Zar Aleksandar aus
Italien. Und ein zweiter Wunsch: mit dem Vater und den Brüdern noch einmal kegeln zu
gehen, und der letzte der Kegel bleibt stehen und stehen, und wir alle schreien und schreien
>Fall um, Luder!< Bescheidener Wunsch, nicht wahr? Ja, was den Swinetz Gregor betrifft, so
weiß er sich an der Geschichte nicht mitschuld. Nicht wenige aber seiner Mitkämpfer aus den
Wäldern fühlen Schuld. Würden sie sonst schweigen von dem, was wir unternommen haben,
bis zum heutigen Tag? Nicht einmal vor ihren Kindern und Enkeln tun sie den Mund auf. Und
lassen‘s geschehen, wenn die Brut der Brut der tausend Jahre, wie einst die Brut, sie
>Banditen< heißt. Ah, unsterbliche Brut ihr, scheint‘s das einzige Unsterbliche in dieser
Gotteswelt. Ah, so könnte ich den Apfel Jonatan in die Luft werfen, so wie ich ihn gestern,
wie ich ihn als Kind geworfen habe. Ah, endlich aus der Alptraum Geschichte, und nichts als
die ewige Kinderzeit. Wehe dem Volk, nicht wahr, welches Geschichtsvolk wird: vom
Opfervolk zum handelnden und siegreichen geworden, zwingt es ein anderes Volk in die
Rolle des Opfervolks, nicht wahr. Wehe den Unbesiegten!? Hätten wir also weiter die Dulder
sein sollen? Uns weiter die Seelensprache nehmen lassen sollen? Haben wir uns denn im
Kampf nicht die Heimat verdient? Und was ist jetzt? Ach, Geschichte. Ah, Leben. Aus der
Geschichte lernen? Ja, die Hoffnungslosigkeit. Was willst du von uns, Nachfahr? Warum wir?
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Wir haben doch verloren. Sind kein Thema. Und auch kein Stoff zum Träumen. Such dir
einen anderen Stoff einen aktuellen. Zum Beispiel die Seilbahnkatastrophe von Mariazell, den
Fußballkrieg auf dem Heldenpiatz, die unehelichen Kinder des Papstes.«
Ich werde mich dann zu ihm auf die halbversunkene Bank inmitten des Jaunfelds gehockt
haben, mit der Frage: »Aber kann die Geschichte nicht auch eine Form sein, und Form heißt
Frieden?« — Gregor: »Fehlt nur, daß du mit der Weltseele kommst. Weltseele: aus
Vollgummi. Und die Einzelseelen: verlaust.« — Es hat sich dann zwischen mir und meinem
Paten eine Art Rede-Antwort-Wettbewerb entwickelt, wie er mir aus unserer Stammgegend
erinnerlich ist. Ich: »Falsch, die Welt jetzt? Kennst du nicht die Methode der Balkanmusiker? Wenn ihnen ein falscher Ton passiert, spielen sie mit dem weiter, für eine neue
Melodie? — Schau, die Vögel über dem Jaunfeld. Jeder fliegt anders, anders hoch, anders
schnell, und jeder fliegt jetzt, und jetzt.« — Gregor: »Die Vögel, wo? Und mit dem Jetzt —«
— ahmt er da nicht einen seiner toten Brüder nach? —: »— kommen Sie gestern!« Darauf
ich: »Und hör: das Glockenläuten durch ganz Kärnten, von Villach über Ferlach bis hinauf
nach Gurk —« — Darauf Gregor: »Welche Glocken? Ich höre nichts —« (es ist wirklich
nichts zu hören) — »und außerdem: Wenn >i< nicht wär‘, wär‘ Villach flach, wenn >er<
nicht wär‘, wär‘ Ferlach flach, wenn >u< nicht wär‘, wär‘ Gurk Grk.« (Hat er da nicht mit der
Stimme seines Vaters gesprochen?) — Darauf ich: »Aber den Wind, der die Völker im Land
verbindet, den entgrenzenden — den hörst du doch?« — Gregor lauscht in die
Himmelsrichtungen, wo wieder nichts zu hören sein wird: »Du und deine andere Zeit. Es ist
aus mit der — wann wirst du das wahrhaben wollen?« — Darauf ich: »Aber hat deine Mutter
nicht immer gesagt: >Gott ‘liebt es, zurückzukehren<?« — Und er: »Du und dein
Friedenswahn.« — Darauf ich: »Aber der Raum — steht der nicht weiter offen?« — Er
zurück: »Auch den hat der Krieg mir ausgetrieben. Er hat gefruchtet nur, solang ich ein Kind
der Liebe war.« — Darauf ich: »Hier auf der Bank zu liegen, Vorfahr, mit einer Frau, unter
dem Sternenhimmel: ist das denn nichts!?« — Dagegen er: »Mit mir hat keine je gelegen. Ein
Einäugiger und eine Frau, das gibt kein Paar, auch nicht unter dem Sternenhimmel. Dann
schon eher eine Frau und ein Blinder.« — Darauf ich: »Hier, meiner Liebe Kind bist du.
Meiner Liebe Kind seid ihr Vorfahren alle. Nicht bloß, daß ich vor eurem Bild das Licht
brennen lassen möchte Tag und Nacht: ich möchte darüber hinaus eure Totenköpfe streicheln
— sie zwischen die Hände nehmen, so! Nein, keine Totenköpfe seid ihr mir, sondern
Antlitze! Ich verehre euch. Warum? Weil ihr Hasenherzen wart, aber tapfere. Als gehörten
Hasenherzen und Tapferkeit zusammen. Und nie auch wart ihr die Angreifer. Allein in der
Verteidigung seid ihr zu Männern geworden, und zu Frauen, und zu was für welchen. Ein
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anderes ewiges Licht soll euch leuchten! So gedenke ich euer, und denke umgekehrt von euch
mich gedacht. Eure Hände möchte ich nachzeichnen, eure Augen, eure Fußstellung. Eure
Stimmen hören, mitten im Herzen, mitten im Traum und über den Traum hinaus. Seltsam, daß
der Umriß der Verblichenen so viel stärker und dauerhafter ist als der der Heutigen. Solche
wie euch wird es nie wieder geben. Kein Tag ohne euch. Und ohne euch kein Morgen. Mit
euch komme ich zur Besinnung. Ihr seid meine Besinnung, meine Bestimmung. Dank euch
werde ich das Jaunfeld hier und mit ihm das Land zwischen den Karawanken und der
Svinjska planina immer hochhalten — dank euch, durch euch, in euch und mit euch! Ich bin
einverstanden mit meinem Sterben. Aber nicht mit dem euren, Vorfahren, nicht und nicht,
ewig nicht. Und ewig möchte ich mich bei euch entschuldigen, daß ich lebe. Auferstehen sollt
ihr. Ich rufe euch aus den Gräbern zur Auferstehung. Gott ehre eure Gesichter.« — Darauf er,
nach einem längeren Schweigen: »Ein Kind der Liebe, das bist du selber, Nachfahr. Nur ein
Kind der Liebe malt solche Einfaltspinselbilder. Zimmert aus seinem Daher- und
Dahingeträumten Weltenräume. Träumt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind. Tot sind
wir, Nachfahr, tot. Nacht um Nacht und ohne Jüngsten Tag tot. Nichts unbegreiflicher als ein
Kind der Liebe.« — Darauf ich: »Der Himmel gibt sich zufrieden mit einem Baum in
Einzelblüte.« — Darauf er: »Früher oder später wird jeder ein Gespenst.« — Darauf ich:
»Dort wirbelt eine Kinderschaukel.« — Darauf er: »Und das zweite Seil ist gerissen, und der
Sitz hängt kopfunter.« — Darauf ich (allmählich geraten wir ins Singen): »Endlich ein
Wetterleuchten.« — Er: »Der Singer singt so lange, bis er verstummt.« — Ich: »Der Schwanz
der Eidechse am Wegrand zeigt auf den Horizont.« — Er: »Fliegen da Schwalben oder
Mücken?« — Ich: »Auf dem Packsattel herrscht Sturm, und im Morgenbus Graz—Klagenfurt
sind die Kinder gegen die Scheiben geworfen worden und die sind zersplittert.« — Er:
»Das Schuldgeständnis des Mörders ruft das Opfer im Grab zur Auferstehung. Das ganze
Leben bin ich im Aschenregen gegangen, mit durchlöchertem Gewand, von Insel zu Insel.
Der Todkranke ist der Spion aus der anderen Welt. — Was weißt denn du, ein Vaterloser?«
— Ich: »Der Vaterlose weiß was anderes. Ich kann die Vaterlosigkeit nur empfehlen. Der
Ritter der Ritter war zum Beispiel vaterlos: Parzival.« — Er:
»Und das liebe Jesuslein ... Ach, all die Geschichten zu unserem Lebens- und
Überlebenskampf, von unserem Sprachkampf von unserem Kampf um unsere Slovenina, um
die Worte unserer Sprache, za besede naega jezika, um die Worte unserer Seele, za besede
nae due, all die Geschichten, die jeden angehen — von wem gelesen? Ach, die Bücher alle
von uns Gemsen auf der Lawine, von uns Kleinen Leuten auf Großem Weg. Ach, Karel
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Prunik, ach, Lipej Kolenik, ach, Tone Jelen, ach, Anton Haderlap, ach, Helena KucharJelka ...
Und dazu du Vaterloser und dein vaterloser Parzival. Ach! ach! und abermals ach!«
Darauf gebe ich mich geschlagen. Der Vorfahr ist von der Bank aufgestanden und hat mich
allein da hocken lassen. Und er scheint noch nicht fertig mit mir oder wem. Denn auf einmal
wird er der leibhaftige Zorn, zugleich ein Zorn so sanft und hilflos, wie ich ihn noch keinmal
erlebt habe: »Ein Menschenfeind bin ich geworden. Nie hätte ich mir das träumen lassen, ich,
der einmal, damals, vor dem Krieg, ein gutes Wort für einen jeden wußte, und den einmal alle
andern, auch die Mörder, erbarmt haben. Und wie bin ich dagegen, ein Menschenfeind, ein
Menschheitsfeind geworden zu sein! Wirkung. Der Teufel steckt in mir, tausend Teufel
stecken in mir. Wieder so ein Machthaber im Fernsehen, wie er dahinstolziert —« Er macht
einen nach, mit schwingenden, vom Körper weggehaltenen Armen — »ich werde die alle
nicht los, sie sind Teil von mir. Der Ekel, der >Eckel<, unsres toten Benjamin, über die
Milchhaut auf dem Kaffee, über die Maden im Käse, über alle die Gummibänder in Form
einer liegenden Acht, über die Nudeln in Form eines S ist scheint‘s in mich gefahren als Ekel,
als Eckel, vor den Jetztmenschen jetzt. Es gab eine Zeit, da habe ich mir den Ekel vor dem
Jetzt weggesungen, nein, keine Kirchenlieder — im Singen unserer Land-Lieder hier. Ja, aus
den Liedern klang deine, die andere Zeit.« Das hat er tatsächlich gesungen, und bricht gleich
wieder ab: »Geht nicht. Das Singen macht inzwischen den Ekel noch einmal so stark.
Höchstens unsere sippeneigenen Laute, wie sie mir entfahren im Erschrecken —« Er macht
den Laut — »im Schmerz —« Er macht den Laut — »und eben im Überdruß« — Er macht
den Laut — »einzig die helfen mir aus dem Ekel heraus, momentlang — vor allem unser
jaunfeldeigenes Seufzen, gegen all das Grenzlandsingen . . . « (Er seufzt es mir vor, ich seufze
ihm nach, wir seufzen im Chor, ünd im Umkreis, aus dem Unsichtbaren, schwillt der
Seufzerchor an und bricht jäh ab.) »Es gab eine Zeit, da habe ich mit dem Ekel gekämpft.
Aber jetzt ist da nichts mehr zu kämpfen. Der Ekel hat gesiegt. Ich, der Menschenfeind?
Schlimmer: der Menschenverächter. All diese regelmäßigen Scheitel, schon bei den
Kleinkindern — wo sind die schön unregelmäßigen geblieben? Ich weiß, von den Leuten gibt
es solche, und solche. Aber warum begegnen mir inzwischen nur noch solche? Vornehme
Menschen! Ah, wie bin ich derer bedürftig. Wie ich mich nach denen — sehne. Aber ich
erlebe nur noch vornehm Tuende. Und gütige Menschen, wie würden die erst gebraucht. Statt
dessen höchstens dann und wann vielleicht eine gute Haut. Ein gütiger Mensch ist was
anderes! Oder wenigstens ein Böser, dem ich neu Widerstand leisten könnte.« — Ich: »Die
Menschen verschwinden, und die T-Shirts bleichen aus.« — Er: »Statt dessen: bloß noch die
Unguten. Die Unguten sind immer und überall, und nicht zu bekämpfen.« — Ich: »Am
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schönsten sind die wilden Zwetschkenbäume, die vor dem Scheunentor stehen und es
zuhalten.« — Er: »Ah, ihr Heutigen habt so viel mehr Zeit als wir Damaligen und macht so
viel mehr Unsinn.« — Ich: »Die Schlange dort am Feldrand spielt Vision.« — Er: »Es gab
eine Zeit, da habe ich immerzu heiße Hände gehabt, und jetzt nur noch kalte.« — Ich: »Die
Hemden reißen im Eiswasser.« — Er:
»Ich kann mich selber am Schopf packen noch und noch — es geht nirgendswohin.« — Ich:
»Die Amsel und der Rotkropf singt.« — Er: »Auch vor den Vögeln ekelt‘s mich, vor dem
gelben Amselschnabel, vor dem Rotkehlchenbrustlatz.« Er gibt der Bank einen Tritt: »Es ist
noch kein Gebet erhört worden, jedenfalls keins der meinen.« — Ich: »Lang genug sind wir
im Schnee gesessen.« — Er: »Eine meiner Waffen habe ich den Engländern nicht
abgeliefert.« — Ich: »Was ist das: Liegt unter der Bank, und wenn man es anfaßt, schreit‘s?«
Er stockt:
»Sag‘s mir, Nachfahr.« — Ich: »Eine Kette.« — Er: »Woher hast du das?« — Ich: »Ein altes
Rätsel, aus dem Jaunfeld.« — Er:
»Aus dem Jaunfeld. Eine Kette. Zum Anschirren der Pferde. Unter der Bank. Wenn man sie
anfaßt, schreit sie.« Ich zaubere einen Apfel hervor. Er reißt ihn mir aus der Hand und
schmeißt ihn weg. Wir bleiben, wo wir sind. Wir seufzen den Sippenseufzer, zu zweit. Dann
Gregor: »Indem wir zwei die Letzten sind, gehen wir der restlichen Welt als leuchtendes
Beispiel voraus, nicht wahr? Und was tut der Rest der Welt? Er wird mehr und mehr. — Und
nun bin ich dran mit dem Rätsel: Was schreit auf den Bänken, und faßt mich an gegen meinen
Willen, und rumpelt und kracht, und tobt und brüllt, und tost und lärmt, daß es schon lang
nicht mehr schön ist?« — Ich: »?« — Gregor: »Die Menschheit.«
Und unversehens ist es jetzt Gregor, der etwas hervorzaubert, es mir zeigt, es in den Kreis
zeigt: einen festtagsdunklen Rock. Ich: »Was ist das?« — Gregor: »Ein Teil vom
Feiertagsanzug, dem einzigen, meines jüngsten Bruders, Benjamin. Der Rock hat zuhause im
Gewandkasten auf dich gewartet, bis die Zeit reif wäre. Steh auf, Nachfahr.« Ich bin stracks
von der halb im Jaunfeld versunkenen Bank aufgestanden. Gregor: »Die Hände aus den
Taschen, Patenkind. Die Arme breit. Und hoch das Herz!« Er legt mir den Rock an. Aber so
wie ich links und rechts hineinschlüpfe, zerschleißt der augenblicks, zerfällt zu Staub, hängt
mir in Fetzen vom Leib. Und während ich so mit ausgebreiteten Armen stehenbleibe, höre ich
von meinem Vorfahren: »Jaunfeld: Motten und Blutegel. Blei und Glimmer. Wasserläufer
und Kuhmist. Meßkelch und Hühnerleiter . . . « Und dann falle ich mit ein: »Maiandachten
und Totenglocken. Waldbunker und Fliegenpilze. Blaue Arbeitshosen und rote
Auferstehungsmäntel. Fastentücher und Hakenkreuze. Holzschuhe und Mausefallen. Hasen
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und Himbeeren. Zajci in maline. Buchweizen und Kalender. Ajda in koledar. Rüben und
Regenbogen. Repice in mavrice. Sonne und Schnee. Sonce in sneg . . . « Und, wieder
unversehens, bin dann ich es, der mit den ausgebreiteten Armen, ohne mich umzuwenden, in
den Jaunfeldhintergrund das Zeichen gibt zum Auftreten, zum Sich-uns-zweien-Anschließen,
in der Rolle einer Vorhut, oder gar eines Anführers.
Und im Blick über die Schulter ins Leere tritt nun sage und schreibe die vollzählige Sippe auf
ein jeder, wie er leibt und wie er lebt, auch so gewandet, und ein jeder einzeln. Zugleich
Gregor: »Nein! So nicht. Du hast kein Recht zum Märchen. Und jetzt gibst du auch noch den
Spielleiter. Einmal die Heimat verloren — für immer die Heimat verloren. Es herrscht
weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Geschichte: der Teufel in uns, in
mir, in dir, in uns allen, spielt Gott, höchste Instanz, höchstes Prinzip. Und Summe des
Unrechts wird Summe des Rechts. Ja, wir haben das Unrecht begangen — das Unrecht, hier,
gerade hier, geboren zu sein.« — Ich: »Ja, ich bin der Spielleiter. Ich bin es, der euch das
Recht in seine Hand nimmt, das Alte Recht. Schluß mit mir dem Träumer, derwelcher
machtlos zuschaut, was und wie ihm träumt. Ich bin erwacht. Ich bin die Macht. Jaz sem
oblast. Jaz sem avtoriteta. Ich bin‘s, der bestimmt . . . « — Gregor:
»Wem hauchst du so ein Leben ein? Einer Eintagsfliege!« — Ich: »Vielleicht. Ja, einer
Eintagsfliege! Wie schön sie sind, die Eintagsfliegen, wie leicht, wie luftig.«
Und da legt sich mir von hinten eine Hand auf die Schulter, eine so unbekannte, daß ich
herumfahre. Vor mir steht ein junger Mann, der bis dahin wohl hinter meiner Mutter
verborgen gewesen war. Ich: »Wer ist denn der da? Was will denn der hier?« — Meine
Mutter: »Du bist es. Du selber. Ist es denn nicht im Älterwerden dein Wunsch, dein großer,
dir von früher gegenüberzustehen?« — Ich: »Ja. Aber mir gegenüber ich als Kind! Das Kind,
das spielt. Das lesen lernt. Das groß schaut. Das dem Wind zuhört. In ihn einhört. Das sich
vom Regen besprühen läßt. Das an der Hand des Großvaters im ersten Tageslicht
dahinhoppelt auf einem Feldweg. Und nicht ich als Pubertätsschwengel, als knieweicher
Brillenträger, als Pickelgesicht.« — Die Mutter: »Du kannst nicht alles bestimmen, Herr
Sohn.« Und so trete ich nun einen Schritt zurück, zur Seite, vor, gehe um mich herum,
umkurve mich, mustere mich, beschaue mich, betrachte mich, schüttle den Kopf über mich,
runzle und hebe die Brauen über mich, wundere mich, in Maßen, über mich, boxe mich in den
Bauch, trete mir in die Kniekehlen, packe mich am Nacken, und rangle dann mit mir — wer
ist stärker, ich oder ich? — und werde zuguterletzt von mir am Schopf gepackt und
herumgewirbelt.
Und so auch hat dann einer von uns zu singen angefangen, mir scheint, es war Gregor:
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»Man hat mir ein Grab gegraben, ein tiefes, ein breites, aber zu groß war ich dafür, und das
Grab war zu klein. Und so hat man
unser ganzes Land
als Grab mir gegraben —«
Und ein anderer von uns, mir scheint, Valentin, hat ihn unterbrochen, indem er angestimmt
hat sein »We shall gather at the river —« Und er wiederum wird unterbrochen von Benjamin,
oder wem auch, der einfällt mit seinem »No milk today —«‚ worauf der wiederum
unterbrochen wird von seiner Schwester Snezena mit dem Ansatz eines Partisanenkampflieds,
das wiederum gleich übertönt worden ist von meiner Mutter mit ihrem Gottweißwas-Tremolo,
bei dem ich mir als Kind immer die Ohren zuhalten wollte Aber auch diese
Sängerin wird gestoppt von dem Lied, mir scheint, meines
Großvaters jetzt:
»Ich hab kein Vatern mehr, ich hab kein Mutter mehr, hab auch kein Bruder, keine Schwester,
keinen Freund. Bin ein verlassnes Kind, gleich wie der Almenwind
Da das Einfallen der Großmutter, ihn verbessernd oder variierend:
gleich wie ein Strauch im Wind
Und dann das paarweise Weitersingen:
»— Ich bin der Weltverdruß!
So harns mich gnennt - - -«
Und zuletzt ist auch noch dieses Sängerpaar unterbrochen worden, von uns allen anderen im
Durcheinander: »Ach, der >Weltverdrußwalzer<, schon wieder, immer und ewig der
>Weltverdruß< « — »Und ewig hier nur als Walzer gespielt . «— »Und als Walzer, ewig
trauriger, gesungen . — »Und im Dreivierteltakt, dem ewig tristen, getanzt . . « — »He:
Warum den >Weltverdruß< nicht einmal als Polka probieren?!« — »Ja: unsern
>Weltverdruß< einmal als Polka musizieren!« ... — »Unsern Weltverdrußwalzer einmal, nur
einmal, als eine Polka variieren! . . . « — »Ja! Weg mit der Walzervergangenheit!« —
»Weltverdruß-POLKA!« ... — »Zwar auch nicht gerade Zukunftsmusik, aber naja
Und schon hat uns die unsichtbare Harmonika eingestimmt, und wir singen unsern
jahrhundertalten Weltverdrußwalzer umgewandelt in eine Polka, zunehmend lauthals und aus
Leibeskräften, und zwischendurch auch extra falsch, auch ich, sogar ich.
Nachzutragen ist, daß irgendwann bei unserem letzten gemeinsamen Auftritt — das
Gedächtnis sagt: etwa vor dem Einsetzen meines Großvaters mit dem »Weltverdruß« — ich
mich noch einmal eingemischt habe. Durch ein Heben der Arme habe ich den Vorfahren Stile
geboten, und dann gesagt (unklar, ob insgeheim zu mir, oder laut): »Vor nicht langer Zeit war
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ich in einem ehemaligen Goldgräberdorf in Alaska. Jetzt ist das ein Touristenort,
dichtbevölkert taglang von den Besuchern aus der ganzen Welt. In dem Massengeschiebe ein
paar Ureinwohner, oder Angestammte, in dem Fall Indianer, vom Stamm der Athabasken. Die
sind auch daran zu erkennen, daß sie sich nicht bewegen, sondern sitzen, hokken, kauern, und
zwar auf dem bloßen Erdboden, und zwar ein jeder der paar Übriggebliebenen für sich, weit
weg vom jeweils andern, und nur von Zeit zu Zeit stehen die paar, wie auf ein gemeinsames
Zeichen, auf und winken einander von ferne, über die Touristenköpfe hinweg, kurz zu: He,
ich bin noch da! — Und ich auch! — Und ich auch!, und dann hocken sie sich wieder hin.«
Und nachzutragen ist auch, daß so im Erzählen (ob bloß gedacht oder laut geworden), auf
mein In-die-Hände-Klatschen und Fingerschnipsen hin, von allen Seiten jene vielen
daherkamen, die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren. Jetzt drängen sie
nach vorn und würfeln uns mir nichts, dir nichts, als gäbe es uns gar nicht, auseinander, so
daß unsrerseits wir bei unserem Abgesang sachte in den Hintergrund geraten, und beim
Ausklang des Lieds zwischen und hinter den andern mehr oder weniger verschwunden sein
werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken.
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