der gläserne berg

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DER GLÄSERNE BERG
Margarete A. Lassi
Gewidmet meinem Harfenspieler,
der so manche Saite in mir zum Klingen bringt;
meinen Töchtern Angela, Astrid und Almut,
die mir ihre Farben geliehen haben für das Bild der Myriam;
meiner Mutter,
welche die Magie der Worte tief in meine Seele gepflanzt hat,
meinem lieben Freund Edwin,
dessen Computer die Gestalten dieses Buches entsprungen sind;
Marilly,
der jetzigen Hüterin des Gläsernen Berges;
und allen, die mit mir die Welt ins Leben träumen.....
EINLEITUNG
Das Museum liegt im Licht eines milden Spätsommertages. Es ist aus Holz
erbaut, und es gibt daran keinerlei elektrische Leitungen. Das gilt auch für die
übrigen Häuser, die inmitten von Wiesen und lockerem Buschwerk stehen.
Autos gibt es ebenfalls nicht in dieser Stadt. Dafür sieht man jede Menge
spielender Kinder, deren fröhliches Geschrei überall zu hören ist. Zwischen
Gemüsepflanzungen und kleinen, eingezäunten Weiden mit Schafen, Ziegen
und einigen Rindern sind hier und da runde, konkave Spiegel aufgestellt, und
Windräder drehen sich mit leisem Schwirrton. Es ist wohl eine Stadt, aber eine
des 25. Jahrhunderts, und auf einen Bewohner heutiger Ballungszentren würde
sie wohl etwas provinziell wirken.
Vor dem Museum wartet eine Gruppe von etwa fünfundzwanzig Menschen.
Sie sind von eher kleinem Wuchs und zart von Gestalt und haben große,
glänzende Augen. Anscheinend beginnt gleich eine Führung. Die Türe öffnet
sich, eine Frau in mittleren Jahren tritt heraus und begrüßt die Gruppe mit
freundlichen Worten. Wollen wir nun etwas näher herankommen und an der
Führung teilnehmen, als unsichtbare Gäste aus der Vergangenheit, die einen
kleinen Nachmittagsausflug in eine ihrer möglichen Zukünfte unternehmen?
Gut, folgen wir also dieser Gruppe! Sie geht mit ihrer Führerin in einen
großen, hellen Raum, der keine sichtbare Lichtquelle hat. Vielleicht erkennen
wir sie aber auch nicht, weil wir ja nicht wissen, wie eine solche im Jahre 2497
aussehen könnte. Der Raum ist vollkommen leer, nur in der Mitte steht eine
Vitrine, deren einziger Inhalt ein aufgeschlagenes Buch ist, das auf einer
Unterlage aus weichen Stoff liegt. Das Museum scheint nur aus diesem
einzigen Raum zu bestehen. Die Menschen, wir in ihrer Mitte, stellen sich jetzt
kreisförmig um die Vitrine auf und warten auf die Ausführungen der
Museumsbediensteten. Auffällig ist die ehrfürchtige Miene, mit der die Meisten
auf das Buch blicken. Es muss sich um eine große Kostbarkeit handeln, obwohl
es reichlich alt und zerfleddert wirkt.
Die Sprache, in welcher die Führerin zu der Gruppe spricht, können wir
Heutigen wahrscheinlich nicht verstehen. Sie ist der Unseren ganz und gar
unähnlich, die meisten unserer Begriffe kommen in ihrem Idiom einfach nicht
vor. Ich übersetze also, reichlich frei und simultan:
"Liebe Mitbürger, Sie genießen das besondere Vorrecht, heute als erste
Besucher das Original der alten Schriften sehen zu können, aufgrund derer wir
wenigstens etwas über die versunkene Kultur unserer Vorfahren wissen. Bisher
glaubte ja die ganze Welt, dass diese unzivilisierte, geistig unentwickelte Wilde
gewesen seien, die uns als einzige Hinterlassenschaft vergiftete Böden, abgeholzte Wälder, Berge unverrottbaren Mülls und ähnliche Segnungen zurück
ließen und einen seltsamen, an ein Kreuz genagelten Gott mit leidenden Zügen
anbeteten, der ihnen offenbar all dies aufgetragen hatte.
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Sie bewegten sich in Kisten aus Blech fort, die grauenerregende Dämpfe
ausstießen und sehr gesundheitsschädliche Wirkungen gehabt haben mussten.
Archäologen gruben zuletzt riesige Trümmerstätten aus, die sich über hunderte
Quadratkilometer hinziehen und ganz offensichtlich keinerlei Anbauflächen oder
Gartenfelder zwischen den Häusern besaßen.(ungläubiges Erstaunen in den
Gesichtern der Zuhörer).
Anscheinend waren solche Stadtmonster einst über die ganze Welt verstreut.
Jedes Kind weiß doch heute, dass man, was man verbraucht, wieder erneuern
muss. Ihnen war diese einfache Tatsache anscheinend nicht vertraut, stellen
sie sich das nur einmal vor!
So vergifteten sie die Luft, verbrauchten die Bodenschätze, holzten blindlings
die Wälder ab, anscheinend ohne sich je zu fragen, wie ihre Nachkommen
später leben sollten. Nun, ich will ihre Vorstellungskraft nicht weiter mit
solchen Ungeheuerlichkeiten überfordern. Unsere Wissenschafter sind eben
gerade dabei, zu untersuchen, wie sie solche Monstrositäten entwickeln
konnten wie etwa unverrottbare Pflanzen, oder gar Menschen mit
Schweinegenen. Was, Sie schütteln den Kopf? Nun ja, es klingt ja wirklich
unglaublich, aber so etwas dürfte es, den neuesten Funden nach, gegeben
haben, wenn unsere Wissenschaft da nicht einem Irrtum unterliegt. Sie
konzentrierten sich anscheinend nur auf die Außenseite der Dinge. So reisten
sie zum Beispiel nur im Körper, also mit Energie freßenden Verkehrsmitteln,
oder verständigten sich nur über die Sprache, auch über weite Distanzen, ohne
ihre inneren Verbindungswege zu nutzen. So erscheint es fast unglaublich,
dass diese unzivilisierte Periode erst fünfhundert Jahre zurückliegen soll.
Aber, um zum Ende meiner Ausführungen zu kommen, wie wir alle wissen,
wurde durch "Zufall" dieses Buch bei einer Expedition eines Forscherteams
gefunden, und es grenzt wirklich an ein Wunder, dass sich das Material so
lange halten hatte können.
Ein junger Forscher brach bei Grabungen an einer Ruine des zwanzigsten
Jahrhunderts durch die Decke einer Erdhöhle und fand dort, unter einer
kleinen, seltsam unausgeformten Frauenstatuette, welche Sie gleich hier
daneben besichtigen können, eine Kassette mit diesem Buch. Die Sprachwissenschafter haben sich lange Zeit bemüht, es zu entschlüsseln; aber, die
Wissenschaft ist auf diesem Gebiet ja sehr weit fortgeschritten, wie wir alle
wissen." Sie sagt das im Vollgefühl ihrer Zugehörigkeit zu einer überlegenen
Zivilisation, diese kleine Schwäche der Überheblichkeit ist den Zukünftigen
anscheinend auch noch eigen, was sie uns ein wenig näherbringt, da wir
offenbar nur fähig sind zu lieben, wo wir auch kleine Schwächen finden. Sie
fährt fort: "Ja, und dieses Buch nun erzählt von Menschen, die auf Orten, die
sie "Lebensinseln" nannten, dafür sorgten, dass wenigstens einige, wenige
Gebiete mit einer einigermaßen intakten Natur erhalten blieben, auf denen
unsere Vorfahren wieder eine funktionierende Landwirtschaft aufbauen
konnten, die dann zum Fundament unserer heutigen Zivilisation werden
konnte. Ihnen verdanken wir es, dass wir nach dem großen Zusammenbruch
im 21. Jahrhundert nicht vom Punkt Null wieder beginnen mussten.
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Sie wussten anscheinend, was bei uns heute Allgemeinwissen ist, nämlich, dass
die Erde ein lebendiger Organismus ist - sie nannten sie die Erdmutter - ein
sensibles Netzwerk vieler, zusammenwirkender Lebensformen, und wir sie
nicht ausbeuten dürfen.
Außerdem lässt uns dieses Buch Einblick in das Leben von Menschen des
20. Jahrhunderts nehmen, die, wie wir von archäologischen Ausgrabungen
wissen, auch anders ausgesehen haben, als wir Heutigen, nämlich wesentlich
robuster und muskulöser. Wenn auch Vieles in diesem Buch für uns heute nicht
mehr verständlich ist, stellt es doch ein einmaliges, historisches Zeitdokument
dar. Zum Schluss darf ich Sie noch darauf aufmerksam machen, dass Sie beim
Kiosk am Ausgang die Übersetzung dieser Schriften um fünf Kreditpunkte
erwerben können. Ich kann ihnen das Buch nur wärmstens empfehlen, es wird
ihr Bild von der Vergangenheit sehr bereichern. Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit, und kommen Sie gut nach Hause, auf Wiedersehen!"
Erstes Buch
DIE ZAUNREITERIN
Vorwort
Dieses Buch ist die Strophe eines Liedes, das durch die Zeiten klingt oder
das Glied einer Kette, einer Kette ohne Anfang und Ende. Wir glauben
allgemein, die Zeit sei eine Linie, die von hier nach dort führt, von einem
Anfang zu einem, wenn auch fernen Ende, doch das ist ein Kindermärchen.
Hätte ich nicht selbst erlebt, was ich hier niederschreibe, würde ich
wahrscheinlich noch heute an diese Torenweisheit glauben, und das relativ
unangefochten von allen möglichen anderen Erklärungen der "Wirklichkeit",
Ich schreibe meine Erlebnisse auf in der Hoffnung, dass nachfolgende
Generationen noch in der Lage sein werden, diese Schrift und diese Sprache
auch zu verstehen - ja überhaupt noch Schrift und so etwas wie Sprache
besitzen, denn es zeichnet sich ab, dass diese Zivilisation ihrem nahen Ende
entgegengeht.
So wie vor uns schon andere Kulturen und Zivilisationen aus dem Nebel der
Zeiten aufgetaucht und wieder darin versunken sind, werden auch nach uns
noch ungezählte Menschheiten ihr Kindheitsstadium, ihre Hochblüte und ihren
Verfall erleben. Mit diesem Buch will ich versuchen, ihnen eine Botschaft zu
hinterlassen: "He, hallo, wir waren auch schon da, macht's gut, vielleicht auch
besser; alles Gute für Euch!"
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Ob meine Botschaft wohl ihr Ziel erreicht? Ich weiß es nicht. Wenn ja, wird
sie hoffentlich in der jetzigen Zeit bei einigen Menschen zum besseren und
tieferen Verstehen unseres Daseins beitragen. Deshalb werde ich auch mein
erlebtes Wissen nicht vergraben, um es zu erhalten, denn Wissen muss
lebendig sein und weitergegeben werden, sonst verschwindet es aus dem
Hauptstrom der Zeit und wird nur mehr von einigen Eingeweihten verstanden.
Doch auch das liegt nicht mehr in meiner Macht, nun da ich alt bin und das
Ende dieses meines Erdenlebens schon in Sichtweite vor mir liegt.
Ich weiß, meine Erzählung wird für Viele unglaubwürdig klingen. Doch ist es
nur unsere beschränkte Sicht der Wirklichkeit, die uns Manches ins Reich der
Sage verweisen lässt.
Wenn sich auch die Ereignisse in meiner Erinnerung ein wenig in ihrer
Abfolge verschoben haben, ich habe nichts davon vergessen. Und wenn ich die
Augen schließe, sehe ich....., nein, ich sehe sie nicht vor mir, ich bin wieder da,
wo alles begann, in meiner kleinen Wohnung, in einem Wiener Vorortebezirk
ERSTE EINTRAGUNG
31. Oktober 1988
Viel zu laut und schrill läutet mein mechanischer Wecker. Eigentlich würde
ich ihn gar nicht mehr brauchen, jetzt, da ich in vorgerückten Jahren nicht
mehr so tief und fest schlafe wie in meiner Jugend, aber, na ja, es ist ein
beruhigendes Gefühl, nicht verschlafen zu können. Für mein Pflichtbewusstsein
ist das sehr wichtig. Ich muss leise lächeln bei der Erinnerung an unzählige
Auseinandersetzungen, die ich früher einmal mit meinem Mann, Exmann jetzt,
über die essentielle Bedeutung von Pünktlichkeit im Zusammenleben von
Menschen geführt hatte. "Pünktlichkeit", denke ich befremdet, als hörte ich ein
Wort in einer fremden Sprache, dessen Bedeutung mir unvertraut ist,
"Pünktlichkeit also und Verlässlichkeit, genauso wie Ordnung und
Disziplin.....die Stützen unserer Zivilisation......die Grundpfeiler meines
Lebens......" Dieser Gedanke entlockt mir plötzlich ein Lächeln, das die
Ernsthaftigkeit dieser Begriffe mit einem Mal wegwischt, wie Schlieren auf einer
Fensterscheibe. Seltsam, es ist ein völlig neues Gefühl, lächeln zu können über
schmerzhafte Erinnerungen und ernsthafte Grundsätze, beides gewichtige Teile
meines bisherigen Lebens. Die Zeit heilt also doch Wunden, wie tröstlich!
Gleichzeitig fließen aber auch unwiederbringliche Teile meiner
Vergangenheit von mir weg, die so lange Zeit Teil meiner selbst gewesen
waren
"Wieder ein Stück Sterben" denke ich, in eigenartiger Ambivalenz der
Gefühle befangen. Die Wehmut über den Verlust des Leidens an meinen
Erinnerungen hält sich die Waage mit der Erleichterung darüber. Und noch
etwas ist anders heute. Dieses kleine Stück Sterben löst heute keine Panik in
mir aus, wie sonst der Gedanke an Alter und Tod.
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Vielleicht kann ich meiner Jugend ja doch einmal auf Wiedersehen sagen,
ohne dabei in tiefste Depression zu fallen, wie das bisher bei jeder Falte und
bei jedem schwabbeligen Stück Haut, die der unbarmherzige Gegner im
Badezimmer mir immer öfter präsentierte, bis jetzt der Fall gewesen war.
Auch jetzt betrachte ich mich eingehend in meinem großen
Badezimmerspiegel. Da stehe ich, vierzig Jahre alt, zwischen den Zeiten
eigentlich, nicht mehr jung, aber auch noch Äonen weit weg vom Alter. Es
kommt sehr auf meine Tagesverfassung an, welcher Altersgruppe ich mich
gerade zugehörig fühle. Der heutige Tag ist noch zu unbestimmt. Ich weiß
noch nicht, in welche Kategorie er mich letzten Endes verweisen wird.
Eigentlich fühle ich mich heute eher jung. Ich finde meine eher kleine und zarte
Statur ganz anziehend, nur mein Busen ist etwas zu groß und schwer. Meine
rotbraunen Haare sind glänzend und dicht gewellt, meine haselnussbraunen
Augen blicken mir groß und klar aus dem Spiegel entgegen. Mir ist, als blicke
mir durch diese Augen jemand Anderer entgegen, der sich hinter diesem
vertrauten Gesicht verbirgt, jemand, der sich nie wieder mit der Oberfläche der
Dinge zufrieden geben würde. Erschreckt und fasziniert kneife ich die Augen
zusammen, um genauer hinsehen zu können....und sehe wieder in die
vertrauten Augen der Anna Waldstein. Hatte ich mich nur getäuscht? Irgend
etwas in meinem Inneren sagt mir, dass diese irritierenden Augen ein Teil von
mir sind. Ich werde ihrem Blick von nun an sehr oft im Spiegel begegnen, das
weiß ich.
"Alter und Tod, wie passend", denke ich, während ich die immer gleichen
Dinge der Morgenroutine erledige, an diesem Tag, der keinem anderen vor ihm
gleicht. Heute ist der 31. Oktober, der Tag vor Allerheiligen. Morgen muss ich
das Grab meiner Eltern besuchen.
Das gehört sich schließlich so, auch wenn dieser Brauch sich in Stau und
Verkehrsgewühl abspielt, wie jedes Jahr. Ich frage mich kurz, ob ich mir das
wirklich antun möchte, es könnte ja auch ein anderer Tag sein, ohne Menschenmassen und überlastete Verkehrsmittel. Doch dann verwerfe ich den
Gedanken schnell wieder; es bleibt bei morgen, so gehört es sich schließlich.
Zwischen einem Schluck Kaffee, meinem unverzichtbaren Lebenselixier und
einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel denke ich noch kurz daran, meine
Tochter Myriam anzurufen und sie daran zu erinnern, sich den Tag morgen für
den Gräberbesuch freizuhalten. Dann fällt mir aber ein, dass zu so früher
Morgenstunde (meine Arbeit als Heilmasseurin beginnt schon um 6h30)
höchstens empörte Verärgerung ihrerseits die Folge wäre und verwerfe auch
diesen Gedanken wieder
Ach, meine kleine Myriam, Tochter meines Herzens, wo bist du nur, ich
kann dich nicht mehr finden in der distanzierten, jungen Frau, die du, ich weiß
nicht mehr wann, geworden bist! Wie musste ich damals, vor ziemlich genau
zwanzig Jahren, als ich mit dir ungewollt schwanger wurde, gegen meine Eltern
kämpfen, die gegen meine allzu frühe Schwangerschaft gewesen waren.
Eigentlich galt der Kampf ja mir selbst, denn ich wollte noch so viel erleben,
lernen; wollte nach meiner Ausbildung die Flügel entfalten, fliegen....
aufbrechen in Freiheit und Selbstbestimmung meines neuen Erwachsenstatus.
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Doch dann ergab ich mich in die vermeintlich unabänderlichen Erfordernisse
der Situation, holte ich die eben Entfalteten wieder ein und verschob den Start
auf später, wenn du erwachsen wärst. Man schrieb schließlich das Jahr 1965,
und ein Kind zu haben, bedeutete im allgemeinen auch zu heiraten. Ich war ja
so jung, und irgendwann später würde ich das Versäumte sicher nachholen!
Dieses Irgendwann jedoch fand niemals statt. In den darauffolgenden Jahren
der Ehe und Mutterschaft hätte ich meine Flügel zu Trainingszwecken öfter
einmal gerne erprobt, doch sie klemmten, waren eingerostet, und ich erkannte,
dass die Sache mit dem Nachholen wohl Selbsttäuschung gewesen war.
Habe ich dich das spüren lassen, kleine Myriam? Stammt die Entfremdung
daher, oder ist sie einfach ein notwendiger Ablösungsprozess; ist die
Nabelschnur als Phantom noch vorhanden und muss jetzt endgültig und unwiderruflich durchschnitten werden? In meinem inneren Dialog befangen trat ich
auf die Strasse. Alles wirkte irgendwie verschwommen. Einige Augenblicke
später merkte ich, dass ich durch einen Tränenschleier blickte. Ich war also
doch noch nicht so gleichmütig und altersweise, wie ich gerade vorher noch
gedacht hatte! Sei es wie es wolle, es tat weh, und diesmal konnte ich nicht
leise darüber lächeln.
5. NOVEMBER 1988
Ich war jetzt einige Zeit zu sehr beschäftigt, um mich meinem Tagebuch zu
widmen. Es geschah einfach zu viel mit mir in diesen Tagen. Ein Sturmwind der
Veränderung wehte in mein Leben, und nichts blieb mehr so, wie es einmal
gewesen war. Aber zurück zu diesem ominösen 31.Oktober, an dem alles
begann:
Hier sind einige Zeilen des Tagebuches leider unleserlich geworden, die Tinte
ist verwischt und zerronnen (Anmerkung des Historikers).
................sonnig zu werden........... Das mahnte mich, beizeiten ebenfalls
eine sonnigere Miene aufzusetzen. Bei Schönwetter sind meistens sehr viele
Patienten in der Arztpraxis zu erwarten, in der ich als Masseurin arbeite. Sie
erwarten neben der Linderung ihrer Leiden auch etwas Ablenkung und
Aufheiterung, denn die meisten von ihnen sind alt und einsam. Auch das
gehört zu einem guten Therapeuten, die Seele zu streicheln, während man sich
den kleinen und größeren Beschwerden des Körpers widmet. Wird es für
meinen Körper und meine Seele irgendwann auch wieder jemanden geben?
Vielleicht bin ich jetzt noch nicht bereit dazu, obwohl, die Wunden der
unmittelbaren Vergangenheit scheinen fast verheilt.....später vielleicht,.....
doch wird später nicht zu spät sein? Ganz schön viel für diesen frühen Morgen,
was durch meinen noch etwas morgendämmrigen Kopf geisterte. Fast
unbewusst nahm ich die ebenfalls noch schläfrigen Gesichter der übrigen
Menschen im Bus wahr. Einer döste mit offenem Mund. Er versuchte offenbar,
dem tyrannischen Tag noch eine kurze, ihm allein gehörende Spanne Zeit
abzutrotzen und verschloss die Fenster zu seinem Inneren mit seinen
Augenlidern, dabei vergaß er die Tür des Mundes zu versperren, sodass sie
klaffend offenstand.
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Noch nie war mir bis jetzt die Freudlosigkeit in den Gesichtern der Menschen so
deutlich bewusst geworden wie in diesem Augenblick, und erschreckt wandte
ich mich zum Fenster, um meinen eigenen Ausdruck zu erforschen. "Ein
Gespenst unter Gespenstern!" durchzuckte es mich, als ich mich in der trüben
Scheibe erblickte. Plötzlich erschien mir alles, ich selbst und meine Gedanken,
ja selbst meine Erinnerungen, die Gefühle dieses Morgens als flach,
zweidimensional und unwirklich. War das wirklich schon mein Leben gewesen
und vor allem, würde dieses Leben auch so weitergehen, absehbar bis zum
Ende, zwar in relativer Sicherheit doch ohne Höhen und Tiefen, ohne Rausch
und Ekstase, ohne die atemlosen Momente der Erfüllung, die außerhalb von
Zeit und Raum standen? Woher kam plötzlich die grausame, unverhüllte Sicht
auf mein vergangenes und zukünftiges Leben? Kündigte sich so vielleicht die
berühmte "midlife crisis" an, die Sinnkrise in der Mitte des Lebens, ohne die
man als moderner Zeitgenosse überhaupt nicht zählte? Fragen über Fragen
und ungewohnte Gedanken in meinem Kopf und das alles um sechs Uhr
morgens in einem Autobus inmitten unausgeschlafener Werktätiger! Der Tag
versprach, interessant zu werden. Gottlob war morgen ein Feiertag und der
Tag darauf ein Samstag. Ich könnte also drei Tage dazu nutzen, wieder
Ordnung in meinem Kopf zu schaffen!
Doch eines zeichnet sich bereits ab: dieser kurze Augenblick glasklarer
Erkenntnis scheint so etwas wie einen Wendepunkt in meinem Leben zu
markieren. Irgend etwas Unsagbares berührte mich an diesem Tag, etwas, das
wie eine Hand aus einer anderen Dimension in mein Leben griff und alles
Vertraute und Gewohnte in etwas neu zu Definierendes verwandelte. Die
Dinge, die Menschen, ja selbst die Luft, die mich umgibt, all dies ist wohl noch
das Gleiche und spricht doch eine ganz andere, erst zu entschlüsselnde
Sprache. Ich selbst fühle mich, als wäre ich erst an diesem Tage in diese Welt
eingetreten und müsste ihr Wesen ganz neu für mich ergründen. Diese ganz
besondere Zeit um Allerheiligen, zu der des Todes gedacht wird, bedeutet allen
Anscheines nach auch den Tod meines bisherigen Lebens, das glaube ich
jedenfalls. Alle meine folgenden Erlebnisse deuten darauf hin. So, wie aus dem
Tod neues Leben entsteht, war dieser Augenblick ein Neubeginn für mich. Noch
ist keine Richtung und Bestimmung zu erkennen, noch bin ich wie ein Kind im
Moment seiner Geburt, voller potentieller offener Wege, bis einer gegangen
wird und damit die anderen verschließt. Und der Schmerz, den ich in diesem
Augenblick empfand, gleicht den Schmerzen der Geburt.
Der Tag verlief, wie es zu erwarten gewesen war. Mehr oder weniger
mechanisch verrichtete ich meine Arbeit, freundlich und zuvorkommend zwar,
wie man es von mir gewohnt ist, doch meine Gefühle und Gedanken waren bei
mir, ich war konzentriert auf mich selbst, auch wenn ich gerade einen
Patienten behandelte. Unglaublich! In diesem Bei mir Sein war ich plötzlich
auch viel hellhöriger als je zuvor. Wie auch sonst immer, klagten mir die
Patienten ihre großen und kleinen Leiden. Wieso war es mir früher nicht
aufgefallen, dass sich diese Geschichten niemals änderten? Wem von ihnen
hatte ich mit meiner anstrengenden Tätigkeit schon jemals wirklich helfen
können? Wollten sie im tiefsten Innersten überhaupt eine Änderung ihres
Zustandes?
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So manche hatten sich sicherlich in ihren Leiden schon häuslich eingerichtet,
denn das Unveränderliche, auch, wenn es lebenseinschränkend ist, bedeutet
doch immerhin Sicherheit, und sei es auch die Sicherheit des unveränderlichen
Leidens. "Frau Anna, heute hören Sie mir aber gar nicht zu!" schnappte ich
gerade noch auf, nachdem ich alles Andere an mir vorüberplätschern lasse.
"Oh doch" dachte ich bei mir, "heute höre ich dir das erste Mal richtig zu,
glaube ich! Und ich denke, Du willst in Wahrheit eigentlich gar nicht von
Deinem Leiden befreit werden!" Mit einem Mal spürte ich ein seltsames,
hartes, kaltes Gefühl in meinem Magen - ZORN! WUT! Meine Verwirrung spülte
es gleich darauf wieder weg, gleichwohl war es da gewesen, wenn auch nur
kurz. Dieses typisch wienerisch, anbiedernde "Frau Anna" hatte mich schon
lange gestört. Es war immer schon ein subtiles Symbol meiner subalternen
Stellung als Vertreterin eines Dienstleistungsberufes gewesen. Trotz meiner
menschlichen und beruflichen Kompetenz bin ich ein Nichts im weißen Mantel,
gut genug für die seelischen Abfallprodukte meiner Patienten. Hatte ich mir
bisher vorgegaukelt, einen wichtigen Heilberuf auszuüben, nun sah ich es jetzt
glasklar vor mir: dies hier hatte mit Heilung nichts zu tun, weil es nie und
nimmer an die Wurzeln des Leidens ging. Die aber lagen tief im Inneren meiner
Patienten begraben und waren mir im allgemeinen nicht zugänglich.
Später dann, wieder im Autobus, wieder müde, abgekämpfte Menschen um
mich her, abgesehen von einigen Kindern mit lebendigen Augen, Mündern und
Herzen. Dafür ernteten sie auch strafende
Blicke von den anderen Fahrgästen. Wir alle waren doch einst solch lebendige,
klare Wesen, was ist nur mit uns geschehen?
An der Haltestelle, an der ich, wie jeden Tag, auch heute ausstieg, steht ein
Obststand, die einzige Gelegenheit, noch etwas einzukaufen, denn es war
schon spät, und die Geschäfte hatten schon geschlossen. Ich spürte mit einem
Male ein fast unüberwindliches Verlangen nach den wunderbar rot - gelben
Äpfeln, so glänzend in ihrer glatten Schale, die mir wie eine lockende
Verheißung des Paradieses entgegenleuchteten. Nachdem ich sie gekauft
hatte, - teuer genug waren sie ja -, hielt ich einen an mein Gesicht und roch
daran. Aber, oh große Enttäuschung! Der Duft, den ich erwartet hatte, der Duft
nach Wachstum, Reife, Lebendigkeit, der Duft nach sattem, prallen Leben,
nach dem mich so verlangte, fehlte. Da war nichts, absolut nichts! Es hätten
Äpfel aus Plastik sein können, sie waren einfach nicht lebendig. Ohne es
verhindern zu können oder es auch nur zu wollen, kamen mir die Tränen.
Heulend ging ich die letzten Schritte zu meinem Haus und hoffte, niemand
Bekanntem zu begegnen, der meine Tränen hätte sehen können. So endete
dieser seltsame Tag so wie er begonnen hatte, mit Tränen. In diesen Tränen
floss alle Beschwernis meines Lebens aus mir heraus: das Salz der
Enttäuschung über nicht ergriffene Chancen, die Bitternis der vermeintlich
unerwiderte Liebe zu meiner Tochter, die Trauer über das Zerbrechen meiner
Ehe, das Bedauern über die nie aufgearbeitete Beziehung zu meinen allzu früh
verstorbenen Eltern. All das floss aus meinen Augen und meinem Herzen und
befreite meine Seele von einer alten Last, die sie so lange schon beschwert
hatte.
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Wie Sturzbäche flossen diese Tränen, und Heulkrämpfe schütteteln mich mit
beängstigender Gewalt. Katharsis, dieses Wort aus dem Griechischen fällt mir
dazu ein, wenn immer ich mir diese Erinnerung zurückrufe.
Als die Tränen dann irgendwann doch versiegten, konnte ich mich nur noch
erschöpft in mein Bett zurückziehen.
In dieser Nacht hatte ich einen bemerkenswerten Traum. Ursprünglich hatte
ich mir vorgenommen, alle meine Träume in ein Traumtagebuch einzutragen,
überlegte es mir aber anders und füge nun die Träume in Kursiv in dieses Tag Tagebuch ein.
Ich erwache an einem mir fremden Ort. Um mich herum sind Bäume. Bei
näherem Hinsehen erkenne ich, dass es Apfelbäume sind; ich liege auf einer
wunderschönen Apfelwiese. Es ist warm, lauer, leiser Wind umspielt meinen
Körper und verfängt sich in meinem langen, glänzend, roten Haar. Dies alles
nehme ich in einem kurzen Augenblick wahr. Als ich an mir hinuntersehe,
bemerke ich, dass meine schlanke, junge Figur in ein fließendes Gewand aus
einem seidenartigen, glänzenden Stoff gehüllt ist. Die Blätter der Apfelbäume
rascheln leise im Wind. Sonst kann ich kein Geräusch hören. Ich kann nicht
erkennen, welche Jahreszeit gerade ist, auch die Tageszeit ist ungewiss, und
ich kann keine Sonne sehen. Es herrscht ein eigenartig, diffuses Licht. Ach, ich
fühle mich so wohl und friedvoll! Der zarte Geruch von reifen Äpfeln, der
plötzlich in meine Nase steigt, weckt in mir den Wunsch, einen Apfel zu essen,
doch trotz genauen Hinsehens kann ich keinen entdecken. Auch in der
Umgebung kann ich nichts erkennen, außerhalb der Apfelwiese ist alles in
einen lichten Nebel gehüllt, der aussieht, als wolle gerade eben die Sonne
durchbrechen. Da erheben sich, wie aus dem Wind geboren, leise, zarte Töne,
ja es sind die einzigen Töne, die hierhergehören, andere wären hier ganz und
gar unpassend. Jemand spielt Harfe, so schön und wunderbar, dass mein
ganzer Körper in einem seltsam ziehenden Schmerz mitschwingt. Ich habe das
Gefühl, mich in Sehnsucht, Glück und Traurigkeit aufzulösen. Was geschieht
denn nur mit mir? Woher kommen diese Töne? Auf einem Baumstumpf sitzt
eine Gestalt in einem weißen, langen Gewand. Sein Haar ist ebenfalls weiß und
fällt lang über seine Schultern herab. Der untere Teil des Gesichtes ist von
einem weißen Bart eingerahmt. Er ist es, der so wundersame Musik auf seiner
Harfe hervorbringt, dass mir fast das Herz zerspringt. Als er weiterspielt,
brechen an allen Zweigen Blüten hervor, Vögel singen und fliegen von Ast zu
Ast, Bienen summen von Blüte zu Blüte, und die Sonne löst den Nebel auf.
Da beginnt der Bärtige mit volltönender, weicher Stimme sein Harfenspiel zu
begleiten. Nun schneit es Blütenblätter auf mich herab, dass ich ganz davon
bedeckt bin. In Windeseile reifen herrliche Äpfel, und die Zweige biegen sich
unter ihrer Last. Einer davon fällt in meinen Schoss. Sein Duft betäubt mich
fast mit seiner Intensität, ich hebe ihn auf und beiße hinein.....
Ja, so, nur so muss ein Apfel schmecken! Nie wieder will ich einen anderen
kosten! Das hier muss das Paradies sein!
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Der Bärtige hat sein Spiel unterbrochen und sieht zu mir her. Er lächelt warm
und geheimnisvoll, sein Blick scheint mir in seiner Intensität irgend etwas
sagen zu wollen, ich weiß aber nicht was, seine Augen, seine Augen, ach, seine
Augen.....
.....Seine Augen waren noch bei mir und rührten mein Herz an, als ich
erwachte. Vielleicht, wenn ich meine Lider noch einmal schlösse, wenn ich mich
dem beginnenden Tag verweigerte, wenn ich noch einmal einschliefe, vielleicht
konnte ich noch einmal dorthin zurückkehren, doch es gelang nicht. "Solche
Träume sollten nicht in meinem Traumrepertoire vorkommen, nein, nicht
solche Träume! Wie soll man denn da die Wirklichkeit durchstehen!" dachte
ich, als ich dann endgültig wach war. Resolut, wie ich es gewohnt war, stellte
ich die Füße auf den Boden der Tatsachen und stand auf. Mein Tagesprogramm
lautete: Myriam anrufen, Friedhofsbesuch. Vorher wollte ich mich noch mit einem ausgiebigen Frühstück verwöhnen, darauf konnte ich mich immerhin
freuen.
6.NOVEMBER 98
Nachtrag zum 1. November:
Ich wählte Myriams Telefonnummer. Das Freizeichen ihres Apparates ertönte
wieder und wieder, endlich wurde abgehoben. Doch es war nicht Myriam, die
sich meldete. Eine verschlafene Stimme tönte aus dem Hörer, Billy oder Lilly
oder so ähnlich, eine Mitbewohnerin aus ihrer Wohngemeinschaft, wie sich
herausstellte. Myriam sei nicht hier, sie sei gestern nach der Vorlesung mit
einem gewissen Sascha weggefahren, zu Freunden aufs Land, wie sie sagte.
Mehr wisse sie leider auch nicht, sagte die schläfrige Unbekannte, dann hängte
sie ein.
Da stand ich nun und fragte mich, ob ich denn nun verärgert sei, um gleich
darauf festzustellen, dass ich das eigentlich nicht war. Ginge ich eben alleine
auf den Friedhof! Ich musste mir eingestehen, dass ich an Stelle meiner
Tochter auch nicht anders gehandelt hätte. Ich hätte mich sicherlich auch
einem Friedhofsbesuch entzogen, vor allem an diesem Datum. In der Kindheit
hatte ich eine fast phobische Abneigung gegen Friedhöfe. Heute, als
Erwachsene, habe ich diese Angst schon etwas überwunden, ein leichtes
Unbehagen aber ist immer noch geblieben. Die Auseinandersetzung mit dem
Sterben aber steht noch an, sie lässt sich nicht mehr lange hinhalten, das
spüre ich. Außerdem wirken diese abgegrenzten, penibel gepflegten Gräber
immer wie Schrebergärten für tote Kleingärtner auf mich. In Wien ist diese
Mentalität sehr ausgeprägt. Diese Mischung aus Sentimentalität,
Kleingartenatmosphäre und Verbrüderung mit dem " Freunderl" Tod ist für
mich die Essenz des sogenannten " Gmüats" ( für Nicht- Wiener: Gemüt, aber
eigentlich unübersetzbar), dieses Ausflusses des sogenannten Goldenen Wiener
Herzens, einer Mystifikation, wie so viele Klischees. Bei näherem Hinsehen
erscheint dieses Gold oftmals höchst fragwürdig, höchstens als Katzengold.
Aber einer in der Familie muss ja, man kann ja nicht immer tun, was man
gerade will - kann man nicht? - Wer ist "man"? Bin ich "man"?
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Wenn ich nicht "man" bin, wer bin ich dann? Ich die mittelalterliche,
pflichterfüllende Durchschnittsfrau oder Ich, die wunderschöne, schlanke,
begehrenswerte Frau auf der Apfelbaumwiese? Bei diesen Überlegungen
verspürte ich wieder diesen unvergesslichen Apfelgeschmack auf der Zunge,
und mir war so gar nicht nach Friedhof zumute.
An diesem Tag ging ich nicht auf den Friedhof. Ich verschob meinen Besuch
dort auf unbestimmte Zeit und beschloss, Lust und Laune für mich bestimmen
zu lassen. Statt dessen holte ich nach langer Zeit mein Rad wieder aus dem
Keller und fuhr damit zum westlichen Ende der Stadt. Es gab da einen Berg,
auf dem ich als Kind mit meinen Eltern oft gewesen war. Beim Aufstieg ließ ich
das geschlossene Siedlungsgebiet langsam hinter mir, später führte mein Weg
durch eine Villensiedlung, und zuletzt blieben auch die Schrebergärten hinter
mir zurück. Wie durch ein Tor trat ich ein in den stillen Herbstwald, ein Tor aus
zwei mächtigen, alten Eichen, die aussahen, als legten sie ihre Astfinger auf
imaginäre Lippen, um Eintretende zur Stille zu mahnen. Das abgefallene Laub
raschelte unter meinen Füssen, als ich darinnen watete wie in flachem Wasser.
Als Kind hatte ich dieses versunkene Waten im Laubmeer so sehr geliebt,
meine Strümpfe und Kleider waren davon immer ganz staubig gewesen, zum
Leidwesen meiner Mutter, die damals noch einmal im Monat in der
Zentralwaschküche unseres Städtischen Wohnhauses am Waschtrog die
Familienwäsche waschen hatte müssen.
So, versunken in halbvergessene Kindheitserinnerungen, war ich bald auf dem
Gipfel angelangt und setzte mich auf einen umgefallenen Baum auf einer
kleinen Lichtung, die wie eine Tonsur den höchsten Punkt des Berges krönte.
Durch die entlaubten Baumkronen der Buchen und Eichen fielen wärmende
Herbstsonnenstrahlen auf das fahle Gras. Hier war ein besonderer Platz, wie
eine Insel, ein kleines Stück abgerückt nur vom Normalalltag, doch irgendwie
verzaubert. Ganz still blieb ich sitzen. Ich rührte mich nicht, denn ich wusste,
dass ich mit der geringsten Bewegung den Zauber unweigerlich gebrochen
hätte, der diesen Ort umsponnen hielt.
Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange ich an diesem
friedvollen Ort gewesen war. Ich bemerkte nur, dass die Sonne verschwunden
war und es schnell kalt wurde. Als ich wieder zu meinem Fahrrad kam, war es
schon dunkel.
Zu Hause zündete ich eine Kerze an, stellte sie auf meinen kleinen Couchtisch
und legte eine CD mit einem Flötenkonzert von Vivaldi auf, bevor ich mich mit
einem Glas Wein niederließ. Im Geist leistete ich meinen Eltern Abbitte, weil
ich nicht an ihrem Grab gewesen war. So viel war zwischen uns ungesagt
geblieben, als sie viel zu schnell und rasch hintereinander gestorben waren.
Ihr Leben war schwierig und bewegt gewesen, wohl aus dem Grund, weil auch
ihre Zeit geprägt war von schroffen Gegensätzen, extremen Ideologien und
Kriegen.
12
Kennengelernt hatten sie einander in der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen. Ihre Jugendjahre waren voller revolutionärer Aufbruchstimmung,
Arbeitslosigkeit und Freikörperkultur gewesen. Auf alten Fotos, die ich mir
immer wieder gerne anschaue, blicken mir forsche, junge Frauen mit
Bubiköpfen und Männer im Wanderoutfit entgegen, die dem Betrachter
zuzurufen scheinen: "Sieh uns an, wir sind's, 'das Bauvolk der kommenden
Zeit'! Wir haben alles abgestreift, was unsere Eltern band. Wir spüren das
Feuer des Aufbruchs in uns und werden eine gerechtere Welt erschaffen!"
Grundsätzlich waren sie immer in Gruppen aufgetreten. Privatheit hatte als reaktionär gegolten und war ob der Wohnungsnot auch unmöglich gewesen. Die
politischen Gruppierungen von Rechts und Links hatten einander mehr und
mehr polarisiert, die Folge, der Bürgerkrieg hatte auch meine zukünftigen
Eltern in verschiedene politische Gruppen geteilt: mein Vater trat in die
Kommunistische Partei ein, meine Mutter blieb bei den Sozialisten. Sie war
immer weniger kämpferisch gewesen. Die Jugendbewegung war in diesen
Jahren trotzdem beider Heimat geblieben. Dann waren die Jahre des
wachsenden Faschismus gefolgt. Mein Vater war immer mehr in die Widerstandsbewegung hineingewachsen. So war es nur eine Frage der Zeit gewesen,
bis er nach dem sogenannten Anschluss, durch Denunziation aufgeflogen war,
er und eine Gruppe Gleichgesinnter.
Im Morgen - grauen - (und Grauen war ab diesem Zeitpunkt alles gewesen)
eines bösen Tages hatte die Gestapo an die Türe der kleinen
Gemeindewohnung gepoltert und ihn weggeführt zu Todesurteil, Begnadigung
und jahrelangem Zuchthaus. Meine Eltern waren deshalb schon relativ alt
gewesen, als ich als spätes Einzelkind zwei Jahre nach dem Kriegsende zur
Welt gekommen war. Nach dem Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches
waren mein Vater und seine Haftgenossen von den Amerikanern befreit worden
und auf abenteuerlichen Wegen nach Hause zurückgekehrt, krank an Leib und
Seele. Meine Geburt war für ihn zum Symbol für eine neuere, hellere Zukunft
geworden, in seinem Kind sollten alle seine Träume und Ideale wieder lebendig
werden. Diese Erwartungen hatte ich unbewusst gespürt, deshalb war ich ein
sehr "braves" Kind gewesen, bis ich viel zu früh, von meinem späteren Mann
schwanger geworden war. Seine Tochter, von der er sich so viel erhofft hatte,
sollte nicht als halbes Kind selbst ein Kind haben und sich damit "die Zukunft
verbauen", wie er es nannte. Beide Eltern waren sehr dagegen gewesen, dass
ich das Kind zur Welt brachte.
Aber ich, was erträumte und erhoffte ich für mich? Es war mir zur zweiten
Natur geworden, die unausgesprochenen Erwartungen meiner Eltern zu
erfüllen, deshalb stellte ich mir diese Frage offenbar gar nicht. Wie seltsam mir
das heute vorkommt! Wo war nur dieses Ich mit allen seinen Träumen,
Hoffnungen und Erwartungen damals, wo versteckte es sich? Es glaubte wohl,
nur geliebt werden zu können, wenn es sich den Wünschen der Anderen
unterwarf. Mein Liebster, erfüllt von künftigem Vaterstolz und in Träumen von
heiler Familie gefangen, wünschte sich dieses Kind. Also bekam ich es, ohne
Wenn und Aber, gegen den Willen meiner Eltern. Das erste Mal im Leben
widersetzte ich mich ihren Wünschen, nicht, um meiner eigenen willen,
sondern wegen der meines Geliebten.
13
Schlimm, wenn ich bedenke, dass dieser Trancezustand meines Ich so lange
angehalten hat, genau genommen bis zu dem bedeutsamen Datum 31.Oktober
1988, dem großen Umsturz. Obwohl meine Eltern sich später mit der Situation
abgefunden hatten, war das der letzte Anstoß zu der schweren, bösartigen
Erkrankung gewesen, die meinen Vater in wenigen Jahren dahingerafft hatte.
Damit war der Lebensinhalt meiner Mutter dahin, wohl hatte sie sich auch
damit verausgabt, meinen kranken Vater zu pflegen und sein Dahinschwinden
machtlos miterleben zu müssen. Obwohl sie, trotz ihrer anfänglichen
Ablehnung, zärtlich an ihrer Enkeltochter gehangen hatte, war sie einige Jahre
später an einer Herzerkrankung gestorben.
Dies alles war mir seither schwer auf der Seele gelegen. Wie ein zu enges
Kettenhemd hatte es mir den Raum zum freien Atem genommen. Mit der Zeit
hatte ich aufgehört, seinen Druck bewusst zu spüren, dennoch war er
unterschwellig immer da gewesen. Den seinerzeitigen Auftrag meiner Eltern an
mich, unausgesprochen zwar, doch unmissverständlich, versuche ich heute
noch zu erfüllen. Er lautete: "Entspreche!"
Der Abend war über diese Erinnerungen unbemerkt in eine bewölkte, etwas
neblige Nacht übergegangen. Nun würde das Wetter sich, nachdem es noch
eine kurze Spanne Sommer gespielt hatte, der eigentlichen Jahreszeit
entsinnen und rasch auf Spätherbst umschalten.
TRAUM VOM 1.NOVEMBER 88
Ich war wieder auf meiner Apfelbaumwiese. Diesmal war die Jahreszeit
eindeutig zu erkennen; es war Herbst. Laub bedeckte das fahle Gras, einige
Äpfel hingen noch wie eine Verheißung wiederkehrender Ernten in den
Zweigen. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit war es mild und auch etwas
sonnig. Leise raschelte noch an den Ästen verbliebenes Laub in der leichten
Brise. Eigentlich hätte ich mich sehr wohl fühlen müssen, jedoch irgend etwas
hinderte mich ganz entschieden daran. Warum konnte ich mir nicht darüber
klar werden, was es war? Bedrückt und schwer atmend setzte ich mich auf den
umgefallenen Baum, der in meinem letzten Traum dem Harfenspieler als Sitz
gedient hatte. Der war diesmal nicht zu sehen, schade! Irgendein Gewicht zog
an mir, als wollte es mich in die Erde hineindrücken. Gleichzeitig wuchs in mir
ein Gefühl, das ich gut kannte: das Gefühl meiner Unzulänglichkeit, das
Bedauern, irgendwo versagt zu haben und nicht zu wissen, worin. Wohin
könnte ich mich jetzt noch zurückziehen, wenn mich diese Dinge jetzt auch in
dieses Refugium verfolgten? Da bemerke ich, dass ich nicht mehr allein bin.
Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau in etwa mittlerem Alter kommen Hand
in Hand auf mich zu. Beide haben ausgeglichene, harmonische Züge, die, als
sie mich erblicken, freudiges Erstaunen erkennen lassen. Sie wirken, als
würden sie mich kennen. "Annerle, bist du's? Wie siehst du denn nur aus!" ruft
die Frau aus. "Annerle," wie lange hat mich so niemand mehr genannt? Seit ich
ein kleines Mädchen gewesen war, hat nie wieder jemand so liebevoll "Annerle"
zu mir gesagt wie meine Mutter. "Mama?" frage ich leise und zögernd "Papa?
seid ihr das wirklich? Ihr seid doch lange tot, und wieso seid ihr so jung?"
14
"Das Kind stellt noch immer so viele Fragen wie früher", sagt mein Vater mit
gespielter Missbilligung, dann lacht er laut und schallend, wie ich es, als er
noch lebte, nie von ihm gehört hatte. "Zu glauben, wir seien tot, das schlägt
doch dem Fass den Boden aus! Du siehst doch, dass wir nicht tot sind, Mama
und ich!" Und dann umarmt er mich mit einer Wärme und Herzlichkeit, dass ich
glaube, zerschmelzen zu müssen. Tränen laufen über meine Wangen wie
Bäche. "Warum weinst du denn, Annerle?" fragt meine Mutter." "Ach Mama,
Papa, ich habe es euch nie sagen können, wie leid es mir tut, dass ich euch
damals so weh getan habe. Ich habe euch enttäuscht, weil ich nicht so war,
wie ihr euch das erträumt habt!" Da wird mein Vater ernst. "Ich sehe nun, dass
wir einiges an dir gutzumachen haben", spricht er bekümmert. "Geh, Franzi",
sagt er zu meiner Mutter," zieh ihr doch das viel zu enge Hemd aus. Sie ist
doch schon längst herausgewachsen!" Meine Mutter zieht ein altmodisches
Taschentuch aus ihrem Sack, schneuzt mir die Nase und wischt mir die Tränen
ab, als wäre ich ein kleines Mädchen, dann hat sie plötzlich eine Schere in der
Hand (woher bloß?). Sie schneidet an meinem Kettenhemd (das war es also,
was mich so beschwert hatte!) einen Faden durch und beginnt es aufzutrennen
und die Fäden aufzuwickeln. Und sie dreht mich immer schneller herum, bis
mich schwindelt. Dabei spricht sie mit eintönigem Sing - Sang:
"Ich löse, löse, was ich gebunden,
was einst krank war, das soll nun gesunden,
was zu eng war, werde weit,
du bist nun bereit für ein neues Kleid.
Verschlungener Knoten, löse dich,
gib sie frei für ein neues Ich!"
Ich drehe, drehe und drehe mich wie ein Kreisel, alles verschwimmt vor
meinen Augen. Ich höre nur noch die sich entfernenden Stimmen meiner
Eltern, leise und doch ganz deutlich kann ich sie, mehr in meinem Kopf als mit
den Ohren, wahrnehmen: "Verzeih uns, werde, wachse, sei ganz Du, fürchte
dich nicht, es gibt keinen Tod, es gibt nur die Liebe. Lebe, liebe,
liebe,.....liebe.....liebe!" Zuletzt ist ihre Stimme nur mehr ein undeutliches
Flüstern.
Ich erwachte mit diesem leisen Flüstern im Ohr und konnte eine Zeitlang
nicht genau sagen, wo ich nun war, noch auf meiner Traumwiese oder wieder
in meinem Bett. Die Realitäten mischten sich noch einige Augenblicke lang, so
als wären die Koordinaten von Zeit und Raum nicht genau festzulegen. Ich
genoss dieses unbestimmte, schwebende Gefühl, und mir war, als könnte ich
noch eine kurze Spanne lang hin - und herüberwechseln, je nach Lust und
Laune. Ich konnte es in diesem kostbaren Augenblick genau fühlen. Etwas war
abgefallen, irgend etwas Enges, Schweres, das am Abend noch da gewesen
war, war jetzt verschwunden. Kaum getraute ich mich zu bewegen, weil ich
fürchtete, diesen Zauber zu zerstören. Es war ähnlich wie damals, bei meinem
Ausflug auf den Berg.
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Später, ich weiß nicht mehr wie lange ich so zwischen Traum und Wirklichkeit
befangen gelegen hatte, stand ich auf. Das Gefühl der Leichtigkeit war immer
noch da. Es sollte mich nie wieder ganz verlassen, auch in Momenten von
Ungewissheit und Zweifel fühlte ich mich nie wieder so beschwert wie vor
diesem herzbewegenden Traum. Meine Eltern, lebendig nun für mich in
liebender Erinnerung, hatten mir geholfen, die alte Hülle abzustreifen. Nun
konnte ich ein neues, passendes Kleid für mein Ich finden. Das musste ich nun
aber selbst tun, sie hatten ihre Aufgabe erfüllt, sollten sie auf meiner
Traumwiese glücklich sein!
7. NOVEMBER 1988
So sehr die neuartigen Erfahrungen meines Traumlebens meine
Aufmerksamkeit auch beanspruchten, auch die Dinge des Alltags verlangten ihr
Recht. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte gähnende Leere. Also nahm ich
meine Tasche und überlegte, was einzukaufen wäre. Nicht weit von meiner
Wohngegend war eine ganz passable Einkaufsstrasse, wo man alles Nötige
finden konnte, außerdem gab es auch einen lauten und quirlig, lebendigen
Markt. Ich beschloss, zuerst das Nötige an Lebensmitteln dort einzukaufen und
später, quasi als Belohnung, noch ein bisschen auf der Einkaufsstrasse zu
bummeln. Das tat ich dann auch, trotz des etwas unfreundlichen
Novemberwetters, mit ziemlichen Vergnügen. Trotzdem war ich nachdenklich.
Meine Erlebnisse und besonders meine Träume waren doch sehr ungewöhnlich
gewesen in letzter Zeit. So ging ich, versunken in meine Gedanken, von
Auslage zu Auslage, ohne wirklich bewusst wahrzunehmen, was dort zu sehen
war. Deshalb fiel mir erst nach einiger Zeit auf, dass ich vor dem Schaufenster
einer Buchhandlung stehengeblieben war. Ich war mir sicher, dieses Geschäft
noch nie vorher bemerkt zu haben, das hätte ich mir sicher gemerkt, denn
Buchhandlungen gehörten von jeher zu meinen bevorzugten Läden. Oder
narrte mich wieder einmal meine Wahrnehmung? In letzter Zeit getraute ich
mich nichts mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Meine vertraute Realität war
doch einigermaßen ins Wanken geraten.
"AVALON - Buchhandlung und Antiquariat" war auf dem Firmenschild zu lesen.
Avalon, was war das nur, was mich so seltsam anrührte, als wehte ein Duft
nach Äpfeln von meiner Traumwiese zu mir her? "Ach ja, das übliche
esoterische Gelaber" schoss es mir kurz durch den Kopf, trotzdem wurde ich
diesmal doch von den angebotenen Büchern angezogen. Da gab es Bücher für
Lebenshilfe, in der Art von: "Selbstbehauptung im Alltag" oder "Die Kraft des
positiven Denkens", Astrologische Ratgeber, Fantasyromane, Prophezeiungen
verschiedener Medien usw. Ganz hinten, ziemlich unscheinbar und unprätentiös
stand ein broschürter Band. Er hatte nur ein Wort als Titel: "Magie". Als Autor
war nur eine Abkürzung angegeben: G.L. Warum zog ausgerechnet diese
schmucklose Broschüre mich so "magisch" an? Ich konnte es nicht sagen.
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Ich betrat den Laden, ein zartes Glockenspiel ertönte beim Öffnen der Tür, es
duftete betörend nach irgendeiner Räucherung, deren weißliche Rauchwolken
einem feinzieselierten Messinggefäss entströmten und mich zusammen mit
Harfenmusik!!! in eine wunderbar schwebende Stimmung versetzten. Mein
anerzogener Realitätssinn meldete sich kurz noch einmal zu Wort und rief
alarmiert: "Achtung, Kaufverführung!" Dann war es vorbei mit ihm. Er ging mit
fliegenden Fahnen in Duft- und Klangwolken unter.
Anscheinend befand sich niemand im Raum, so konnte ich mich ohne
Beeinflussung durch verkaufslüsternes Personal ganz dem Schmökern
hingeben, zumindest kurzfristig, denn bald würde ja doch jemand auftauchen,
um mich zu fragen, was ich denn gern hätte. So ging ich, verschiedene Titel
aufschlagend, kurz hineinlesend, von Regal zu Regal, und wusste nicht, dass
ich bereits beobachtet wurde. Hinter dem Vorhang, der den Verkaufsraum vom
Lager abtrennte, stand jemand, der bald darauf eintrat. "Guten Tag" sagte der
Jemand, der, wie sich gleich herausstellte, ein stattlicher; schon weißhaariger
Mann mit ebenfalls weißem Bart und mit Brille war. Ein gemütlicher
Bauchansatz wölbte sich unter seinem Pullover. Das alles stellte ich in einem
Augenblick fest, als ich gleich darauf von seinen Augen in Bann gezogen wurde.
Seine Augen, seine Augen, seine Augen..... sie waren mir so seltsam vertraut.
Nie hätte ich die Augen des Harfenspielers je vergessen können, der mir bei
meinem ersten Wiesentraum direkt ins Herz geblickt hatte!
Dieses setzte einen Augenblick lang aus, um gleich darauf einen Satz und noch
einen holprigen Ruck zu machen. Was geschah hier, das konnte es doch nicht
geben! Um mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, blickte ich nur
ganz kurz noch einmal auf, um dann, wie beiläufig zu sagen: "Ich suche das
Buch mit dem Titel MAGIE, bitte". Stille. Dann eine warme, angenehme
Stimme neben mir: "Sie sind die erste Kundschaft, die nach diesem Buch fragt.
Ich habe es selbst geschrieben. Leider habe ich keine Verlag gefunden, der es
gedruckt hätte. Es verspricht den Menschen nämlich keine Luftschlösser, im
Gegenteil, es verlangt vor allem Selbsterkenntnis. So habe ich es im Eigenverlag herausgebracht. Ihre Meinung darüber als erste Leserin wäre mir sehr
wichtig, deshalb werde ich ihnen eine Widmung hineinschreiben und es ihnen
schenken". Wieder die Augen des Harfenspielers in den Meinen. Wieder lässt
dieser Blick mein Innerstes erbeben. - Er bemerkt bereits meine Verwirrung,
oh Gott, was mach ich nur, ich bin doch kein junges, unerfahrenes Mädchen
mehr, ich bin doch eine reife Frau, jetzt riss dich doch zusammen, verdammt
noch mal ! "Sie können es ruhig annehmen, das muss Ihnen nicht unangenehm
sein", hilft er mir aus der Misere. "Meine einzige Bedingung ist, dass Sie es,
nachdem Sie es gelesen haben, mit mir besprechen und dabei mit Ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten". Um der Situation zu entkommen,
murmelte ich undeutlich etwas von "werde ich bestimmt" und "danke sehr" und
verließ eiligst den Buchladen. Völlig verstört eilte ich nach Hause. Fast wäre ich
unter die Räder eines Autos gekommen, das gerade noch mit quietschenden
Reifen knapp vor mir zum Stehen kam. Ich hatte es nicht bemerkt. Der Fahrer
fluchte und zeigte mir den Vogel. Er rief etwas von blinder Vogelscheuche oder
so ähnlich. Ich konnte es ihm nicht verdenken.
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An die Tage danach erinnere ich mich nur mehr undeutlich. Wie im Nebel,
welcher, der Jahreszeit angemessen, die Grenzen zwischen Erde und Himmel
verwischte, sind diese Tage in meiner Erinnerung undeutlich geworden. Wenn
ich nicht arbeitete, versenkte ich mich in die Lektüre des neuen Buches. Ich
empfand es wie das Betreten eines unbekannten, faszinierenden Landes,
dessen Existenz mir irgendwo in meinem Inneren immer schon bekannt
gewesen war und darauf gewartet hatte, zum richtigen Zeitpunkt von mir
entdeckt zu werden. Ich vergaß sogar auf meine Tagebucheintragungen.
Wovon erzählte nun dieses ominöse Buch? War es ein Roman oder eine
Anleitung zu magischem Tun? Nun, es war all dies und trotzdem auch wieder
etwas ganz Anderes. Oft, wenn ich mich darin vertieft hatte, meinte ich, es sei
für mich ganz alleine geschrieben und spräche allein zu mir, natürlich mit der
Stimme des Verkäufers im Buchladen, versteht sich. Es war, als öffnete sich
mir eine Türe und lud mich ein, einzutreten in das unendliche Land des
Geistes. Mein Blick weitete sich mit einem Mal und erfasste Dinge, die ich noch
vor kurzem ins Reich der Fabel verwiesen hätte. Ich erkannte, dass alles mit
allem verbunden war und alle unsere, ach so sicheren Kategorien des Denkens
in Wahrheit nur Krücken für unseren Verstand sind. Warum nur war kein
Verlag bereit gewesen, es drucken zu lassen?
Der Weg zur Apfelbaumwiese war mir zu dieser Zeit verschlossen. Ich
fürchtete sogar, ihn nie wieder zu finden. Trotzdem, etwas hatte sich
verändert, und ich mache meine Träume dafür verantwortlich.
23. NOVEMBER 88
Heute habe ich etwas ganz und gar Verrücktes getan. Noch jetzt flattern meine
Nerven, wenn ich mir die Situation in Erinnerung rufe. Wahrscheinlich
zerreißen sich meine Kollegen in meiner Abwesenheit den Mund über mich,
aber, das ist mir gleichgültig.
Nahe bei der Station der Straßenbahnlinie, die ich benutze, um in die Stadt zu
fahren, gibt es einen Kopierladen. Man kann dort auch Schilder prägen lassen.
Ich ließ mir ein Namensschildchen mit meinem Familiennamen prägen: Fr.
Waldstein.
Auf der Rückseite war eine Nadel angebracht, mit der man es an der Kleidung
befestigen konnte. Damit steckte ich das kleine Plastikding an meinen weißen
Arbeitsanzug. Am nächsten Morgen betrat ich damit klopfenden Herzens aber
erhobenen Kopfes meinen Arbeitsplatz. Natürlich musste es meinen
Kolleginnen, die mit mir an diesem Morgen Dienst hatten, sofort auffallen.
"Du Anna, was hat das denn zu bedeuten, späte Individualismusphase oder
so?" Lucie, meine jüngere Kollegin, die diesen Morgen mit mir Dienst machte,
sprach mich sofort daraufhin an. "Ja," erwiderte ich ernst, "besser spät als gar
nicht, meine ich." Lucie wiegte mit besorgter Miene den Kopf und meinte: " Da
wirst du aber mit der Chefin Probleme bekommen. Die ist doch die Einzige, die
hier mit dem Familiennamen angesprochen wird!" Die Chefin, das war die
Fachärztin für Orthopädie, welcher diese Ordination gehörte. Ich hatte bisher
mit allen Mitarbeitern hier ein sehr gutes, kollegiales Verhältnis gehabt. Wir
bildeten ein gut eingespieltes, aufeinander abgestimmtes Team.
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Das war auch notwendig bei dieser Menge an Patienten, die jeden Tag hier
behandelt wurden. Deshalb war es mir auch wichtig, meine Mitarbeiter nicht
vor den Kopf zu stoßen. Sie sollten nicht glauben, dass ich mich von ihnen
absetzen wollte. Natürlich war mir aber auch bewusst, dass ich mit dieser
Aktion genau diesen Eindruck erwecken musste. "Ach, weist du, Lucie",
versuchte ich meiner jüngeren Kollegin meinen "Ausritt zu erklären, " mich
ärgert es schon die ganze Zeit, dass ich immer die Frau Anna sein soll. Ich bin
doch kein Oberkellner! Vielleicht stört es den ja auch, aber das muss er für sich
selbst ändern, so wie ich es jetzt für mich mache. Und was die Chefin betrifft,
so wird sie sich daran gewöhnen, mich als erwachsene freie Persönlichkeit mit
meinem Familiennamen anzusprechen, wie sie es ja auch mit Leuten tut, die
nicht bei ihr angestellt sind", erklärte ich mein Verhalten. War ich am Beginn
meiner Rede noch sehr aufgeregt gewesen, wurde ich jetzt mit jedem Wort
ruhiger und gelassener. Obwohl ich doch meine weiße Arbeitskleidung trug,
hatte ich immer wieder die verschwommene Vision von einem langen,
fließenden Kleid, das meine Figur umspielte. Dabei spürte ich mich wachsen,
wenn ich auch natürlich real blieb wie ich war. Und wer hätte das gedacht, die
"Chefin" akzeptierte ohne eine Bemerkung meine Entscheidung. Wenn
Patienten mich von nun an "Frau Anna" rufen, werde ich sie freundlich, doch
bestimmt, auf die von mir gewünschte Anrede aufmerksam machen. Ich bin
schon neugierig, wie sie reagieren werden! Meine neue Persönlichkeit, mir
selbst noch weitgehend unbekannt, wie eine Fremde, die man erst nach und
nach kennenlernt, ist allem Anschein nach wesentlich selbstbewusster als die
alte. Jedenfalls verspricht das alles noch sehr aufregend zu werden. Ich habe
mir vorgenommen, mich von der Neuen vertrauensvoll führen zu lassen, ohne
dabei allzu sehr nachzudenken. Mein Leben beginnt allmählich recht spannend
zu werden, und ich frage mich, welche Überraschungen ich mir selbst noch
bereiten werde!
Hier fehlen leider wieder zwei Seiten. Sie sind allem Anschein nach entfernt
worden. Warum nur?
18. DEZEMBER 88
Wochen um Wochen sind nun schon vergangen seit jenen Herbsttagen, die so
bedeutungsvoll für mich waren. Allmählich ist es Winter geworden, ein paar
Tage vor Weihnachten. Diese Jahreszeit ist in einer Großstadt äußerst hektisch,
keine Spur von der sogenannten "Stillsten Zeit des Jahres" ist in den Strassen
und Gassen zu finden. Jeder Stadtbewohner kann ein Lied davon singen. Es hat
nun bereits zwei Tage lang ohne Unterbrechung geschneit, was bedeutet, dass
öffentliche Verkehrsmittel ihre Fahrpläne nicht einhalten können, Autofahrer
eifersüchtig wie Liebhaber ihre eigenhändig freigeschaufelten Parkplätze
bewachen, Kinder die weiße Pracht mit Rodelorgien begrüßen und mürrische
Hausbesorger zu noch nächtlicher Stunde die Gehsteige säubern müssen. Die
Einkaufszentren am Stadtrand sind, wie jedes Jahr um diese Zeit, Tollhäuser
voll "Stille Nacht..." und "Oh Tannenbaum" Gedröhn rund um die Uhr.
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Die Folge davon sind superbe Verkehrsstaus, die jeden Abend in den TV Nachrichten ausgiebig gefeiert werden. Weihnachten kann also kommen, der
Boden ist vorbereitet, hallelujah!
Die Patienten tragen diese Hektik leider auch in unsere Ordination, da sie alle
ihre Behandlungsserie noch vor den Feiertagen abschließen wollen. Die Älteren
von ihnen sind aus verständlichen Gründen missmutig, weil sie durch die
Witterung in ihrer Mobilität sehr behindert sind. Außerdem zwickt das Rheuma
an kalten, nassen Tagen besonders. Die Aussicht auf eine ganze arbeitsfreie
Woche ließ mich diese Zeit aber bis jetzt ohne nennenswerte nervliche
Beschädigung überstehen.
Ich habe heuer ein so großes Bedürfnis nach Stille, am liebsten wäre ich ein
paar Tage auf eine einsame Almhütte gefahren. Aber Almhütten pflegen um
dies Jahreszeit selten einsam zu sein, sie sind zu Weihnachten meist überfüllt
mit anderen Einsamkeitssuchern, die sich dann verzweifelt an ihren
Glühweingläsern anklammern und Hüttenzauber spielen. Darauf kann ich
leichten Herzens verzichten. Mir schwebt allerdings ein anderer Zauber vor, der
von stillen, verschneiten Wäldern und ruhigen aber interessanten Gesprächen
am Kamin. Eine solche segensreiche Einrichtung habe ich sogar zu Hause, da
ich mir, Krone der Exklusivität, voriges Jahr einen dieser Birnenöfen aus Ton
geleistet habe, die man wie einen offenen Kamin benutzen kann. Die
Gespräche sind da schon das größere Problem. Wem könnte ich schon über
meine merkwürdigen Erlebnisse der letzten Zeit erzählen ? Wer würde mich
verstehen? Niemand vermutlich, ....außer vielleicht......er, mein Harfenspieler.
Mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor wird mir plötzlich meine Einsamkeit
bewusst. All meine Kolleginnen und Kollegen, wir verstehen uns wirklich gut,
doch nahe befreundet bin ich mit keinem von ihnen. Und meine Tochter
Myriam? Sie ist gerade in einer heißen Phase der Abnabelung begriffen und
hält mich auf Distanz. Da sind verschiedene Freundinnen aus Jugendtagen,
doch bei keiner könnte ich mir vorstellen, ihr von meinen Träumen zu erzählen.
Außerdem sind von ihnen die meisten Mittelpunkt einer mehr oder weniger
zahlreichen Familie, also fallen sie für mich in der Weihnachtszeit sowieso aus.
Was ich mir wünsche, kostet keinen Groschen, ist aber so kostbar wie ein
teurer Diamant. Es ist wirkliche, innere Verbundenheit, eine Vertrautheit, die
keiner erklärenden Worte bedarf. Ich werde also die Feiertage alleine
verbringen, auch keine schlechte Aussicht, wenn man sich beizeiten innerlich
darauf einstellt. Ich ertappe mich jetzt manchmal dabei, dass ich einen
imaginären Dialog mit "meinem" Harfenspieler führe, dem vom Buchladen. Ich
habe sein Buch lange fertig gelesen und wünsche mir eigentlich, mit ihm
darüber zu sprechen, da mich einiges sehr berührt, manches ziemlich
aufgewühlt und vieles neue Fragen in mir aufgeworfen hat. Da ich noch ein
passendes Geschenk für Myriam aussuchen will - ich sollte sie vor dem Heiligen
Abend noch treffen, da sie mit ihrem Freund über die Feiertage wegfahren will
-, habe ich ja schließlich einen Vorwand, die Buchhandlung aufzusuchen.
Heiliges Rhinozeros, warum brauche ich denn noch immer einen Vorwand?
Kann ich nicht einfach hingehen und sagen: "Guten Tag, da bin ich wieder,
gehen wir doch nach Geschäftsschluss etwas trinken und reden wir über ihr
Buch!" Warum hilft es mir in dieser Angelegenheit nicht weiter, mich innerlich
in die Frau von der Wiese zu verwandeln?
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19. DEZEMBER 88
Ich betrat also die Buchhandlung, etwas aufgeregt zwar, aber mit dem festen
Vorsatz, mir das nicht anmerken zu lassen. Eine Frau, etwa dreissig Jahre alt,
dunkelhaarig und hübsch, war gerade damit beschäftigt, kleine Säckchen mit
Räucherwerk auf einem der Tische anzuordnen. Nun war ich aus dem Konzept
gebracht. Wo war mein Harfenspieler? Ja, natürlich, sicher war er verheiratet,
und dies war seine Frau! Meine Stimmung sank ins Bodenlose. Gerade hatte
ich noch die Kraft, einen Gedichtband mit wunderschönen Aquarellen als
Illustrationen dazu für Myriam zu erstehen, dann verließ ich fluchtartig die
Buchhandlung. Warum bin ich eigentlich so enttäuscht? Was will ich denn von
diesem Mann? Berechtigt mich denn die Tatsache, dass er dem Harfenspieler in
meinen Träumen so ähnlich sieht, zu irgendeinem Anspruch an ihn? Bei einem
Mann in seinem Alter muss man doch die Wahrscheinlichkeit einkalkulieren,
dass er nicht alleinstehend ist. Das sind natürlich alles rationale Überlegungen.
Sie helfen mir in dieser Stimmung überhaupt nicht weiter. "Dumme, alte Kuh",
verguckst dich in einen Mann wegen seiner Augen und glaubst, der hätte nur
auf dich gewartet! Nun, ich dachte, solche Anfälle von Selbsthass hätte ich
längst überwunden. Wie man sich täuschen kann! Das kommt von Träumen
und Ahnungen und solchem Unsinn, ich werde wieder realistisch sein. Doch
etwas in meinem Inneren weiß, dass ich den einmal eingeschlagenen Weg
nicht mehr verlassen kann, er scheint meinem Gefühl der einzig richtige für
mich. Einsamkeit und Enttäuschungen werden mich wohl nicht von abbringen
können, ich hätte sonst das Gefühl, mich selbst erneut zu verlieren.
In dieser Nacht träumte ich wieder von meiner Apfelbaumwiese.
TRAUM VOM 19.DEZEMBER 88
Wieder trug ich dieses fließende. glänzende Gewand. Wieder lag dieser
seltsam diffuse, helle Nebel über der Landschaft. Ich ging langsam auf einen
kleinen, klaren Teich zu, der mir bei meinen bisherigen Besuchen nie
aufgefallen war. Schilf und Binsen bestanden sein Ufer, Seerosen blühten auf
seiner Oberfläche, die glatt unter diesem seltsamen Himmel dalag wie ein
metallener Spiegel. Tiefe Stille lag über der ganzen Szene. Ich verspürte
plötzlich Lust, in diesem Teich zu baden, deshalb streifte ich mein Kleid über
den Kopf und stieg nackt in das kalte, kristallklare Wasser. Die Kälte nahm mir
fast den Atem, als ich bis über den Kopf darin eintauchte. Trotzdem, es war
einfach köstlich, in diesem Wasser zu baden! Immer hatte ich bisher kaltes,
klares Wasser zum Schwimmen bevorzugt, doch dieses hier war einfach der
Inbegriff von Wasser, ja die Essenz dieses Elementes selbst. Ich fühlte, wie
alles Unklare, Unechte von mir weggespült wurde. Wie ein neugeborenes Kind
stieg ich wieder aus dem herrlichen Nass, um mich an der linden, milden Luft
zu trocknen.
21
Die Gestalt war vorher nicht dagewesen. Jetzt stand sie in einem dunkelblauen,
langen Kleid am Ufer, als wäre sie daraus hervorgewachsen. Sie war klein,
dunkelhaarig, von zarter Gestalt, und sie hielt etwas in ihrer Hand, es war
einer dieser köstlichen Äpfel, die hier wuchsen. An ihrem Gürtel hing ein
kleines, sichelförmiges Messer. Damit schnitt sie den Apfel jetzt waagrecht
durch und hielt ihn mir mit der Schnittfläche entgegen, so dass das
Kerngehäuse sichtbar war. Die Kerne bildeten einen fünfzackigen Stern.
Stumm und mit bedeutsamer Miene zeigte sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf dieses Muster, als wollte sie mir etwas mitteilen, etwas, das
sich mit Worten so nicht sagen ließe. Dabei fiel mir erst jetzt auf, dass ich sie
schon einmal gesehen hatte. Aber natürlich, das war die Frau aus dem
Buchladen! Was wollte ausgerechnet sie von mir? Jetzt kam sie zu mir her, sah
mir mit einem warmen, zärtlichen Ausdruck in die Augen und legte mir den
halben, aufgeschnittenen Apfel in die Hände. Eine Welle der Zuneigung erfasste
mich, und ich umarmte sie lange und liebevoll. Mit diesem Gefühl erwachte ich,
verwirrt und doch seltsam ruhig und ausgeglichen.
Langsam beginne ich mich bereits mit dieser Vermischung der Realitäten
abzufinden, obwohl ich mir diesmal absolut keinen Reim auf die Bedeutung
dieses Traumes machen kann. Interessant war für mich das plötzliche Gefühl
der Zuneigung zu dieser Frau, wo sie doch gleichsam meine Fast - Nebenbuhlerin ist. Seltsam, das Gefühl eifersüchtiger Enttäuschung hat mich
gänzlich verlassen! Habe ich es nur verdrängt? Ich glaube nicht. Wenn ich mein
Innerstes ausleuchte, selbst die verborgensten und dunkelsten Winkel, finde
ich dort nur mehr Zuneigung und Verbundenheit.
Es blieb mir aber nicht viel Zeit, lange meinen Gedanken nachzuhängen, da
mein Telefon fordernd klingelte. Myriam war am anderen Ende der Leitung. Sie
klang sehr zerknirscht und kläglich, als sie sich meldete. "Myriam, was ist los?"
fragte ich. "Mama, kann ich zu dir kommen, mir geht's nicht gut!"
Glücklicherweise war gerade heute mein erster freier Tag. Ich freute mich,
dass sie zu mir kam, sie war schon eine Ewigkeit nicht bei mir gewesen.
Darüber vergaß ich fast, dass der Anlass für ihren Besuch kein erfreulicher war.
20.DEZEMBER
Als sie dann kam, war sie ein Häufchen Elend, und ich fühlte mich wieder in die
Zeit der aufgeschlagenen Knie und der beschädigten Spielsachen
zurückversetzt. Ich umarmte sie, strich ihr über das Haar wie früher, als ein
kleines Mädchen gewesen war und nahm ihr Mantel und Mütze ab. "Setz dich
erst einmal nieder und wärm dich auf, ich mach uns einstweilen einen heißen
Kräutertee, oder trinkst du noch so gerne heiße Schokolade wie früher? Ja?
Also Schokolade". Sie hatte sich inzwischen ein wenig gefasst. "Mama, stell dir
vor, der Sascha betrügt mich mit einer Kollegin! So ein Schuft! Dabei wollten
wir doch morgen wegfahren, aber jetzt ist alles aus!" Sie brach in Tränen aus.
Als der erste Tränenschub vorbei war, erzählte sie mir, schon etwas ruhiger
jetzt, von der ganzen Misere.
22
Es stellte sich heraus, dass Sascha, die ganz große Liebe, seine Zuneigung auf
mindestens zwei Frauen aufteilte und das offenbar schon seit geraumer Zeit.
Allerdings verstand er es auch, jede von ihnen glauben zu machen, sie sei die
einzig Wahre und Einzige. Vielleicht hat er ja auch ein Problem mit dem
Zulassen von Nähe. Bei Männern zeigt sich diese Form der Pseudolösung
relativ häufig, auch mein Exmann war dafür ein Beispiel gewesen, ein für mich
sehr schmerzhaftes. Diese Erkenntnis behielt ich allerdings vorläufig einmal für
mich. Was Myriam jetzt brauchte, war Mitgefühl und Verständnis, keine
psychologische Durchleuchtung ihres Freundes. Ach Myriam, mein kleines
Mädchen, musst du wirklich die gleichen Spielchen wie deine Eltern
durchspielen, war denn unser Vorbild so prägend? Natürlich war es das, habe
ich denn geglaubt, dass unsere Webfehler keine Spur im Gemüt unseres Kindes
hinterlassen würden? Wie blauäugig von mir!
"Mama, es tut so weh, ich kann es kaum aushalten! Was soll ich denn nur
tun?", jammerte Myriam verzweifelt und brach in Tränen aus. Die angehende
Sozialarbeiterin, eingeweiht in die hohe Kunst der therapeutischen Distanz, war
nun, da es sie betraf, ihrem Schmerz ganz ausgeliefert. Das war eine ganz
neue Erfahrung für das Mädchen. Ich hätte, ganz Muttertier, gerne getobt und
dem treulosen Kerl den Kopf gehörig gewaschen. Wie konnte er es wagen,
meinem Kind so wehzutun! Gott sei Dank verkniff ich mir die Hasstiraden und
sagte nur, einigermaßen hilflos: "Ich kann dir leider auch nicht sagen, was du
tun sollst, das musst du selbst entscheiden. Aber ich würde mich vermutlich
schnellstens trennen, denn ich glaube nicht, dass Sascha sich grundlegend
ändern wird." "Ach, Mama, ich liebe ihn doch so!" "Ich weiß, Kleines, aber
glaubst du, dass du seine Betrügereien weiter aushalten kannst? Denn, wenn
ich ihn richtig einschätze, wird er es immer wieder tun."
Ich erzählte ihr von meinen Problemen mit ihrem Vater und war dabei so offen,
wie möglich, ohne die Gefühle des Mädchens zu verletzen. Schon beim
Sprechen merkte ich, dass meine Sicht der Vergangenheit sich auffällig
geändert hatte. Glasklar stand mir nun meine eigene Rolle im Drama meiner
Ehe vor Augen. Ich erkannte, dass meine eigenen Schuld - und
Minderwertigkeitsgefühle mir einen Ehepartner beschert hatten, dessen
Selbstwert ähnlich schwach entwickelt war wie meiner. Er stellte sich, bildlich
gesprochen, auf meine Schultern, um größer zu sein, und ich warf ihn nicht ab.
Aber nicht Stärke war es, die mich diese Situation ertragen ließ. Nein, ich
fühlte mich wie früher verantwortlich und gebraucht und geliebt. Was nützte
mir diese Einsicht, jetzt, wo es ohnehin zu spät war? Hätte ich unsere Ehe
retten können, wenn ich früher erkannt hätte, worauf sie sich aufbaute?
Myriam hatte mir bewegt und gespannt zugehört. Sie war ja Zeit ihres Lebens
involviert gewesen in unsere Turbulenzen. Allmählich bekam ich den Eindruck,
dass nicht mehr Sascha und Myriam oder mein Exmann und ich im Zentrum
unseres Gesprächs standen, sondern wir beide, Mutter und Tochter. Das
wirkliche, das unterschwellige Thema der Unterhaltung war unser beider
Beziehung.
Es war bereits dunkel geworden. In der Intimität der Dämmerung schwand mit
jeder Minute ein Stück der Distanz zwischen uns.
23
Ich fürchtete mich vor dem Moment, an dem ich das Licht aufdrehen musste.
Die Situation erinnerte mich ein wenig an Kino, wenn alle weinen, dann wird es
hell, und niemand traut sich aufzublicken vor Befangenheit. Myriam ging es
wohl ebenso, denn wir blieben lange im Dunkel sitzen und hingen unseren
Gedanken nach. Plötzlich fragte Myriam unvermittelt: "Mama, hast du
eigentlich keinen.....Freund?" Ich war wie vom Donner gerührt und antwortete
nicht gleich. Warum eigentlich?.....Schweigen.......Myriam ließ nicht locker:
"Hast du? Du kannst es mir ruhig sagen. Oder glaubst du, ich denke, dass du
als geschiedene Frau in mittleren Jahren über diese Dinge erhaben bist? Mama!
Ich bin doch kein kleines Kind mehr!"
Sie hatte den Finger auf eine empfindliche Stelle gelegt. Wie eine schmerzende
Wunde hatte ich es bisher vermieden, sie zu berühren oder auch nur näher zu
betrachten. Hier tat sich ein schwarzes Loch des Nichtempfindens auf, in
meiner Mitte, dort wo das Herz seinen Sitz hat. Mit ihrer unbefangenen Frage
war es meiner Tochter gelungen, meinen Blick endlich, nach langer Zeit,
dorthin zu richten. Sie zwang mich, genau hinzusehen, und was ich dort
erkannte, gefiel mir gar nicht.
Nun versuchte ich ihr, in erster Linie aber wohl mir selbst, Rechenschaft
abzulegen. Es fiel mir nicht leicht. "Nein...ich habe momentan
keinen......Freund." "Warum nicht, Mama? Findest du keinen, oder möchtest du
keinen?"
Puh, sie machte es einem wirklich nicht leicht, um den heißen Brei
herumzureden, als Kind der modernen Zeit war es ganz natürlich für sie, über
diese Dinge offen zu sprechen. Aber, nun war es für mich an der Zeit, Klartext
zu reden, schon um unsere neu erstandene Beziehung nicht wieder zu
gefährden.
"Nicht, weil ich nicht will", sagte ich zaghaft, "sondern ich kann nicht.....ich
habe Angst. Da sind so viele Zweifel....bin ich denn schön und liebenswert
genug.......kann ich einem Mann etwas geben? Ich will nicht noch einmal
verletzt werden. Irgendwie muss ich das alles wohl ausstrahlen....Ich bin nicht
offen für eine neue Liebe, und das merken die Männer sicherlich,
obwohl........na, ja, lassen wir das."
Die letzten Worte hatten wie ein Köder auf Myriam gewirkt, sie biss sofort an:
"Was heißt denn das, nichts lassen wir, jetzt will ich es aber wissen!", sagte sie
schalkhaft, "wer ist der Glückliche, sag' schon!"
Ich erzählte ihr also von dem Verkäufer in der Buchhandlung, und dass ich
glaubte, er sei schon verheiratet. Die Sache mit den Träumen und dem
Harfenspieler ließ ich allerdings weg, ich schämte mich irgendwie vor meiner
Tochter. Darüber konnte und wollte ich noch mit niemandem sprechen.
Später dann sagte Myriam: "Du hast dich so verändert, Mama! Nie hätte ich
gedacht, dass ich einmal auf diese Art mit dir reden werden können. Oder habe
ich mich so verändert und sehe dich jetzt deshalb ganz anders?" Ja und nein,
kleine Myriam, wir treiben beide im großen Fluss des Lebens, der niemals
anhält und alles in immerwährender Bewegung hält.
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Manchmal beängstigt mich diese Vorstellung, manchmal aber kann ich mich
diesem Fliessen schon vertrauensvoll hingeben. Dann fühle ich mich lebendig
und warm und ohne Angst. Heute war so ein Tag und du hast ihn mir
geschenkt. Ich danke dir dafür.
Als wir uns an diesem Abend trennten, wussten wir beide, dass die Zeit der
Entfremdung vorbei war. Es würde nie wieder so werden wie früher, als sie
mein kleines Mädchen gewesen war, das sollte auch nicht sein. Aber wir
würden eine neue Form der Zuneigung finden, die unserem erwachsenen
Frausein entspräche. Was konnte es Besseres geben?
28. DEZEMBER 88
Seltsam sind diese Weihnachtsfeiertage! Das Gespräch mit Myriam hat wohl
irgendwelche Barrieren in mir eingerissen. Ich kann direkt körperlich fühlen,
wie sich Schale um Schale meines Panzers löst, wie bei einer Zwiebel und
immer zartere, empfindlichere Schichten meiner Persönlichkeit zutage treten.
Ängstlich frage ich mich manchmal, ob ich mich nicht vielleicht irgendwann
auflösen werde, wenn die letzte Schale weg ist. Was bliebe von mir dann
übrig? Dinge und Begebenheiten, die ich sonst nie ganz an mich herangelassen hatte, weil ich nicht wusste, wie nahe sie mir dann kommen würden,
wühlen mein Innerstes auf wie nie vorher. Ich fühle Mitleid, wo ich früher
bereit gewesen war, wegzusehen oder zu verurteilen. Es scheint, als trüge ich
eine Aufschrift auf meiner Stirne: "Achtung, Penner und Bettler, hierher, hier
bekommt ihr, was ihr wollt!" Noch nie bin ich so oft auf der Strasse angebettelt
worden. Noch nie habe ich aus vollem Herzen so gerne gegeben, obwohl ich
jedes Mal genau weiß, wohin dieses Geld sofort wandert, nämlich in die
nächste Schnapsbude. Es ist mir egal, sollen sie ihr "Vergnügen" haben!
Heiterkeit und Tränen wechseln in schneller Folge, ich bin eingetaucht in ein
Wechselbad der Gefühle. Noch nie habe ich mich so lebendig gefühlt!
30 DEZEMBER 88
Es scheint, dass ich dieses Jahr Sylvester alleine zu Hause verbringen werde,
wahrscheinlich vor dem Fernseher. Was soll's, ich habe mich in meinem
Alleinsein eingerichtet wie in einer komfortablen Wohnung. Ich fühle mich wie
eine Puppe in ihrem Kokon. Die Zeit zum Fliegen ist noch nicht gekommen, der
Sommer ist noch ein ferner Traum, aber ich kann schon die Verheißung seiner
Wärme ahnen und warte....
Oft muss ich an den Traum mit dem aufgeschnittenen Apfel denken, doch ich
kann nicht hinter seine Bedeutung kommen.
25
3.JÄNNER 89
Gestern, auf dem Heimweg von der Arbeit, sah ich ein Plakat an der Wand der
Autobushaltestelle. Es fiel mir sofort auf, denn ein fünfzackiger Stern, ein
Pentagramm oder Drudenfuss war drauf zu sehen und erinnerte mich an das
Muster des Kerngehäuses in meinem Traum. Darunter war zu lesen: DIANA,
DEMETER, HEKATE - die andere Hälfte des Himmels oder GOTTES WEIBLICHE
SEITE. Vortrag von Mag. Sowieso. Ort: Buchhandlung AVALON, dann die
Adresse usw. "Gott", diesem Thema war ich mein ganzes Leben mehr oder
weniger erfolgreich ausgewichen. Vom Elternhaus atheistisch erzogen, hatte
das Numinose immer schon eine, gewissermaßen verbotene Anziehung auf
mich ausgeübt, doch zum allgemein verbreiteten Gottesbild hatte ich nie
Zugang gefunden, ohne genau sagen zu können, warum. Jetzt wusste ich
plötzlich in einem Aufblitzen der Erkenntnis, dass ich mich als Frau in diesem,
wie für Männer erfundenen Gott nie spiegeln hatte können. Niemals hatte mein
Inneres geantwortet auf einen Ruf von ihm, sollte überhaupt jemals einer an
mich ergangen sein. Dieser Gott benahm sich wie ein eifersüchtiger und
engstirniger Liebhaber, außerdem schien er etwas gegen die Freuden des
Leibes zu haben. Er setzte seine Kinder in eine Welt, die er sie gleichzeitig zu
verachten lehrte. Diese Verachtung erstreckte sich gegen das Leben und alle,
die dieses Leben hervorbrachten, die Frauen. Und nun diese Ankündigung einer
weiblichen Seite Gottes! In diesem Augenblick war mir, als antwortete eine
leise Stimme in mir auf einen fernen Ruf. Etwas regte sich in mir. Es fühlte sich
an, wie die ersten, zarten und gleichzeitig atemberaubenden Bewegungen
eines ungeborenen Kindes im Mutterleib, oder die erste Ahnung sich
entfaltender Flügel des Schmetterlings, der noch in der Gestalt der Puppe
gefangen ist. Ich stand mit geschlossenen Augen und fühlte in mich hinein,
während ein ziehender, aber süßer und sehnsüchtiger Schmerz mich erfüllte.
Ich musste diesen Vortrag hören! Er galt mir, rief mich zu irgend einem Ort,
der mir gehörte von jeher, das wusste ich in diesem Augenblick mit
unumstößlicher Gewissheit.
5.JÄNNER 89
Gestern war ich auf dem Vortrag! Ich weiß überhaupt nicht, wo ich beginnen
soll...nun, vielleicht vom Anfang an, schön der Reihe nach, das wird mir helfen,
meine Gedanken zu ordnen. Also, am Abend richtete ich mein Äußeres mit besonderer Sorgfalt her. Ich behandelte mein Haar sogar wieder einmal mit
rotem Henna, weil, wie ich festgestellt hatte, der Haaransatz schon in meiner
dunkelblonden Naturfarbe nachgewachsen war. Einige graue Härchen waren
auch schon darunter. Noch ein letzter, prüfender Blick in den Spiegel: nun,
eigentlich sah ich gar nicht so übel aus, ich gefiel mir heute sogar recht gut.
"Anna," meldete sich die Stimme meiner allgegenwärtigen inneren
Zwillingsschwester, der "Stimme der Vernichtung" mit gewohnter Schärfe:
"wem willst du denn heute gefallen, etwa dem Bärtigen aus der Buchhandlung?
Gib's auf, du hast doch keine Chance. Dein Harfenspieler ist schon vergeben
und zwar an eine Hübschere und Jüngere als du bist!"
26
"Halt den Mund!" schrie ich unhörbar der Feindin in mir zu, "na, wenn schon,
ich will mir selbst gefallen und mich schön finden; und ich will auch von
anderen schön gefunden werden, auch wenn ich nicht perfekt bin!"
Es wirkte. Sie war still und meldete sich für den heutigen Tag nicht mehr. Das
war immerhin schon etwas, eine Schlacht war gewonnen, wenn auch noch
nicht der Krieg!
Der kleine Saal hinter dem Ladenraum füllte sich immer mehr mit Zuhörern.
Kein mir bekanntes Gesicht war darunter. Gleich würde die Vortragende
heraustreten und zu sprechen beginnen. Die Leute unterhielten sich leise
murmelnd, bereit ihre Gespräche einzustellen, wenn der Vortrag begann. Ich
war aufgeregt und vibrierte förmlich vor Spannung, auch, weil ich trotz alledem
noch hoffte, den Bärtigen zu sehen. Doch er kam nicht. Wer kam, war die Frau
aus meinen Traum. Sie war es, daran bestand kein Zweifel. Sie blickte mich
an, und Erkennen leuchtete in ihrem Blick auf. Gleich darauf glaubte ich,
leichte Verwirrung an ihrer Miene ablesen zu können. Sie wusste wohl nicht
mehr, woher sie mich kannte, ich war nur einmal ganz kurz mit ihr im
Gespräch gewesen, damals, in der Buchhandlung . Sie kam auf mich zu: "Es
freut mich sehr, dass Sie heute gekommen sind." sagte sie wie zu einer alten
Bekannten zu mir. Dabei blickte sie mir lächelnd in die Augen. "Sie werden
sehen, dieser Vortrag wird sehr interessant für Sie sein", und sie sah mich mit
den Augen der Frau vom Teichufer an. Verwirrt fragte ich sie: "Verwechseln Sie
mich mit jemandem? Wir beide kennen uns doch nur vom Sehen". Ihr Lachen
war glockenhell, und ich hatte den Eindruck, man müsse es im ganzen Saal
hören. Das schien sie aber nicht im geringsten zu stören, nein, es gefiel ihr
allem Anschein nach sogar. Sie war sich ihrer selbst offensichtlich so sicher,
das sie geradezu von Selbstsicherheit erstrahlte. Dabei war sie, wie ich nun
feststellen konnte, da ich sie ganz nahe sah, genauso wenig perfekt, wie ich
selbst. Mein Erstaunen darüber versuchte ich zu verbergen, es gelang mir nicht
ganz, glaube ich. Sie setzte sich neben mich. "Sie sind heute nicht mit ihrem
Mann hier?" getraute ich mich zu fragen und fand mich dabei sehr mutig. Sie
sah mich mit schelmischer Belustigung an. "Aber ja, mein Mann ist auch da,
kennen Sie ihn denn?" Und sie zeigte auf einen mir unbekannten, blonden,
jüngeren Mann in einer der vorderen Reihen. "Jetzt müssen Sie mich aber kurz
entschuldigen, als Besitzerin dieses Ladens muss ich die Vortragende
begrüßen". Weg war sie und ließ eine verwirrte, aber vor Glück fassungslose
Anna zurück, die am liebsten alle Anwesenden umarmt hätte.
Der Vortrag selbst war tatsächlich so interessant, wie ich es erwartet hatte. Die
Anthropologin referierte über die Entwicklung eines weiblichen Gottesbildes
vom Paläolithikum bis zum Griechischen Altertum, über die Religion der Magna
Mater, die Gebärerin und Todesbringerin in einer Person gewesen war und
deren spätere Aufspaltung in viele verschiedene Göttinnen. Sie sprach von den
großen Megalithkulturen, die, besonders in Küstenregionen, überall mit dieser
Religion im Zusammenhang aufgetreten war. Doch immer wieder schweiften
meine Gedanken vom Thema ab, um sich mit der umwerfenden Erkenntnis zu
beschäftigen, dass meine neue Bekannte nicht mit "meinem" Harfenspieler
liiert war.
27
Nach dem Ende des Vortrages wartete ich noch, bis alle Gäste gegangen
waren. Die Ladenbesitzerin lud mich ein, noch ein wenig mit ihr zu plaudern.
"Wollen wir uns noch ein bisschen zusammensetzen? Ich habe drüben eine
Flasche Wein, was sagen Sie dazu?" "Und Ihr Mann, schicken Sie ihn alleine
nach Hause?" "Ach wir wohnen hier gleich um die Ecke, das ist kein Problem,
machen Sie sich keine Gedanken!"
Wir setzten uns in eine gemütliche, kleine Sitzecke im hinteren Teil des
Geschäftes, und sie schenkte mir Rotwein ein. Dann zündete sie ein paar
Kerzen an. "Ich heiße Margot," stellte sie sich vor. "Ich heiße Anna", sagte ich.
"Ich habe von Ihnen geträumt, wissen Sie?" Sie sah mich lange, mit
forschendem Blick an. "Sie standen am Ufer eines Teiches auf einer
Apfelbaumwiese, von der ich immer wieder träume. Sie hatten ein blaues,
langes Kleid an und zeigten mir einen aufgeschnittenen Apfel." Ein langer,
forschender Blick aus ihren dunklen Augen traf mich. Dieser Blick ließ die
Dämme meiner Zurückhaltung brechen, und ich erzählte ihr alle meine
eigenartigen Erlebnisse seit diesem denkwürdigen Tag, an dem dies alles
begonnen hatte. Und diesmal hatte ich nicht im geringsten Angst, nicht
verstanden zu werden. Ich wusste ganz sicher, dass sie, wie kein anderer
Mensch sonst, nachvollziehen konnte, was ich ihr da erzählte. Es war so
befreiend, endlich über alles sprechen zu können! Deshalb vergaß ich alles um
mich herum, besonders die Zeit. Als ich geendet hatte, war es weit nach
Mitternacht. Die Flut meiner Worte hatte sich, nachdem sie die Dämme meiner
Zurückhaltung durchbrochen und sich in meiner Erzählung kanalisiert hatte,
endlich verlaufen, und Stille trat ein. Es war nicht die Stille, in welcher man
krampfhaft überlegt, worüber man sich denn nun weiter unterhalten soll, und
die mit zunehmender Dauer immer lastender wird. Nein es war eine Stille, in
der das Gesagte noch in Gedanken weiter schwingt. Es breitete sich wie
Wellenkreise im Raum aus. Die Weinflasche war fast leer, die Kerzen herab
gebrannt. "Wissen Sie, was Sie da geträumt haben", fragte Margot mit
bewegter Anteilnahme in der Stimme, "Sie waren im Traum auf der
Sommerinsel, in der Sage Avalon genannt. Es ist das Reich der Feen, die
keltische Anderswelt. Haben Sie sich je mit dem Gralsmythos und den Artus Erzählungen befasst?" Etwas beschämt ob meiner Unbildung dieses Thema
betreffend, verneinte ich. Sie stand auf und gab mir ein Buch. "Das borge ich
Ihnen, Sie werden in ihm all das finden, was Sie geträumt haben und noch
sehr viel anderes Interessantes. Sie sollten sich auch Gedanken über unser
eigenartiges Zusammentreffen machen, hier in der Buchhandlung Avalon und
dort auf der Insel Avalon, auf Ynis Vytrin, der Glasinsel. Anscheinend haben wir
beide eine starke innere Verbindung zu diesem Mythos. Oft treffen auch
Menschen wieder aufeinander, die einander aus einem oder mehreren Leben
kennen um wieder gemeinsam an etwas zu arbeiten. Eines scheint mir
jedenfalls ziemlich sicher, für Sie ist es die Heimat Ihrer Seele, wo Sie Heilung
finden, und woher Ihnen Ihre Kraft zuwächst". Ich sah sie entgeistert an. Dies
alles war so schrecklich neu für mich und doch auch wieder nicht. Tief innen,
dort wo das Ungesagte und Ungedachte noch formlos schläft, lösten ihre Worte
eine Bewegung aus. Ich spürte deutlich: etwas schickte sich an, aufzusteigen
ans Licht der Bewusstheit.
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"Glauben Sie denn an Wiedergeburt?", fragte ich erstaunt, als wüsste nicht ein
Teil von mir mit unumstößlicher Gewissheit um die Tatsachen. "Ich w e i s s,
dass wir immer wiedergeboren werden. Aber darüber werden wir uns sicher ein
andermal ausführlich unterhalten", antwortete die Buchhändlerin. Ihre Augen
aber sagten: "Du weißt doch die Wahrheit, warum gestehst du sie dir nicht
ein?" Es war nun wirklich Zeit zum Aufbruch, denn mittlerweile war es fast
Morgen geworden.
Ich wollte nicht mehr zu Fuß nach Hause gehen, und eine Straßenbahn fuhr zu
dieser späten Stunde nicht mehr, also rief Margot mir ein Taxi. Lächelnd
verabschiedete sie sich von mir: "Bis bald" und "Blessed be!" Ich verzichtete
darauf, sie zu fragen, was das bedeuten sollte. Noch mehr Rätselhaftes glaubte
ich an diesem Tag nicht mehr verkraften zu können. Das Taxi kam, als ich
schon wartend auf der Strasse stand. Es musste gleich in der Nähe gewesen
sein. Ich setzte mich auf den Rücksitz, der Fahrer drehte sich um und fragte
mit einem leicht belustigten Unterton in der Stimme nach meinem Fahrziel. Es
war der Harfenspieler.....! Nun glaubte ich, vollends den Verstand zu verlieren.
Hier war etwas im Gange, das ich nicht durchschaute. Ich konnte mich nur
wehrlos und im Vertrauen darauf, dass es für mich gut ausgehen würde, in
dieses seltsame Theaterstück fügen, das da, allen Anscheines nach, mit mir in
der Hauptrolle, inszeniert wurde. Von wem? Ich weiß es nicht und sollte es
aber wissen, das fühle ich.
Die Fahrt dauerte nicht lange, es ist nicht weit von der Buchhandlung bis zu
meiner Wohnung.
Als wir vor meinem Haustor hielten und ich den Fahrpreis bezahlt hatte, sagte
der Harfenspieler mit einer Sicherheit, die in diesem, einem Augenblick meine
ganze Zukunft umfasste "Wir werden uns von jetzt an oft wiedersehen". Dabei
nahm er meine beiden Hände und hielt sie in den seinen; sie waren warm und
fest, und meine Hände fühlten sich sofort einsam und unbehaust, als er sie
losließ. Sie sehnten sich gleich wieder nach dieser neuen Behausung zurück.
Seit gestern sind in mir nun Gewissheit auf der einen Seite, Unsicherheit und
Unruhe auf der anderen Seite gleich verteilt wie auf einer Waage, die sich in
labilem Gleichgewicht befindet. Beim kleinsten Anstoß schwanken die
Waagschalen wild zwischen oben und unten hin und her.
20. JÄNNER 89
Ich werde immer mehr zum Einsiedler, und all meine Aktivität hat sich ganz in
mein Inneres verlagert. Dort allerdings bin ich hochaktiv. Aber es ist Winter,
auch die Natur hat sich zurückgezogen, also bin ich ganz im Einklang mit den
natürlichen Zyklen, und das ist ein gutes Gefühl. Mit inbrünstiger Begierde lese
ich alles, was ich über das Thema Avalon, den Sagenkreis um Artus, die Alte
Religion, Mythologie, Reinkarnationstheorien und all diese Dinge finden kann.
Ich habe begonnen, regelmäßig zu meditieren und praktiziere die magischen
Übungen aus dem Buch meines geheimnisvollen Harfenspielers.
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Manchmal, wenn ich versuche, mich mit den Augen Außenstehender zu
betrachten, finde ich meine Aktivitäten höchst skurril. Kleine, maßstabgetreue
Papp Pyramiden stehen an allen möglichen Plätzen meiner Wohnung, weil ich
ein Buch über ihre besonderen Energien gelesen habe. Ich verteile Kristalle an
diversen neuralgischen Punkten meines einzigen Zimmers, denn ich habe auch
einige Bücher über Edelsteinenergien gelesen, und nun will ich auch alles selbst
ausprobieren. Ich sauge alles Erreichbare auf wie ein trockener Schwamm.
Dabei bin ich mir bewusst, dass möglicherweise auch einiges an Unsinn dabei
ist. Aber, ich glaube, ein angeborener innerer Wahrheitssinn lässt mich diese
Dinge unverdaut wieder ausscheiden und das Brauchbare durch einen
unerforschlichen Selbstregulationsmechanismus absorbieren. Ich fühle mich
geleitet und geführt von dieser unsichtbaren Instanz, der ich mich vollkommen
anvertraut habe. Sie ist es, die mich treibt, nach etwas Bestimmtem zu
suchen, wonach genau, weiß ich noch nicht. Am Ende dieses Weges aber
werde ich den verheißenen Schatz finden, vielleicht auch mich selbst. Ich bin
jedenfalls dem Geheimnis, was immer es auch ist, auf der Fährte, wie ein
Fuchs seiner Beute, und ich komme ihm näher... Nach allem, was ich bisher
gelesen, erfahren, erprobt und über andere Kanäle aufgenommen habe, wird
mir eines immer bewusster: ich fühle mich zum Alten Weg des europäischen
Westens hingezogen, zu der Symbolwelt der Naturreligionen, zum Mythos der
Grossen Mutter. Ein leises Raunen, ein Locken und Werben dringt aus uralter
Zeit zu mir durch und flüstert mir zu: "Komm zu mir, meine Tochter, ich warte
schon so lange!" Doch mein Verstand muss wohl noch eine Zeitlang seine
eigenen Wege gehen, dann wird ihn vielleicht die Intuition an der Hand
nehmen, wie eine geduldige Mutter, die ein Kind liebevoll bei seinen kleinen
und größeren Ausflügen beobachtet und nur eingreift, wenn es notwendig ist.
Dann werden mit einem Mal meine kleinen Überspanntheiten von mir abfallen,
von einem Tag auf den anderen, das weiß ich jetzt schon. Dann werde ich
bereit sein. Wie ein Same, der, wenn es Frühling wird, darauf wartet, Wasser
aufzunehmen und sein Wesen zu entfalten, harre ich auf etwas, auf die
Initialzündung gleichsam, um in mein neues Medium hineinzuwachsen.
Das alles hat sich in der unglaublich kurzen Zeit von nur drei Wochen
vollzogen, wie in einem Zeitraffer, stellte ich mit ungläubigem Staunen fest, als
ich vor kurzem auftauchte aus dem Meer der Wandlungen und bemerkte, dass
die Weihnachtsdekorationen aus den Strassen verschwunden sind. Es ist
mittlerweile die dritte Jännerwoche, und in den Auslagen ist der Fasching mit
all seinen anscheinend unvermeidlichen Versatzstücken ausgebrochen. Kaum
zu glauben, dass ich in dieser Zeit doch auch meiner Arbeit nachgegangen bin!
Wer hat in dieser Zeit im Alltagsleben für mich funktioniert, welcher Teil von
mir hat der Umwelt die Anwesenheit von Anna Waldstein vorgegaukelt,
während diese anderwärtig beschäftigt war?
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23. JÄNNER 89
Der Winter nimmt den Verlauf, den er auch in den Jahren vorher immer
genommen hat. Schneefall wechselt mit Tauwetter und dieses wiederum mit
Glatteis ab, ein unerschöpfliches Thema für small talk und
Gesprächsanbahnung, der Tenor dabei natürlich, dass dies alles ganz
fürchterlich sei. Doch wer von meinen Zeitgenossen nimmt die Zunahme der
Tageshelligkeit wahr, bemerkt das Steigen der Säfte in den Bäumen, das jetzt
gerade beginnt, oder fühlt die Bereitschaft der im Boden wartenden Samen, zu
keimen und zu sprießen? Wie nie zuvor schmerzt mich der freudlose Ausdruck
in vielen Gesichtern, welch ein Kontrast zur betonten Lustigkeit des Faschings!
Immer mehr werde ich der Tatsache gewahr, dass die Stadt mit ihren
speziellen Bedingungen zwar scheinbar vor Lebendigkeit pulsiert, die
überwältigende Macht des Lebens aber vor uns verbirgt. Leise zwar, doch mit
zunehmender Dringlichkeit wächst in mir der Wunsch nach mehr
selbstverständlichem Kontakt mit der Natur. Deshalb fahre ich jetzt oft nach
Dienstschluss mit der Straßenbahn in den Wienerwald hinaus und unternehme
dort lange Spaziergänge. Dabei ist mir kürzlich bewusst geworden, dass viele
Bäume keinen Namen für mich haben. Kräuter und Blumen gibt es zu dieser
Jahreszeit ja nicht. Ich besorgte mir deshalb einen Baumführer, und aus
anonymen Gehölzen wurden gute Bekannte, die man herzlich begrüßt, wenn
man sie trifft. Ich nehme nun Kontakt mit ihnen auf, berühre, begreife sie,
lehne mich an sie und umarme sie häufig wie Freunde. Das sind sie ja
schließlich auch, wenn man es genau betrachtet. Manchmal spreche ich auch
zu ihnen, und sie..........ja, sie antworten mir, in ihrer, ihnen eigenen, leisen
und langsamen Sprache, die nur von Herz zu Herz gesprochen werden kann.
Ich spreche dabei auch zu mir selbst, während dieses Selbst mir mit der
Stimme der Bäume antwortet und mir Geheimnise über eine geheimnisvolle
Unbekannte namens Anna Waldstein erzählt. Oder ich beobachte die Vögel bei
ihrer Futtersuche, manchmal begegnet mir auch ein Reh oder ein Hase bei
meinen stillen Wanderungen. Immer aber bin ich alleine, einzig in Kontakt mit
mir selbst und damit auch mit der Natur, die mich umgibt. Ich suche immer
noch keinen Kontakt zu anderen Menschen in diesen stillen Tagen. Die neue
Verbindung zu meinem Inneren scheint all meine Aufmerksamkeit in Anspruch
zu nehmen, und mein Gemüt und meine Sinne sind so weit offen, dass jede
oberflächliche Unterhaltung, jeder laute Ton, mich wie eine schrille Dissonanz
schmerzen würde.
Als ich heute von einer dieser Wanderungen heimkam, fand ich im Postkasten
einen Brief mit dem Absender: Buchhandlung Avalon. Ach ja, ich hatte das
Buch noch nicht zurückgegeben, das Margot mir geborgt hatte, peinlich, dass
ich mich mahnen lassen musste! Schuldbewusst öffnete ich den Brief. Es war
eine Einladung. "Liebe Anna," stand da "am kommenden Mittwoch ist Vollmond. Möchten Sie an unserem Vollmondfest teilnehmen? Wir treffen uns um
19 Uhr in der Buchhandlung. Bitte ziehen Sie sich sehr warm an, es findet
nämlich im Freien statt. Wir würden uns sehr freuen über Ihre Teilnahme.
Unterschrift: Der Ynis Vytrin Coven." Was war denn das schon wieder, ein
Coven? Diese Buchhandlung birgt jedes Mal Überraschungen für mich! Aber ich
werde teilnehmen, das steht für mich fest.
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Manchmal meldet sich immer noch die altvertraute, kritische Stimme in
meinem Kopf. Sie ist eine innere Feindin. Sie hat mich lange genug unter ihrer
Knute gehalten, die sie im Namen der sogenannten Realität schwang. Wessen
Realität? Immer dachte ich, es gäbe nur die Eine. Doch meine ist anders, und
ich lerne, zu ihr zu stehen. Das bedeutet Kampf! Obwohl ich bereits gelernt
habe, sie in ihre Schranken zu weisen, ganz zu vertreiben getraue ich mir sie
nicht. Oftmals erweist sie sich auch als ganz nützlich, vorläufig jedenfalls.
"Musst du auf deine alten Tage noch den Mond anheulen, dummes Ding?
Machst wohl jetzt auf übersinnlich, da sich mit sinnlich nichts abspielt, was?
Hast du denn keine anderen Probleme? Engagiere dich lieber politisch oder
lerne Sprachen!" Irgendwie klingt die Stimme ähnlich wie die meiner Mutter,
aber andererseits ist es doch unverkennbar meine eigene. "Du bist auf diesem
Gebiet nicht kompetent, also halt den Mund!" entgegnete ich barsch, jedoch
leicht verunsichert. Da hakte sie sofort nach, sie hatte an Terrain gewonnen.
"Für deinen bärtigen, harfenspielenden Taxifahrer bist du wahrscheinlich
ohnehin nur so eine unbefriedigte, mittelalterliche Tussi, die ihre sexuelle
Frustration esoterisch aufputzt. Da solltest du doch darüberstehen!" Jetzt war
es aber genug, sie musste lernen, wer der Herr, nein, die Frau im Haus war!
Wütend schmiss ich eine Tasse, die ich gerade vom Bord genommen hatte, um
mir Tee einzuschenken, auf den Boden, wo sie klirrend zersprang. "Raus aus
mir, du bösartige Megäre, und lass dich nie wieder hören! Komm erst wieder,
wenn du mir wirklich helfen willst, sonst brauch ich dich nicht! Und dass du's
nur weißt, und wenn du zerspringst, du eifersüchtige Fuchtel, ich geh' dorthin,
und wenn ich tausendmal eine unbefriedigte, alte Tussi bin!" Weg war sie, und
weg blieb sie, wenigstens für einige Zeit. Hoffentlich, denn in letzter Zeit nervt
sie mich gewaltig!
25. JÄNNER 89
Heute war ich also auf dem Vollmondfest! Es ist schon zwei Uhr morgens, aber
ich muss trotzdem noch alles in mein Tagebuch schreiben, sonst platze ich vor,
...ja was eigentlich? Glück? Das trifft es eigentlich nicht genau. Ja, ich bin
glücklich, aber da ist noch etwas Anderes........Ich fühle mich wie eine
gespannte Saite, vibrierend vor Vitalität. Mir ist, als hätte dieses Ritual etwas
geweckt, das immer schon latent in mir geschlummert hat. Eine ganz eigene
Art von Energie ist mir zugewachsen. Aber, ich will am Anfang beginnen.
In der Buchhandlung waren schon einige Personen versammelt, als ich eintrat.
Ich versuchte, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen und ging
lächelnd auf Margot zu. Diese stellte mich gleich den Anwesenden vor. "Das ist
Anna, eine Bewohnerin von Avalon. Sie ist von Merlin zu uns geführt worden."
Anscheinend hatte sie den Anderen schon vorher über mich erzählt, denn sie
wirkten über diese Worte gar nicht erstaunt. Ich war es schon. Warm und
freundlich wurde ich von allen aufgenommen. "Bitte, wer ist Merlin?" fragte ich
schüchtern. Ich wusste natürlich, wer oder was Merlin war, da ich mit dem
Thema ja in letzter Zeit intensiv beschäftigt hatte. Aber, er hatte mich doch
nicht hergeführt, er war eine Figur der Artuslegende, und ich war doch von
selbst gekommen, damals, als ich die Buchhandlung entdeckt hatte!
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"Das kannst du natürlich nicht wissen, aber wir haben hier im Coven besondere
Namen, und Georg, der dir im Traum als Merlin erschienen ist, heißt mit
seinem Covennamen wirklich so." Ganz selbstverständlich sprach sie mich ab
nun mit dem vertraulichen "Du" an. "Und er hat dich auch hergebracht, denn
er hat mit seinem magischen Blick dein Herz und dein inneres Sehen geöffnet."
Das klang absolut märchenhaft und unglaublich, doch was war mein Leben seit
diesem ersten Traum anderes gewesen als ein gelebtes Märchen? Mittlerweile
hatte sich mein Begriff der Realität so gewandelt, dass es mich auch nicht
sonderlich gewundert hätte, wären plötzlich irgendwo Zwerge oder Elfen
aufgetaucht. Die tauchten nicht auf, dafür aber kam Georg, und das war für
mich Märchen genug. Wenn man einmal im Kino so eine Szene gesehen hat,
wo er und sie in Superzeitlupe aufeinander zuschweben, Crescendo der Geigen,
Weichzeichner usw., dann weiß man, was ich meine. Von da ab spielte sich der
ganze Abend für mich in dieser Stimmung ab. Kein Wort über unsere Gefühle
fiel, keine zärtliche Berührung fand statt, doch unsere Nähe hätte nicht größer
sein können, als sie es bereits war.
Wir stiegen alle in Autos ein und fuhren entlang der Straßenbahnlinie an den
westlichen Stadtrand. Da war es nur mehr ein weiteres, fast unbedeutendes,
trotzdem aber verwirrendes Faktum, dass wir genau auf den Berg fuhren, auf
den mich mein Ausflug zu Allerheiligen auch geführt hatte. Wir gingen genau
zu jenem Platz, auf dem ich auch damals einen besonderen Zauber gespürt
hatte. Jetzt wusste ich, warum.
Margot wandte sich an mich: "Anna, bitte verlange jetzt keine Erklärungen für
das, was du hier miterleben wirst. Wir müssen uns jetzt auf das Ritual
konzentrieren, dabei ist es wichtig, den Verstand, den großen Zensor, na,
sagen wir, ein bisschen zum Schweigen zu bringen. Erklärungen sind aber
Verstandesarbeit, verstehst du? Lass dich einfach, soweit es dir möglich ist, auf
alles hier ein und blockier dich nicht durch Nachdenken über einzelne
Sequenzen. Später können wir über alles sprechen. Ich glaube aber, dass das
bei dir nicht mehr so sehr notwendig sein wird." Damit ließ sie mich stehen, um
in ihrer großen Tasche zu kramen, während einige Andere Feuerholz aus dem
Wald holten und es zu einem Stoss aufschichteten. Ich hatte mich schon im
Stillen gefragt, welche geheimnisvollen Sachen sie wohl in ihrer Wundertasche
verborgen haben könnte. Es erschienen, im hellen Licht des Vollmondes
deutlich zu erkennen: ein in allen Farben irisierendes Seidentuch, ein
wunderschön ziselierter Silberkelch, eine runde Scheibe aus einer Art Stein mit
einem eingeritzten Pentagramm, ein geschnitzter Stab mit einem roten Kristall
an seiner Spitze, ein Dolch in einer verzierten Lederscheide und zuletzt ein
silberner Kopfschmuck, den sie gleich aufsetzte. Er war wunderschön, aus fein
verflochtenen Silberdrähten gemacht, mit zwei Mondsteinen verziert, einem
hellen und einem dunklen. Nun würde die Wundertasche wohl leer sein? Nein,
sie war es nicht, jedenfalls noch nicht zur Gänze. Es folgten noch eine flache
Handtrommel, eine kleine Holzflöte, ein durchbrochenes Räuchergefäss, eine
Flasche mit Rotwein, und ein besenartiges Kräuterbüschel. Mich erinnerte das
Ganze an eine Szene des Filmes "MARY POPPINS", wo diese wahre Unwahrscheinlichkeiten aus ihrer Reisetasche zaubert; und wie in einem
Märchenfilm kam ich mir auch vor. Aber das habe ich bereits erwähnt.
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Währenddessen hatten die Männer das Feuer entzündet. Es knackte und
prasselte und begann schon, seinen Umkreis angenehm zu erwärmen. Einen
Schritt aus seinem Radius hinaus herrschte die frostig, klare Winternacht eines
Jännervollmondes. Er war bereits auf der Höhe seiner Ekliptik angelangt, wo
er, in ziemlicher Erdnähe, über der Lichtung zu sehen war.
Ich war ziemlich befangen, denn erstens hatte ich noch nie an einem solchen
Fest teilgenommen, und zweitens kannte ich die Teilnehmer nicht, außer
natürlich Margot und Georg / Merlin, meinen Harfenspieler.
Wir waren ziemlich genau gleichviel Männer wie Frauen, fünf Frauen, um genau
zu sein und vier Männer. Es sind, alles in allem, keine Menschen, die sich in
ihrem Aussehen merklich von anderen Durchschnittsmenschen unterscheiden,
keine abgehobenen Spinner oder sonstige, wilde Gestalten. Wäre ich einem
von ihnen auf der Strasse begegnet, hätte ich ihn nicht weiter beachtet. Paare
waren, soweit ich das erkennen konnte, nicht darunter, außer natürlich Franz
und Margot. Die Beiden begannen nun, zur Einstimmung, wie sie mir sagten,
zu musizieren. Franz, das ist Margots Mann, schlug einen stereotypen
Rhythmus auf der Handtrommel, die anderen spielten auf ihren mitgebrachten
Perkussionsinstrumenten, darunter eine afrikanische Djembe. Sie gehörte
Alfred, einem ziemlich Kleinen, Rundlichen. Er hört sich übrigens gerne reden,
das stellte sich bald heraus. Es musste ihn ganz schön Kraft gekostet haben,
die schwere Trommel den Berg heraufzuschleppen, weil sie ziemlich groß war.
Zwei jüngere Frauen, ich schätze sie so um die Dreissig, trommelten auf
kleineren Tontrommeln. Dann war da noch ein junges Mädchen, Helga, das
hatte eine Kürbisrassel, und ein Dünner, Langer mit einer großen Nase blies ein
sonderbares Rohr, das ganz dumpfe, eigenartig archaische Töne
hervorbrachte. Später erfuhr ich, dass es ein sogenanntes Didgeridoo, ein
heiliges Instrument der Australischen Ureinwohner war. Ich hatte nichts. Oder
doch? Ich hatte etwas, doch ich ahnte es noch nicht. Und jetzt kommt's, es ist
schier unglaublich, und rückblickend scheint es mir wie eine Halluzination! Als
mich die magische Atmosphäre des Festes mehr und mehr berauschte, wurde
ich mir plötzlich der eigenartig rauhen und kehligen Töne bewusst, die
irgendwo in der Runde aufstiegen. Sie bildeten eine manchmal unterschwellige,
manchmal dominierende Begleitung zu den Instrumenten. In fremd klingenden
Halb - und Vierteltonschritten schraubten sie sich in Kopfstimmlage hoch, um
gleich darauf übergangslos wieder in gutturale Bruststimme zu verfallen. Ich
war fasziniert, wem mochte sie wohl gehören? Es traf mich fast wie ein
Blitzschlag, als ich bemerkte,...... es war meine eigene! Wie fremd ich mir
plötzlich war! Was sang da in mir, wenn man das Singen nennen konnte?
Singen, so lehrte man mich einst, ist Schöngesang, bei Frauen mit Kopfstimme, bei Männern mit Bruststimme in verschiedenen Stimmlagen, immer
harmonisch in Terzen, Quinten oder sonstigen erlaubten Harmonien, aber doch
niemals so etwas Anarchisches!
Ich konnte oder wollte nicht damit aufhören, jetzt, da ich die Tatsache, dass
ich für diese Laute verantwortlich war, zu akzeptieren begonnen hatte. Aus
vollstem Herzen und aus ganzer Kehle sang ich, ohne jede Scheu oder Angst,
dieser herrlichen Mondnacht zu Ehren, alle meine Sehnsüchte, Wünsche, mein
Verlangen nach Leben aus mir heraus.
34
Ich sang mich selbst und gab auch allem Anderen eine Stimme: den
Sehnsüchten, den Wünschen, dem Rauschen des Waldes, der Verehrung des
Lebens und der Liebe. So vieles an Emotion wartete noch auf seinen Ausdruck.
Wie ein unbezwingbarer Strom drängte es sich aus meiner Kehle und kam nicht
eher zum Stillstand, bis allen Gefühlen Töne verliehen waren. Dann erst wurde
nach und nach das Singen in mir leiser, verebbte dann, wurde zum Hauch,
mehr fühl - als hörbar. Dann Stille. Dann knackendes Holz im Feuer,
Windrauschen, Menschen, einander umarmend, mich umarmend, verstehend.
Ich war wieder da, war zurückgekehrt von......wo eigentlich?
Margot kam zu mir her und umarmte mich zärtlich. Dann sagte sie: "Du hast
deine Initiation schon erlebt, glaube ich. Was später noch kommen kann, dient
nur mehr der Bestätigung. So etwas hat niemand erwartet, und, glaube mir,
wir sind in dieser Beziehung einiges gewöhnt!" Ich sagte und fragte nichts, ich
musste diesem fremdartigen Erlebnis hinterher spüren wie ein Jagdhund, mit
der inneren Nase auf der Fährte meines mir immer mehr entschwindenden
Zustandes des Aus mir Getretenseins. Oder war es ein stärkeres Bei mir Sein
gewesen? Oder beides gleichermaßen? Oder galten diese Kategorien hier
nicht?
"Komm in den Kreis," flüsterte Georg mir zu. Die anderen Teilnehmer hatten
schon um das Feuer Aufstellung genommen, immer Mann und Frau
abwechselnd. "Wer möchte heute den Kreis ziehen?" fragte Margot leise. Das
junge Mädchen trat hervor. Es hielt einen blitzenden Dolch mit der Spitze
abwärts gerichtet, umschritt den Platz dreimal und sprach dabei leise, doch
volltönend:
"Ich errichte einen Tempel, zwischen den Welten und jenseits der
Zeit."
Sei du ein Platz der Liebe und des Vertrauens, ein wehrhafter Schild
gegen Böswilligkeit und Feindschaft, ein Ort der Verbindung zwischen
der Menschenwelt und dem Reich der mächtigen Götter, ein Gefäß der
Kraft und des Wachstums, innen wie außen. Darum segne ich dich im
Namen von....... und......"
(Meine Leser mögen es mir, bitte, nachsehen, dass ich die Namen der hier
angerufenen Götter nicht nenne. Ich fragte mich auch bei der Beschreibung der
Rituale, ob dies nicht eine Überschreitung der angemessenen Geheimhaltung
wäre. Mittlerweile kann aber jeder Interessierte Dieselben in diversen Büchern
nachlesen. Nun. Namen beinhalten Kräfte, und säkularisiert man sie, können
sie diese verlieren. Also werde ich dabei bleiben und sie nicht nennen. Auch
diverse andere Bestandteile von Ritualen werde ich für mich behalten.)
Einer der Männer besprengte den so geschaffenen Kreis mit geweihtem
Wasser, eine Frau versah seine imaginierten Grenzen mit einer Räucherung.
Anschließend wurden die vier Himmelsrichtungen, denen die vier Elemente
Feuer, Wasser, Luft und Erde entsprechen, mit speziellen Formeln angerufen
und in den Kreis geholt. Dieser Ritus war machtvoll und erweckte etwas in mir,
eine Art von Erinnerung.
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Er rührte mein Herz so sehr, dass ich von da an wusste, meinen Weg gefunden
zu haben. Mein ganzes Leben hatte ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, auf
dies hier gewartet.
Margot, die anscheinend eine führende Rolle in dieser Gruppe spielt, stand mit
vor der Brust gekreuzten Armen vor einem kleinen improvisierten Altar, auf
dem die Dinge, die sie zuvor aus ihrer Tasche geholt hatte, angeordnet lagen.
Ihr Mann Franz kniete vor ihr nieder und ehrte sie mit den Worten:
(Den Text des Rituals habe ich erst viel später hier eingefügt, als ich ihn schon
auswendig kannte.)
"Gesegnet seien Deine Füße, die Dich hierhergetragen haben."
Dabei küsste er ihre Füße. Dann folgte:
"Gesegnet seien Deine Knie, die vor dem heiligen Altar knien sollen."
Es folgten weiters Schoss, Brüste und zuletzt die Lippen. Das alles geschah mit
einer großen Ehrfurcht und war weit entfernt von jeglicher persönlichen,
sexuellen Annäherung, aber gleichzeitig schloss es auch die Liebesbeziehung
der Beiden mit ein. Ja, jubelte ich innerlich, so sollte die Beziehung von Mann
und Frau sein, geprägt von Respekt und Ehrfurcht! Die wirkliche Bedeutung
dieser Handlung sollte mir in weiterer Folge immer mehr aufgehen. Nach dieser
Ehrung der Frau fuhr er fort:
"Ich rufe Dich an, unser aller mächtige Mutter, Spenderin aller
Fruchtbarkeit; bei Same und Wurzel, bei Knospe und Stamm, bei Blatt,
Blüte und Frucht, bei Leben und Liebe rufe ich Dich an, steig herab in
den Körper dieser Deiner Dienerin und Priesterin!"
"Priesterin", dachte ich erstaunt, "wo gibt es denn Priesterinnen heutzutage?"
Dann konnte ich nichts mehr denken, denn es ging weiter.
"Von der dunklen und göttlichen Mutter, mein ist die Geißel und mein
ist der Kuss, der fünfzackige Stern der Liebe und des Glücks, deshalb
segne ich Dich in diesem Zeichen,"
sprach Margot und zeichnete ein Pentagramm auf die Stirn von Franz. Dann
drehte sie sich zum Altar, hob ihre Hände zum Himmel und begann eine Anrufung zu intonieren, die mir Schauer um Schauer über den Rücken jagten und
mein Innerstes vor Ergriffenheit vibrieren ließen. Als sie sich umwandte, sprach
Franz noch:
"Hört nun die Worte der großen Mutter, die seit altersher unter den
Menschen bekannt war als Arthemis, Astarte, Athene, Diana,
Aphrodite, Ceridwen, Isis und unter vielen anderen Namen."
Diese Worte wären allerdings nicht nötig gewesen, denn Margot strahlte etwas
aus, das es jedermann unmöglich machte, seine Aufmerksamkeit von ihr
abzuwenden.
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Sie war ja eindeutig "meine" Margot, aber gleichzeitig etwas ganz Anderes, das
weit hinausging über ihre Person, ja über alles Personale, etwas, das hinter
dem allem stand: sie w a r die Verkörperung Göttin, daran bestand kein
Zweifel.
Was sie sagte, war offenbar eine alte, rituelle Formel, feststehend in ihren
Worten. Diese berührten mich so tief, dass ich sie trotz ihrer Länge, hier
wiedergeben will:
"Ich, die ich die Schönheit der grünenden Erde bin und die weiße
Mondin unter den Sternen, ich rufe Deine Seele an, erhebe Dich und
komm zu mir; denn ich bin Geist und Seele der Natur, die dem All das
Leben gibt. Aus mir entspringen alle Dinge, und zu mir kehren sie
wieder zurück. Und vor meinem Angesicht, von Göttern geliebt und
von Menschen, lass Deine tiefste, göttliche Seele umhüllt sein von der
Entzückung des Unendlichen. Möge das jauchzende Herz mich
verehren; denn siehe, alle Taten der Liebe und der Freude sind Taten
zu meinen Ehren. Und also lasset in Euch sein Schönheit und Kraft,
Macht und Mitgefühl, Stolz und Demut, Freude und Ehrfurcht. Und Du,
der Du danach trachtest, mich zu finden, wisse, dass all Dein Suchen
und Sehnen vergeblich sein werden, wenn Du das Mysterium nicht
kennst: so Du was Du suchest, in Deinem Inneren nicht finden solltest,
Du es im Außen nimmer finden wirst. Denn siehe, ich bin bei Dir vom
Anbeginn der Zeiten, und ich bin die Erfüllung allen Verlangens. Seid
gesegnet!"
Sie nahm den Kelch mit dem Wein und tauchte ihren Dolch hinein, in dem sich
das Mondlicht spiegelte. Dann reichte sie den Kelch an Franz weiter, küsste ihn
und sprach:
"Trinkt das Blut der großen Göttin, gebe es Euch Kraft!"
Der trank, reichte ihn an seine Nachbarin weiter und küsste sie, usw., bis die
Reihe an mich kam. Ich brauche wohl nicht extra zu sagen, dass ich den Kelch
von Georg entgegennahm, desgleichen auch den Kuss. Mich schwindelte vor
Wonne, und ich trank einen großen Schluck, um meiner Verwirrung Herr zu
werden. Es half aber nicht. Dieser erste Kuss, überpersönlich und intim
zugleich, gegeben im Zeichen der Göttin; niemals vorher hatte ich einen Kuss
erhalten, der mich so tief erregte, wie dieser, und ich erwiderte ihn mit aller
Hingabe, der ich fähig war. Damit mussten natürlich meine Gefühle ohne jede
Tarnung für ihn offenliegen, aber zum Teufel damit! Ich konnte einfach nicht
lügen in diesem Augenblick.
Anschließend gab es einen ziemlich turbulenten Rundtanz, dessen Sinn mir zu
diesem Zeitpunkt noch nicht ganz einsichtig war, zumal uns der unebene
Boden mehr als einmal stolpern ließ. Aber gemäß der Anweisungen Margots,
nicht zu fragen, stolperte ich einfach mit.
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Nun sagte Margot:
"Wir haben heute Nacht etwas zu entscheiden, wahrscheinlich könnt ihr Euch
denken, was. Eine Frau ist zu uns geführt worden, und es sieht ganz so aus,
als wäre sie eine geborene Hexe und könnte also noch an diesem kommenden
Imbolcfest initiiert werden. Hat jemand einen Einwand dagegen?"
Niemand hatte. Außer mir. Und nun musste ich die Abmachung, nicht zu
fragen, doch brechen. Also hob ich die Hand.
"Ich wusste bis jetzt nicht, dass Ihr Hexen seid! Hexen sind doch alte Frauen
mit Warzen auf der Nase, sie hexen anderen Menschen Buckel an und sind alt
und böse, wieso machen sie so ergreifend schöne Sachen wie ihr hier und
heute?"
Ich war schon wieder verwirrt, und diese Verwirrung wuchs noch, als alle
begannen, schallend zu lachen, auch die Margot - Göttin. Eine Göttin, die
lachte, nicht auszudenken! Der Kelch kreiste ein ums andere Mal, bis er leer
war. Dabei sagte Alfred, der kleine Dicke, ziemlich präpotent: "Mädel,
geborene Hexe hin oder her, in diesem Leben hast du noch viel zu lernen!" Ich
erfuhr an diesem Abend nicht, warum Göttinnen lachen, denn der Kreis wurde
aufgelöst mit den Worten:
"Bei der Erde, welcher Ihr Leib ist, bei den Wassern, welche Ihr Blut
sind; bei der Luft, welche Ihr Atem ist, beim Feuer, welches Ihre
brennende Liebe zu Ihren Geschöpfen ist, der Kreis ist nun geöffnet,
doch ungebrochen. Blessed be!"
Der Kreis umfasste, wie ich plötzlich vor meinem inneren Auge sah, alle
Realitäten und Zeiten. Er war endlich und unendlich gleichermaßen. Dies ist
wieder eines jener Paradoxa meines gegenwärtigen Lebens, in dem es
lachende Göttinnen gibt, Menschen, die gleichzeitig Taxifahrer und
Sagenfiguren sein können und Träume, die unvermittelt zur Wirklichkeit
werden. BLESSED BE!!!
26. JÄNNER89
Heute Nachmittag rief Margot mich zu Hause an. Ich war gerade dabei
gewesen, mir eine kleine Mahlzeit zuzubereiten und freute mich schon auf
einige ruhige Stunden, um meine gestrigen Erlebnissen nachhängen und etwas
Ordnung in meine verwirrten Gedanken und Gefühle bringen zu können, die
wie ein aufgeschreckter Taubenschwarm in meinem Kopf umherflatterten.
"Hallo, Anna, ich bin's, Margot. Hast du etwas Zeit, wir sollten uns über einiges
unterhalten, und die Zeit bis Imbolc wird verdammt knapp."
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"Weißt du, Margot, ich muss das Ganze erst ein wenig verdauen. Ich weiß
nicht, ob ich schon mit dir darüber sprechen kann."
Trotzdem wollte ich meine neue Freundin nicht gleich vor den Kopf stoßen und
lud sie zu mir ein. Sie kam auch bald darauf, hielt sich nicht lange mit
Plaudereien auf und begann eindringlich zu fragen:
"Wie hat es dir gestern gefallen, Anna?" "Gefallen?", fragte ich entgeistert, "es
hat mir nicht 'gefallen', es war die Antwort auf mein Suchen und Sehnen, es
war wie ein Heimkommen nach langem Herumirren."
"Ich wusste es, alle konnten es erleben und spüren," stellte sie fest. "Deshalb
bin ich gekommen, um mit dir über deine Initiation zu sprechen. Ich glaube, da
gibt es noch einige offene Fragen."
"Wenn ich ehrlich bin," erwiderte ich lachend, "so fühle ich mich wie ein
einziges Fragezeichen, ich bestehe zur Zeit nur aus Fragen."
"Ich würde mich wundern, wenn es anders wäre," antwortete sie, ebenfalls
lachend. "Dann fang also mit deinen Fragen an, bis zum Morgen werden wir ja
hoffentlich fertig sein, ich muss ja das Geschäft aufsperren, und du musst wohl
auch zur Arbeit gehen."
Ich wusste nicht genau, wie ich anfangen sollte, also begann ich mit dem, was
mir zuerst einfiel: "Du bist die erste Göttin, die ich lachen gehört habe,"
begann ich ziemlich wirr.
"Wieviel Göttinnen kennst du denn?" fragte sie, wobei sie ein Kichern gerade
noch unterdrücken konnte. Gemeinsam brachen wir in ein wieherndes
Gelächter aus, das immer wieder aufflammte, wenn wir ernst zu werden
versuchten. Dann aber gewann meine Neugier wieder Oberhand und ich fragte:
"Ihr nennt Euch Hexen. Das verwirrt mich. Ich glaube nicht, dass ich eine Hexe
sein will."
Nun wurde sie ernst:
"Weil du ein völlig falsches Bild davon hast, wie übrigens die meisten
Menschen. Nicht wir haben es erzeugt, nein, es ist schon da. Ich muss jetzt ein
wenig in die Geschichte zurückgehen, um dir das besser verständlich zu
machen. Du weißt doch jetzt schon einiges über die Alte Religion der Grossen
Göttin. Jede Religion ist ja der Ausdruck der geistigen Haltung der Menschen,
die sie hervorgebracht haben. Diese Völker damals waren friedlich und naturverbunden, das heißt, sie empfanden sich noch nicht als getrennt von den
Naturerscheinungen. Sie konnten mit einem Bach fließen, als Stein fühlen, oder
sich als Baum erleben. Natürliche Vorgänge wie Zeugung und Geburt waren
ihnen heilig, und da sie in der Natur eine Mutter sahen, die sie mit allem
Notwendigen versorgte, ja, die die ganze sichtbare Welt immer wieder neu
hervorbrachte und sie am Ende auch wieder zu sich nahm, war die Frau für sie
als Verkörperung dieser Mutter sakrosankt. Später wurde die zeugende Rolle
des Vaters dann ebenfalls gewürdigt, aber das Gleichgewicht schlug bald
darauf in eine männliche Vorherrschaft um.
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Damit war es auch vorbei mit dem allgemeinen Frieden. Kampf und
Durchsetzung waren wichtig geworden. Weibliche Götter wurden vermännlicht
oder einfach zu Ehefrauen der Götter umgedeutet. Denke an das Beispiel Zeus
und Hera, das ist nur eines von vielen."
"Und was hat das alles mit Hexen zu tun," fragte ich, schon etwas ungeduldig.
"Warte, dazu komme ich gleich. Also, für das Christentum; - ich mache hier
einen größeren Zeitsprung, damit du endlich Antwort auf deine Fragen erhältst
-, für das Christentum, für die Kirche war dieser alte Glaube dämonisch. Sie
musste ja ihr Dogma vom Gefallensein der Schöpfung durchsetzen und sich
selbst als einzige Errettungsinstitution installieren. Dazu kam die Haltung und
der Anspruch, H e r r über die Natur und damit auch über die Frau sein zu
müssen, welche diese Natur ja für sie verkörperte. Alles Naturhafte war für sie
des Teufels, und der übernahm damit eine zentrale Rolle in ihrem Denken. So
kam es, quasi zwangsläufig zu Unterdrückung und Verfolgung des alten
Glaubens, vor allem seiner Anhänger. Das alte, magische Weltbild wurde
bewusst verunglimpft. Die Götter einer besiegten Religion werden fast immer
zu bösen Dämonen erklärt, und so geschah es auch hier. Der Gehörnte Gott,
die wichtigste und zentralste männliche Gottesfigur, degenerierte zum Teufel.
Er verkörperte die zeugende Kraft in der Natur, den Pluspol, wenn man so will,
gegenüber dem Weiblichen, dem Minuspol. Zwischen den Beiden gab es einen
Kraftfluss, der die Welt am Laufen hielt. Aber die neue Religion erklärte diese
Dinge zur Sünde, und alle Weisheit der Alten wurde verfolgt und verschwand
langsam in den Nebeln des Unwissens und des Aberglaubens. Unter der Folter
der Inquisition sagten die Verfolgten natürlich alles, was man von ihnen hören
wollte, aber einen wahren Kern haben alle diese Aussagen. So handelt es sich
zum Beispiel beim berühmten Besenflug um eine alte, schamanistische
Technik, und auch psychotrope Kräuter fanden damals sicher ihre Anwendung.
Aber, jetzt komme ich endlich zum Schluss meiner langen Rede, um etwas
beurteilen zu können, muss man es doch immer im richtigen Kontext sehen,
sonst gerät man auf falsche Fährten. Nun also, wir nennen uns Hexen, weil wir
uns als Träger einer ununterbrochenen Tradition betrachten, die aus dieser
alten Kultur bis zum Mittelalter reicht, und damals nannte man uns eben so, bis
in die heutige Zeit, in der wir diesen Namen nicht mehr ändern wollen. Er ist
für uns ein Ehrenname, denn wir sind ZaunreiterInnen, und das ist auch die
wahre Bedeutung des Wortes Hexe. Wir sitzen auf dem Zaun, der
Tagesbewusstsein und Unbewusstes, Natur und Zivilisation voneinander trennt
und sehen in beide Bereiche unseres Wesens hinein. Wir können auch hier und
dort wirken. Eigentlich waren die Hexen ja Schamaninnen."
Margots Rede machte mich sehr nachdenklich. Sie überzeugte mich wohl, doch
es blieben auch einige Zweifel:
"Aber Margot, eines verstehe ich nicht, wir leben doch in einer ganz anderen,
einer technischen Zeit. Ob das nun gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Aber,
findest du nicht auch, dass da ein alter Glaube aus der Steinzeit,.....naja,
vorsichtig ausgedrückt, eine Art Anachronismus ist?"
Margot dachte ein paar Sekunden nach und erwiderte dann:
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"Das ist sicher nicht ganz falsch. Viele Leute bringen dieses Argument vor.
Aber denk doch an unsere starke Entfremdung von der Natur, unter der wir
heute leiden, mit all ihren Problemen, wie Waldsterben, Luftverschmutzung,
Klimaverschiebungen, Genmanipulation und vieles mehr. Könnte da nicht eine,
zugegebenermaßen bewusst wiedererweckte Naturreligion ein gewisses
Regulativ sein? Wir sehen uns als Kinder der Grossen Mutter, die wir wieder,
zumindest ansatzweise, in ihre alten Rechte einsetzen wollen. Und, Anna, das
weißt du ganz genau, die innere Realität erschafft die äußere, also, warum
sollten wir nicht auf diese Weise versuchen, uns selbst und die Welt zu
verändern? Willst du das nicht auch?"
"Das will ich, aber mir geht alles ein wenig zu schnell. Ich möchte vorher auch
noch Genaueres über diese Initiation wissen. Was bedeutet sie, und wozu
verpflichte ich mich damit? Ich will ein freier Mensch bleiben, auf
Gedankenkontrolle oder Dogmatismus kann ich gut und gerne verzichten!"
"Ja, natürlich, da bin ich mit dir einer Meinung. Deshalb bin ich ja jetzt da, um
dir alles Wichtige zu erklären, denn diese Entscheidung kannst du nur in
Freiheit und nach gründlicher Überlegung treffen. Normalerweise geht das ja
auch nicht so schnell mit der Initiation, weißt du, aber in deinem Fall, nun, da
ist das ganz anders als sonst, mit allen diesen Realitätsüberschneidungen, die
du ständig erlebst. Wir alle haben den Eindruck, dass du zu uns gehörst, schon
seit jeher. Also, die Initiation. Damit trittst du ein in den Kreis. Der Kreis ist
das Symbol für das Universum, ohne Anfang und Ende umschließt er alle
Zeiten, alle Realitäten. Er symbolisiert unter anderem auch das Rad des
Jahres: die Göttin gebiert zu Mittwinter das Sonnenkind, zu Imbolc oder
Lichtmess wird die Zunahme des Lichtes spürbar, zum Frühlingsequinox,
ungefähr um Ostern beginnt das Licht das Dunkel zu überwinden, denk an die
Auferstehung. Zu Beltane, in der Walpurgisnacht, vermählen sich Gott, das ist
der kosmische Aspekt der Schöpfung und Göttin, ihr irdischer Aspekt und
bringen Fruchtbarkeit und Wachstum hervor. Mitsommer wendet sich das Rad
des Jahres. Wir sagen, der Gott des sinkenden Jahres kommt zu seiner
Herrschaft, Lughnasadh entspricht dem Erntefest, das Herbstequinox steht den
Frühlingsequinox gegenüber, die dunkle Jahreshälfte beginnt. Zu Samhain
feiern wir das Fest der Toten. Die Schleier der Realitäten sind durchlässig und
erlauben den Kontakt mit den Abgeschiedenen; dann beginnt alles wieder von
neuem. Der Kreis hat sich geschlossen. Alle unsere Aktivitäten finden in diesem
Kreis statt, er ist einfach ein Sinnbild der Ganzheit. Wenn du zu uns kommst,
verpflichtest du dich dazu, die Dinge, die im Coven getan und gesagt werden,
nicht an Außenstehende weiterzugeben, weiters in deinen Covengeschwistern
die Göttin und den Gott zu ehren, auch wenn es manchmal schwerfallen sollte
und außerdem, und das halte ich für das Wichtigste: dein Gesicht sei für die
Welt das Gesicht der Göttin! Und die Bedeutung dieses Satzes erkläre ich
dir jetzt nicht, denk darüber nach, du wirst sicher dahinter kommen. So, für
heute habe ich dir genug zum Nachdenken gegeben, glaube ich. Grüble aber
nicht zu viel. Wenn es für dich richtig sein sollte, zu uns zu kommen, wirst du
es wissen. Ich werde dich nicht drängen, denn unser Wahlspruch lautet: Liebe,
Freiheit und Vertrauen. Und bitte, frag mich jetzt nichts mehr, ich kann
einfach nicht mehr reden. Gib mir, bitte, was zu trinken, sonst verdurste ich!"
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Oh Göttin, was war ich nur für eine Gastgeberin! Vor lauter Neugier und
Faszination hatte ich die einfachsten Gesetze der Gastfreundschaft nicht
beachtet! Ich holte ihr ein Glas Saft, und sie trank gierig. Dann sagte sie noch,
wie beiläufig und schon halb im Gehen "Ach ja, überlege dir einen Covennamen
bis nächste Woche, und verständige mich bis spätestens kommenden Dienstag,
ob du diesen Termin einhalten willst, also dann, gute Nacht!" Weg war sie.
Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht, Himmel, wo sollte ich denn einen
Namen hernehmen! Ich habe beschlossen, das Problem zu vertagen, heute bin
ich schon zu müde. Vielleicht kommt mir ja auch wieder ein Traum zu Hilfe!
Nachtrag von gestern:
27.JÄNNER 89
Er kam nicht. Natürlich lassen sich die inneren Welten nicht zwingen, man
muss schon in Ehrfurcht mit ihnen in Kontakt treten, oder abwarten, bis sie
sich von selbst öffnen.
Ich weiß noch nicht, wie ich mich entscheiden werde. Will ich diese Initiation
wirklich, oder war meine Begeisterung nur ein Strohfeuer? Heute morgen stand
ich nackt vor meinem großen Spiegel. Prüfend betrachtete ich mich von allen
Seiten, von der "Schokoladenseite" etwas öfter. Versonnen strich ich über
diverse Rundungen, freute mich über meine glatte Haut. Bilder von Zärtlichkeit
und Leidenschaft stiegen in mir auf, Bilder, die mit Georg zu tun hatten und
mein Körper begann, spürbar darauf zu reagieren. Auf diesen Moment, der ihr
ob meiner mangelnden Wachsamkeit Tür und Tor öffnete, hatte sie offenbar
nur gewartet:
"Du willst sowieso nur zu diesem obskuren Hexenzirkel, weil du dir dann mehr
Chancen bei Georg ausrechnest." Bumm, glatt erwischt, volle Breitseite! Ich
ging, bildlich gesprochen, zu Boden und fühlte mich wie eine Badewanne,
deren Stöpsel man herausgezogen hat. Jetzt musste ich handeln, oder ich ging
unter. Meine alte Widersacherin, die Stimme der Zerstörung, hatte wieder
einmal zugeschlagen. Sie war also noch nicht endgültig besiegt. Ich musste
meine Strategie ändern. Nun, diesmal würde ich mich von ihr nicht mehr
zornig machen lassen, nein, diesmal würde ich sie mit meiner souveränen
Überlegenheit klein kriegen!
"Schau," sagte ich würdevoll zu der unangenehmen Mitbewohnerin meines
inneren Haushaltes "du hast natürlich nicht ganz unrecht, ich bin in ihn verliebt
(das hatte ich mir bis jetzt noch nie so dezidiert eingestanden). Aber, auch
wenn er meine Gefühle nicht erwidert, lasse ich mich von diesem, meinem Weg
nicht mehr abbringen, denn, das weiß ich jetzt, es ist für mich der einzig
wahre." Nun war es heraußen, im Kampf mit meiner überstrengen inneren Mitbewohnerin hatte ich die Wahrheit ausgesprochen. "Danke, diesmal hast du
mir ja direkt geholfen, weißt du das?" Ganz gegen meine Erwartungen
zersprang sie nicht vor Zorn, nein, ich spürte sogar etwas wie eine
freundschaftliche Regung von ihr. Vielleicht muss man seine negativen Anteile
ja gar nicht bekämpfen. Vielleicht kann man ja in irgend einer Form mit ihnen
Frieden schließen, oder sie zähmen und sich zu Freunden machen?
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28.JÄNNER 89
Vergangene Nacht träumte ich wieder. Es war aber nicht die mir schon
vertraute Apfelwiese, auf der ich mich befand, nein, diesmal war ich auf
sumpfigem Gelände. Meine Füße machten bei jedem Schritt ein schmatzendes
Geräusch, und das Gehen fiel mir auf dem nassen, nachgiebigen Untergrund
sehr schwer. Und doch musste ich weiter, musste irgendwohin, es war von
zentraler Wichtigkeit, doch wo und was es war, wusste ich nicht. Es trieb mich
weiter, nur immer weiter, ich musste etwas finden, mein weiteres Leben hing
davon ab. Mit jedem Schritt wurden meine Füße schwerer, bleierne Müdigkeit
begann an mir zu ziehen, ich wollte nur mehr rasten, mich hingeben an das
Gefühl unüberwindlicher Schwere, das an mir zog. Ich wollte nichts als
schlafen, später konnte ich dann immer noch weitersuchen.....
Der Nebel hüllte mich und alles Andere ringsumher ein. Nur mehr die Schemen
einzelner, knorriger Bruchweiden lösten sich ab und zu aus dem milchigen
Weiß. Ich war mutlos und wusste nicht weiter. Würde ich dieses mir
unbekannte und doch anscheinend so wichtige Ziel verfehlen? Ich fühlte mich
verloren und hilflos wie ein kleines Kind. "Mutter, ich brauche Hilfe, bitte!",
flüsterte ich in den undurchdringlichen Nebel. Es war aber nicht das Bild meiner
leiblichen Mutter, das ich dabei vor Augen hatte. Es war vielmehr eine
übergeordnete Idee, ein Urbild aller Mütter, das ich da anrief. Da, mit einem
Male hörte ich, ganz leise zwar, aber deutlich, mit meinem inneren Ohr, ein
Raunen, Flüstern "..... und wisse, dass du, was du in deinem Inneren nicht
findest, im Außen nie finden wirst....." Ich erinnerte mich, es waren die Worte
der Göttin beim Ritual gewesen, vor kurzem, beim Vollmondfest. Was hatten
sie jetzt, in dieser Situation, nur zu bedeuten? Sie waren an mich gerichtet, als
Antwort auf mein verzweifeltes Flehen, aber der Sinn dieser Formel blieb mir
verschlossen! Wie sollte ich das Ziel meiner Suche in meinem Inneren finden,
ich wusste doch nicht einmal, wonach ich zu suchen hatte! Wie war das denn
nur gewesen, als ich geübt hatte, innere Bilder zu empfangen? Ja, natürlich, so
musste es funktionieren! Ich blieb also stehen, schloss die Augen, versuchte
meinen Atem zu beruhigen und meinen Geist leer zu machen, wie es die
Anleitungen zur Meditation lehren............
Vorerst geschah nichts, absolut nichts. Dann aber bildete sich vor meinen
Lidern ein weißer Schein, der wurde heller und heller, um dann, mit einem Mal,
wie wenn ein Vorhang weggezogen wird, den Blick auf eine Szene freizugeben:
es war der Gipfel eines Hügels, den ich noch nie gesehen hatte. An seiner
höchsten Stelle standen, zu einem Kreis angeordnet, hohe, unbehauene
Steine, und auch Menschen nahm ich wahr, ohne dass ich sie erkennen konnte,
denn wie durch ein umgedrehtes Fernglas betrachtet, so weit entfernt schienen
sie mir. Das war also mein Ziel? Wie sollte ich denn nun dorthin gelangen?
Ich versuchte, mich in dieses Bild hineinzuversetzen, wie ich es gelernt hatte
und sieh da, es gelang wirklich! Ich setzte einen Fuß auf das Gras - es wurde
Wirklichkeit; ich berührte einen der Steine - er fühlte sich rauh an und kühl; ich
lauschte dem Wind - er strich angenehm erfrischend über meinen Körper; ich
ging über den Boden - er wurde fest unter meinen Füssen; ich berührte die
Frau, welche mir zunächst stand - sie drehte sich zu mir um. Ich kannte sie
nicht. Es war eine ältere, etwa sechzig Jahre alte, weißhaarige Frau von hohem
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Wuchs und mit feinen Gesichtszügen, die Weisheit und Herzenswärme aber
auch Autorität erkennen ließen. Sie war schön, und ich liebte sie von diesem
ersten Augenblick an. Sie trug ein dunkles, langes, einfach geschnittenes
Gewand, zusammengehalten von einer Schnur, an der ein sichelförmiges
Messer hing. Das hatte ich schon einmal gesehen, wo denn nur? Ach ja, die
Frau am Teich hatte es getragen. Gehörten sie zusammen? Mein innerer Dialog
wurde von der Frau nun unterbrochen.
"Da bist du ja, Morgan, mein Kind, du hast deine Prüfung bestanden, du hast
gelernt, deinem Inneren zu folgen, deshalb wirst du auch im Außen finden. Sei
gesegnet!"
Sie umarmte mich und zeichnete den fünfzackigen Stern auf meine Stirn.
Dann kamen auch die Anderen in mein Blickfeld. Ich traute meinen Augen
nicht, es waren die Leute aus der Buchhandlung, Margot, Franz, Georg und alle
von neulich!
"Wieso seid ihr denn hier, wo immer das auch sein mag? Wo sind wir hier
überhaupt? Was habt ihr denn für eigenartige Gewänder an, wieso nennt sie
mich Morgan, und was macht ihr hier, und wo ist der Nebel so schnell hingekommen?"
Gelächter. Alle umarmten mich mit echter Wärme und Zuneigung.
"Echt Morgan, immer nur Fragen über Fragen! Aber, so war sie schon immer,"
sagte kopfschüttelnd Hannes, der Lange. "Wieso immer", dachte ich empört,
"er kennt mich doch erst seit kurzem!" Die ältere Frau übernahm es nun, mich
aufzuklären:
"Wir sind die Bewohner von Avalon, so wie du, meine Tochter. Hier in der
Anderswelt leben wir von Anbeginn der Zeiten, und hier wird unsere Heimat
immer sein. Wir leben aber auch drüben, in der Welt, welche die Menschen die
Realität nennen. Dorthin werden wir von Zeit zu Zeit hineingeboren, um sie zu
gestalten, wie Schauspieler in einem Theaterstück. Alle Menschen sind
eigentlich Bewohner der Anderswelt, aber, wie du an dir selbst siehst, kann
man das auch zeitweilig vergessen. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, die
Menschen immer wieder daran zu erinnern, was sie in Wahrheit sind. Das ist
nicht leicht, weißt du. Nun, du jedenfalls gehörst zu unserer Truppe. Weil du
aber in diesem Leben so lange gebraucht hast, dich zu erinnern, mussten wir
ein wenig nachhelfen. Du warst so tief in die Trance der Menschenwelt
gefallen! Aber nun bist du ja da und hast durch den Nebel des Vergessens zu
uns gefunden, und alles ist gut. Nun sag mir, meine Tochter, woran erinnerst
du dich noch, oder hast du da drüben alles vergessen: wer du bist, was du
gelernt hast, und was deine Aufgabe ist, in allen deinen verschiedenen Leben?"
Ich erschauerte. War die Prüfung denn immer noch nicht zu Ende? Was war
denn meine Aufgabe, und woran sollte ich mich denn erinnern? Wer war ich
denn noch, außer jener Anna Waldstein, die mir als mein Ich bekannt und
vertraut war? Und leise, wie eine halbvergessene Melodie, drang eine
flüsternde Stimme an mein Ohr:
"Dieser Hügel ist eine Nahtstelle, ein Tunnel zwischen verschiedenen
Wirklichkeiten. Deshalb war er schon immer den Menschen heilig, die Zugang
zu diesen Dingen haben. Hier kann man zu gewissen Zeiten von einer Realität
in die andere wechseln....." " .........."Deshalb heißt er auch Ynis Vytrin, die
Glasinsel, weil andere Welten und Sphären durch ihn hindurch scheinen.
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Wir, die Priesterinnen und Priester von Avalon behüten diesen Platz durch alle
Zeiten und in allen Leben. Wir hüten auch die 'Gläsernen Inseln' überall auf der
Welt, wo wir in unseren unzähligen Erdenleben auch hineingeboren werden,
denn es gibt viele davon, wenn auch in verschiedenen Hierarchie....." sprach
ich wie im Traum weiter, als hätte ich mich nicht schon in einem Traum
befunden. Es war die Ausbildung der jungen Priesterinnen von Avalon
gewesen, Wort für Wort auswendig gelernt in einer anderen Realität,
vergessen in der Welt der Menschen, doch nie verlorengegangen. Nun war ich
heimgekehrt in meine Heimat, willkommen geheißen von meinen Schwestern
und Brüdern. Mit ihnen zusammen würde ich in der Welt der Menschen an
unserer Aufgabe arbeiten, die heiligen Plätze zu hüten, sie vor Zerstörung zu
bewahren, um die Welt für alle Kinder der Grossen Mutter lebenswert zu
erhalten. Das würde nicht leicht werden, doch es wäre Aufgabe und Erfüllung
für mehr als ein Leben.
2. FEBRUAR 89
Der Mittwoch kam. Ich hatte mir frei genommen, um mich auf das Ereignis
gebührend vorzubereiten. Seit zwei Tagen fastete ich, ich wollte äußerlich und
innerlich rein in den Kreis treten. Den Tag verbrachte ich in stiller
Zurückgezogenheit mit Musik, Meditation und Lektüre. Als der Abend anbrach,
wurde ich dann aber doch zunehmend unruhig . Ich fühlte mich fast wie an
meinem ersten Schultag.
Im Raum hinter dem Laden erwartete mich Margot. Sie blickte mich
aufmunternd an, ihre Miene jedoch war ernst." Hast du Angst?" fragte sie mich
teilnahmsvoll. Nein, Angst war nicht das richtige Wort, aber vielleicht konnte
man es ehrfürchtige Erwartung nennen. Nahm ich das Ganze vielleicht ein
wenig zu ernst? Aber würde ich, nähme ich es nicht ernst, dies alles, was auch
immer auf mich da zukam, überhaupt mitmachen? Nein, denn dann wäre es
lächerlicher Hokuspokus, Zeitvertreib und meine umwälzenden Erlebnisse der
letzten Monate nur Hirngespinste. Mir war vollkommen klar, dass sie das in den
Augen der meisten Menschen ja auch wären. Doch diese Kategorien waren
Vergangenheit für mich, die Urteile der Welt gingen mich nichts mehr an. Seit
ich den Weg nach Avalon gefunden hatte, hier und in der Anderswelt, konnte
nichts mich mehr von meinem klar vor mir liegenden Weg abbringen.
Margot hieß mich, alle Kleidungsstücke abzulegen. Ich sollte nackt wie ein
neugeborenes Kind den Kreis betreten. Dann verband sie mir die Augen. Alle
würden mich nun in meiner Nacktheit sehen, noch niemals in meinem Leben
hatte ich mich derart ausgeliefert gefühlt. Ausgesetzt ihren Blicken und ihrem
Wohlwollen, schwach und wehrlos wurde ich in den angrenzenden Raum
geführt. Es war angenehm warm, das war das erste, was mir auffiel, und
Wärme schlug mir auch von den Menschen entgegen, die sich darinnen
aufhielten, das konnte ich sogar körperlich spüren. Also kam mein Zittern nicht
von der Kälte? Es roch nach Weihrauch und Kerzen, und es war ganz still.
Warme Frauenhände berührten mich, ich wurde an Händen und Füssen
gebunden, allerdings locker.
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"Du bist nun gebunden und doch frei," sagte eine Männerstimme, sie
gehörte Hannes, dem Langen. "Noch kannst du deinen Entschluss rückgängig
machen." "Na fein", dachte ich, "jetzt verschnüren sie mich auch noch wie ein
Paket! Nun gut, soll sein, sie werden schon nichts Schlimmes mit mir
anstellen!" Nun wurde ich ein paar Schritte weiter geführt, bis mich etwas
Kaltes, Hartes zwischen den Brüsten berührte. Eine Männerstimme sprach zu
mir, sie gehörte Georg. Und nun begann mit einem Mal Panik in mir
hochzusteigen. Da stand ich, gefesselt, blind und splitternackt vor dem Mann,
dessen Augen und Hände meinen Körper noch nie berührt hatten, außer in
meinen geheimsten Tagträumen. Wie viele Frauen, hatte ich auch immer
Zweifel an meiner weiblichen Schönheit und Anziehungskraft gehabt. Ich fand
mich zu klein, meine Brüste zu groß, meine Figur zu wenig jugendlich, straff
und überhaupt.............
Wahrscheinlich fand mich Georg jetzt nicht mehr so anziehend wie vorher,
jetzt, da er mich nackt sah! Warum hatte mein früherer Mann mich wohl so oft
mit anderen Frauen betrogen? Na, also! Dies hier hatte ich wieder nötig
gehabt! Ich war wohl eben im Begriff, mich vor dem Mann lächerlich zu
machen, nach dessen Liebe und Bewunderung ich mich so sehr sehnte! In
diesen kurzen Sekunden erlebte ich die Hölle, meine ganz eigene,
selbstgemachte.
Doch da hörte ich Georgs Stimme, ganz nahe an meinem Ohr. Für die anderen
unhörbar, flüsterte er mir etwas zu, was mich aus der Hölle direkt in den
Himmel katapultierte: "Du bist wunderschön!" Alle Spannung und Angst fiel
damit von mir ab, als wäre sie nie dagewesen, wie Chimären einer Nacht, die
sich ganz unverhofft in einen strahlenden Sommertag verwandelt hatte. Ich
fühlte mich schön, weil er mich schön fand. Ich sah mich mit seinen Augen,
und das waren die Augen der Liebe. Er hatte meine Scham feinfühlig
wahrgenommen und richtig gedeutet, plötzlich überschwemmte mich das
Gefühl von grenzenloser Liebe für ihn. Meine Gefühle, die bisher dem
Harfenspieler gegolten hatten, einem Traumbild meines Unterbewusstseins,
flossen nunmehr dem Menschen Georg zu. Der hatte mit dieser zarten Geste
mein Herz vollends gewonnen, und ich hauchte ganz leise, für die Anderen
unhörbar: "danke!" Nach dieser unmerklichen Pause fuhr er fort, zu mir zu
sprechen:
"Du stehst nun an der Grenze zwischen der Welt der Menschen und
den Gefilden der mächtigen Götter. Hast du deine Wahl getroffen?
Denn es wäre besser, von meiner Klinge durchbohrt zu werden, als mit
Zweifel und Angst diesen Schritt zu tun."
Und nun konnte ich nicht anders, ich musste das Drehbuch durchbrechen, und
fast ohne mein Zutun sprach die Andere, die Priesterin von Avalon aus mir:
"Die Klinge des Schmerzes würde mich durchbohren, täte ich diesen Schritt
nicht, denn: Ich, Morgan von Avalon bin verbunden mit der Göttin, der Mutter
alles Seienden, für dieses und alle Leben, in diesen und allen Welten. Möge
mein Gesicht das Gesicht der Göttin spiegeln, und möge mein Handeln das
Wirken Ihrer Macht sein. So sei es, mit Ihrem Segen. Deshalb betrete ich
diesen Kreis in LIEBE, FREIHEIT und VERTRAUEN."
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Irgend etwas war geschehen. Keiner sprach ein Wort, man hätte eine Feder auf
den Boden fallen hören können, so still war es. Warum ging es denn nicht
weiter?
Dann, nach einer mir unendlich lang scheinenden Pause, sprach Georg weiter:
"Du bist willkommen." Seine Stimme zitterte kaum merklich. Ich wurde von
vielen Händen gepackt,. hochgehoben, geschwungen und endlich sanft auf eine
weiche Unterlage gelegt. Nun folgte eine imaginäre Reise durch die vier
Elemente, die im Schoss der Erde ihr Ende fand, als ungekeimter, schlafender
Same, zwischen den Leben, zwischen Vergangenheit und Zukunft, ohne
Persönlichkeit und Körper....und dann.......... wurde ich neu geboren. Eine
Hand nahm mir die Binde von den Augen, strahlendes Kerzenlicht, lächelnde
Gesichter über mich gebeugt, ich wurde gehalten von liebevollen Armen, es
waren die Arme einer Mutter, der Grossen Mutter, und ich überließ mich ihnen
in wohliger Hingabe.
Ich erhielt eine weiße Kordel. Sie symbolisiert die Bindung an die Göttin und an
die Covengeschwister. Margot, die Hohepriesterin des Covens begrüßte mich
als neues Mitglied :
"Im Namen der Göttin und des Gehörnten heiße ich dich, Morgan,
Träumerin und Zaubersängerin, willkommen in unserem Kreis. Sei du
ein neues Glied in der Kette und wirke in Liebe, Freiheit und Vertrauen.
So sei es!"
Nach dem eigentlichen Ritual , das noch einige Zeit dauerte und dessen weitere
Einzelheiten ich hier nicht zur Gänze wiedergeben will, kam ein ganz
wesentlicher Teil aller unserer Feierlichkeiten: ein Festmahl mit Musik und
Tanz, in früheren Zeiten oft als Orgien missdeutet, doch in unserem Fall
einfach sinnliche Lebensfreude.
Gegen Ende des Festes kam Georg an meine Seite und sagte leise: "Können
wir anschließend zusammen noch kurz wohin gehen, ich muss unbedingt mit
dir sprechen." Also gingen wir in ein kleines Beisel ganz in der Nähe, das noch
offen hatte. Es war eines jener Vorstadtlokale, die mit merkbarer Anstrengung
weltstädtisch wirken wollen und davon so weit entfernt sind, wie ein
Groschenroman von Literatur. Doch es hatte ein großes Plus: es war geöffnet
um diese späte Stunde. Wir setzten uns an einen Tisch ganz hinten in einer
dunklen Ecke des leeren Lokales. Zuerst fiel kein Wort. Wir waren beide
befangen wie Teenager bei ihrem ersten Rendezvous. Eine Kassette mit
furchtbar abgeschmackten Schlagern lieferte die Untermalung dazu. Ich sagte,
um die Spannung zu durchbrechen eine Dummheit, wie: " Wir haben uns
bisher noch nie über dein Buch unterhalten, weißt du noch, du wolltest das
doch unbedingt." Im gleichen Moment hätte ich mich dafür ohrfeigen können.
Ich benahm mich wirklich wie ein verwirrter Teenager, ja, selbst die waren
heutzutage nicht mehr so unsicher, oder verbargen sie es gekonnter? Er nahm
meine Worte offenbar als das, was sie waren und überging sie,- wie wohltuend!
Er schwieg, nahm meine Hände in die seinen und sah mir ernst in die Augen.
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Mein flatterndes Herz wurde augenblicklich ruhig, und ich konnte seinen Blick
erwidern, der bis zu den Wurzeln meines Selbst drang.
"Anna, ich werde einige Zeit nicht hier sein können, kann sein, dass ich für
einige Monate fort muss." "Wohin gehst du?", versuchte ich meine
aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. So hatte ich mir diesen Abend
nicht vorgestellt! Doch er ließ mich nicht weiter in sich dringen.
"Ich will aus ganz bestimmten Gründen heute nicht davon sprechen, aber es ist
für mich ganz wichtig, dass ich das jetzt erledige. Wenn du es wissen willst,
dann, wenn ich zurückkomme, werde ich es dir genau erzählen. Ich weiß, dass
ich dir damit viel abverlange, aber bitte, Anna, vertrau mir!" Er sah mich mit
bittenden Augen an. In diesem Ausdruck verschmolzen die Augen des
Menschen Georg mit denen des Harfenspielers. Ich sah in seinem Blick das
gleiche Ausgeliefertsein, das ich vor kurzem noch, nackt und blind, beim
Eintritt in den Kreis gefühlt hatte, und das durch seine einfühlsame Hilfe für
mich erst erträglich geworden war. Jetzt brauchte er meine Hilfe. Er fuhr fort:
"Anna, wir beide gehören zueinander, das fühlst du doch so gewiss wie ich,
nicht wahr? Ich zumindest habe mich in dem Augenblick in dich verliebt, als du
zu mir in den Laden gekommen bist." Es war ihm also ebenso ergangen wie
mir! Ich war sprachlos, verwirrt und atemlos vor Glück. Da saß ich nun,
unfähig zu sprechen und erwartete, jeden Augenblick aus diesem
unwahrscheinlichen Traum zu erwachen.
"Du musst jetzt nicht gleich antworten. Warte noch, bis du gehört hast, was ich
dir sagen will." Wieder half er mir, zum wievielten Male eigentlich, aus einer
kläglichen Situation.
"Sag mir nur eines: wirst du da sein, ich meine....für mich......also....wirst
du......willst du.......verdammt, ist das schwierig!"
Ich nahm seine Hand und streichelte sie zärtlich, dabei sah ich ihn liebevoll an.
Der Arme, er war in diesen Dingen wohl ebenso ungeübt wie ich! Meine Geste
half ihm sichtlich, und er nahm einen neuen Anlauf: "Also, Anna, meine Frage
wird dir wahrscheinlich völlig verrückt vorkommen, aber, sei's drum, bin ich
eben verrückt! Also, Anna, willst du meine Frau werden, dann, wenn ich
zurückkomme?"
Jetzt war es an mir, zu stottern, und ich stand ihm dabei in nichts nach:
"Georg.........das ist,........nein also wirklich..........was soll ich sagen.........?
(Denkpause, meine Gedanken rasen: wie kann er nur, wir kennen einander
doch noch gar nicht richtig! Wir beiden alten Esel sollten doch schon etwas
vernünftiger sein!) Doch dann, nach einigen Augenblicken, gab ich die
Kontrolle an die Frau in mir ab, die sich von allen Konventionen und rationalen
Überlegungen freigemacht hatte und sich einzig von ihrem Gefühl und ihrer
Gewissheit führen ließ. Ich konnte nur staunen über die Worte, die ich aus
meinem eigenen Mund vernahm:
"Ja Georg, das will ich. Es gibt nichts, was ich mehr will, als deine Frau zu sein.
Ich werde da sein, wenn du wiederkommst. Beeile dich mit dem, was du tun
musst, ich warte auf dich."
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Wir wollen diese Szene nun gnädig ausblenden. Heute noch befällt mich bei
Liebesszenen in Filmen eine Scheu, an den intimsten Bereichen
zwischenmenschlicher Beziehungen voyeuristisch Anteil zu nehmen. Außerdem,
die Szene gleitet gerade eindeutig in Richtung Kitsch ab. Also, Regieanweisung,
siehe oben.
Hier sind leider wieder zwei Seiten durch eingedrungene Feuchtigkeit
unleserlich geworden.
.......vergeht nicht.........warten...............so lang sein kann, hätte ich nicht
gedacht...................Doch leise, unmerklich zuerst, dann mit einem Mal
dramatisch und expressiv, hat der Frühling dem Stadtwinter mehr und mehr an
Terrain abgewonnen. Noch immer kann es unvermittelt schneien, noch einmal
weihnachtliches Weiß sich über die Dächer legen, doch niemand nimmt diesen
Winter mehr ernst. Er ist zum zahnlosen Greis geworden, der ab und zu noch
etwas Imponiergehabe an den Tag legt, bevor er endgültig abtritt.
Im Park vor meinem Wohnhaus stehen drei Kastanienbäume. Ihre prallen
Knospen sind noch geschlossen, doch die Knospenschuppen haben sich bereits
fast unmerklich auseinander geschoben und lassen zartes Grün mehr ahnen als
erkennen. Oft habe ich im vergangenen Winter diese glänzenden Verheißungen
eines kommenden Frühlings betrachtet. Auch wenn Kälte, Matsch und früh
einsetzende Abende das Gegenteil glauben machen wollten, und die kahlen
Äste "Tod, Erstarrung, Frost" knarrten," Leben, Leben, Leben," sangen die
Knospen triumphierend. Nun haben sie Recht behalten und damit für uns
Menschen ein tröstliches Zeichen gesetzt. Man braucht nur Augen haben, zu
sehen.
An manchen Tagen brauche ich solche Zeichen. Besonders dann, wenn sich die
Dritte im Bunde, die Destruktive, meine Über - Ich Gouvernante, wieder
zurückmeldet. Und das kommt in letzter Zeit wieder häufiger vor. Sie zwängt
sich manchmal sogar in den Spalt, der zwischen Nacht und morgendlichem
Aufwachen klafft, wenn meine Wachsamkeit ihrer Aufgabe noch nicht
nachkommt.
Außerdem hat sie ihre Taktik etwas geändert, sie agiert schlau und gerissen in
letzter Zeit. Heute zum Beispiel schlich sie sich hinterrücks auf Samtpfoten an:.
"Anna?"
"Hm, lass mich schlafen!"
"Anna? Wie wirst du's denn Myriam beibringen?"
"Was soll ich ihr denn beibringen, du bist heute sehr kryptisch. Zum
Rätselraten bin ich noch zu schläfrig, lass mich in Ruh!'"
"Also gut, bitte, wenn du es willst." Sie schweigt, aber nicht lange.
" Anna", säuselt sie zuckersüß und weckt damit meine Wachsamkeit aus ihrer
Nachtruhe, um einige Augenblicke zu spät.
"Aber, wie willst du es Myriam beibringen, dass du einen Mann heiraten willst,
den du als harfenspielenden Magier aus einem Traum kennst, und den du dann
im wirklichen Leben als bücherschreibenden Taxifahrer und obskuren Priester
einer angeblich Alten Religion kennengelernt hast?"
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Bamm, bamm bamm! Ihre Schläge prasselten unbarmherzig auf mich nieder.
Ich hatte vergessen, wie gefährlich sie war und deshalb meine Deckung nicht
hochgenommen. Eins zu Null für sie, diese Runde ging eindeutig an meine
kritische Gegenspielerin. Und ich hatte geglaubt, sie zu meiner Verbündeten
machen zu können! Diesmal fand ich keine passende Antwort, ich musste die
Revanche vertagen und erst noch darüber nachdenken. Da sie keinen
Widerstand gefunden hatte, verlor sie offenbar das Interesse an der
Auseinandersetzung und zog sich zurück. Doch sie kann überall lauern, das
weiß ich.
Nachtrag, 21. September 89: Erst viel später sollte ich erkennen, dass sie
tatsächlich meine Verbündete war. Sie zwang mich nämlich, meine Intuitionen
im kalten Licht der "normalen" Welt zu betrachten und bewahrte mich davor,
ganz in meine Traumwelt abzudriften, so, dass ich für diese Realität verloren
gewesen wäre. Solche Menschen landen in speziellen Anstalten. Ich aber bin
eine Hagazussa, eine Zaunreiterin, die beide Welten bewohnt und gleichzeitig
in ihnen wirken kann. Das ist auch die wahre Bedeutung des Wortes: Hexe.
22.MÄRZ 89
Das Osterfest naht, in der Nacht zum 21. März feierte unser Coven die
Frühlings - Tag und Nachtgleiche. Noch ist es eigentlich zu kalt für outdoor Aktivitäten, doch mit einem wärmenden Feuer war das Ganze schon auszuhalten. Helga, unsere Jüngste, spielte den Part der Frühlingsjungfrau. Zart
und voller jugendlichem Schmelz war sie eine herzbewegende Verkörperung
der erwachenden Natur. Alle Teilnehmer waren hochgestimmt, es herrschte
eine Atmosphäre der entspannten Freude und Herzlichkeit. Doch etwas
stimmte nicht. Ich spürte eine innere Spannung, die sich nicht lösen wollte,
auch nicht, als das Ritual beendet war und der lockere Teil des Abends
begonnen hatte. Wie eine kalter Luftzug wehte es in meine Richtung, aber
woher? Ein Pfeil aus Missgunst war auf mich abgeschossen worden, fast
körperlich spürte ich die Verletzung. Als ich in die Runde blickte, erkannte ich
sofort, wer der Schütze gewesen war, oder vielmehr die Schützin: Beate, die
Frau in meinem Alter. Ich war mir nicht bewusst, ihr irgend etwas angetan zu
haben - oder vielleicht unwissentlich? Ich erforschte meine Gedanken und
Gefühle, doch da war nichts, kein negatives Gefühl jedenfalls. Dies war eine
ganz neue Erfahrung für mich, von jemandem gehasst zu werden, ich kann
mich nicht erinnern, so etwas schon jemals erlebt zu haben. Aber wie löst man
ein solch delikates Problem? Nun, ich entschloss mich, meine neue
Covenschwester kurzerhand darauf anzusprechen und bat sie leise, mit mir ein
wenig abseits zu gehen, da ich sie etwas fragen wolle. Sie sah mich erstaunt
und feindselig an, ich hatte mich also nicht getäuscht.
"Beate, ich habe den Eindruck, du hast etwas gegen mich," begann ich
unverblümt.
"Nun, da wir einander versprochen haben, uns gegenseitig zu achten und zu
ehren, will ich solche Dinge gleich aus der Welt schaffen. Vielleicht habe ich
dich unabsichtlich gekränkt. Habe ich?"
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Sie antwortete nicht gleich. Offenbar hatte ich sie mit meiner direkten Frage
überrumpelt. Ich konnte sehen, wie sie ihren Zorn innerlich zu einem kompakten Paket zusammenschnürte, alles hineinverpackte, was immer sich
formulieren ließ, um es gleich darauf gegen mich zu schleudern. Ihre eigentlich
hübschen, noch jugendlichen Züge wurden von einem Augenblick zum anderen
hart. "Du kommst hierher, angeblich aufgrund von irgendwelchen Träumen,
drängst dich hier herein und glaubst gleich, etwas Besonderes zu sein, nur weil
du geträumt hast, eine Priesterin aus Avalon zu sein. Das kann ja jeder
behaupten, es lässt sich ja nicht überprüfen!" schleuderte sie mir hasserfüllt
entgegen. Mir nahm es plötzlich den Atem. Fühlte sie sich von mir so an den
Rand gedrängt, erlebte sie sich vielleicht überhaupt auch sonst als
abseitsstehend und unbedeutend? Wer konnte das besser nachvollziehen als
ich! Trotzdem konnte ich in diesem Augenblick keine Brücke zwischen uns
schlagen, so gerne ich das auch gewollt hätte. Zu sehr verletzten mich ihre
Anschuldigungen. Aber, sie war noch nicht fertig mit ihren Hasstiraden:
"Dem Georg weiszumachen, er sei der Harfenspieler von deiner angeblichen
Traumwiese, na, weißt du, du bist ganz schön schlau, du weißt, wie man die
geheimsten Wünsche der Menschen anspricht!"
Das saß. Jetzt waren wir offenbar im Zentrum des Problems, Georg. Eifersucht
ist also die Ursache. Sie ist also auch in Georg verliebt und sieht ihre Chancen
schwinden! Plötzlich fühlte ich mich mutlos und schwach. Hier bin ich machtlos,
und so gut ich mich auch in sie einfühlen kann, helfen kann ich ihr nicht. Ich
bin, ohne es zu wollen, ihre Feindin geworden, zur unschuldig - schuldigen
Verursacherin ihres Unglücks. Oh, Göttin, wollten wir nicht als Schwestern
solidarisch untereinander sein, uns nicht durch Machtansprüche oder Eifersüchteleien spalten lassen, die Göttin in uns selbst erfahren? Hier ist nun
allerdings eine Naturgewalt dazwischengekommen, der Mann! Und alle
Frauensolidarität geht den Bach hinunter, als wäre sie nur ein Schlagwort, ein
windiges Hirngespinst!
Eine Kluft ist aufgebrochen zwischen Anspruch und gelebter Wirklichkeit. Ich
weiß, sie lässt sich nicht schließen, weder durch Weltanschauung noch durch
Religion, schon gar nicht durch unser bewusstes Wollen. Mit diesem
Widerspruch müssen wir beide jetzt vorläufig einmal leben. Mein Gesicht, das
jenes der Grossen Mutter widerspiegeln soll, ist für meine Schwester zur
Fratze geworden, mit den Zügen der schwarzen Todesbringerin. Das ist schwer
zu ertragen für mich. Wie soll denn nun alles weitergehen mit einer Feindin im
Coven? Ich habe eben erst begonnen, eine emotionale Heimat zu finden, da ist
diese schon wieder zu einem Schlachtfeld der Gefühle geworden. Wir sind eben
doch "nur" Menschen, trotz unserer Priesterschaft, das dürfen wir niemals
vergessen. Diesen menschlichen Faktor außer Acht zu lassen, bedeutet, mit
seinen Idealen an der Realität zu scheitern. Daran will ich immer denken.
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25. MÄRZ 89
Ja, die sogenannte Realität, sie bereitet mir gegenwärtig einige Probleme. Seit
langem verspüre ich großes Unbehagen bei dem Gedanken, noch viele Jahre in
meinem jetzigen Beruf tätig sein zu müssen. Zwar, das Geplänkel um die
Ansprache mit meinem Familiennamen habe ich gewonnen, doch was ändert
dieser Sieg an der grundsätzlichen Unzufriedenheit mit meiner Arbeit? Immer
klarer sehe ich in letzter Zeit, dass der Körper die Befindlichkeit der ganzen
Person zum Ausdruck bringt. Um wirklich heilend wirken zu können, müsste
eine Behandlung auch die Gedanken- und Gefühlswelt der Patienten
einbeziehen. Und nicht nur das, auch die Sinngebung und Sinnfindung im
Leben sind von zentraler Bedeutung. So etwas geht weit über meine
Möglichkeiten hinaus. Und wieder bin ich beim momentanen Hauptthema
meines jetzigen Lebens angelangt: der Metaphysischen Dimension des
Daseins. Wie in einem Kreis führen meine Gedanken immer wieder zu diesem
Ausgangspunkt zurück. Wie aber kann ich dieses wichtige Thema in meine
berufliche Tätigkeit einfließen lassen, ohne deren Rahmen zu sprengen?
Darüber hinaus beschäftigt mich noch die Frage, wie man heilsam auf den
Zustand der Erde einwirken könnte, mit dem es sowohl in sozialer wie auch in
ökologischer Hinsicht nicht zum Besten steht. Irgendwo vermute ich da einen
Zusammenhang. Innere Strassen führen vom Leiden der Seele zum Leiden des
Körpers und zum Zustand unserer Welt, glaube ich. Aber, kann ich sie gehen?
Das sind Fragen von solcher Tragweite, dass sie meine Fähigkeiten weit
übersteigen. Das hat mir mein Erlebnis mit Beate deutlich gezeigt. Wo ich doch
schon bei einem derartigen, im großen Kontext eher unbedeutenden Problem
an meine Grenzen gestoßen bin! Aber, und das sehe ich immer klarer, die
großen Probleme dieser Welt setzen sich aus vielen solcher kleinen Puzzleteile
zusammen. Also muss man auch dort ansetzen, so scheint es jedenfalls.
Unzufriedenheit, ist es das richtige Wort für meinen derzeitigen Zustand? Nicht
eigentlich. Was dann? Unruhe, Ungeduld, das schon eher. Sehr viel hat sich in
meinem Leben verändert, doch ich fühle, dass da noch etwas kommen muss.
Der Schmetterling ist noch nicht frei von seiner Puppenhülle, noch fliegt er
nicht. Wie habe ich nur all die Jahre so traumtänzerisch, so wie in Trance leben
können? Nun, da ich träume, bin ich erwacht, und staunend erfahre ich eine
neue Welt, die ich so nie gesehen habe. Ich frage mich: was will ich sein, wie
will ich leben, was will ich in diesem Leben wirklich tun? Alles Fragen, die ich
mir schon längst hätte stellen müssen. Nun sind sie drängend wie nie zuvor.
Was will ich denn nun wirklich! Das muss ich herausfinden, jetzt oder nie! Es
ist verhältnismäßig leicht, zu wissen, was man nicht will, doch zu wissen, was
man will, darauf kommt es an! Das macht schon fast das ganze Leben aus.
"Tu' was du willst!" lautet einer unserer Leitsprüche, und er ist nicht als
Aufforderung zu schrankenlosem Hedonismus gemeint. Alles Andere dagegen
ist vergleichsweise einfach.
Ach, Georg, wärst du nur bei mir! Mit dir, das weiß ich mit Sicherheit, könnte
ich diese Fragen klären. Vielleicht aber ist es für mich ganz wichtig, sie erst
einmal für mich selbst zu lösen. Dieses Rätsel wartet auf mich allein.
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15. APRIL 89
Auch diesmal kam mir "die andere Seite" zu Hilfe. Wir treffen uns ungefähr alle
zwei Wochen im Hinterzimmer der Buchhandlung zu einem "Fitnesstraining
unseres Astralleibes", wie Margot es nennt. Dabei stehen diverse Übungen auf
dem Programm. Diesmal war es eine sogenannte Phantasiereise. Dabei geht es
darum, durch bestimmte Entspannungstechniken die Schwelle zwischen Verstandeswelt und inneren Realitäten zu überschreiten, welche dann durch Bilder
oder andere Wahrnehmungen zu uns sprechen sollen. Es handelt sich dabei
eigentlich um Träume im Wachzustand, bewusst herbeigeführte Träume
allerdings. Ich fand mich fast sofort auf meiner, mir bekannten und vertrauten
Apfelbaumwiese. Sie ist bereits zu einem Tor in andere Realitäten für mich
geworden, das ich bewusst zu durchschreiten gelernt habe, das Tor ohne
Schlüssel, wie es in unserer poetischen Terminologie genannt wird. Hier aber
war wirklich ein Tor, und es führte unter einer Baumwurzel in die Erde. Es war
mein Tor, wie die ganze Szenerie für mich von meinem Unbewussten geschaffen. Ich zwängte ich mich also hindurch und begann bald, meine Augen an die
Dunkelheit zu gewöhnen. Wurzeln, die hier herabreichten, berührten meine
Stirne, Feuchtigkeit glänzte an den Erdwänden und rieselte daran herab. Der
Gang führte weiter und weiter in die Tiefe. Dann öffnete er sich zu einer
kleinen Höhle. Irgendwoher kam diffuser Lichtschein, gerade soviel, dass ich
eine Gestalt erkennen konnte, die da stand .Ihr Leib war plump und nicht sehr
ausgeformt. Ich hatte sie schon einmal gesehen, wo und wann, wusste ich
nicht gleich. Doch gleich darauf fiel es mir ein, ja, die Venus von Willendorf sah
aus wie sie! Es war eines dieser Mutteridole aus der Altsteinzeit, nur in Lebensgrösse, doch wirkte sie irgendwie beschädigt. Als ich nähertrat, sah ich
Tränen über ihr nur angedeutetes Gesicht fließen. Mir sank das Herz vor
plötzlichem Mitgefühl, hier war so viel Leid und Verwundung! Ich konnte
buchstäblich am eigenen Leib den Schmerz der geschundenen, ausgebeuteten
Erde und ihrer Geschöpfe fühlen. Mein eigener Leib wurde aufgebrochen,
verwüstet, vergiftet, verschachert, zum Eigentum derer gemacht, die ihn nicht
lieben. Vergiftetes Blut ließ meine Adern erstarren, keuchend vor Anstrengung
verlangte meine lechzende Lunge nach Luft, erhielt aber statt dessen nur
giftige Gase. Schmutzige Schlieren überzogen meinen (ihren) Körper, und
irgendeine giftige Substanz schien meine (ihre) Haut zu zerfressen. An mehreren Stellen war sie schon aufgelöst, sie blutete. Das Blut aber war schwarz,
vergiftet und krank. "Hilf mir! Hilf mir, meine Tochter, ich brauche dich so sehr!
" schrie eine Stimme in meinem Kopf, und ich wusste nicht, ob es meine
eigene oder die des Mutteridols war. Hilflos umarmte ich die Gestalt, deren
Leid ich am eigenen Leib verspürte und flüsterte ihr tröstliche Worte zu. Dabei
versuchte ich ihre Tränen zu trocknen. Die jedoch flossen immer ergiebiger,
bald umspülten sie meine Füße, wurden zum Fluss, dessen Fluten mich wieder
an die Oberfläche zurücktrugen. Doch, wie hatte die sich verändert! Die
Apfelbäume waren inzwischen dürr und entlaubt, das Gras verdorrt, eine
kranke Sonne brannte auf die ganze Szene nieder. Einige Menschen waren da:
Georg, der mich mit besorgter Miene in die Arme schloss, Die alte Frau aus
meinem letzten Traum, Myriam, meine Tochter und ein mir unbekannter junger
Mann, der anscheinend zu Myriam gehörte. Sie fassten einander an den
Händen, auch mich, sodass wir fünf Menschen einen Kreis bildeten.
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Dieser begann plötzlich in einem hellen Schein zu leuchten, und der Schein
wurde stärker und immer heller. Eine Linie aus Licht führte zu einem anderen
Kreis, von anderen Menschen gebildet; ein Netz aus Kreisen, durch Lichtlinien
verbunden, überzog das ganze Land. Die Tränen, geweint von der Mutter in
der Tiefe, quollen aus dem Schoss der Erde und brachten das Land wieder zum
Blühen. Dann verblassten die Bilder, langsam kehrte ich wieder an die
Oberfläche meines Bewusstseins zurück.
Es ist Brauch, die Bilder anschließend in der Gruppe zu besprechen, um
gemeinsam ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Diesmal entschuldigte ich mich,
ich wollte zuerst alleine darüber nachdenken. Die Anwesenheit von Beate war
ein weiterer Grund dafür, allmählich beginnt dieser Zwist auch die Gruppe zu
beeinträchtigen, eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht.
20. APRIL 89
Die Herrschaft des Frühlings hat sich gefestigt, und der April ist weit
fortgeschritten. Bald ist Walpurgisnacht, Beltane für uns, das Fest der
Fortzeugung allen Lebens durch die Verschmelzung der Polaritäten. Hieros Gamos oder die Heilige Hochzeit hatten die Alten es genannt. Ich werde von
Tag zu Tag unruhiger, kann nicht mehr richtig schlafen, wälze mich von einer
Seite zur anderen, bis mein Leintuch mehr und mehr einem Strick ähnelt.
Georg hat immer noch nichts von sich hören lassen, er fehlt mir, und ich sorge
mich auch um ihn. Was es wohl sein mag, was er in diesen Monaten unbedingt
tun muss? Wenn er mich wenigstens einmal anrufen würde!
25. APRIL 89
Heute abend, ich war gerade auf der Heimfahrt von meiner Arbeitsstelle, hatte
ich ein seltsames Erlebnis. Ein Taxi fuhr parallel zu meinem Autobus, und ich
hätte schwören können, dass Georg sein Fahrer war. Wie ist das möglich? Bei
der nächsten Ampel musste das Taxi ebenfalls anhalten, und ich hatte
Gelegenheit, meine Wahrnehmung zu überprüfen: es war tatsächlich Georg!
Im Fond des Wagens erkannte ich zu meiner Überraschung auch noch Franz
und Margot. Die drei waren in ein anscheinend ziemlich intensives Gespräch
vertieft. Mein Atem stockte. Die Enttäuschung trieb mir die Tränen in die
Augen. Er war also da, war vielleicht die ganze Zeit hier gewesen und meldete
sich nicht bei mir, er belog mich also! Es hätte der höhnischen Bemerkungen
der kritischen Mitbewohnerin meiner Persönlichkeit nicht bedurft, diesmal
übertraf ich sie in der Kunst der Selbstzerfleischung. Und diesen Mann bin ich
bereit gewesen, zu heiraten, ich blöde Kuh! Und meine vermeintlichen Freunde
haben noch mitgewirkt an der kläglichen Schmierenkomödie!
Gut, ich bin hoch geflogen und hart gelandet, es wird mir eine Lehre sein.
Träume sind also doch nur Schäume! Die Erde hat mich wieder, und diesmal
wird sie mich behalten!
Ich bin so furchtbar enttäuscht, am liebsten würde ich aus meinem Leben
aussteigen, wie aus einem Zug!
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27. APRIL 89
Meine Hausrufanlage läutete. Unwillig hob ich den Hörer ab." Ja, bitte,"
meldete ich mich mit mürrischer Stimme.
"Anna, Liebste, ich bin's Georg, mach schnell auf!"
Die Stimme versagte mir, Groll und .....ja, war es denn möglich? Gerade hatte
ich noch unter alles einen Schlussstrich gezogen, und da war sie, unzweifelhaft,
es war atemlose Freude, die ich jetzt fühlte, als ich auf den Öffner drückte.
Meine widersprüchlichen Gefühle drückten mir die Kehle zu, ich konnte nichts
sagen, als Georg endlich in der Türe stand. Er nahm mich in die Arme, da fiel
alle verletzte Kälte von mir ab, nur Freude, Liebe und unendliche Wärme
erfüllten mich. Alle Vorsätze der letzten Tage waren weggewischt, als wären sie
nie da gewesen. Nun gehörten natürlich auch noch Tränen zu einem richtigen
happy end und richtig, da waren sie auch schon, sie flossen reichlich und
spülten alle meine Bedenken restlos weg. Sollte ich auch eine dumme Kuh
sein, na wenn schon, dies wollte ich jetzt haben, und wäre die Reue später
auch noch so groß!
"Anna, komm, sag schon, was hast du denn?"
Georgs Miene spiegelte Unverständnis und belustigte Besorgnis.
"Das sind doch nicht nur Freudentränen, die ich da sehe, oder?"
"Ich habe dich vor zwei Tagen im Taxi mit Franz und Margot gesehen" sagte
ich vorwurfsvoll, "du warst also gar nicht fort, wie du es mir weismachen
wolltest!" grollte ich wie ein trotziges Kind. Ernst sagte Georg:
"Ja, Anna, es stimmt, ich war nicht fort. Trotzdem habe ich dich nicht
angelogen, hör zu, es ist jetzt an der Zeit, dir alles zu erzählen. Du wirst mich
dann verstehen. Und nun erfuhr ich, was ihn bewogen hatte, den Kontakt zu
mir für einige Zeit zu unterbrechen, und ich verstand.
Georg hat, genau wie ich, früh geheiratet, seine Frau erwartete ein Baby. In
unserer Jugend, in den Sechzigern, war das für viele Paare noch ein wichtiger
Anlass zum Heiraten gewesen, ich glaube sogar, einer der häufigsten. Es
geschah, wie bei vielen Paaren, sie lebten sich im Laufe der Jahre auseinander
und ließen sich scheiden. Der Sohn blieb bei der Mutter. Georg, ohne
Wohnung, mit Schulden ( er hatte für einen Kredit seiner Frau gebürgt, die sich
beruflich selbständig machen wollte, sie hatte Schiffbruch erlitten, ihm waren
die Schulden geblieben), erlitt einen Herzinfarkt. Er konnte nicht mehr in
seinem erlernten Beruf arbeiten. Deshalb begann er, Taxi zu fahren, um sich
durchzubringen. Eine Kollegin, selbst nach einer Trennung einsam, nahm ihn
als Untermieter bei sich auf. So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass
sich die beiden einsamen Gestrandeten zusammenfanden, um gemeinsam dem
Leben die Stirn zu bieten.
Dieses Arrangement, zwar nicht direkt von Liebe, doch von Sympathie und zu
einem nicht unerheblichen Teil von Bequemlichkeit getragen, hatte noch
bestanden, als wir uns begegnet waren. Er hatte sich nun vorgenommen,
Ordnung in sein Leben zu bringen, bevor er mit mir einen neuen Lebensabschnitt beginnen wollte. Deshalb war er auch so betont zurückhaltend
gewesen. Irgendwie war er, trotz der faulen Kompromisse der letzten Jahre,
doch ein Mensch, der klare Verhältnisse liebte.
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Unsere Liebe mit ihrer bestürzend, unerwarteten Intensität, ließ alles Laue und
Unbestimmte von ihm abfallen. Zurück blieb der Mensch, der er im Grunde
seines Wesens immer schon gewesen war: ein begeisterungsfähiger Träumer
mit Hang zur Bequemlichkeit. Außerdem arbeitete er in diesen Monaten fast
Tag und Nacht. Er wollte schuldenfrei sein, wenn er wiederkam. Das war ihm
nicht ganz gelungen, denn die Schulden durch sein Buchprojekt waren noch
dazugekommen. Doch ein ganz wesentlicher Teil davon ist nun abgezahlt, der
Rest wird sicherlich irgendwie zu bewältigen sein.
"Oh, Georg, verzeih mir!", rief ich bestürzt, " ich habe an deiner Ehrlichkeit
gezweifelt und dabei gleich alles verworfen, was ich bisher erlebt habe, ich bin
ein Esel!"
"Ja, und ich finde Esel besonders nett," lachte er fröhlich und wirbelte mich im
Kreis herum, indem er mich hochhob. Wir beschlossen (und es fiel uns
außerordentlich schwer), "jungfräulich" in die Ehe zu gehen. Jetzt haben wir
schon so lange gewartet, da kommt es nun auf ein paar Tage mehr auch nicht
mehr an! Es mag befremdlich altmodisch erscheinen, wenn zwei Menschen
unseres Alters solche Ideale verfolgen. Aber unser Vorsatz hat nichts mit
irgendwelchen verstaubten Keuschheitsvorstellungen zu tun. Im Zeichen des
Kreises haben wir uns das erste Mal geküsst, in diesem Zeichen wollen wir
auch unsere Liebe besiegeln, so ist es für uns richtig und gut, alles Andere
zählt nicht. Dies wird das Beltanefest unseres Lebens werden, und jedes Jahr
von nun an wird dieses Fest für uns auch diese besondere Bedeutsamkeit mit
einschließen. Der Kreis des Jahres wird zugleich auch der Kreis unseres
Lebens sein, die beiden werden einander überlagern, durchdringen und endlich
zu einem einzigen verwachsen, immer sich erneuernd, um endlich, am Ende
dieser, unserer Zeit, in einen neuen, größeren, einzumünden. So mote it be,
blessed be!
29. APRIL 89
Jetzt gibt es viel zu erledigen für uns beide. Meine Wohnung, bis jetzt ein
kleiner Single - Haushalt, muss nun zwei Menschen beherbergen. Das ist ein
ziemliches Problem, denn sie ist sehr klein. Wir haben beschlossen, ein
bequemes Hochbett einzubauen, unter dem wir alle unsere Kleider aufbewahren wollen. Ferner planen wir, nach unserer Hochzeit eine Zwischendecke aus
Holz in der Küche einzuziehen, um zusätzlichen Stauraum zu gewinnen. Damit
wären die ärgsten Platzprobleme schon gelöst. Nun kommen aber erst die
echten Probleme auf uns zu: unsere Kinder, besonders Myriam. Sie hat von der
Entwicklung der letzten Monate keine Ahnung, waren ihre Energien doch mit
ihrer, ihr letztendlich doch notwendig erschienenen Trennung von Sascha mehr
als absorbiert gewesen. Georgs Sohn, Joschi, war mit der Welt seines Vaters
weniger verbunden gewesen, es wird ihn also nicht sosehr erschüttern, von
einer neuerlichen Ehe zu erfahren. Noch dazu, wo wir uns entschlossen haben,
vorerst auf eine zivile Trauung zu verzichten, da wir auf die materiellen Vorteile
dieser Lösung nicht verzichten können. Unsere finanzielle Situation ist einfach
zu angespannt. Also Myriam. Ich rief sie an und bat sie, dringend zu mir zu
kommen. "Ist etwas geschehen, Mama?" fragte sie, hörbar besorgt. "
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Ja, Myriam, es ist sehr viel geschehen. Es ist mir sehr wichtig, dir alles zu
erzählen, bitte, komm, sobald du kannst!" Sie kam am Vorabend des Beltane Festes. Sie drückte auf den Knopf der Hausrufanlage. Georg antwortete. Pause,
dann: " Ich wollte zu Waldstein, bitte. Wer ist denn hier?" " Sie sind schon
richtig, kommen sie rauf!" Verwirrt blickte sie von Einem zum Anderen, als sie
eintrat. "Ich wusste nicht, dass du Besuch hast, Mama. Du hast mir nichts
gesagt. Komme ich ungelegen?" " Du kommst gerade recht und keinesfalls
ungelegen. Darf ich dir hier Georg Lassnitz vorstellen, meinen künftigen Mann."
Meine Myriam, immer so bedacht darauf, erwachsen und "cool" zu wirken,
konnte in diesem Augenblick ihre Züge nicht beherrschen, zu groß war die
Überraschung für sie. Doch das war ja nur zu verständlich. " Mama, ich wusste
nicht....,du hast ja gesagt, es gibt niemanden.......und jetzt Hochzeit.......!" "
Setz dich erst einmal, dann mach ich dir wieder einen Kakao, und dann reden
wir. Es ist nämlich nicht ganz einfach zu erklären," und das war noch eine Untertreibung.
......." Und so ist das gekommen, was in allen Märchen den Schluss bildet:
sie kriegten sich, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch
heute." bemerkte Myriam mit spitzer Zunge, als ich meine Erzählung beendet
hatte. Eine Fähigkeit, die sie bis zur Perfektion beherrscht, was mich früher oft
zur Verzweiflung getrieben hat. Diesmal konnte ich ihr keinen Vorwurf daraus
machen. "Du wirst doch nicht erwarten, dass ich bei eurem Hexen - Hochzeits
- Hokuspokus dabei bin?" " Es würde mich sehr, sehr freuen, wenn du dabei
wärest. Ich akzeptiere es aber, und ich kann es auch wirklich verstehen, wenn
du das nicht willst. Aber Myriam, es geschieht, auch ohne deine Zustimmung,
und es würde mich sehr froh machen, wenn du uns Glück wünscht, auch wenn
du es nicht nachvollziehen kannst. Wirst du?" " Das kann und will ich nicht!"
stieß sie zornig hervor, "Du teilst mir plötzlich, wie aus heiterem Himmel mit,
dass du einen größenwahnsinnigen Taxifahrer, der sich als Guru aufspielt, und
den du nicht einmal richtig kennst, morgen heiraten willst, und erwartest von
mir, dass ich dir dazu Glück wünsche!" Sie war dabei, sich in einen richtigen
Furor verbalis hineinzusteigern. " Ich kann mir das nur mit Wechseljahres Torschlusspanik erklären, du bist ja nicht mehr du selbst!" Damit hatte sie mich
nun wirklich tief getroffen, denn diese Ausdrucksweise ähnelte der meiner
sattsam bekannten inneren Mitbewohnerin aufs Haar. Nun würde Georg sie
wohl hinauswerfen, zu sehr hatte sie ihn beleidigt. " Das war wohl etwas unter
der Gürtellinie," ließ sich dieser jetzt vernehmen." Sie müssen Ihre Mutter
nicht so beleidigen. Von mir will ich einmal absehen, Sie kennen mich nicht,
und von Ihrer Warte mag dies alles auch so aussehen. Doch um eines muss ich
Sie bitten: urteilen sie nicht zu schnell und zu hart, wie leicht könnten sie
danebenliegen mit ihrer Einschätzung! Lernen wir uns doch erst einmal kennen, sie müssen mich ja nicht als Familienmitglied akzeptieren, das erwartet
weder Ihre Mutter noch ich von Ihnen."
Meine Liebe besaß er bereits, nun hatte er auch meine Bewunderung errungen,
denn diese überlegene Reaktion hatte ich nicht erwartet. Meine Seele, die sich
in den ganzen Jahren meines Alleinseins nackt und ungeschützt gefühlt hatte,
begann, sich in die weiche Hülle seiner väterlich - männlichen Wärme
hineinzuschmiegen.
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Von dieser schützenden Umhüllung aus konnte ich Myriams Reaktion jetzt auch
als das sehen, was sie wirklich war: der hilflose Zorn eines überforderten
Kindes. Und auch auf sie, meine Tochter, übte er mit diesen Worten eine
merkbare Wirkung aus. Sie entschuldigte sich bei uns beiden und versprach, zu
dem anschließenden Festessen zu kommen. Wenn das kein Erfolg ist!
10. Mai 89
Mein Tagebuch ist in den letzten Tagen etwas stiefmütterlich behandelt
worden, aber das ist verständlich. Es ist so viel geschehen, und es geschieht
noch! Das Gemälde meines Lebens bekommt immer noch leuchtendere Farben
und nimmt immer noch mehr an Bewegtheit zu. Es ist unglaublich! Alles um
mich her erstrahlt in leuchtender Einzigartigkeit, erzittert vor expressiver
Lebendigkeit......und ist doch nur mein ganz gewöhnliches, von außen
betrachtet gar nicht spektakuläres Anna Waldstein – Leben! Und dennoch,
welch ein Spektakel!
12. Mai
Dies also war der Tag unserer Hochzeit: der 30. Mai 89, am Beltane - Fest.
Sehr zeitig am Morgen läutete das Telefon. Das schrille Geräusch riss mich
unvermittelt aus der Höhle, der meines Wachtraumes der letzten
Phantasiereise. Was hatte ich nur diese Nacht dort gewollt? Wenn man so
rasch aus einem Traum gerissen wird, vergisst man leicht seinen Inhalt. So erging es auch mir, und es wäre mir doch so wichtig erschienen, den Traum
meines Hochzeitstages im Gedächtnis zu behalten. Nur ein Bild hatte ich noch
vor Augen: ich war dabei gewesen, die Mutterstatue von Schmutz zu reinigen,
dabei hatte ich ein Lied gesungen, ein Zauberlied in diesen ungewöhnlichen
Harmonien, wie damals, beim Vollmondfest. Langsam hatte sie die schweren
Lider geöffnet und mich mit einem Blick angesehen, der wie aus weiter Ferne
zu kommen schien. Ihre Haut hatte, als ich mit meinen Bemühungen, sie zu
reinigen fortgefahren war, glänzend schwarz zu schimmern begonnen. Einer
ihrer Arme, die vorher über den schweren Brüsten geruht hatten, löste sich
von seiner Unterlage, und sie hatte mir etwas gereicht, eine welke, wie tot
wirkende Pflanze. Dann war ich durch das Läuten der Hausrufanlage
aufgewacht.
Es war Georg: "Ihr Weckruf, Madame!" klang seine Stimme fröhlich aus dem
Hörer. "Lädst du mich zu einem feinen Frühstück ein, ich bringe auch das
Gebäck," fragte er und klang dabei sehr munter. " He, weißt du, wie spät es
ist," fragte ich ihn verschlafen. "Natürlich weiß ich das, es ist schon halb
sieben Uhr," erwiderte er mit gespieltem Vorwurf in der Stimme. "Ich warte
schon seit einer halben Stunde unten, weil ich wusste, dass du noch schläfst,
aber jetzt kann ich es nicht mehr erwarten, zu dir zu kommen, weißt du. Mach
schnell auf!" Ich kletterte, noch taumelig, von meinem neuen Hochbett
herunter. Das konnte ja heiter werden, wenn er bei mir einzog! Durch seine
Schicht, die um ! vier Uhr früh! begann, war er zu einem Frühaufsteher
geworden, ich aber bin eine Schlafmütze.
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Na ja, nun beginnen also die banalen Spannungs- und Reibungspunkte einer
Ehe, daran kann man nichts ändern, außer man heiratet eben nicht. Worauf
habe ich mich da eingelassen! Aber, da kam er schon, fröhliche Munterkeit
versprühend, die Treppe herauf, nahm mich gleich darauf in die Arme, und
schon waren meine pessimistischen Gedanken wie fortgeblasen. Er hat die
letzten Wochen im Hinterzimmer der Buchhandlung verbracht, auf einer Liege,
die dort aufgestellt war, um bei längeren Inventurarbeiten die Nacht gleich dort
zu verbringen zu können. Seit der Trennung von seiner Freundin konnte er
natürlich bei ihr nicht mehr wohnen. Heute würden wir das erste Mal
zusammen in unserem neuen Bett schlafen. Bei dem Gedanken daran wurde
mir ganz schwach zumute, alles Blut verlagerte sich vom Kopf in etwas tiefer
gelegene Regionen.
Unsere Jahresfeste finden in der Regel ab Einbruch der Dunkelheit statt. Das
erklärt sich aus der alten, keltischen Tradition, die davon ausgeht, dass die
Nacht die Mutter des Tages ist. Also leitet das Fest in der Nacht den Festlag
ein, es gebiert ihn sozusagen. Wir hatten für diesen Tag mit der Tradition
gebrochen, denn für den Abend war ein Saal in einem rustikalen Ausflugslokal
in der unmittelbaren Nähe des schon bekannten Berggipfels im Wiener Westen
gemietet worden. Dort wollten wir mit Freunden und Verwandten, die nicht
unserem Kult angehörten, ausgiebig feiern.
Ich hatte mir aus diesem fließenden, seidigen Stoff, dem aus meinen Träumen
( der Stoff, aus dem die Träume sind?) , ein langes, nur leicht tailliertes Kleid
genäht, das meine Figur sanft umspielte. Dazu trug ich einen zarten Schleier,
der durch einen Kranz aus Wiesenblumen festgehalten wurde. Vielleicht etwas
zu jugendlich für mein Alter, mag sein, doch genau so entsprach es meinem
inneren Bild, und außerdem kleidete es mich wirklich gut. Für Georg hatten wir
eine ganz gerade fallende Hose aus grobem, naturweißem Leinen und eine Art
Hirtenkittel aus dem gleichen Stoff erstanden. Auch er bekam einen
Blumenkranz. Wir sahen beide aus, wie einem Märchenbuch entstiegen, genau
so fühlten wir uns auch.
Margot und Franz warteten schon auf der Lichtung, als wir, begleitet von den
Brüdern und Schwestern, den kleinen Platz betraten. Beate fehlte, das
versetzte mir einen leichten, schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Sie ist
seit ihrem Eintritt in den Coven in Georg verliebt, nun musste sie ihn mir, der
Erfolgreicheren, überlassen. Mein Mitleid schien mir irgendwie falsch, unecht,
war es wahrscheinlich auch, denn meine Freude wurde dadurch nur leicht
getrübt. Ich wollte mir diesen Tag durch nichts verderben lassen.
Der Kreis, mit Blumen ausgelegt, wurde geweiht. Das immer gleichbleibende
Einleitungszeremoniell begann. Die Göttin, danach der Gehörnte wurden in den
Kreis gerufen, sie folgten den Anrufungen, kamen mit der ihnen eigenen Macht
und der Energie, der sich keiner im Kreis entziehen konnte. Es war das immer
wieder ehrfürchtig erschauern machende Mysterium, uralt, doch immer wieder
neu in seiner urtümlichen Gewalt. Zitternd und bebend legte ich meine Hand in
die, gleichermaßen Zitternde von Georg, um sie mit einer Kordel
zusammenbinden zu lassen.
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"Im Namen der Göttin, ich binde euch aneinander, dass ihr Eins werdet in
eurer Liebe, auf dass ihr die Worte der Göttin vernehmt in euren Herzen. Denn
ich bin die Mondin, die aufgeht und leuchtet und stirbt - der Wandel der
Gezeiten, Flut und Ebbe, Glück und Pein. Göttin bin ich der Sanftmut und
Liebe, ich umfasse euch in Schmerz und Freude. Seid eins miteinander in
meinem Namen!" So sprach die Hohepriesterin, dann reichte sie Georg den
Kelch mit den Worten: " Mögest du in deiner Frau das Antlitz der Göttin
erkennen und sie ehren, die dich gebar und dir das Leben schenkte, die dir
Mutter ist und Geliebte und Gemahlin." Nun wandte sie sich mir zu:
"Tochter der Grossen Göttin, mögest du ihr Ehre machen und das Gefäß sein,
aus dem sich ihre Kraft verströmt. Sei diesem Mann Mutter, Schwester,
Freundin, Geliebte und Gemahlin!" Damit reichte sie mir den Kelch, und ich
nahm einen tiefen Schluck daraus. Der Wein war mit Kräutern versetzt und
gesüßt, doch ob mir davon schwindelte oder vor innerer Bewegung, wusste ich
nicht. Es war auch nicht von Bedeutung, nichts war mehr von Bedeutung außer
diesem Hier und Jetzt.. Nun sprach der Hohepriester, indem er uns die Hände
auf den Kopf legte: "Ich binde euch aneinander, dass ihr Eins werdet in eurer
Kraft, sodass ihr die Worte des Gottes in euren Herzen vernehmt. Denn ich bin
die Sonne, die aufgeht und leuchtet und stirbt, der Wandel der Zeiten, der
Frühling, der Sommer, der Herbst und der Winter; die Ernte, die Dürre, die
Stärke, die Macht. Ich umfasse euch in Schmerz und in Freude. Seid Eins miteinander in meinem Namen. Nun folgte die Aufforderung an mich:" Mögest du
in deinem Mann den Gott erkennen, ihn ehren, der dich zeugte und dir das
Leben schenkte, der dir Vater ist, Bruder, Freund, Geliebter und Gemahl." zu
Georg gewandt, "Sohn des Grossen Gottes, mögest du ihm Ehre machen und
das Gefäß sein, aus dem er seine Kraft verströmt." Georg holte nun die Ringe
aus seinem Hosensack und gab sie der Hohepriesterin.
Es waren dreifach verschlungene Ringe aus Gelb,- Rot- und Weißgold, ein
Zeichen der Dreifachen Göttin, die unsere Verbindung segnen sollte. Sie sprach
Georg die Worte vor, die er wiederholte, laut und mit voller Stimme:" Im
Angesicht von........und..........( Namen von Gott und Göttin, die in unserem
Coven gebräuchlich sind), ich Merlin, nehme dich, Morgan mit Herz und Hand
an mich. Ich will dein Freund sein und Beschützer, dein Sohn, Vater, Gemahl
und Gefährte in Glück und Unglück. Meine Kraft sei die Deine, dein Streben das
Meine. Damit streifte er mir den Ring über, etwas behindert durch unsere
Fesselung. Das Gleiche wiederholte ich nun, nachdem der Priester mir vorgesprochen hatte.
Der Ring klemmte ein wenig, als ich ihn Georg überstreifte, doch dann war es
vollbracht. Der Coven sang ein wunderschönes, mehrstimmiges Lied für uns es war sicher nicht leicht einzustudieren gewesen. Georg küsste mich lang und
innig, dann mussten wir gemeinsam über das Feuer springen, ein Symbol der
Reinigung und der Bindung. Ich raffte mein Kleid, wir nahmen Anlauf und
sprangen in weitem Bogen, und doch versengte ich seinen Saum. Ich werde
diese Beschädigung nicht ausbessern. Sie soll bleiben, als etwas, das dauert,
wenn alles nur mehr eine ferne Erinnerung sein wird.
Nun sprangen alle, Paar oder Single, der Kelch kreiste, es wurde gratuliert,
gesungen und um das Feuer getanzt, bis es dunkel war.
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Das Feuer brannte langsam herunter, der Kreis wurde aufgelöst. Dann
sprachen wir einen Segen für diesen Platz, der uns gastlich aufgenommen und
unserem Fest eine freundliche Stätte gewesen war. Der Coven betrachtet sich
als Hüter dieser, als besonderer Kraftort erkannten Lichtung und tut alles, in
seiner Macht Stehende, dieser Aufgabe auch gerecht zu werden.
Im Lokal, das wir nach einem kurzen Fußmarsch erreichten, waren inzwischen
schon viele Menschen versammelt. Sie hatten den leiblichen Genüssen,
besonders den flüssigen, schon etwas zugesprochen und waren bester Laune.
Der Geräuschpegel war dementsprechend hoch. Georg stellte mich nun zuerst
seinen Eltern vor. Es sind adrette, freundliche, ziemlich kleinbürgerlich
wirkende Leute, ein großer, stattlicher Vater mit Bäuchlein ( das ist wohl eine
Familieneigenheit ) und eine sehr kleine, rundliche und betuliche Mutter. Beide
fühlten sich sichtlich etwas fehl am Platze in dieser sehr unbürgerlichen
Gesellschaft. Doch sie waren auch sehr bemüht, das nicht zu zeigen. Jedenfalls
begrüßten sie mich wirklich mit echter Freude und Herzlichkeit, und die wollte
ich ihnen auch zurückgeben, das nahm ich mir vor. Auch Joschi, Georgs Sohn,
war gekommen. Etwas verlegen gab er mir die Hand und musterte mich
verstohlen mit den Augen seines Vaters. Dadurch war er mir sofort
sympathisch. Er muss ungefähr im Alter von Myriam sein, so um die Zwanzig,
schätze ich. Er studiere LÖK, erzählte er mir später stolz, als wir uns etwas
unterhalten konnten. " Was ist LÖK, bitte," fragte ich, in fürchterlicher
Unbildung befangen. " Landschaftsökologie," antwortete er, indem die Verachtung über solches Unwissen in seiner Stimme mitschwang.
Oje, da würde ich mich wohl ein bisschen anstrengen müssen, um seine
Anerkennung zu gewinnen! Vorher musste ich aber noch die anderen Gäste
begrüßen, die uns laut hochleben ließen. Wo war Myriam nur, sie hatte doch
versprochen, zu kommen! Enttäuschung legte sich wie ein schwerer Stein in
meine Magengrube. Mein Mann bemerkte es sofort und drückte mir
aufmunternd die Hand. Das Buffet wurde eröffnet, Alles strömte in seine
Richtung, und der Geräuschpegel sank kurzfristig. Einige, glücklicherweise
kurze Reden wurden gehalten, dann nahm das Fest seinen Lauf.
Da ging die Türe auf und Myriam trat in den Saal. Lächelnd kam sie auf uns zu,
umarmte mich herzlich, gab Georg die Hand und gratulierte uns, indem sie mir
eine wunderschöne Glasschale übergab: "Bitte, verzeiht mir, was ich gestern
zu euch gesagt habe. Ich wünsche euch aus ganzem Herzen Glück für euer
gemeinsames Leben. Ich glaube, ich war ein wenig eifersüchtig, weil meine
Beziehung gescheitert ist, und ihr beiden Alten seid so glücklich miteinander.
Aber, c'est la vie! Also, meine besten Wünsche habt ihr, was ihr damit macht,
ist eure Sache," sagte sie in ihrer unnachahmlich
schnoddrigen Art, und weg war sie.
Als ich später in Richtung Ausgang unterwegs war, weil die Getränke ihren
Tribut forderten, sah ich Myriam und Joschi beisammen sitzen und eingehend
miteinander sprechen. Lachend und kichernd wie kleine Kinder steckten sie die
Köpfe zusammen. Ganz offensichtlich verstanden sie sich prächtig. "Kann mir
nur recht sein, wenn die neue Familie zusammenwächst," dachte ich erfreut,
bevor ich durch andere Dinge wieder davon abgelenkt wurde.
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Später erhielten wir Geschenke von unseren engsten Freunden. Alfred und
Vera überreichten uns ein kleines Päckchen mit den Worten: " Das ist für euer
trautes Heim, ihr könnt es in den 'Frau - Göttin - Winkel' stellen. Aus dem
Papier schälte sich eine kleine, weibliche Figur mit großen Brüsten und
überdimensioniertem Gesäß. Die Unterarme hatte sie auf den Brüsten liegen
und das Gesicht war nicht ausgeformt: eine Nachbildung der Venus von
Willendorf in Originalgrösse. Ich erstarrte. Ich hatte die Bilder meiner
Phantasiereise niemandem mitgeteilt, doch hier, am Tag meiner Hochzeit war
Sie mir wieder erschienen, gleichsam als ein Hauptthema oder als die
Überschrift zur Geschichte meines künftigen Lebens mit Georg. Man kann es
mit Gustav Jung 'Synchronyzität' nennen oder dem Ereignis einen anderen
wissenschaftlichen Namen geben, Eines aber ist mir klar: Irgend Etwas oder
Irgend Jemand führt hier ganz entschieden Regie.
Das Fest nahm seinen Lauf. Rundtänze nach Bretonischen Volksweisen wurden
getanzt, dabei gab es großes Gelächter und lärmendes Gepolter, da die
Tanzschritte ungewohnt waren und viele Tänzer stolpernd aus dem Tritt
gerieten. Der Alkohol tat das Seinige dazu. Ich suchte Georgs Blick, unsere
Augen trafen sich in schweigendem Einverständnis. Im allgemeinen Tumult fiel
es niemandem auf, als wir leise verschwanden. Hand in Hand gingen wir, ohne
zu sprechen, durch die sternklare Nacht zur Lichtung zurück. Es bedurfte
keiner Worte zwischen uns. Das Feuer war bereits zu flackernder Glut
niedergebrannt, doch gleich darauf hatten wir es wieder mit neuem Reisig
entfacht. Während Georg im Wald nach weiterem Holz suchte, um das Feuer zu
nähren, schob ich in einer Kuhle dürres Laub zusammen, das vom letzten
Herbst liegengeblieben war. Es bildete bald ein weiches Lager.
Die Nacht war weit fortgeschritten. Der Grosse Wagen war bereits vom Zenit
verschwunden, gerade der letzte Stern der Deichsel war noch über der
Lichtung zu sehen. Es war ganz still, als hielte der Wald den Atem an, als
Georg mir mit einer sanften aber bestimmten Bewegung das Kleid abstreifte.
Er war bereits nackt, das fiel mir jetzt erst auf. Unsere Blicke ruhten
ineinander, langsam umfassten wir im tanzenden Flammenschein die Gestalt
des Anderen, nahmen in einem einzigen Augenblick jede Rundung, jede Pore
seiner Haut wahr und drangen gleich darauf in sein innerstes Wesen vor,
einander erkennend, durchdringend, liebend.
Nun kniete Georg vor mir nieder und ehrte mich mit dem Fünffachen Kuss. Als
er die Schamgegend erreichte, durchfuhr mich ein wollüstiger Schauer, wie ich
ihn noch nie in meinem Leben verspürt hatte. Bei den Lippen angelangt, küsste
er mich mit einer Mischung aus Verehrung und Verlangen. Noch nie hat mich
ein Mann so geküsst. Er legte mich auf das Laubbett. Dabei verdeckte seine
Silhouette den Himmel, und ich sah etwas: unwirklich und schemenhaft krönte
ein mächtiges Geweih seinen Kopf. Er schien ins Riesenhafte zu wachsen. Dann
begann er die Worte des Grossen Ritus zu intonieren, wobei der Widerhall
seiner Stimme durch alle Welten klang.
Wie ein Hauch aus einer anderen, viel älteren Zeit wehte es mich an und ich
glaubte, diesen Text mitsprechen zu können, obwohl er mir unbekannt war.
Etwas sehr Gewaltiges, Übermächtiges senkte sich auf mich herab, durchdrang
mein Selbst.
62
Ich dehnte mich bis zu den Sternen, ja, war das Universum selbst und doch
gleichzeitig auch sein Mittelpunkt. Aus den Augenwinkeln nahm ich irisierende
Lichter wahr, mehr den inneren Sinnen als den Augen erkennbar. Es huschte
und raschelte im Gebüsch, leuchtende Augen schienen auf uns gerichtet. Die
Kleinen Wesen sahen uns erwartungsvoll zu.
Seit ihnen keine Realität mehr zugestanden wurde, führen sie eine Existenz in
einem Zwischenreich, das immer weiter und weiter von unserer Welt
wegdriftet, und doch sind sie unsere älteren Geschwister. Seit undenklicher
Zeit sind ihre Alten Götter verbannt, in den Untergrund gedrängt, verleumdet
und missachtet. Nun waren sie wieder gekommen, die Göttin und ihr Gefährte,
der Gehörnte und zelebrierten im Angesicht ihres Hofstaates den uralten Ritus
der Erneuerung des Lebens. Und unter mir, in ihrem dunklen Reich, öffnete
die Mutter der Tiefe die Augen, bereit, sich zu erheben, wieder ans Licht zu
treten, um die Insignien ihrer Macht wieder an sich zu nehmen.....
Der Augenblick der Vereinigung führte mich hinaus aus Zeit und Raum, es war
das große Schweigen vor Beginn der Schöpfung, das Nicht Unterschiedene, die
Einheit,.......dann der dimensionslose Punkt im All, die Monade........plötzlich
Urknall, explodierende Universen, sich entrollende Galaxien, feurige Sonnen,
die ihre Eruptionen weit ins leere All hinausschleuderten.......dann, endlich,
verlangsamte sich alles wieder, kam zum Stillstand, wurde wieder weiches
Laub unter meinem nackten Körper, schwarze Baumsilhouetten über mir, ein
warmer, nun entspannter Männerleib, der schwer auf mir lastete. Ich fühlte
den Herzschlag der Erde im gleichen, archaischen Rhythmus pochen wie mein
Blut. Und dieses Pochen bildete den Takt zum Gesang der Sterne, die über uns
kreisten. Rauschen meines Blutes in meinen Ohren, oder ist es Ihr Blut? Leises
Raunen, fast nicht mehr vernehmbar....."das Mysterium von Lanze und
Gral.......erneuertes Leben.......Knospe, Blüte, Frucht und Same...der Kreis....
schließt sich...."
Dann lagen wir nebeneinander, Hand in Hand und sahen langsam den Himmel
über der Lichtung hell werden. Das Feuer war nur mehr weiß zerfallende
Asche, die hier und da noch leise knisterte. Trotz der Kälte des frühen
Morgens, die langsam in Bewusstsein und Körper drang, war in mir Wärme.
Es war die Wärme erfüllter Liebe, die sich ihrer selbst gewiss, in allen Zellen
meines Körpers ausbreitete wie ein anheimelndes Feuer in einem freundlichen
Haus. Und mir war, als hätten alle Wege meines Lebens nur den einen Sinn
und Zweck gehabt, nämlich, mich zu dieser wärmenden Flamme zu führen, die
mein Leben von diesem Tag an erhellen und uns beiden den weiteren Weg
erleuchten würde.
20. Mai 89
Unser gemeinsames Leben steht unter einem guten Stern. Glück und Freude
erfüllen mich, wenn ich, morgens erwachend, meinen Mann neben mir ruhig
atmen höre. Dann kann ich manchmal gar nicht glauben, was mir an Gutem
widerfahren ist. Sollte ich mein Gefühl in ein Bild fassen, dann wäre es das
einer weichen Daunendecke, in die ich mich sanft zurückfallen lassen kann.
63
Und doch ist eine unbestimmbare Unruhe in mir, die ich nur in den kostbaren
Augenblicken der Liebe kurzzeitig vergessen kann.
"Was ist mit dir?" fragt Georg immer wieder und sieht mich oftmals
nachdenklich an. "Bist du nicht glücklich?"
Da ich meinen Zustand nicht in Worte fassen kann - es ist mir immer so, als
bekäme ich es gleich zu fassen, und dann ist es doch wieder weg, wie ein
Schatten , auf den man doch nie treten kann, so sehr man auch glaubt, ihn
jetzt gleich zu erreichen,- sagte ich kürzlich etwas wie: "Ich möchte so gerne
die Sterne über mir sehen, wenn ich im Bett liege." Als ich an diesem Tage von
der Arbeit nach Hause kam, klebten diese kleinen Sterne, die im Dunkeln durch
einen chemischen Vorgang leuchten, an der Decke über unserem Hochbett.
Diese und andere, kleine Gesten der Zuneigung machen mich irgendwie
schuldbewusst. Bin ich vielleicht undankbar, nicht zufrieden zu stellen?
Letzten Samstag, unser Aufräumetag, wollte ich unbedingt die Wohnung
entrümpeln. Das war nun wirklich notwendig geworden. Jetzt, da zwei
Menschen ihre Besitztümer auf so engem Raum unterbringen mussten, führte,
wie ich meinte, kein Weg mehr daran vorbei, zum Leidwesen meines Mannes,
der sich in seiner Bequemlichkeit sehr gestört fühlte.
Also begann ich mit meinen Aktivitäten in der Küche, um ihm noch eine kleine
Gnadenfrist im einzigen Zimmer unserer Wohnung zu gewähren, wohin er sich
dann auch brummelnd zurückzog. Halbleere Putzmittelflaschen, Plastikgebinde,
Fertigsaucen, Fertigwürzmischungen, angebrochene Packungen mit Knabbergebäck, Plastikflaschen,.... dann die Kosmetikabteilung: antike Badezusätze
(wann hatte ich die denn gekauft?), Cremereste in phantasievollen, Schönheit
und ewige Jugend versprechenden Verpackungen, halbleere Puderdosen, alte
Lippenstifte, deren Farben mir einmal unverzichtbar zu irgendeiner Garderobe
erschienen waren... all dies tauchte aus den tiefsten Grüften des Vergessens
auf und bildete bald einen Berg von beachtlicher Größe in unserer winzigen
Küche. Jetzt war es auch vorbei mit dem Rückzugsgebiet meines Mannes, das
Zimmer wurde in Angriff genommen..
Alte, zum Teil nicht einmal angelesene Zeitschriften (die Bücher waren Tabu),
Prospekte, in welchen Dinge wie TV-Geräte, HI-FI Ausstattungen ect.
angeboten wurden, ehemals unbedingt benötigte Pullis, unmodern gewordene
Schuhe, und was sich eben in jedem modernen Haushalt im Laufe der Zeit
ansammelt und dann an diverse karitative Organisationen weitergereicht wird.
Das ergibt doppelten Wohlfühl - Effekt: zum einen den unübersehbaren
Platzgewinn ( der alsbald wieder mit neuen, unverzichtbaren Dingen
ausgeglichen wird), zum anderen: das Hochgefühl der eigenen Wohltätigkeit,
das sich einstellt, wenn man Dinge, die man selbst nie wirklich gebraucht hat,
nun denen weitergibt, die sie ebenfalls nicht brauchen, sie aber im
demütigenden Zustand der
Bedürftigkeit nicht ablehnen können. Ich saß also inmitten dieser Dinge, die,
glaubt man den überzeugenden Beteuerungen der Werbung, unser
Menschentum erst ausmachen und stellte mir einige, drängende Fragen: Was
von alldem hatte je zu meinem Glück
beigetragen, und was davon hatte ich jemals wirklich, ich meine, w i r k l i c h
gebraucht? Daraus machte ich nun einen gesonderten Berg.
64
Er wurde sehr klein, ein Hügelchen im Vergleich zu jenem aus Wohlstandsmüll.
"Was machst du?" fragte Georg mit erstauntem Blick. "Setz dich hin, denn das
wird, glaube ich, ein längere Vortrag werden," forderte ich ihn auf. Georg sah
sich im Zimmer um und erwiderte dann, mit einer resignierenden Geste: "Ja,
gerne, wenn du mir sagst, wohin." Er setzte sich, in Ermangelung einer
anderen Sitzgelegenheit, neben mich, an den Fuß des Müllgebirges. "Also, du
siehst hier die wirklich lebensnotwendigen Dinge." Dabei holte ich einige,
wenige Bestandteile des kleinen Hügelchens noch davon heraus und bildete
aus ihnen ein noch kleineres, sozusagen ein Subhügelchen." Daneben, etwas
größer, siehst du die Sachen, die mir das Leben ein wenig angenehmer
gemacht haben, wir wollen also nicht so streng sein und sie nicht ganz
verurteilen. Alles Andere aber - und sieh her, wie groß der Berg daraus ist,alles Andere ist Ramsch. Ich habe es in Wirklichkeit nie gebraucht. Und wieviel
Geld, dass heißt, Arbeitskraft steckt hier drinnen; ich darf gar nicht daran
denken, sonst werd‘ ich richtig wütend! " Georg blickte versonnen auf die
Hügel: "Na ja, hast schon recht, ich beginne zu verstehen, was du mir sagen
willst, aber..." " Warte, lass mich weiterreden, ich bin noch nicht fertig, das
Wichtigste kommt noch. " Was wir aber wirklich, ich meine essentiell brauchen,
was ist das, deiner Meinung nach?" Er überlegte kurz, dann sagte er, immer
wieder nachdenkend:
"Ich würde sagen: Essen,..... Lebensmittel, das heißt, nicht irgend einen
denaturierten Nahrungsmampf, sondern vitale, gesunde Nahrung.....
Kleidung,......... dann Wohnraum, der sollte gemütlich sein und Privatsphäre
garantieren, dann ......emotionale Geborgenheit ...... befriedigende
Sozialkontakte....ja, das fällt mit jetzt so aus dem Stehgreif ein. Weißt du noch
etwas?" "Ja, noch ziemlich viel: Ich wünsche mir Arbeit, die ich als sinnvoll
erlebe, am besten irgendwie eingebunden in mein Leben, nicht so davon abgesetzt: acht Stunden Arbeit, dann Freizeit, alles in ordentliche Päckchen
gepackt. Am meisten aber wünsche ich mir,.......- das ist mir jetzt gerade
eingefallen,- ich möchte nicht in einer Schachtel über und neben anderen
Schachteln leben, die Füße auf hartem Asphalt, den Kopf in Smog und Ozon,
inmitten grauer Häuser und ebensolcher Menschen.
Ich möchte unter meinen Füssen die Erde fühlen, über mir den Himmel sehen,
möchte Wald, Bäume, Blumen,......selbstgebautes Gemüse essen, freier
atmen, nicht so kontrolliert und reglementiert leben,......ach, Georg, ich sehne
mich so nach meiner Apfelbaumwiese!
Ich will so Vieles, aber nicht mehr diesen Ramsch, diesen Instant Lebensersatz! Jetzt war es heraußen. Lange hatte es gedauert, bis es mir mit
dieser Deutlichkeit bewusst geworden war! Georg sah mich verblüfft an:
"Liebste, ich fürchte, das übersteigt unsere finanziellen Möglichkeiten. Du
weißt, ich bin kein reicher Mann, ich kann dir kein Haus im Grünen kaufen." "
Das erwarte ich doch nicht von dir, du lieber Dummkopf, und das träfe es auch
nicht. Aber Georg, ich bin so froh, dass ich jetzt endlich weiß, was ich will!" Als
wir anschließend gemeinsam den Müll hinunter zum Container trugen, fragte
uns eine Nachbarin, die gerade die Treppe herauf kam: "Ziag ma aus, Frau
Waldstein? Ja, ja, is ja doch a bisserl eng die Wohnung, für zwa Leut!"
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( Übersetzung für Nichtwiener: Übersiedeln Sie, Frau Waldstein? Ja, ja, die
Wohnung ist für zwei Menschen doch ein wenig zu beengt!) "Ja, Frau Simacek,
es ist alles viel zu eng," gab ich zur Antwort, wohl wissend, dass sie etwas
völlig Anderes meinte als ich.
"Du weißt also jetzt, was du willst?" fragte Georg. Es stellte sich im folgenden
Gespräch heraus, dass er mit meinen Vorstellungen von erfülltem Leben
konform geht, sich aber noch nie so konkret wie ich seine Unzufriedenheit
eingestanden hat. Er neigt eher dazu, sich im gegebenen Rahmen so gut wie
möglich einzurichten. "Du hast doch mein Buch gelesen, ja?" Aha, jetzt kam
spät, aber doch, die Buchbesprechung. "Was hältst du davon?" " Ich finde es
wirklich gut," entgegnete ich, " ich kann gar nicht verstehen, warum es
niemand verlegt hat." " Darüber will ich jetzt nicht sprechen, aber was hältst
du von der Idee, mit Hilfe von Magie seine Wünsche zu erfüllen. Nun, Magie
betreiben wir ja ständig, nur eben nicht bewusst. Was ich meine ist, gezielt
magisch zu arbeiten, mit magischen Ritualen." " Meinst du so etwas, was wir
in der Gruppe machen?" fragte ich. " Ja, es ist immer das gleiche Prinzip.
Rituale sind Botschaften an das Unbewusste. Dieser Teil von uns ist der Ratio
nicht zugänglich, versteht seine Sprache auch nicht. Mit Bildern, Symbolen und
ganz bestimmten Formeln aber können wir es erreichen und es veranlassen,
mit den anderen Teilen der Persönlichkeit zusammenzuarbeiten, verstehst du
?" Ich verstand. " Wenn jemand wie du zum Beispiel, träumt, dann sendet sein
Unbewusstes Botschaften herüber an sein Tagesbewusstsein. Dabei spricht es
eben in seiner ganz eigenen Sprache, eben diesen komprimierten Bildern. Und
ganz genau diese Art von Bildern müssen wir verwenden, wenn wir zu ihm
sprechen wollen. Im Grunde ist das, wie eine Fremdsprache zu benutzen." Ich
musste schmunzeln: "Der Magier Merlin unterrichtet seine Schülerin Morgan in
der hohen Kunst der Magie. Pass nur auf, dass sie dich nicht am Schluss in ein
Weißdorngebüsch einschließt, wie es die Sage erzählt!" „Ja, ich werde mich
vor dir hüten, ihr Weiber seid zu allen Zeiten schon gefährlich gewesen !" Diese
erste Lektion endete ein Stockwerk höher, unter unserem künstlichen
Himmelsgewölbe, nachdem eine von Gelächter begleitete Rangelei in etwas
zärtlicheren Körperkontakt übergegangen war.
21. Mai 89
Das Ritual sollte zu Vollmond in unserer Wohnung stattfinden, diese Dinge
haben zu Vollmond zu geschehen, das weiß ich bereits. Wir badeten, dann
kleideten wir uns in ganz besondere Gewänder: Georg besitzt eine Art lange
Robe, in schwarz, mit Kapuze. Ich schlüpfte in mein angesengtes
Hochzeitskleid. Zuerst kam mir alles wie seltsam altertümlicher Hokuspokus
vor. Warum musste diese Verkleidung sein, wozu diente sie? Auf meine
diesbezügliche Frage erklärte mir Georg, dies sei schon Teil der benötigten
Fremdsprache für das Unbewusste: "Wenn du ins Theater gehst, ziehst du dich
besonders an. Das bewirkt schon eine festlichere Stimmung, etwas abgehoben
vom normalen Alltag. Unsere Ritualkleidung sagt unseren tieferen Schichten:
„Achtung, jetzt kommt eine Botschaft!"
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Wir zogen den heiligen Kreis, riefen die Wächter der vier Elemente an und
errichteten den Energiekegel, indem wir uns inmitten eines Domes aus Licht
stehend, imaginierten. Im Coven machen wir dabei einen schnellen Rundtanz.
Er soll die Energien aktivieren. Das war übrigens der Sinn des etwas
verunglückten Gestolpers bei meinem ersten Vollmondfest gewesen, doch das
hatte ich damals nicht wissen können. " So," gab Georg mir leise Anweisung, "
jetzt versetzt du dich im Geist auf deine Wiese, aber so, als wärest du
mittendrin in der Szene, also mit allen sinnlichen Eindrücken." Ich erinnerte
mich an den Traum, in welchem ich in das Bild des Hügels auf diese Art und
Weise eingestiegen war.
Ja, so musste es gehen! "Sag mir nun, was du siehst," forderte mich mein
Lehrer auf. "Erzähl genau : was hörst, fühlst, riechst, schmeckst du. Beschreib
die Jahreszeit, die Vegetation. Gibt es Menschen da? Nein? Siehst du irgend
etwas Auffälliges? So, bleib in der Szene, halte sie genauso fest, ich komme
jetzt zu dir....." Da war er, in seiner schwarzen Robe stand er neben mir und
fasste meine Hände. "Wünscht du dir ein Haus auf dieser Wiese?" fragte er
mich. Oh ja, das wünschte ich mir, ganz bestimmt. "Gut, errichte es!" "Hä? wie
denn?" "Na, setze es in deinem Geist, wohin du es haben willst. Erzähl mir
genau, wie es aussieht, dass ich es auch sehen kann!" Und schon gingen wir,
Hand in Hand, auf unser neues, kleines Häuschen zu. Es war wirklich
bezaubernd! Und es passte genau hierher, als wäre es immer schon da
gewesen. Drinnen zog ein großer, gemauerter Herd meine Blicke auf sich.
Daneben ein massiver Holztisch, der aussah, als hätte er schon viele
Generationen um sich versammelt, dahinter eine ebensolche Eckbank. Das
Ganze wirkte stinkgemütlich und lud mich ein, gleich dazubleiben. Georgs
Stimme holte mich aus meiner Versunkenheit. "Sprich weiter, was siehst du,
du musst mir jede Einzelheit beschreiben, sonst mache ich ein anderes Haus
als du, dann bist du unzufrieden"
"Oh, da sitzt ja eine kleine Katze!" rief ich entzückt aus, "sie hat ein ganz
schwarzes Fell und grüne Augen, eine richtige Hexenkatze, weißt du? Ich
nehme sie jetzt auf und streichle sie, oh, wie sie schnurrt!" „Verzettle dich
nicht," mahnte Georg mich, " sag mir, was siehst du noch?" Wir gingen in ein
kleines Gemüsegärtchen, wo die verschiedensten Gemüsepflanzen
abwechselnd mit bunten Blumen wuchsen, mein Wunschgarten. Salat, Kräuter,
riesige Sonnenblumen, Malven.....das alles erkannte ich entzückt. "So, für
dieses Mal ist es genug, kehren wir zurück!" unterbrach Georg meine, eben
erst begonnene Exploration des Gartens. Gleich darauf fanden wir uns wieder
in unserem kleinen Zimmer und schlugen die Augen auf. "So, diese
Vorstellung holen wir uns jetzt jeden Tag einmal gemeinsam heran und
versetzen uns, sowie heute, hinein. Wichtig ist aber, dass wir beide in uns ein
ganz intensives Gefühl der Dankbarkeit hervorrufen, so, als wäre unser
Wunsch bereits erfüllt. Damit wird das Ganze noch stärker wirksam. Wenn wir
alles richtig gemacht haben, wird unser Traumhaus bald in die Wirklichkeit eintreten."
Wir lösten den Kreis auf, das Zimmer war damit wieder zum ganz normalen
Wohnraum geworden. "Ich muss schon sagen, zaubern macht ganz schön
müde," gähnte ich und ließ mich auf die Couch fallen. "Natürlich, du arbeitest
ja mit deiner psychischen Energie dabei, deshalb...." mein Lehrer konnte nicht
67
aufhören, zu dozieren. "Aus, Schluss, heute nicht mehr, großer Meister, ich
gehe zu Bett." Damit erkletterte ich hurtig die Leiter und schlüpfte unter die
Decke. Die ganzen magischen Gerätschaften konnten wir ja morgen
wegräumen, nach der Arbeit; und schon fielen mir die Augen zu. Georg kam
gleich nach. Bald hörte ich an seinen regelmäßigen Atemzügen, dass er eingeschlafen war. Ich nicht, ich war munter, trotz meiner großen Müdigkeit.
22. Mai 89
Dies ist keine Fantasiegeschichte, das muss ich mir immer wieder in
Erinnerung rufen, sonst neige ich dazu, es für eine solche zu halten. Dies ist
mir selbst geschehen, in meiner eigenen Wohnung, in meiner normalen
Alltagswelt, in meinem unauffälligen Alltagsleben. Folgendes passierte also im
Anschluss an unser magisches Experiment:
Etwas raschelte. Ach was, ich musste mich täuschen, wir waren doch ganz
alleine, was konnte da denn schon rascheln? Ich drehte mich um und
versuchte, das Geräusch zu ignorieren. Es war ja auch schon verstummt, also
doch Täuschung, jetzt wollte ich aber endlich einschlafen, verflixt, noch mal!
Verstört setzte ich mich im Bett auf: da, etwas war über den Fußboden
gehuscht, ich hatte es ganz deutlich gehört. Nun war, durch meine plötzliche
Bewegung, auch Georg wieder erwacht. " Was iss'n los, warum schläfst du
denn noch nicht, du unruhiger Geist!" murrte er verschlafen. " Geist ist gut, ich
glaube, wir
haben einen in der Wohnung! " gab ich, mit wachsender Panik in der Stimme,
zur Antwort. "Vielleicht haben wir Mäuse. Ich werde morgen Mäusefallen
kaufen, aber jetzt schlaf endlich!" damit drehte er sich um und schlief sofort
wieder ein. Die Mäusetheorie hatte auch mich beruhigt und ich folgte ihm
gleich darauf nach. Fast sofort fand ich mich wieder in unserem neu errichteten
Häuschen auf der nun schon allseits vertrauten Wiese. Ich betrat es, im
sicheren Bewusstseins seines Besitzes, ein schönes Gefühl! Alles war, wie ich
es vorher verlassen hatte. Ich setzte mich an den großen, gemütlichen Tisch.
Gleich würde die kleine Katze erscheinen und mir maunzend um die Beine
streichen. Sie kam nicht. "Katzen streunen in der Umgebung umher, sie wird in
Katzengeschäften unterwegs sein! " beruhigte ich mich. Das Haus war sichtlich
alt, ich schätzte es so ungefähr auf hundertfünfzig Jahre. Geschwärzte Balken
bildeten die Decke. Hier musste einmal ein offenes Feuer gebrannt haben.
Die Wände waren weiß gekalkt und uneben, ebenso der Fußboden, der schon
viele Astlöcher und Fugen aufwies. Wie lange mochte es wohl schon so leer
stehen? Versonnen folgte ich mit den Blicken dem Muster der Bodenfugen. Das
wurde plötzlich durch eine Querfuge geschnitten, die mir vorher nicht
aufgefallen war. Eine Türe war hier eingelassen. Sie führte wahrscheinlich in
einen Erdkeller; Kartoffeln, Gemüse und Obst wurde in solchen Kellern
gelagert, das wusste ich. Würde es mir wohl gelingen, die Tür zu öffnen? Einige
Ziegelstufen führten in einen ziemlich kleinen Kellerraum, der bis auf ein paar
Kisten leer war, enttäuschend. Was hatte ich nur erwartet?
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Im Dämmerlicht konnte ich erkennen, dass der Raum, sich immer mehr
verengend und niedriger werdend, nach hinten weiter fortsetzte. Als ich mich
weiter tastete, stieg mein Fuß ins Leere. Im Fallen konnte ich noch die
feuchten, glitschigen Wände eines senkrecht nach unten führenden
Brunnenschachtes erkennen, in den ich offenbar jetzt fiel... und fiel....und
....erwachte. Die Katze saß ruhig am Fußende des Bettes und sah mich aus
unergründlichen Augen an. Ihre Ohren drehten sich zu mir, und ihre
Schnurrhaare zitterten leicht. Mieze, da bist du ja, komm, na komm schön her,
ja, so ist's gut......lass dich streicheln.....Ich griff nach ihr... und durch sie
hindurch. Da war nichts. Wir besaßen keine Katze! Wir hatten nie eine Katze
gehabt! In höchster Panik schrie ich: "Georg, Georg, da ist....eine Katze!" Doch
Georg war bereits zur Arbeit gegangen, und ich war alleine in der Wohnung.
Ich war völlig durcheinander. In Windeseile machte ich mich fertig und verließ
die Wohnung, zitternd lief ich zur Bushaltestelle. Erst beim Warten auf den
Bus- und das dauerte ziemlich lange, denn die Intervalle waren sehr lang, auch
zu dieser frühen Stunde,- beruhigte ich mich einigermaßen. Ich stieg ein und,
als hätte mir das noch gefehlt, war auch meine anhängliche Schwester gleich
darauf zur Stelle: "Ah, sieh an, unsere mächtige Frau Magierin hat Angst
gekriegt! Ja, ja, mit solchen Sachen spielt man nicht, du ReserveZauberlehrling, das hat schon der alte Herr Geheimrat gewusst. Na, das wird
dir ja hoffentlich eine Lehre gewesen sein!" Ich war absolut nicht fähig, ihr die
Stirn zu bieten, nicht hier und nicht jetzt. Also entgegnete ich resigniert: " Ja,
ja, ich weiß, du hast ja Recht, aber was soll ich denn tun?" Da zeigte sich, dass
auch sie nicht ganz humorlos war, sie entgegnete trocken: "Kauf Katzenfutter!"
und verließ mich wieder so unvermittelt, wie sie gekommen war. Trotz meiner
Verwirrung musste ich laut auflachen, was meine Mitpassagiere veranlasste,
mich verstohlen zu mustern. Ich selbst hatte es schon einige Male erlebt, dass
Personen inmitten fremder Leute mit imaginären Gesprächspartnern angeregte
Unterhaltungen geführt hatten, ohne sich der verstörenden Wirkung nur im
geringsten bewusst zu sein, die sie damit auf ihre Umgebung ausübten.
Nun war ich auch eine von ihnen, lachte laut in Verkehrsmitteln, und bald
würde ich vielleicht Selbstgespräche führen oder gestikulieren. Weit war es mit
mir gekommen!
Als ich am Nachmittag von der Arbeit heimkam, war Georg bereits da. Er war
gerade dabei, das Essen vorzubereiten, ham and eggs. Ich nahm mir nicht die
Zeit für eine richtige Begrüßung, sondern begann, noch im Flur, aufgeregt auf
ihn einzureden. Mit Backschaufel und Küchenschürze kam er mir entgegen:
"Hallo, was ist denn los, ich versteh' bei dem Geprassel in der Küche doch
nichts. Komm erst einmal herein und erzähl' alles in Ruhe und der Reihe nach!"
" Wir haben eine Katze! Ich kann durch sie durchgreifen!", schrie ich aufgeregt.
Er überlegte einige Augenblicke lang. "Du meinst also, du hast die Katze von
drüben mitgebracht. Das wäre schon möglich, so etwas kann vorkommen,
wenn es auch sehr ungewöhnlich ist. Aber, meine kleine Hexe, du bist eben
eine sehr ungewöhnliche Person!" meinte er, und seine Augen lachten fröhlich
dabei. "Fürchtest du dich etwa, oder hast du eine Katzenallergie?" In dem
Gelächter, das wir nun anstimmten, fiel die ganze Spannung von mir ab, die
mich den ganzen Tag mit eisenharten Klauen gefangen gehalten hatte. Ich
beschloss, die Katze zu behalten.
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Langsam gewöhnten wir uns an ihre unsichtbare Anwesenheit; ich sah sie auch
nie wieder so deutlich wie ich sie heute morgen gesehen hatte. Wenn man es
genau betrachtete, war sie ein angenehmes Haustier. Sie zerkratzte keine
Möbel, brauchte kein Katzenklo und kein Futter. Sie hatte allerdings eine
Eigenheit: sie besaß eine eigenartige Affinität zu der kleinen Venusstatue,
unserem Hochzeitsgeschenk. Ihr Rascheln kam immer aus derjenigen Ecke, in
welcher wir diese, zwischen Blattpflanzen, aufgestellt hatten. Das veranlasste
uns, unsere Blicke sehr häufig dorthin zu wenden. So wurde ich wieder und
wieder an meinen Traum erinnert und konnte das Eine nicht vergessen: sie
wartete.
DIE LEBENSINSEL...
19. Juni 89
SOMMERSONNENWENDE
Das Jahr geht nun langsam auf seinen Höhepunkt zu. Die Tage sind lang und
scheinen sich nur für kurze Zeit zur Ruhe zu begeben, um bald darauf, in
Vogelgezwitscher, wieder zu erwachen. Als wären sie der kurzen Frist gewärtig,
in der es ihnen noch vergönnt ist, zu wachsen, verströmen sie sich in Licht und
Leben. Sogar im dichten Häusermeer der Stadt ist es unmöglich, sich diesem
gesteigerten Lebensgefühl zu entziehen. Der Gott des aufsteigenden Jahres
tanzt den wirbelnden, atemlosen Tanz, der in seinen Tod mündet. Sein dunkler
Zwilling wartet schon in der Gewissheit seiner baldigen Herrschaft; die
wiederum wird mit der Neugeburt des Anderen enden, Weihnachten, dem
Gegenstück der Sommersonnenwende, wenn das Licht wieder zunimmt - ein
ewiger Kreislauf. Aber, noch ist es nicht soweit.
Georg und ich schmieden Urlaubspläne. Ich möchte so gerne einmal nach
England, genauer gesagt nach Glastonbury, dem alten Avalon der
Gralslegende. Dort vermute ich mit großer Gewissheit meine Apfelbaumwiese.
Doch in diesem Jahr ist dieser Wunsch wohl unerfüllbar. Durch Georgs
Restschulden sind wir finanziell einfach zu eingeschränkt, aber nächstes Jahr,
wenn wir fleißig sparen, dann, ja dann wird mein sehnlicher Wunsch sich
sicherlich erfüllen! Diese Urlaubswochen werden wir im Waldviertel, dem
Österreichischen Norden, verbringen. Alfreds Kinder gehen noch zur Schule
und haben daher erst ab Juli Ferien. Er will uns seinen umgebauten VW- Bus
borgen, also sind wir bezüglich Quartier und Verpflegung unabhängig, und das
bedeutet zwei Wochen Freiheit! Wir freuen uns auf stille Wälder, versteckte
Teiche, Pilze und auf das Schlafen unter dem klaren Sternenhimmel. Wir haben
mit Myriam ausgemacht, dass sie sich währenddessen um unsere vielen
Grünpflanzen kümmert.. Sie wiederum freut sich auf zwei ruhige Wochen, die
sie in unserer Wohnung, fernab ihrer turbulenten Wohngemeinschaft, die bei
Tag und Nacht summt wie ein Bienenstock, verbringen kann. Sie muss sich auf
eine schwierige Prüfung vorbereiten, die sie noch vor Beginn der Ferien
ablegen will.
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Als sie knapp vor unserer Abreise kam, um meine Instruktionen bezüglich der
Zimmerpflanzen zu erhalten, musste ich sie unbedingt über unser eigenartiges
Haustier aufklären, ich wusste nur nicht genau, wie ich es ihr erklären sollte.
"Myriam, ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen.....es ist ....na, sagen wir
einmal, etwas ungewöhnlich...." begann ich zögernd. " Gibt es eigentlich bei dir
etwas, was nicht ungewöhnlich ist, Mama? Ich glaube, ich bin bei dir auf fast
alles gefasst. Also, sag schon, hast du vor, auf dem Besen ins Waldviertel zu
reiten, oder hast du irgendwelche ungewöhnlichen Hausgenossen, die mich
aufs Blut erschrecken werden?" Das war scherzhaft gemeint gewesen, doch sie
konnte nicht wissen, wie sehr sie damit ins Schwarze getroffen hatte. " Wieso
weißt du ?" konnte ich nur verblüfft fragen. Nun er
zählte ich ihr von der Katze und wie sie zu uns gekommen war. Meine Tochter
nahm diese Mitteilung seltsam gefasst auf, sie war wohl, bezüglich ihrer
Mutter, nicht mehr so leicht zu erschüttern. Ich bemerkte nur, wie sie mich
manchmal prüfend ansah, wenn sie glaubte, dass ich es nicht bemerkte.
Fürchtete sie wohl, ich hätte den Verstand verloren?
23. 6. 89
Es war die Nacht der Sonnenwende, und wir hatten unser Nachtlager auf einem
Hügel, unter einem alten, knorrigen Bergahorn aufgeschlagen. Wir lagen auf
weichem Moos, warm in unsere Schlafsäcke verpackt, während die Sterne in
feierlicher Prozession ihrem nächtlichen Weg folgten.
Trotz des kleinen Feuerchens - ein großes hatten wir uns nicht zu entzünden
getraut - war es ziemlich kühl und auch etwas feucht, denn dieser Teil unserer
Heimat folgt seinen eigenen klimatischen Gesetzen. Wie ein Relikt aus
versunkenen Äonen liegt es im Norden der Donau, ein Hochland, dessen
bewaldete Hügel den Rumpf eines riesigen, urtümlichen Tieres zu bilden
scheinen. Kommt man aus dem östlichen Tiefland, führt der Weg zuerst durch
den schon fast südlich anmutenden, fruchtbaren Teil des Donautales, die
Wachau. Hier wächst, auf eiszeitlichen Lössterassen, ein zartblumiger, süffiger
Wein, und während der Marillenblüte findet man als spontan anreisender
Tourist fast kein freies Zimmer. Aus dieser mild - lieblichen Landschaft, der
einstigen Nordgrenze des Römischen Reiches, führt die gut ausgebaute
Strasse, durch Weinterassen stetig ansteigend, empor in ein rauhes, karges,
auch viel ärmeres Land. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Wie ein
strenger Wächter reckt sich bald darauf ein Gneisfelsen neben der Strasse
empor. An diesem Tor enden schlagartig die bis hierher schon schütterer
gewordenen Weinpflanzungen, das Hochland beginnt. Man bekommt das
Gefühl einer fast körperlich spürbaren Verlangsamung, alles wird leiser,
gedämpfter, bescheidener, auch die Menschen, die hier leben. Der häufig
auftretende Nebel verwischt die scharfen Konturen, rundet, verhüllt.
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Hier wird nicht scharf unterschieden, geurteilt, analysiert, nein, auch die
Menschen wirken manchmal so seltsam unbestimmt wie die verlaufenden
Grenzen von Erde und Himmel. Dieses Land wirkt eigenartig anziehend auf
viele Menschen aus der Grosstadt, hier gibt es die meisten sogenannten
Aussteiger, die sich aus Künstlern, randständigen Intellektuellen, Träumern
und Neobauern zusammensetzen. Auch wir waren vom ersten Kontakt an
dieser Landschaft verfallen, immer häufiger waren in letzter Zeit unsere hier
verbrachten Wochenenden und freien Tage gewesen.
Als mein Geist im Zwischenreich von Wachen und Schlafen schwebte, sich
weder hier noch da endgültig niedergelassen hatte, meinte ich, rhythmisches
Pochen zu vernehmen. Eigentlich konnte ich es eher spüren als hören, es glich
dem der Beltane - Nacht, damals, als wir zusammen dem Herzschlag der Erde
gelauscht hatten. Und es wurde lauter, es begleitete mich in den Schlaf, wie
stetiger, gleichmäßiger Trommelschlag,..... dessen Rhythmus ich nun folgend,
den Weg zwischen den Apfelbäumen auf unser Häuschen zuging. Nichts hatte
sich verändert seit meinem letzten Hiersein, es schien auf mich zu warten wie
ein alter Bekannter, der sich auf einen längst fälligen Besuch freut.
Die Türe stand offen. Ich hatte sie geschlossen bei meinem letzten Ausflug
hierher, das wusste ich genau. Georg, war er alleine hiergewesen? Das kleine
Mädchen stand, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich in der Türe. Es sah
mir, keineswegs ängstlich oder erstaunt, entgegen, als schien es mich zu
erwarten. Sein Aussehen in Kleidung und Frisur wirkte etwas altertümlich. Es
hatte dunkle, schwere Zöpfe, trug ein dünnes Kleidchen mit einer Schürze
darüber und ging barfuss. Kein Kind trägt heute noch eine Schürze " Wer bist
du?" fragte ich verwundert. Statt einer Antwort lachte es belustigt, als wäre
meine Frage ein Scherz gewesen." Bist du ganz alleine hier? Wo ist deine
Mutter?" " Sie wird bald kommen." antwortete sie "Sie ist noch unterwegs,
weißt du. Ich suche meine Katze. Hast du sie nicht gesehen? Sie läuft immer in
den Keller, dann sitzt sie ganz hinten, wo es schon so eng und niedrig ist. Ich
weiß nicht, was sie dort will, aber sie scharrt immer dort. Heute ist sie aber
nicht da, hast du sie nicht gesehen? Ich hab sie nämlich sehr lieb, ich will nicht,
dass sie weg ist." " Oh!" rief ich betroffen aus, " das ist deine Katze! Ich weiß,
wo sie ist, sei nicht traurig, ich werde sie dir zurückbringen, ich verspreche es
dir! Du musst aber noch ein paar Tage warten." "Na gut," sagte das kleine
Mädchen vernünftig und ohne auch nur einmal zu fragen, warum es denn
warten müsse. Es kam näher, sah mich mit seinen dunkelbraunen, großen
Augen vertrauensvoll an, sagte " bis bald!" ging zurück in das Haus und schloss
die Tür hinter sich. Beim Erwachen dachte ich: "Wenn selbst das Haus unserer
Träume schon bewohnt ist, wohin sollen wir uns dann wenden?"
Den Sonnenaufgang hatten wir verschlafen. Die Sonne stand bereits ein
gehöriges Stück über dem gegenüberliegenden Bergrücken, als wir erwachten,
und es begann auch schon, angenehm warm zu werden. Am Abend zuvor
hatten wir uns nicht genau umgesehen, zu sehr waren wir damit beschäftigt
gewesen, einen gemütlichen Schlafplatz zu finden, da ich darauf bestanden
hatte, diese Nacht im Freien zu verbringen. Einen weiten Ausblick bot dieser
Platz, das bemerkte ich jetzt.
72
Der Abhang, auf dem ich stand, neigte sich sanft nach Süden; der lichte
Mischwald reichte bis zu einer schmalen Strasse, die den Berghang querlaufend
schnitt. Sie führte auf ein kleines Dörfchen zu, eher ein Weiler, mit nur ganz
wenigen Häusern. Hier und da stiegen dünne Rauchfahnen auf, vereinzelt war
das Muhen von Kühen zu hören, wahrscheinlich wurden sie gerade gefüttert
und gemolken. Unterhalb der Strasse wechselten einander Wiesen und
Waldstücke ab, bis der sanfte Hang jählings in eine Schlucht überzugehen
schien. Von da unten hörte ich, leise und stetig, Wasser rauschen. Später
dann, nach unserem Frühstück, könnten wir hinunter wandern, vielleicht ein
wenig im kalten Wasser baden. Wir rollten unsere Schlafsäcke ein und stiegen
zu unserem Bus ab, der ein Stück abseits der Strasse, auf einem Waldweg
geparkt war. Dann : Frühstück, auf dem Kocher zubereitet, auf dem
Waldboden sitzend gegessen, Waldesstille, Vogelgezwitscher, Frieden
........jemand trommelte gleichmäßig, bum - bum, .....bum - bum, ..... bum bum, ...., wie Herzschlag .......Aber nein, das kann nicht sein, wer sollte denn
hier im Wald trommeln!
Ich hörte (spürte?) wieder diesen dumpfen, gleichmäßigen Schlag, er war die
ganze Zeit dagewesen, unterschwellig, jetzt wieder bewusst wahrgenommen.
Georg schien nichts zu hören, jedenfalls äußerte er nichts Derartiges. "Georg,
hörst du das nicht?" fragte ich ihn verwundert. "Was meinst du? Die Geräusche
des Waldes, oder die Kühe?" gab er meine Frage zurück. "Nein, es klingt wie
Trommeln, hör doch! " Ich wollte unbedingt feststellen, woher es kam, auch
wenn ich meinen protestierenden Mann dazu von seinem Frühstück wegzerren
musste, ohne ihn konnte ich nicht gehen, das spürte ich. Mittlerweile verließ
ich mich auf derartige Ahnungen und Gefühle und maß ihnen die gleiche
Wichtigkeit zu, wie rationalen Überlegungen. Georg förderte das im Normalfall
auch, nur, sein Frühstück war ihm heilig, deshalb weigerte er sich jetzt
entschieden. Einzig die Dringlichkeit, die er aus meiner Forderung,
mitzukommen, spürte, veranlasste ihn endlich, Kaffee und Gebäck schweren
Herzens liegen zu lassen und mir zu folgen.
Das Geräusch kam aus der Richtung des Abhanges, der sich, sanft geneigt,
unterhalb der Strasse fortsetzte. Hier begleitete eine halb verfallene
Trockenmauer das Straßenbankett, dahinter wuchs eine alte, dichte Hecke aus
blühendem Weißdorn, Haselbüschen, Schlehen und einigen Ebereschen. Das
Trommeln kam eindeutig von einem dahinter liegenden Grundstück, das durch
die dichte Hecke nicht genau zu erkennen war." Wir müssen hier durch die
Hecke," erklärte ich Georg. Wieder Protest. Er nützte ihm nichts, das erkannte
er sofort, also folgte er mir brummelnd, als ich mich durch das dornige,
kratzende Dickicht zwängte. Dann breitete sich vor uns eine weite, von alten
Apfelbäumen bestandene, blühende Wiese aus.........
.......Die Blätter der Apfelbäume rascheln leise im Wind, der meinen schlanken,
jugendlichen Körper umspielt und in ein langes, fließendes Gewand aus einem
seidigen Stoff gehüllt zu sein scheint. Mir ist, als hörte ich ganz leise, zarte
Harfentöne, die von diesem lauen Wind an mein Ohr getragen werden. Sie
bilden eine seltsame, sich an den Rhythmus des Trommelschlages, der immer
noch zu hören ist, anpassende Melodie. Ich suche Georgs Augen. Jetzt muss er
es doch endlich auch hören! Ich blicke in die Augen des Harfenspielers.
73
Erkennen, Wissen und Erinnerung sprechen aus ihnen, als sie sich in einem,
keines Wortes bedürfenden Blick in meine Augen versenken. Wir wissen es
beide, wir sind am Ziel. Hier liegt unser Avalon, und es wartet auf uns .
Hand in Hand gehen wir zum westlichen Rand der Wiese, wo zwischen einigen
weiteren, von Alter und Witterung schon geneigten Bäumen, ein Häuschen
steht. Es wirkt alt und unbewohnt. Es hat ein ziemlich hohes Dach, kleine
Fenster, deren Fensterstöcke schon morsch sind, die Türe hängt schief in den
Angeln und der kleine Garten, von einem fast nicht mehr vorhandenen
Lattenzaun eingegrenzt, bildet ein wüst verworrenes Dickicht. Aber, und das
erkennen wir beide sofort, es ist unser Häuschen, und es wartet, von uns
erweckt und erlöst zu werden aus seiner lieblosen Unbewohntheit. Das Pochen
ist jetzt ganz laut, eigentlich müsste das ganze Dorf davon erzittern. Und es
kommt aus diesem Haus. Unfassbar, dass seine alten Mauern davon nicht
einreißen und abbröckeln. "Pass auf!" mahnt mich Georg besorgt, als ich mich
durch die halboffene Tür zwänge, "es ist sicher alles morsch, schau genau, wo
du hinsteigst!" Aber ich gehe mit traumwandlerischer Sicherheit durch die
Räume, ich kenne sie genau. Jedes knarrende Fußbodenbrett, jede Unebenheit
ist meinen Füssen vertraut, auch die in den Fußboden eingelassene Kellertüre,
die ich versuche, zu öffnen. Georg hilft mir dabei, nachdem er erkannt hat,
dass auch diesmal sein Widerspruch wirkungslos bleibt. Mittlerweile ist aus
dem Pochen ein infernalisches Dröhnen geworden, unvorstellbar, dass nur ich
es höre. Von unten, weit unter dem Erdkeller scheint es zu kommen, aus den
Tiefen der Erde. Georg zündet ein Streichholz an, als ich mich anschicke, die
Ziegelstufen hinunterzusteigen. Ganz hinten, dort wo sich der Keller verengt
und die Decke ganz niedrig wird, dort muss sie sein, die Quelle dieses
gewaltigen Herzschlages, das weiß ich ganz sicher. Dort muss sich auch der
Brunnenschacht, in den ich in einem meiner letzten Träume gefallen war,
befinden. Also, Vorsicht! Ganz behutsam taste ich mich vor, bis in den letzten
Winkel, aber, hier ist nichts, kein Schacht, keine sichtbare Geräuschquelle,
nichts, absolut nichts. Das Dröhnen hat aufgehört. Die Stille, die darauf folgt,
ist fast hörbar.
Fortsetzung, 30. 6. 89
Verwirrt kehre ich wieder um und steige die Treppe hinauf. "Keine Ahnung, was
das zu bedeuten hat, aber hier ist kein Brunnen, und dabei war ich mir so
sicher." Georg, der meinen Traum ja kennt, beruhigt mich: "Es hat sicher
etwas zu bedeuten, du wirst bestimmt zu gegebener Zeit auf die Erklärung
stoßen. Lass es jetzt einmal auf sich beruhen." Wir gingen zurück ins Freie, um
uns im Gelände ein wenig umzusehen.
Hinter der Wiese, gegen Norden zu, stieg ein für dieses Gebiet hoher Hügel
an. Das Dorf lag an seinem Südabhang. "Wie der Glastonbury - Tor," dachte
ich bei mir, "nur ist der nicht bewaldet und trägt keinen Sender auf seinem
Rücken, sondern einen alten Turm" Die Westseite der Wiese wurde begrenzt
durch einige Gebäude, deren Zentrum ein kleines, schlossartiges Haus bildete.
Es wirkte etwas schäbig und unbewohnt und war direkt durch Ruinenmauern
mit einer Scheune oder einem Stallgebäude verbunden, genau konnte ich das
nicht feststellen.
74
Der Komplex bildete ein weites "U", es war durch einen Zaun vom eigentlichen
Wirtschaftstrakt getrennt Außerhalb des Zaunes lag ein riesenhafter,
grasbewachsener Wirtschaftshof. Er wurde im Norden durch einen
Gebäudetrakt gegen die Strasse zu abgegrenzt, der sich über die ganze Länge
des Hofes zog und ein Stall zu sein schien. Die westliche Begrenzung bildete
eine Scheune von beachtlichem Ausmaß. Der Hof war gegen die Apfelwiese zu
mit einer alten, brüchigen Mauer abgeschlossen. Der ganze, weitläufige
Komplex war allem Anschein nach ein alter Gutshof. Er wirkte sehr unbelebt
und trug alle Anzeichen fortgeschrittenen Verfalls. "Unser" kleines Häuschen
lag außerhalb des Komplexes. Wie ein Fremdkörper stand es auf der Wiese, als
hätte man es, aus irgend einem unbekannten Grund, ausgeschlossen aus der
Hofgemeinschaft. Wir beendeten unseren Rundgang und beschlossen, im
nächsten Dorfgasthaus einzukehren und ein paar Erkundigungen über dieses
Anwesen und seine Besitzer einzuholen . In diesem Dorf konnten wir kein
Gasthaus entdecken, es gab auch keinerlei Läden oder Geschäftslokale hier.
Alles hier machte einen ziemlich verlassenen Eindruck. So fuhren wir in den
nächstliegenden Ort und fanden dort endlich ein leidlich gemütliches
Dorfgasthaus mit Mittagstisch.
Der Wirt, ein ziemlich derber Mann mit rotem Gesicht und riesigen Händen,
brachte uns die einzige Speise, die es gab, Schweinsbraten mit Kraut und
Waldviertler Knödeln.
Das sind aus geriebenen Kartoffeln gemachte Knödeln von ziemlich elastischer
Konsistenz. Diese hier waren wie aus weichem Gummi und schmeckten köstlich
zu dem knusprigen Fleisch und dem würzigen Saft. Wir brauchten uns auch gar
nicht um die Gesprächsanbahnung zu bemühen, denn der Wirt war
offensichtlich an einem kleinen Plausch interessiert. "San's auf Urlaub da, is
schen bei uns, gö?" ( befinden Sie sich hier auf Urlaub? Es ist sehr schön bei
uns, nicht wahr?) richtete er freundlich das Wort an uns. Wir bestätigten seine
lokalpatriotische Äußerung, und Georg fragte endlich nach dem alten Maierhof.
"Ja, da Moarhof," erwiderte der Wirt, sinnend mit dem Kopf nickend," is nix
Gscheids mehr damit, heutzutage. Damals, wia die alte Herrschaft no woa, da
san's achtspännig ausgfoahrn, und Ochsn ham's ghabt, oana schena wia da
andere, ja, ja.....Na, ja, nach'n Kriag woar's vorbei mit da Herrlichkeit. De
Landwiatschoft is technisiert wuar'n, Leut ham's miassn besser zahln, oda se
ham's gar net kriagt. Jetzn is ois verpacht, und die alte Frau Gräfin is in Wean.
I woass a nit, was damit amoi sein wird, kunnt sein, die Erbn vakoafan's n'
Sägewerk." ( Kurzfassung: der alte Maierhof ist sehr heruntergekommen, seit
sich seine Bewirtschaftung nicht mehr lohnt. Die Erben der alten Gräfin werden
es wahrscheinlich verkaufen.) Es stellte sich im weiteren Gespräch noch
heraus, welchem Adelsgeschlecht die alte Gräfin angehörte und wie sie hieß.
Unsere Nachforschungen konnten beginnen.
5.7. 89
Wieder in Wien, erschienen uns die vergangenen Tage wie die Schemen eines
nur noch undeutlich erinnerten Traumes. Die laute, in sommerlicher Hitze
flirrende Stadt, hatte sich uns wieder einverleibt.
75
Wir waren wieder Teil ihres undurchschaubaren Räderwerks geworden, zwei
Ameisen, die sich kurzfristig aus dem gewaltigen Bau entfernt hatten und sich
nun wieder in das Heer der arbeitsamen Brüder und Schwestern eingliedern
mussten. Meine Tochter kehrte wieder in ihre Wohngemeinschaft zurück, nicht
ohne vorher noch einige markige Aussprüche mit ihrer berühmt spitzen Zunge
getan zu haben. Doch es war ihr deutlich anzumerken, dass sie begonnen
hatte, sich mit meiner Realität auseinanderzusetzen. Mit der Katze hatte sie
sich, wie es schien, angefreundet, zumindest aber arrangiert, und das war
doch schon ein erster Schritt aus den engen Grenzen ihres rationalen
Weltbildes heraus. Ja, die Katze. Ich hatte dem kleinen Mädchen versprochen,
sie ihm zurückzubringen, es wartete bestimmt. Würde sie sich dazu überreden
lassen, zurückzugehen? Ich musste es versuchen. Also traf ich alle
Vorbereitungen, die mir den Schritt aus der Alltagsrealität heraus erleichtern
sollten, denn mit einer Traumkatze konnte man nur in einem traumähnlichen
Zustand kommunizieren. Ich zündete eine Kerze an, räucherte, entspannte
mich und lockte sie schließlich durch Konzentration auf sie herbei.
Es raschelte in der bewussten Ecke, und da war sie. Ich konnte ihr warmes,
weiches Fell deutlich spüren. Schnurrend schmiegte sie sich in meine Arme. "
Mieze, ich möchte dich gerne behalten, aber es geht nicht, ein kleines Mädchen
wartet sehnsüchtig auf dich, weißt du. Also komm, lass uns gehen. Dort ist es
für Katzen ohnehin viel schöner." Sie schnurrte, hatte also allem Anschein nach
nichts dagegen einzuwenden. Ich versetzte mich im Geiste auf meine Wiese,
imaginierte das Haus und - oh, das hatte ich nicht einkalkuliert - hartnäckig
erschien immer wieder das Bild des verlassenen Hauses, wie es sich uns in
Wirklichkeit dargeboten hatte! Es gelang mir nicht, das frühere Bild vor
meinem inneren Auge zu erschaffen. Dorthin konnte ich die Katze nicht
bringen, sie wäre dort ja ganz allein gewesen, denn das kleine Mädchen
wohnte ja in dem gemütlichen Haus, meiner Schöpfung. Eine schöne
Bescherung, die Realitäten begannen mir durcheinanderzugeraten, magische
Kalamitäten zeichneten sich ab. Also machte ich mich erfolglos auf den
Rückweg. Erst ein weiterer Versuch, mit Unterstützung durch Georgs
Imaginationskraft, brachte den gewünschten Erfolg. Ich setzte die Katze in der
gemütlichen Küche ab, nicht ohne vorher ein Schälchen Milch für sie zu
erschaffen, strich ihr noch einmal über das knisternde Fell und schloss die
Türe. Das kleine Mädchen war nicht zu sehen. Vielleicht war sie ja gerade in
der Schule. Auch in anderen Realitäten mochte es diese Einrichtung sicherlich
geben. Trotzdem war ich leicht besorgt. Wenn ich nun schon begann, mir über
ein Kind in einer anderen Wirklichkeit Sorgen zu machen, landete ich vielleicht
schließlich doch in der berühmten Anstalt im Westen Wiens. Jedoch, das kleine
Mädchen ging mir nicht aus dem Sinn. Immer wieder ertappte ich mich bei den
Gedanken, wie es ihm wohl gehen mochte.
In diesen Tagen beginnt etwas Merkwürdiges mit mir zu geschehen: Meine
vertraute, tägliche Welt wird immer unwirklicher, verliert gleichsam an Dichte;
wie in leichte, dünne Nebelschwaden gehüllt erscheint sie mir oftmals. Ich
mache wohl meine Arbeit gewissenhaft wie immer, spreche, handle überlegt
und vernünftig, wie man es von mir gewöhnt ist. Doch immer empfinde ich
einen Teil meines Wesens als außer mir stehend, gleichsam von außen diese
Anna beobachtend wie eine Fremde, eine Reisende aus einer anderen Welt.
76
Die innere, die Welt der Apfelbaumwiese, beginnt mehr und mehr an Realität
zu gewinnen, sie wird fast wirklicher als die Welt, in der ich lebe und arbeite.
Es ist irgendwie beängstigend, und ich fürchte heimlich, Georg dabei zu
verlieren, jetzt, wo ich ihn doch erst gefunden habe. Wird er mich dorthin
begleiten können und wollen, wohin ich anscheinend im Begriff bin, zu gehen?
Immer deutlicher wird mir, was es bedeutet, die Verantwortung für seine
Gedanken und Wünsche zu tragen, wie es in Georgs Buch zu lesen ist. Mit
meinen bewusst herbeigeführten Tagträumen habe ich offensichtlich, ohne an
Konsequenzen solcher Art auch nur zu denken, eine Realität geschaffen, die
von einem kleinen Mädchen bewohnt ist, für dessen Wohlbefinden ich mich
jetzt verantwortlich fühle.
Eines aber ist uns beiden klar: wir mussten einen ersten Schritt tun, um unser
beider Traum in unsere Wirklichkeit herüberzuziehen. Das sollte mir auch
helfen, mein Dilemma mit dem Mädchen zu lösen. Ein weiterer Schritt wird nun
folgen: Ich suchte den Namen der Gräfin aus dem Telefonbuch und rief sie an,
um ein Gespräch zu arrangieren.
9. 7. 89
An diesem Freitag nachmittag sollten wir sie in ihrer Wohnung besuchen. Sie
wohnt in einem dieser großbürgerlichen Viertel innerhalb des Gürtels, die
während der sogenannten Gründerzeit von reichen Industriellen erbaut worden
sind. Die Wohnungen in diesen Häusern sind riesig groß, mit hohen Räumen
und diversen Dienstbotenzimmern ausgestattet und äußerst repräsentativ. Es
dauerte ziemlich lange, bis auf unser Läuten hin, endlich die Türe geöffnet
wurde. Wahrscheinlich war man lange unterwegs, um von einem im hinteren
Teil der Wohnung gelegenen Raum zur Türe zu gelangen. Dann aber wurden
wir von einer älteren Frau in einer Küchenschürze herein gebeten. "Die gnä'
Frau lässt sie bitten, einstweilen Platz zu nehmen, sie telefoniert noch. Darf ich
ihnen derweilen etwas anbieten, Kaffe, Tee oder einen Likör?" fragte sie im
typischen Tonfall langjähriger ( Wiener) Dienstbarkeit. Wir entschieden uns für
Kaffe, worauf sie in Richtung Küche entschwand. Wir hatten Zeit, uns etwas
umzusehen. Anscheinend handelte es sich bei dem Raum, in den wir gebeten
worden waren, um den Salon.
Hier stand, Symbol von Kultiviertheit und Feinsinnigkeit, ein großer,
aufgeklappter Flügel, auf dem ein Damasttuch malerisch drapiert worden war;
weiters eine Empireanrichte, eine Sitzgruppe im gleichen Stil, auf welcher wir
gerade saßen, ein Blumentischchen und diverse, teuer aussehende Nippes.
Dies alles wirkte sehr edel und distinguiert, was meine, nun schon allseits
bekannte, kritische Schwester sofort auf den Plan rief:
"Machst du jetzt Kotau vor der gnädigen Frau Gräfin, du armes Würstchen? Die
hat sicher Anderes zu tun, als sich mit deinen Hirngespinsten zu beschäftigen.
Die wird nur einmal leicht die Augenbrauen heben, und du bist draußen, so
schnell kannst du gar nicht schauen!"
77
Ach ja, sie schon wieder, solche Gelegenheiten konnte sie sich
selbstverständlich nicht entgehen lassen! Aber dass sie gerade jetzt meinen
tief eingeprägten, proletarischen Selbstwert - Mangel aufstacheln musste, war
mehr als gemein, es grenzte an Selbstzerstörung und musste mit massiven
Mitteln unterbunden werden.
"Kusch, Proletenweib," zischte ich ihr innerlich zu, "mit dir werde ich mich auch
noch befassen müssen. Aber jetzt habe ich keine Zeit, also verpiss dich!"
Georg hatte offenbar meinen inneren Konflikt bemerkt. Er legte mir die Hand
beruhigend aufs Knie und sagte: "Lass dich nicht einschüchtern von der
Theaterkulisse hier, Priesterin von Avalon." Das wirkte. Es half mir, zumindest
kurzfristig. Im Geiste legte ich mir "den Mantel der Göttin" um, so heißt die
Technik, die ich selbst ausgedacht habe, um auf andere eindrucksvoller zu
erscheinen.
Ich war gerade noch dabei, den Faltenwurf richtig zu drapieren, da erschien die
Herrin des Hauses auf der Schwelle des Salons. Sie war höchst einfach
gekleidet, trug einen schmucklosen, gerade fallenden Hosenanzug in dunklem
Blau, der ihre hohe Gestalt zur Geltung brachte. Ihr Haar war weiß und ihr
Gesicht war.........mir bekannt! Es war das der älteren Frau auf dem T o r - h i l
l von Avalon, der Frau, die mich im Steinkreis willkommen geheißen hatte.
Verblüffung und Zuneigung müssen in meinen Zügen deutlich wie in einem
Buch zu lesen gewesen sein. Ich vergaß meinen Faltenwurf, meine
Minderwertigkeitsgefühle, die vornehme Umgebung. Wir standen wieder auf
dem Hügel, wo sie mich als Hohepriesterin umarmt hatte, und unsere Blicke
lagen ineinander, jenseits von Zeit und Raum.
Erinnerte sie sich, war sie sich ihrer Anderswelt - Persönlichkeit bewusst?
Konnte ich ihr ohne Maske gegenübertreten? Ich wusste es nicht. Sie hatte
offenbar, falls sie es wusste, doch beschlossen, das Visier noch nicht
hochzuklappen und begrüßte uns freundlich aber distanziert mit der
unnachahmlichen Nonchalance des alten Erbadels.
Im folgenden Gespräch erfuhren wir, dass der Gutshof ihr mütterliches Erbe
war. Von ihrem verstorbenen Mann hatte sie noch einige, kleinere Besitztümer
in Ungarn und im Burgenland, die ihr ein Leben in relativer Sicherheit, doch
ohne größeren Luxus erlaubten. Der Besitz im Waldviertel war ihr ein geliebtes
Sorgenkind, wie sie sich ausdrückte. Sie hegte die berechtigte Befürchtung,
dass ihre Erben, ein Neffe und dessen erwachsene Kinder, es nach ihrem Tod
verkaufen würden. "Ich habe irgendwie das Gefühl, als läge auf diesem
Grundstück so etwas wie das Herz des ganzen Gebietes, wenn Sie mich richtig
verstehen. Darüber kann ich aber mit Niemandem sprechen, es hielte mich ja
ein Jeder für übergeschnappt. Aber, ich weiß nicht warum, bei Ihnen glaube ich
zu spüren, dass Sie mich verstehen, oder, wie denken Sie darüber?" Konnte
ich es wagen, offen über meine Träume zu ihr zu sprechen, oder würde ich sie
damit überfordern und uns damit alles zerstören? Ich wusste es nicht, aber im
Vertrauen auf meine innere Führung wollte ich es versuchen.
78
Ich erzählte ihr alles von Anfang an: meine Lebenswende, meinen ersten
Traum von der Apfelwiese, die ich später in Glastonbury glaubte finden zu
müssen, über meine inneren Wandlungen, die jedes Mal auf dieser Wiese ihren
Ausgang genommen hatten, und wie wir endlich durch " Zufall " genau diese
Wiese auf ihrem Grundstück gefunden hatten. Ich lieferte mich ihr aus, hielt
mit nichts zurück. Wenn sie mich für eine Schwindlerin hielte, dann wäre sie
nicht die Frau auf dem Hügel, die Wiese nicht " meine" Wiese gewesen, meine
Träume Seifenblasen, Kopfgeburten, die Anderswelt nicht existent;
unausdenkbar! Dann wollte ich nicht mehr leben! Als ich geendet hatte,
schwieg sie lange. Dann erhob sie sich und sagte weich und gefühlvoll. "Ich
weiß jetzt, dass meine Wünsche in Erfüllung gehen werden. Gemeinsam mit
Ihnen werde ich aus diesem Platz einen Ort der Erneuerung des Lebens
machen. Wir werden das Herz des Gebietes erlösen und das Land zum Blühen
bringen, so wird es sein, mit dem Segen der Götter!"
Wir blieben noch lange bei ihr, schmiedeten Pläne und erzählten einander aus
unserem Leben. Die Biographien hätten verschiedener nicht sein können, und
doch zog sich eines wie ein roter Faden durch alle Erzählungen: das sichere
Wissen um die Verflochtenheit der Leben und Schicksale, die ihren
Ausgangspunkt in einer Dimension außerhalb unserer Wirklichkeit hatte und
wieder dorthin zurückführen würde.
Unsere Gastgeberin ist als Letztgeborene eines altansässigen
Adelsgeschlechtes in der Zwischenkriegszeit zur Welt gekommen. Der Adel war
zu dieser Zeit wohl offiziell und gesetzlich abgeschafft, doch seine Vertreter
lebten nach wie vor im sicheren Bewusstsein ihres Standes. So etwas kann
man nicht einfach ablegen wie ein abgetragenes Gewand, wenn es einem durch
Erziehung und Umwelt zur zweiten Natur geworden ist. Besonders hier im
armen Waldviertel, wo die bäuerliche Bevölkerung lange leibeigen gewesen
war, wurde die Herrschaft nie in Frage gestellt.
Noch heute wird zum Beispiel unterschieden zwischen Bauern - und
Herrschaftswald, der natürlich sehr viel größer ist und meist auch, aus
verständlichen Gründen, besser gepflegt wird. Man hat dafür bezahltes
Forstpersonal. Die Kindheit unserer Gräfin war alles andere als leicht gewesen.
Als Vertreterin ihres Standes hatte sie vor allem eines zu lernen: Disziplin,
Disziplin und noch einmal Disziplin. Die Kinder ihrer Familie waren
Gouvernanten anvertraut, deren Aufsicht sie nur für kurze Augenblicke
entfliehen konnten, die sie genussvoll beim Küchenpersonal verbracht hatten.
Unserer Gräfin war nicht einmal eine Puppe vergönnt gewesen, wie sie doch
sogar das ärmste Häuslerkind, aus Stroh und Lumpen zusammengenäht von
einer liebenden Mutter, in die Arme schließen konnte. Die Eltern waren
unnahbare Respektspersonen gewesen. Ihnen wurde man, gewaschen, frisiert
und sauber gekleidet, einmal am Tage vorgeführt, wie ein dressiertes, kleines
Tierchen.
So kalt wie die emotionale Atmosphäre in der Familie war auch die Temperatur
der Räumlichkeiten dieser alten Wehrburg gewesen. Alles in Allem, wie man
hier sieht, eine keineswegs beneidenswerte Kindheit. Als junge Frau war ihr
dann kurzes Glück in einer liebevollen Ehe mit einem warmherzigen,
humorvollen Mann, einem ungarischen Grafen, vergönnt gewesen.
79
Er war, standesgemäß, nach einem Reitunfall gestorben, die Witwe blieb
kinderlos zurück und hatte nie wieder geheiratet. Nun lebt sie in ihrer Wiener
Wohnung, mit einer ebenfalls älteren Frau, die ihr Haushälterin und
Gesellschafterin in einer Person ist.
Wir wurden zum Abendessen eingeladen und nahmen dankend an. Dabei
nutzte ich die Gelegenheit und fragte sie nach dem kleinen Häuschen. "Das ist
eine eigenartige Geschichte," begann sie sinnend zu erzählen." Als ich
endgültig nach Wien zog - vorher hatte ich zeitweilig dort gelebt, vor allem im
Sommer -, stand es schon leer, und niemand wollte es mieten, obwohl es doch
wirklich nett ist." Das konnten wir nur bestätigen. "Da war ein seltsamer
Vorfall," fuhr sie fort, "Ich war noch ein Kind, und man besprach diese Dinge
nicht vor uns Kindern. Wenn wir zufällig dabei waren, wurde in solchen Fällen
plötzlich französisch gesprochen. Dann wussten wir: jetzt wird es interessant."
Sie schmunzelte leise bei dieser Erinnerung. "Also, da war der Verwalter mit
seiner Familie, der lebte damals in diesem Haus. Er hatte zwei Buben, und das
jüngste Kind, ein Mädchen, war etwas still und verträumt. Ich habe diese
Geschichte nur fragmentarisch von der Tochter unserer Köchin gehört und mir
dann alles zusammengereimt, deshalb weiß ich nicht, ob ich sie Ihnen ganz
richtig erzähle, aber so ungefähr hat sie sich zugetragen. Das Mädchen, ja, es
sah Kinder, die sonst niemand sehen konnte und sagte, es wären seine
Freunde, wissen Sie, was ich meine? Oft saß es lange Zeit unter einem dieser
Apfelbäume und sah in die Baumkronen empor, oder die Mutter hörte es mit
jemandem sprechen. Und wenn sie dann nachsah, war keiner da. Später
erklärte es dann immer wieder, dass aus dem Keller ein Pochen käme, oft ganz
laut, dass es sich die Ohren zuhalten musste. Natürlich konnte keiner sonst das
hören. Die Eltern machten sich ernsthaft Sorgen.“
Mein Herz begann, stürmisch zu klopfen. Ich musste sie unterbrechen: "Ich
habe dieses Klopfen gehört. Es hat mich zu der Wiese geführt!" schrie ich fast
in atemloser Aufregung. "Es kam aus dem Keller. Als ich dann dort hinkam, wo
der Brunnen sein sollte, war er nicht da, und das Klopfen verstummte!" Die
Gräfin sah mich verwundert an und fragte erstaunt: "Wieso wissen Sie von
dem Brunnen? Er ist doch seit damals zugeschüttet." Mir schwindelte und ich
konnte keinen Bissen mehr essen. Ich erzählte ihr von dem Traum, der damit
geendet hatte, dass ich in den Brunnen gefallen war. Jetzt war es an ihr, zu
staunen. Sie fuhr mit ihrer Erzählung fort: "Das Mädchen hatte eine Katze." Ich
wusste es, sie war bei mir daheim gewesen und hatte da für Aufregung
gesorgt. Diese Geschichte erwähnte ich aber nicht. So viel Geheimnisvolles
würde sie mir denn doch vielleicht nicht glauben können. Sie erzählte weiter:
"Die Katze hatte einen eigenartigen Lieblingsplatz, den letzten Kellerwinkel.
Dort saß sie oft und lange und scharrte dort auch manchmal. Eines Tages, als
das Mädchen sie von dort holen wollte, brach der Boden unter ihm ein. Es
stellte sich heraus, dass nur morsche, alte Bretter über dem Brunnenschacht
gelegen hatten, welche unter dem Gewicht des Kindes eingebrochen waren. Es
konnte noch lebend geborgen werden, starb aber am gleichen Tag noch,
wahrscheinlich an einem Schädelbruch, den man nicht erkannt hatte."
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Ich wusste, ich hätte es damit genug sein lassen sollen, doch etwas drängte
mich, zu fragen: "Wie hieß denn das Mädchen, wissen Sie das?" "Ja, warten
Sie, es fällt mir gleich ein.......ach ja, sie hieß, glaube ich, Anna........"
Welche tiefen Schächte der Zeit habe ich mit meinen Träumen und magischen
Ausflügen da aufgerissen, aus denen mir nun Schrecken und Verwirrung
entgegenwehen ? Ich glaubte, mich nicht mehr auf den Beinen halten zu
können, so sehr war mir dieser Bericht in die Knochen gefahren. Deshalb bat
ich die Gräfin, uns für die Heimfahrt ein Taxi zu rufen. Wir verabschiedeten
uns, wollten uns aber bald darauf, wenn ich mich von meinem Schrecken erholt
hätte, wieder treffen, um die Einzelheiten für die Renovierung des Häuschens
und unsere Übersiedlung dorthin, zu besprechen. Das größte Problem dabei
war, dass wir keinerlei Ersparnisse besaßen und auch nicht wussten, wovon wir
dort leben sollten......
Grosses Hallo beim Einsteigen in das Taxi, der Fahrer war Joschi, Georgs Sohn.
Er verdiente sich zu seinem Studium etwas Geld dazu, indem er zwei Nächte
die Woche Taxi fuhr. Wenn das kein Zufall war! Doch an Zufälle glaubte ich
mittlerweile nicht mehr, nein, jetzt nicht mehr. " Der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm," sagte Georg schmunzelnd und fragte ihn, wie es ihm denn so gehe.
Seit der Hochzeit hatten wir ihn nicht mehr gesehen. Joschi erzählte, dass er
mit dem Studium gut voran käme und dass er sich immer mehr für
landwirtschaftliche Alternativen zu interessieren begänne, was ja nicht
unbedingt in seine Studienrichtung fiele. "Irgendwann möchte ich weg aus der
Stadt, weißt du. Nur meine Freundin ist noch nicht so überzeugt davon, ihr
wäre das zu langweilig, sagt sie. Sie ist sehr nett, und wir sind sehr verliebt.
Ihr kennt sie übrigens." "So, so, wie heißt sie denn?" fragte Georg, ich mochte
nicht sprechen, zu sehr hing ich noch meinen Gedanken an die Ereignisse der
letzten Stunden nach. Doch gleich darauf wurde ich aus meinem Sinnieren
aufgeschreckt, als ich Joschi sagen hörte: "Myriam Waldstein". "Was, meine
Myriam, das hat sie mir gar nicht gesagt, als wir uns das letzte Mal sahen,
diese Geheimniskrämerin!" Ich war empört und gekränkt. So wenig Vertrauen
hatte sie also zu mir! An eine derartige Entwicklung hatte ich damals, an
unserem Hochzeitsabend, eigentlich nicht gedacht, als ich gemeint hatte, die
Familie solle zusammenwachsen! "Sei nicht ungerecht," fiel Joschi mir ins Wort,
"Es ist für sie nicht leicht, gerade wo sie doch zuerst so gegen eure Ehe war.
Außerdem fürchtet sie, glaube ich, ein wenig um ihre Eigenständigkeit, wenn
alles so in der Familie bleibt. Da wird es für sie vielleicht ein bisschen zu eng.
Sie hätte es dir sicher früher oder später freiwillig gesagt, wenn sie sich der
Sache etwas sicherer gewesen wäre. Du musst bedenken, so lange dauert
unsere Beziehung noch nicht." Er hatte vernünftig argumentiert und wirkte
menschlich sehr reif und vertrauenerweckend. Er ist seinem Vater sehr ähnlich
und ich kann verstehen, dass meine Tochter sich in ihn verliebt hat. Ich
wünsche ihr, dass sie mit ihm glücklich wird. Schon betrachte ich ihn mit den
Augen einer Schwiegermutter. Wir Mütter sind doch unverbesserlich!
81
13. 7.89
Die Geschichte mit dem kleinen Mädchen geht mir nicht aus dem Sinn. Ich
frage mich, ob ich, wenn es die Reinkarnation gäbe, früher dieses kleine
Mädchen Anna gewesen bin, oder ob es sich um eine sogenannte
Synchronizität handelt, einen nichtkausalen Zusammenhang. Damit verhält es
sich etwa so: Jemand kauft in einem Geschäft einen Tirolerhut mit Gamsbart
und liest am nächsten Tag in der Zeitung, dass der Bundespräsident bei einem
Fest mit Gamsbart am Hut erschienen sei. Es ist dabei ganz offensichtlich, dass
sich besagter Jemand nicht diesen Hut gekauft hat, weil er wusste, dass der
Bundespräsident sich morgen für den gleichen entscheiden würde und vice
versa.... dafür gibt es sicher noch hunderte Beispiele, und wenn man ein
bisschen achtgibt, erlebt man sie selbst sehr häufig. Aber, wie auch immer
man diese Dinge nennen mag, sie passieren einfach und kümmern sich wenig
darum, welchen Namen wir ihnen geben. Meine Verbindung mit diesem Haus
ist für mich jetzt ganz offensichtlich, ich habe nicht mehr den geringsten
Zweifel daran. Ich weiß auch, dass in diesem Haus etwas auf mich wartet; ich
soll etwas ganz Bestimmtes dort suchen oder tun, dem Pochen auf die Spur
kommen, es hat mit dem Brunnen zu tun, das spüre ich. Und die Zeit drängt.
Gestern meldete die Gräfin sich bei uns. Wir luden sie zu uns ein, und sie nahm
die Einladung ohne Zögern an. Sie teilte uns mit, dass sie das Haus auf eigene
Kosten grundsanieren lassen und es uns dann zusammen mit der
Apfelbaumwiese verpachten würde. Uns stände es frei, die Pacht durch die
Betreuung des Anwesens abzuarbeiten.
Wir beschlossen, auch für die anderen, noch bewohnbaren Räume, Mieter zu
finden und auf lange Sicht mit denen zusammen die landwirtschaftlichen
Flächen biologisch zu bewirtschaften. Wir wollen eine Insel der ökologischen
Vielfalt schaffen; einen Ort der Erneuerung des Lebens auf allen Ebenen, eine
Lebensaufgabe für alle Beteiligten!
Das Fundament ist also gelegt, die Arbeit kann beginnen. Das einzige aber
zentrale Problem an der ganzen Sache ist: wovon sollten wir unseren
Lebensunterhalt bestreiten? So sehr wir uns die Köpfe darüber zerbrechen, wir
haben bis jetzt noch keine Lösung gefunden, doch gerade auf die kommt es an,
sonst wird die das ganze Projekt zerplatzen wie eine Seifenblase. Es nützt
nichts, wir können denken und rechnen, keine gangbare Lösung in Sicht. Unser
Haus wird ab September einigermaßen bezugsfertig sein, eigentlich sind nur
die Fenster und die Eingangtüre zu erneuern, alles Andere können wir im Laufe
der Zeit selbst herrichten, wie zum Beispiel das Bad. Momentan ist es ein
leerer Raum mit Abfluss im Boden, sonst gibt es da nichts, was auf ein Bad
hindeutet. Das allerdings stört uns nicht im geringsten, wir wissen, unsere Zeit
in Wien ist abgelaufen. Eigentlich, in gewissem Sinne, bewohnen wir das Haus
schon jetzt. Schon einmal haben wir beide, Hals über Kopf, eine Entscheidung
getroffen, von welcher wir im Innersten wussten, dass sie richtig war, unsere
Hochzeit. Wenige haben unsere Beweggründe damals verstanden, und wir
hätten sie auch niemandem gegenüber mit sachlichen Argumenten vertreten
können, und doch war sie für uns die einzig Richtige.
82
Mit unseren Covengeschwistern wollen wir uns jedenfalls beraten. Sie sind ja
auch betroffen durch unseren Entschluss, aus der Stadt wegzuziehen.
19.7.89
All unsere Arbeit findet im Kreis statt, so auch diesmal, als unsere Gruppe sich
traditionell zu Vollmond traf, an ihrem angestammten Platz auf dem Gipfel. In
dieser Nacht brauchten wir nur ein kleines Feuerchen zu machen, gerade nur,
um der Form zu genügen. Es ist sehr heiß in diesen Tagen. Die Mauern der
Häuser speichern die Hitze wie überdimensionale Kachelöfen und strahlen sie
nachts wieder aus. Wer nicht verreisen kann oder die Bäder frequentiert,
versucht mit verschiedenen Mitteln und Tricks, sich ein wenig Kühlung zu
verschaffen, meist mit wenig Erfolg.
Hier im nächtlichen Wald war es frischer, richtig angenehm. Zum Zirpen der
Grillen, auf - und abschwellend in seiner Lautstärke, manchmal für kurze
Augenblicke ganz aussetzend, sang der sanfte Nachtwind sein Blätterlied.
Unser Gesang fügte sich in das Konzert der nächtlichen Natur leicht und
schwebend ein und verband uns so mit allen Wesen, die diesen Platz
bewohnten. Sie kannten uns, wir waren willkommen, und wir begrüßten sie mit
Respekt und Liebe. Beate war wieder da. Sie hat sich besonnen und akzeptiert
ihre "Niederlage" nicht nur, nein, sie wünschte uns ehrlich Glück. Sie hat,
nachdem es ihr gelungen war, ihre Gefühle für Georg loszulassen, ihr Herz
wieder einem Mann öffnen können und ist nun, allem Anschein nach, sehr
glücklich. Der Mann heißt Stefan und war mit ihr gekommen. Etwas steif, doch
sichtlich bemüht, aufgeschlossen und offen an unserer Zeremonie teil zu
nehmen, stand er neben Beate. Es herrschte eine friedliche Stimmung, eine
Atmosphäre, die nach Achtsamkeit und Stille verlangte. Alle konnten das
spüren. Deshalb begann auch niemand zu trommeln oder eine sonstige,
lautstarke Aktivität. Sogar unser Sprechen wirkte zu laut. Alles lief in
gedämpfter Lautstärke ab: Anrufungen, Rezitationen, Segnungen. Wir konnten
es alle fühlen, der Ort hat seine Energien verändert, wirkt nun befriedigt, ja,
gesättigt. Der Grosse Ritus des Beltane - Festes hat seine Kräfte entfaltet, den
Platz genährt mit dem Segen der Alten Götter. Der Coven wird auch weiterhin
dafür sorgen, dass es ihm auch in Zukunft daran nicht mangelt.
Der Energiekegel wurde aufgebaut. In seinem Wirkungskreis sollte nun das
stattfinden, worum Georg und ich den Coven gebeten hatten: der Kreis des
Rates. Dieser Brauch wird bei vielen ähnlichen Gruppen geübt und
angewendet, wenn es gilt, Probleme kreativ zu lösen. Im Grunde funktioniert
das Ganze wie "brainstorming". Es hilft, Blockierungen im Denken aufzulösen
und damit die kreativen Kräfte freizusetzen. Alle Teilnehmer legen sich, mit
den Köpfen nach innen, sternförmig in der Runde auf den Boden, immer Mann
und Frau abwechselnd. Das Problem, das bearbeitet werden soll, wird allen
dargelegt.
83
Dann beginnt jemand damit, eine Assoziation dazu auszusprechen. Der
Nächste im Kreis fährt fort damit und bezieht sich auf das Wort des
Vorgängers. Dabei ist es wichtig, nicht nachzudenken und ganz spontan alles
und sei es auch noch so seltsam, auszusprechen. Nach einiger Zeit entwickelt
sich eine stark kreative und intuitiv gefärbte Gedankenkette, deren Glieder in
den meisten Fällen die Lösung schon enthalten.
In unserem Fall lief das ungefähr so ab ( genau kann ich es natürlich nicht
mehr rekonstruieren, aber als anschauliches Beispiel mag es alle Mal noch
hingehen). Also, Franz begann mit LAND, dann ging es weiter mit:
LANDLEBEN.....LEBENSMITTEL....KAUFEN......GELD......VERDIENEN.....ARBEITE
N.....HOLZFÄLLEN......BAUM........BLÄTTER......PAPIER.......SCHREIBEN.......BU
CH..........LESEN...........LEKTOR....Stefan war an der Reihe und sagte...ICH !
Georg rief: "Mein Buch, ich werde es neu bearbeiten und dann wird es
vielleicht doch jemand verlegen!" Im anschließenden Gespräch, das der
Klärung und der Beratung diente, kamen wir überein, dass Stefan Georgs Buch
lesen und ihm helfen würde, es in eine akzeptable Form zu bringen. Dann
würde er sich bemühen, es in seinem Verlag, der auch eine große Esoterik Edition unterhielt, unterzubringen. Hoffnung und Dankbarkeit erfüllten uns,
eine Tür hatte sich geöffnet und gab den Blick auf ein kleines Häuschen auf
einer Apfelbaum
bestandenen Wiese frei. Gleichzeitig heißt das natürlich auch gleichzeitig, dass
wir uns in absehbarer Zeit von unserem Coven lösen werden müssen. Wer
jemals mit anderen Menschen im Kreis der Göttin gelebt und gearbeitet hat,
sein innerstes Wesen und seine Energie mit ihnen geteilt hat, weiß, wie traurig
uns der Gedanke daran macht, unabhängig von dem Glück, das uns erfüllt,
weil sich unser Traum endlich zu erfüllen scheint. Das Tröstliche in dem ganzen
Gefühlswirrwarr ist aber, zu wissen, dass „der Kreis zwar geöffnet, jedoch
ungebrochen“ sein wird.
Eine neue, aufregende Phase in unserem Leben beginnt nun. Die kleine
Wohnung quillt schon jetzt über von Papier, Büchern, Notizzettelchen und
anderen Schreibutensilien, wir müssen uns unseren Weg vom Bett in die Küche
mühsam frei halten, und Sitzgelegenheiten gibt es kaum mehr. Georg
verbringt jede freie Minute an seiner kleinen Reiseschreibmaschine oder in
Bibliotheken. Verlangend blickt er oft in Computerprospekte, doch das sind
momentan unerfüllbare Träume. Trotzdem schreitet die Arbeit zügig voran,
und es scheint, als könnte das Buch nun doch ein Erfolg werden und uns
helfen, den Absprung zu schaffen. Keinen Tag versäume ich meinen magischen
Ausflug in mein neues Heim. Gewissenhaft imaginierte ich es in allen
Einzelheiten, versetze mich hinein und fülle die Szene mit aller emotionaler
Intensität, die mir nur möglich ist. Ich will nichts in meiner Macht Liegende
versäumen, um an mein ersehntes Ziel zu kommen. Darüber gehen die Tage
des Sommers hin, sie beginnen bereits, merklich kürzer zu werden, auch
wenn die heißeste Zeit des Jahres noch bevorsteht. Das Haus ist bald
bezugsfertig und wartet darauf, von uns bewohnt zu werden. Was nicht fertig
ist, ist das Buch. Es wird wohl noch einige Zeit zu seiner Fertigstellung
brauchen, auch wenn wir noch so fleißig daran arbeiten.
84
Selbst dann können wir natürlich nicht wissen, ob es wirklich angenommen
werden wird, trotz aller Magie. Wir leben im Zustand einer eigenartigen
Spannung, die davon herrührt, dass wir nicht mehr hier und doch auch noch
nicht dort zu Hause sind. Lange werden wir das nicht mehr aushalten, es zehrt
bereits merklich an unserer Substanz. Manchmal gibt es sogar Streit um relativ
nebensächliche Dinge wie verlegte Kugelschreiber oder Bücherberge auf der
Küchenablage.
Den vergangenen Abend ist es wieder sehr spät geworden. Wir hatten lange
dazu gebraucht, wieder einmal Ordnung in die Notizen zu bringen. Georg
arbeitete noch, ich hatte schon kapituliert und mich ins Bett zurück gezogen,
wo ich gleich darauf eingeschlafen war. Das Pochen holte mich aus dem ersten,
erholsamen Schlaf. Ungehalten drehte ich mich auf die andere Seite; der
Mieter ober uns war wohl wahnsinnig geworden, um diese Zeit so laut seine
Hardrockplatten zu spielen!
"Georg, klopf doch einmal mit dem Besen hinauf, dass der aufhört da oben, ich
will schlafen!" brummte ich verärgert. "Georg! Tu doch was!" " Anna, träumst
du schlecht, was soll ich denn tun?" hörte ich Georg erstaunt fragen. Jetzt war
ich endgültig wach, es pochte bumm - bumm, bumm - bumm, bumm bumm....ich hatte also nicht geträumt, und es verwunderte mich
außerordentlich, das mein Mann das Pochen offenbar nicht hörte. Es kam aus
der Ecke, wo unsere "Hausgöttin" stand, die Ecke, in der sich unsere ehemalige
Geisterkatze so gerne aufgehalten hatte. Es war der gleiche, konstante und
alles durchdringende Herzschlag, der mich zuletzt die Wiese hatte finden
lassen. Hier, in unserer kleinen Wohnung, in meinem anstrengenden Alltag
wirkte er verstörend und irritierend, und er musste augenblicklich verstummen,
oder ich würde verrückt werden, wenn ich es nicht schon war.
Er verstummte nicht, nein, er wurde nur noch lauter und immer lauter. Es
nutzte nichts, mir verzweifelt die Ohren zuzuhalten, dieses Geräusch hielt sich
nicht an anatomische Gegebenheiten, ja, nicht einmal an physische Realitäten,
es war hier und doch nicht hier, klang durch alle Ebenen und Welten, um zu
mir zu dringen........dringen .....dringend ..... dringend ..... dringend ......das
war seine Botschaft an mich, ich konnte mich ihr nicht verschließen. Doch, was
wollte die Quelle dieses Geräusches von mir? Was konnte ich hier, in meinem
Hochbett und jetzt, zu dieser Stunde denn tun? "Georg, ich brauche dich, jetzt,
sofort, es ist ganz wichtig. Bitte, frag jetzt nicht, warum. Zünde eine Kerze an
und etwas Weihrauch, und dann komm zu mir herauf. Wir müssen eine Reise
machen, unser Platz ruft mich!" Die Dringlichkeit in meiner Stimme veranlasste
Georg, ohne zu zögern seine Arbeit liegen zu lassen und meiner Bitte Folge zu
leisten. Wir hielten uns an den Händen, ich leerte meinen Geist und richtete die
inneren Sinne auf die Ursache des Pochens. Es dauerte einige Zeit, bis ich den
Sprung über den trennenden Abgrund zwischen den Realitäten geschafft hatte,
doch dann ..... Finsternis.... Enge... Kälte.... Feuchtigkeit und dieses
entnervende Pochen. Wo befand ich mich? Meine Hände vor
streckend, tastete ich mich weiter und stieß gegen Erdbrocken, sie versperrten
mir den Weg. Ich musste sie aus dem Weg räumen, es ging so schwer, so
schwer...ich grabe, grabe, wie ein großer Maulwurf grabe ich mich durch diese
ziemlich weiche Erde.
85
Sie gibt etwas nach, da streift ein Luftzug meine Wange; ich mache einen
Schritt und trete auf festen Grund. Meine tastenden Hände finden keinen
Widerstand mehr, ich stehe in einer Art Höhle, und es ist auch nicht mehr ganz
so finster. Dämmerlicht lässt meine, sich langsam adaptierenden Augen eine,
aus lehmiger Erde erbaute Nische erkennen, die eine Ausbuchtung der Höhle
darstellt, in der ich jetzt stehe. Ich bin anscheinend nicht allein, schemenhafte
Gestalten stehen entlang der gewölbten Höhlenwände, oh, erst jetzt bemerke
ich es: die ganze Höhle ist voll von Menschen, undeutlichen, schattenhaften
Menschen! Sie scheinen keine feste Konsistenz zu haben, ihre Erscheinung
fluktuiert im Takt dieses alles durchdringenden Pochens. Eines kann ich aber
erkennen: alle stehen mit dem Rücken zu mir und blicken auf etwas, was dort
in dieser Nische, meinen Augen verborgen, sein muss. Einer von ihnen dreht
sich jetzt zu mir um, dann sagt er laut, und seine Stimme hallt dröhnend durch
das Gewölbe: "Sie ist gekommen!" Daraufhin wenden sich alle zu mir um und
sehen mir mit feierlicher Miene entgegen. Die Gestalten bilden eine Gasse,
durch die ich jetzt auf die Nische zugehe. Seltsam, der Weg scheint so endlos
lang, als führte er durch unendliche Zeiträume, durch Jahrhunderte,
Jahrtausende, weit, weit zurück, zurück in unerforschte Äonen. Flüsternde
Stimmen begleiten mich, in Sprachen, die ich nicht verstehe und nie in meinem
Leben gehört habe, während das Pochen immer lauter wird.
Endlich, ich weiß nicht, wie lange ich so gewandert bin, stehe ich vor einem
kleinen Podest, das die Nische ausfüllt. Und da ist sie, sie, deren Herzschlag
mich durch alle Welten hierher gebracht hat, die kleine, kaum eine Spanne
hohe Figur aus Stein, deren Abbild in einer Ecke meiner Wohnung aufgestellt
ist, die Grosse Mutter allen Lebens.
Das Flüstern verstummt, Stille tritt ein. Sie ist vom Herzschlag der Grossen
Mutter erfüllt. Eine ältere Frau mit weißem Haar, - ich erkenne in ihr die Gräfin,
doch hier erscheint sie mir in ihrer Anderwelt - Gestalt, - nimmt die Statue
vom Podest, und es erscheint eine kleine Öffnung, der sie etwas entnimmt. Ich
kann nicht erkennen, was es ist, aber es sieht aus wie ein Topf oder eine
Schale, in ein Tuch eingeschlagen. Sie blickt mir eindringlich in die Augen, dann
überreicht sie mir das Gefäß. Es scheint zu pulsieren und Licht auszustrahlen,
das sogar das Tuch durchdringt. Dabei berühren sich unsere Hände, und ich
spüre, wie unser Pulsschlag sich vereint und mit dem Pulsschlag der Grossen
Mutter zu einem einzigen lebendigen und lebensspendenden Takt wird, der
meine Schritte lenkt, als ich mich langsam umwende und zu meinem
Ausgangspunkt zurück gehe, während die Menge einen Gesang anstimmt. Das
Singen begleitet mich zum Ausgang, immer wiederholen sich die Worte des
Liedes, und immer deutlicher kann ich sie verstehen, zuletzt falle ich mit
volltönender Stimme in den Gesang ein. Es ist meine Zaubersänger - Stimme,
sie klingt durch Zeit und Raum:
"Folge den alten Wegen, bringe den neuen meinen Segen!...."
So gehe ich z u r ü c k durch den Tunnel, aber v o r w ä r t s in der Zeit, am
Ausgang steht das kleine Mädchen, Anna, mit der Katze auf dem Arm (da ist
sie also, ich hatte mir schon Sorgen um sie gemacht!).
Sie bittet mich eindringlich: "Bitte, beeil dich, komm schnell!"
86
Ja Kleine, das will ich ja, aber in unserer Welt ist alles so sehr vom Geld
abhängig, und wir müssen es uns erst irgendwie beschaffen, bevor wir
kommen können, verstehst du ? Dann steige ich durch den Brunnenschacht
wieder empor ( wie, es sind doch keine Stufen da?)...
"Was singst du da immer wieder?" höre ich Georg fragen, als ich wieder zu mir
komme. Ich liege auf dem Hochbett, halte etwas in den Armen und presse es
ganz fest an mich, um es nicht zu verlieren. Es pulsiert immer noch...
"Pass auf, sonst fällt es mir herunter!" schreie ich fast, als Georg mich am Arm
berührt. "Was fällt herunter, da ist doch nichts, was ist denn los mit dir? Bist
du überhaupt schon wieder ganz da?" In seiner Stimme schwingt echte
Beunruhigung. "Zuerst hast du noch alles, was du gesehen hast, beschrieben.
Doch dann, irgendwann, habe ich dich verloren. Du warst so tief in Trance, und
du hast etwas gesungen. Weißt du noch, was es war?" Ganz langsam nur,
kehre ich in die Realität zurück. Meine Hände sind leer, ich brauche lange, bis
meine Augen wieder fokussieren können, alles wirkt merkwürdig
zweidimensional. "Liebste, erzähl doch, was hast du gesehen?" Georgs Frage
holt mich nun endgültig zurück und hilft mir, das „Tor ohne Schlüssel“ fest
hinter mir zu schließen. Ich bin endgültig zurückgekehrt, und die Welt um mich
nimmt wieder ihre vertrauten Formen an.
23. 7. 89
Ich weiß es ganz sicher, ich muss Georg davon überzeugen, mit mir
unverzüglich zum Haus zu fahren und den Brunnenschacht freizulegen. Als ich
ihm aber meine Erlebnisse genau erzählte und ihm die Dringlichkeit des
Unternehmens klar machen wollte, überforderte ich damit sein Vertrauen in
meine seherischen Fähigkeiten doch etwas. Er schüttelte ablehnend den Kopf
und meinte: "Anna, sei vernünftig. Das geht doch nicht. Selbst wenn wir beide
uns jetzt frei nehmen und dorthin fahren, wir können das nicht alleine. Dazu
bedarf es zumindest einer Seilwinde, und Helfer brauchen wir auch. Wir
müssen doch die ganze Erde durch den Keller heraufschaffen. Weißt du, was
das für ein Aufwand ist? Und außerdem muss die Gräfin einwilligen. Wir können
nicht ohne ihr Einverständnis graben, das siehst du doch hoffentlich ein, und
wenn du tausendmal den Gral gefunden hättest!
.....................................................................He, Anna, weißt du, was du
da erlebt hast? Ich schnappe über, der Heilige Gral! Wir müssen sofort dort
hin!" Jetzt war er entflammt, mein Harfenspieler.
Diesen rasanten Umschwung hatte ich nicht erwartet. Ich war darauf gefasst
gewesen, insistierend auf meiner Forderung zu beharren. Jetzt fühlte ich mich
wie ein Angreifer, der an einen Judokämpfer gerät. Mein eigener Schwung
brachte mich aus dem Gleichwicht. Als meine kritische innere Stimme sich, die
Gelegenheit nutzend, zu Wort meldete, beschwichtigte ich sie, ich war einer
Auseinandersetzung nicht gewachsen, nicht jetzt. " Ich weiß, was du sagen
willst, alle deine Argumente sind richtig, du hast ja so recht."
87
Das musste sie verwirrt haben, kein Widerspruch von meiner Seite, das war
eine Neuheit, die sie nicht erwartet hatte. Gespannt, aber ohne sich zu Wort zu
melden, verharrte sie im Hintergrund, um diese neue Situation zu beobachten.
Jetzt war die Zeit gekommen, ich wusste es und spürte es mit allen Fasern
meines Selbst: dies war die Grosse Prüfung, die zu bestehen war, wenn eine
Priesterin oder Hexe die Grossen Weihen erhalten sollte, die sie dazu
befähigten, einen eigenen Coven ins Leben zu rufen. Es wurde von ihr
erwartet, eigenverantwortlich und im Bewusstsein ihrer inneren Führung zu
handeln. Auch die Führung und Verantwortung für die Gruppe musste sie dabei
übernehmen, jedes Mitglied gemäß seiner Fähigkeiten einsetzen, niemand
überfordern, die Energien der Gruppe richtig und maßvoll lenken. Ich fürchtete
mich. Zitternd und bebend saß ich auf meinem Hochbett und versuchte mich
zu sammeln. Mittlerweile war die Nacht weit fortgeschritten. Georg und mir
war klar geworden, dass wir den nächsten Tag beide frei nehmen würden,
egal, wie unsere weiteren Entscheidungen ausfallen sollten.
"Mein Kind, vertrau auf mich, ich bin bei dir. Tu' es jetzt. Die Zeit ist
gekommen, versäume nicht den richtigen Zeitpunkt. Ich gebe dir all meine
Kraft!" so raunte eine innere Stimme, die Stimme der Ewigen, mir zu. " Ja,
Mutter, ich werde mich Deiner würdig erweisen, mit Deinem Segen!" sprach
ich, laut und deutlich in die Stille der Nacht.
25.7. 89
Es ist nun meine Aufgabe, den Coven zu versammeln und die Einwilligung der
Gräfin zu erhalten. Das Erste war nicht schwierig, denn Lughnasadh, das
Schnitterfest steht kurz bevor. Also machte ich mich heute nachmittag auf den
Weg zu Margot, in die Buchhandlung.
Vertraute Düfte und Klänge umwehten mich, als ich eintrat und erinnerten
mich an die Ereignisse, die Jahrhunderte her zu sein scheinen und mir doch
erst vor wenigen Monaten zugestoßen sind. Unglaublich! Margot bediente
gerade eine Kundin, die sich ganz intensiv für die Heilkräfte der Edelsteine
interessierte. Sie mochte einfach nicht glauben, dass ohne Selbstklärung
ihrerseits kein Stein ihr je bei der Lösung eines Problems helfen würde.
Eindringlich versuchte Margot ihr zu erklären: "Die Steine wirken nicht wie ein
Kopfschmerzpulver. Sie sind ein Hilfsmittel, nicht mehr, aber auch nicht
weniger. Es bleibt Ihnen nicht erspart, an ihren Schwierigkeiten zu arbeiten."
Wie leicht hätte Margot ihr diverse Steine verkaufen können und damit ihre
Einnahmen mehren, doch das macht eben den Unterschied zwischen
Scharlatanerie und wirklicher Beratung aus, das ist eben "meine" Margot. Sie
wird mir sehr fehlen, das weiß ich. Werde ich jemals eine Hohepriesterin mit i
h r e m Format werden, i h r e Selbstsicherheit ausstrahlen, wie sie die
Göttin herabziehen? Diese Fragen wirkten wohl wie eine ausgeworfene Angel
auf meine kritische, innere Stimme. Sie biss sofort in den Köder.
88
Hier war sie wieder und ließ laut und deutlich ihre Meinung in mir vernehmen:
"Na, weißt du, du bist aber schon ein Tschapperl (ist wienerisch und bedeutet
etwa: etwas unterbelichtet, naiv), du zukünftige Hohepriesterin du!" ätzte sie
mit gewohnter Schärfe, " wieso willst du alles so können wie sie? Das wirst du
nie, niemals, nein, du nicht. Du hast nicht ihr Format, und du wirst es auch
nie haben, nicht in hundert Jahren!" Schon wollte ich ihr den Sieg leicht
machen und ihr bedrückt Recht geben, doch plötzlich hielt ich ein: ja, sie war
wohl bissig wie eh und je, aber ihre Argumente waren dünn wie schlechter
Stoff, einfach lächerlich! Jetzt hatte sie sich eine Blöße gegeben! Und ich
musste wirklich lachen. Laut lachend stand ich im Geschäft, lachte aus reiner
Freude über meine bevorstehende endgültige Befreiung von dieser
Sklavenhalterin, die mich so lange unter ihrer Knute gehalten hatte.
Nun musste ich nicht mehr kämpfen gegen sie, sie schrumpfte zu ihrer wahren
Größe zusammen, und das war recht klein, sie passte in meine Handfläche.
Dort saß sie nun kläglich und hörte sich meine Verurteilungsrede an: "Jetzt hör'
mir einmal zu, du kleines Würstchen, du bist durchschaut. Deine Macht ist
Schnee von gestern! Willst mir einreden, ich könne nie so sein wie Margot!
Nun, du hast Recht. Ich kann nicht sein wie sie, denn ich bin Anna, und ich will
Anna sein mit allen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die diese Anna hat, und die
sind recht beachtlich! Also, was hast du dazu zu sagen?" sie sagte nichts.
Ich kann sie doch glatt jetzt in meine Tasche stecken und brauche sie nur
hervorzuholen, wenn ich will. Ich bin ihre Herrin geworden und das gedenke
ich zu bleiben.
Die Kundin sah recht befremdet zu mir her und blickte dann fragend Margot
an. Es kommt wohl nicht oft vor, dass Leute laut lachend in Geschäften
stehen. Margot kam zu mir her, umarmte und begrüßte mich in alter
Vertrautheit. Die Kundin war nun vollends verstört und verließ eilig die
Buchhandlung, ohne etwas gekauft zu haben.
"So, du Kundenschreck, jetzt sag mir, warum du so gelacht hast," fragte sie
mich mit gespieltem Ernst. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, wurde aus dem
gespielten Ernst ein echter. "Ich gratuliere dir," sagte sie mit viel Wärme in der
Stimme, "aber wirf sie nicht ganz weg, du wirst sie noch brauchen, halte sie
nur an der kurzen Leine, sie wird dir dienen." "Margot, ich bin aus einem ganz
bestimmten Grund da," sagte ich ernst und eindringlich, "ich brauche deine
Hilfe und die des Covens!" Und nun erzählte ich in aller Ausführlichkeit, was
sich seit der Sonnenwende zugetragen hatte.
"Das ist sehr merkwürdig," sagte sie versonnen, als ich meine Erzählung
beendet hatte. "Wenn du es nicht wärst, Anna, ich glaube nicht, dass ich
jemand Anderem diese Geschichte glauben würde, aber so..." Sie begann aber
sofort, alle Mitglieder anzurufen; alle waren erreichbar, was noch nie
vorgekommen ist, wie sie sagte. Und alle waren sofort einverstanden damit,
das Lughnasadh - Fest im Waldviertel zu feiern und an
schließend bei den Ausgrabungsarbeiten zu helfen. Tiefe Dankbarkeit erfüllte
mich, ich fühlte mich getragen von Liebe und Zugehörigkeit. "Margot, ich muss
dir noch etwas sagen," meine Stimme zitterte vor Aufregung. "Ich bin ganz
sicher, dass dies meine Grosse Prüfung sein wird.
89
Wird der Coven mich unterstützen und mir seine Energie leihen?" Sie sah mich
lange und prüfend an, und ihr Blick sah durch meine Anna - Persönlichkeit
hindurch bis zu meinem unzerstörbaren Kern.
Ich habe mich nie nackter gefühlt, außer damals, bei meiner Initiation, doch
ich hielt ihrem Blick stand, denn ich war mir meiner selbst bewusst; die
Persönlichkeiten waren zur Deckung gelangt, Anna und Morgan waren Eins
geworden und so würde es bleiben..
Endlich war Margot zu ihrem Urteil gekommen, sie sagte mit einer Gewissheit,
die alle anderen Möglichkeiten ausschloss: " Ich werde dich unterstützen, und
die Brüder und Schwestern werden das auch tun, so sei es!"
5. 8. 89
LUGNASADH
Vorige Woche, an einem Samstag, trafen alle sich bei Georg und mir, um die
Einzelheiten des Unternehmens zu besprechen und anschließend gleich
aufzubrechen. Unsere kleine Wohnung quoll über von lebhaft durcheinander
sprechenden Menschen, die noch dazu keinerlei Sitzgelegenheit hatten, weil
alles mit Büchern und Papier voll geräumt war. So schrien einander, auf
verschiedene, noch frei gebliebene Plätzchen verteilte Personen, über
Papierstöße hinweg, ihre Konversation zu; ein heilloses Durcheinander! Doch
zuletzt waren alle Probleme geklärt, es konnte losgehen. Es war einer dieser
typischen Spätsommertage, in welchen der zu Ende gehende Sommer noch
einmal sein ganzes Wesen verströmt, wie um in der darauf folgenden dunklen
und kalten Jahreszeit eine Erinnerung an seine Wärme zurückzulassen. Wir
werden ihrer bedürfen. Die Winter sind kalt und dauern lange im Waldviertel.
Wir waren verteilt auf zwei Autos, ich saß im Fond des einen - neben Beate.
Das hatte sich nicht ganz zufällig ergeben, ich hatte noch etwas zu bereinigen;
es war wichtig für mich, unbelastet in diese Prüfung zu gehen. Als sich der
erste Trubel der Abreise etwas gelegt hatte und die beiden Autos auf dem
gleichförmig sich hinziehenden Band der Nordautobahn dahinrollten, sprach ich
meine Sitznachbarin kurzerhand auf unseren Zwist hin an.
Unsere Mitreisenden: Franz, der Fahrer, Margot, vorne neben ihm sitzend,
Georg, der neben mir saß, waren mittlerweile in eine angeregte Unterhaltung
vertieft und deshalb genügend abgelenkt. Dies war unsere ureigenste
Angelegenheit, niemand musste mithören. " Beate," begann ich, noch etwas
schüchtern," wirst auch du mir deine Kraft leihen, wirst du mich unterstützen?
" Sie sah mich an, und es war ihrem Blick anzumerken, dass auch sie etwas
verlegen war. Dann aber gab sie sich offenbar einen innerlichen Ruck. Sie
nahm meine Hand in die ihre, drückte sie fest und herzlich, dann sprach sie,
leise, doch bestimmt: "Mir ist klar geworden, dass ich dich falsch eingeschätzt
habe. Daran war sicher meine Eifersucht schuld. Wenn du kannst, bitte,
verzeih mir.
90
Meine Unterstützung hast du jedenfalls, voll und ganz." "Schade," dachte ich
bedauernd, "wir hätten wirklich gute Freundinnen sein können, hätte diese
fatale Geschichte nicht zwischen uns gestanden." Aber, so ist es nun einmal,
jetzt werden sich unsere Wege bald, zumindest für einige Zeit, trennen, und
diese Möglichkeit ist dahin. Aber wenigsten steht keine Feindschaft mehr
zwischen uns, und das ist schon ein erleichterndes Gefühl.
Langsam begann es zu dämmern auf meiner Wiese. Die Abende brechen nun
schon früher an als im Hochsommer, doch es war angenehm warm, sogar in
dieser kühlen Gegend. Wir hatten einen Kreis aus Steinen, die es hier in Fülle
gab, errichtet, dessen Zentrum sich ziemlich genau über dem Brunnenschacht
befinden musste, wenn ich mich nicht total verschätzt hatte. Dort entzündeten
wir ein großes Feuer. Die Nacht würden wir in unserem Haus, in Schlafsäcken
verbringen. Das stand, bis auf den großen Tisch und den Ofen, noch leer. Den
Altar, im Norden, improvisierten wir aus Steinen und einem darüber liegenden
Brett. Die vier Himmelsrichtungen waren durch Fackeln bezeichnet.
Allmählich wurden die Schatten der Apfelbäume immer länger, dann senkte
sich die Nacht, begleitet von Grillengezirpe und den vereinzelten Rufen eines
Käuzchens, herab. War ich bis jetzt ängstlich und nervös gewesen, so sehr,
dass ich nicht einen Bissen des herrlichen Mittagessens, das wir in einem
Landgasthof eingenommen hatten, hinunter würgen hatte können; jetzt fielen
mit einem Mal alle Ängste von mir ab. Ich war Morgan von Avalon, und ich
stand hier, inmitten meines, von mir wiedergefundenen Reiches. Alles war gut
und richtig so wie es war, und was hier ablief, stand unter dem Segen der
Mächtigen und geschah mit Ihrem Willen.
So wie in der Beltane - Nacht, als ich in vollem Einklang mit allen Ebenen und
Welten meine Aufgabe in diesem Leben erfüllt hatte, gehörte dies zu meinem
Auftrag. Und so, in völliger Ruhe und Sicherheit, nahm ich den Kelch von
Margot entgegen, zum Zeichen, dass ich heute die Aufgabe der Hohepriesterin
erfüllen würde.
Das Ritual begann. Beate zog den Kreis, der uns mit allen Realitäten und
Zeiten verbinden sollte. Er sollte das Gefäß sein, in welches die Macht der
Götter einfließen konnte. Jetzt war die Reihe an mir, die Elemente anzurufen.
Im Osten beginnend, mit den Wächtern des Elementes Luft, rief ich alle Wesen,
alle vier Winde, alle Wächter der Himmelsrichtungen in den Kreis. Der Coven
untermalte die Anrufungen mit einer machtvollen, gesungenen Formel: " Oh
you powers, powers all, answer unto this my call! Powers of water, powers of
fire, work you unter my desire! Powers of earth und powers of air, answer unto
this my prayer! "Alle konnten es fühlen, die Angerufenen kamen. Sie waren da
und liehen unserer Zeremonie die ihnen eigenen Kräfte. Georg, mein
Hohepriester, stellte sich mir gegenüber auf und begann mit dem, nun schon
bekannten Ritus der Ehrung der Frau, die das Gefäß der Göttin sein würde.
Jetzt und jedes Mal, an dem mir diese besondere Ehrung zuteil wurde, lief ein
Schauer aus Ergriffenheit über meinen Körper. Zitternd empfing ich den
Fünffachen Kuss meines Mannes und Hohepriesters, für den ich Frau und
Göttin war.
91
Nun war es an mir, in ihm den Mann zu ehren, der die Kräfte des Gehörnten in
sich versammeln würde. Ich kniete vor ihm nieder, so wie er es zuerst vor mir
getan hatte und schenkte ihm dieselbe Ehrung, ihm, der mir Ehemann und
Verkörperung des Gottes war.
Jetzt wartete die schwerste Aufgabe auf mich. Nun würde sich zeigen, ob ich
würdig war, Hohepriesterin zu sein. Ich sollte die Göttin anrufen, mein Wesen
sollte dem Ihren Platz machen, Gefäß Ihrer Macht werden, Ihren Willen, Ihre
Botschaft, Ihre Liebe dem Coven vermitteln. Ich machte mich ganz leer, ließ
alle Ängste, alle Gedanken los und begann mit meiner Anrufung, das Gesicht
dem Altar, das Herz der Göttin zugewandt. Es war eine überlieferte Formel,
schon Viele vor mir hatten diese Worte den Weg sein lassen, der Sie zu uns
geleitete, und Viele nach mir würden das Gleiche tun, die Brüder und
Schwestern des Coven würden mir dazu ihre Energien leihen. Ich war ein Glied
in einer langen Kette. Das verlieh mir innere Ruhe und Vertrauen. Meine
Stimme, unsicher zuerst, doch von Strophe zu Strophe sicherer werdend, hallte
zuletzt bis an die Grenzen der erfahrbaren Welt, dann darüber hinaus, folgte
meiner Sehnsucht, Sie zu erreichen, flehte, beschwor, wurde zum Strahl, dem
Sie folgend, mich erfüllen konnte. Und sie kam.....
Aber dieses Erlebnis entzieht sich meinen Worten. Ich weiß nur noch, dass der
Kreis sich ins Unendliche erweiterte. Wie konzentrische Wellenkreise breitete
sich Ring um Ring aus ungezählten Menschen um das Zentrum aus, in welchem
ich stand. Zwischen den Männern und Frauen unserer Gruppe sah ich meine
Eltern stehen. Sie lächelten mir ermunternd zu. Auch die Gräfin war da, in ihrer
blauen Robe mit dem Sichelmesser hob sich ihre hohe Gestalt deutlich von den
Anderen ab.
Ich sah das kleine Mädchen, die Katze saß ruhig und mit glitzernden Augen auf
seiner Schulter. Aus allen Zeiten waren sie gekommen, aus den dunkelsten
Tiefen der Vergangenheit bis zu den noch nicht in Erscheinung Getretenen,
Zukünftigen. Sie alle waren hier, um mit uns das Fest zu begehen und die
alten, ewig jungen Götter zu ehren. Auch die Kleinen Wesen, zarte,
durchscheinende Elfen, erdfarbige Gnome, märchenhaft schöne Feen,
Baumgeister mit knorriger Gestalt, flüchtige Naturwesen, die Bewohner
anderer Sphären und doch unsere Brüder, waren gekommen. Kreis um Kreis
setzte sich fort bis in schattenhafte Fernen. Aufmerksam verfolgten sie die
Zeremonie, die es ihnen ermöglichen sollte, wieder in unsere Erfahrungswelt
einzutreten, mit und um uns zu leben und zur Heilung unserer Welt
beizutragen. Die Göttin sprach zu ihnen und zu ihren
Geschwistern, den Menschen. Sie sprach von fernen Vergangenheiten, als die
Berge noch nicht geboren waren, von der unendlich weit zurückliegenden Zeit,
in der sich die Landschaft, in der wir jetzt standen, gebildet hatte.
Hohe, schroffe Gebirgszüge falteten sich vor unserem inneren Blick auf,
wurden abgetragen zu runden, sanften Formen. Was in Jahrmillionen,
unerfahrbar für menschliche Wahrnehmung, vor sich gegangen war, wurde uns
hier in wenigen Augenblicken vorgeführt. Eiszeiten kamen und gingen in
rascher Folge.
92
Steppenlandschaft breitete sich aus, wo wir standen. Jäger mit Steinwaffen
jagten hinter gewaltigen Hirschen und Rentieren her........... Sie versammeln
sich in einer kleinen Erdhöhle, um sich am Feuer zu wärmen, ihre Nahrung
zuzubereiten und ihre Waffen zu erneuern. Sie führen ein kleines Mutteridol
aus Kalkstein mit sich und stellen es in der Höhle auf, zum Zeichen dafür, dass
der Schutz und der Segen der Mutter immer bei ihnen sei. Wieder wechselt die
Szene. Wieder versinkt ein Grossteil Europas unter ewigem Eis. Als es
zurückgeht: Steppe. Dann beginnen sich mächtige Wälder auszudehnen, wo
vorher Steppe gewesen war. Auf einer kleinen Lichtung ein winziges Anwesen,
aus Flechtwerk erbaut, durch Palisaden eingezäunt. Ein enger Kriechgang führt
in eine kleine Erdhöhle, die Mutterfigur steht immer noch da, inmitten von
Opfergaben: Kupferdolchen, Ketten mit Fajenceperlen und einem Gefäß aus
dunklem Stein. Wieder wechselt das Aussehen der Landschaft. Die Kuppe des
Berges ist kahl, eine Wehrburg krönt ihre höchste Stelle. Ein paar kleine
Häuser mit Wirtschaftsgebäuden ducken sich an den Hang, wie, um Schutz zu
suchen im Schatten der über ihnen aufragenden Burg. Kleine Äcker, von wilden
Hecken eingefasst, wechseln mit lichtem Wald ab, in dem Schweine, Kühe und
Schafe weiden. Der Eingang zur Erdhöhle ist mittlerweile verschüttet und mit
Brombeergebüsch verwachsen. Die Einwohner, von Kirche und Adel
eingeschüchtert, meiden den Platz, der bald darauf zur "Höll" erklärt wird. Was
sie in ihrem Inneren verbirgt, die Höll, wird zerstört, doch die Mutterfigur und
das Gefäß kann von verborgen hausenden "Saligen" noch vorher versteckt
werden. Später, als kein Einwohner mehr an die Höhle denkt, stellen diese, in
der Heimlichkeit der tiefen Wälder überlebenden "Teufel" die Statue und die
Schale wieder an den heiligen Platz zurück, den sie noch lange, lange
betreuen. Dabei werden sie von den Kleinen Wesen unterstützt, an die jetzt
keiner mehr glaubt. Manchmal begegnet der ein - oder andere Holzfäller einem
von ihnen im Wald. Daraus entstehen dann die Sagen, die man sich noch heute
erzählt, deren innere Wahrheit aber nicht mehr erkannt wird. Dann ist auch die
Zeit der Saligen abgelaufen. Die Wälder, die ihnen Unterschlupf und Nahrung
geboten hatten, werden mehr und mehr gerodet und machen Äckern und
Wiesen Platz. Ihr Holz dient der Glasindustrie und wird auch in den rasch
wachsenden Städten gebraucht. Die Kuppe des Berges ist leer. Nach der
Zerstörung der Burg wird aus ihren Steinen eine neue, repräsentative, am
sanften Südabhang des Berges erbaut. Die neuen Feuerwaffen lassen
Wehrburgen ihren Zweck verlieren. Das Dorf wächst, Arbeitskräfte werden für
den großen Gutsbetrieb gebraucht, Leibeigene schaffen den Reichtum der
Besitzer. Über dem ehemaligen Heiligtum wird das Haus des Gutsverwalters
erbaut. Niemand weiß, dass nur wenige Meter neben dem neuen
Brunnenschacht die Erdmutter noch immer über diesen Ort wacht. Dann
passiert das Unglück mit der kleinen Tochter eines der Verwalter in der langen
Reihe von Schaffnern. Die kleine Anna, gerade neun Jahre alt, bricht durch die
morsche Abdeckung des Brunnenschachtes und stirbt an Schädelbruch. Sie ist
eines jener jungen Wesen mit noch offenen Herzen und Sinnen.
Deshalb vernimmt sie auch den Herzschlag der Grossen Mutter in der Tiefe, sie
folgt ihrer Katze, seit jeher eine Begleiterin der Göttin, in den Keller, wo das
Unheil seinen Lauf nimmt. Hat die Dunkle in der Tiefe ein Opfer gefordert, um
sich für die lange Zeit ihrer Missachtung zu rächen?
93
Das sind Projektionen der Menschen, sie fordert keine Opfer, sie verströmt sich
auf die Erde, und nimmt nur zu sich, wessen Zeit abgelaufen ist.
Niemand will mehr in diesem Haus wohnen, es gilt als verwunschener Ort.
Damit haben die Menschen auch Recht, denn Heilige Plätze, die nicht mehr
erkannt und geehrt werden, sind unerlöste Plätze. Deshalb holte die Göttin
eine ihrer Dienerinnen, eine derer aus Avalon, die immer schon Hüter des Alten
Wissens gewesen sind, hierher, um diesen Ort wieder zum Blühen zu bringen.
Sie würde ihn wieder zu einer "Glasinsel" machen, ihn wieder mit allen anderen
Ebenen verbinden. So könnte er wieder zu einem heiligen Zentrum, dem
Herzen des Landstriches werden, mit Ihrem Segen.
Langsam schwinden die Visionen, ich bin wieder hier, wo die Anwesenden,
Menschen und Anderswelt - Wesen, Lebende und Verstorbene, andächtig den
Worten der Göttin gelauscht hatten. Nun hebe ich den Kelch in die Höhe, um
Ihre Kraft in ihn einfließen zu lassen. Er beginnt zu leuchten und pulsiert in
meinen Händen wie ein lebendes Wesen. Sein Leuchten verstärkt sich noch, als
mein Hohepriester ihn auch noch mit der Macht des Gehörnten füllt. Von Hand
zu Mund und von Mund zu Hand wird er weiter gegeben mit Kuss und Segen.
Alle trinken daraus, und dennoch wird er nicht leer, denn er ist Leib und Seele
der Grossen Mutter, die sich ewig verströmt und zusammen mit der zeugenden
Kraft des Gottes das Leben erneuert. Dann zieht sich die Göttin aus meinem
Körper zurück und Morgan - Anna trinkt den letzten Schluck vom Wein, der
sich noch im Kelch befindet. Der ist jetzt leer, doch ich bin voll Freude,
Dankbarkeit, Stolz und Demut zugleich, weil ich Ihr Gefäß hatte sein dürfen.
"Kikerikiiii!" und wieder " kikerikiiii! " Vorbei war es mit der Nachtruhe, obwohl
es noch nicht hell war. " Sehr gewöhnungsbedürftig, dieses Landleben," stellte
ich fest und drehte mich noch einmal herum, um vielleicht wieder einschlafen
zu können. Doch damit war nichts.
Um mich herum schliefen noch alle, wie beneidenswert! Leise, um niemanden
zu wecken, schlich ich mich ins Freie. Ich wollte einen Brunnen finden, um
mich ungestört zu waschen. Sich morgens im Freien im kalten Brunnenwasser
zu waschen, das entsprach meinem Klischee vom "ursprünglichen Leben ". (
Nachtrag: 22. 3. 90: Später, als ich dann wirklich hier lebte und vorderhand
jeden Tag dazu gezwungen war, da wir noch kein Wasser eingeleitet hatten,
träumte ich, besonders im Winter, von Badewannen, voll mit heißem Wasser.
Doch, wir wollen nicht vorgreifen! Hier war ich also und wusch mich prustend
und schnaubend unter dem kalten Strahl des Brunnens, den ich endlich doch
gefunden hatte). Das war wirklich erfrischend, und nun war ich endgültig wach.
Wieder schlich ich mich ins Haus. Auf einem Gaskocher bereitete ich heißem
Kaffee, genau das, was ich jetzt brauchte. Hier, auf der Bank vor "meinem"
Haus, mit Kaffee und Gebäck zum Frühstück, den erwachenden Tag zu
begrüßen; das war eines der Dinge, von denen ich oft genug geträumt hatte.
Nun war es Wirklichkeit geworden., zwar noch nicht ganz, aber doch
mindestens in erreichbare Nähe gerückt. Doch, vor allem Anderen mussten wir
den Brunnen freilegen, dazu waren wir schließlich her gekommen. Es eilte,
dass wusste ich, wenn auch nicht, warum. Ich ging zurück ins Haus und ließ,
ungeachtet der empörten Proteste, einen lauten Weckruf erschallen.
94
Verschlafene Gestalten fuhren aus ihren Schlafsäcken hoch: "He, Anna, bist du
vom bösen Schwein gebissen? Es ist doch noch tiefste Nacht, du
Sklaventreiberin, lass uns schlafen!" Gemurre von allen Seiten. Dann erhoben
sie sich aber doch, um etwas später, Spaten bei Fuß, lachend und witzelnd vor
mir zu stehen: "Arbeitskompanie Ynys Vytrin, vollständig angetreten,
gestrenge Frau Hohepriesterin, aber ohne Kaffe geht hier gar nichts!"
Bald darauf hatten wir einen Holzbock zusammengezimmert, der die Seilwinde
stützen sollte. Wir Frauen sollten in Eimern die abgegrabene Erde wegtragen,
zwei Männer, Alfred und Georg, wollten abwechselnd mit Spitzhacke und
Schaufel in die Tiefe graben. Franz zog mit Hannes die Seilwinde hoch. Es war
eine mühsame, anstrengende Arbeit. Trotz der Kühle im Keller schwitzten wir
alle bald so, dass unsere Leibchen tropfnass waren.
Meine tiefste Dankbarkeit gilt meinen Freunden, die mir an diesem Tag ihre
ganze Kraft zur Verfügung stellten, ohne jemals meine Visionen in Zweifel zu
ziehen.
Es war schon Mittag, und wir hatten gerade erst einen Meter in die Tiefe
geschafft. Wenn das so weiterginge, brauchten wir noch einige Wochenenden,
um den Grund des Brunnens zu erreichen. Würden meine Freunde dann auch
noch bereit sein, mir ihre Zeit und Arbeitskraft zu schenken? Konnte ich das
überhaupt von ihnen annehmen? Wie auch immer, jetzt musste einmal
Mittagspause sein, nachher konnten wir dann sehen, wie weit wir kämen.
Draußen, vor dem Haus, stand die Nachmittagssonne mittlerweile schon
ziemlich tief, bald würden wir aufbrechen müssen, egal wie weit wir gekommen
wären mit unseren Bemühungen. Der Arbeitsrhythmus wurde schon recht
schleppend, wir waren sehr müde. Hannes arbeitete mit der Spitzhacke.
Erstaunlich, wie gleichmäßig seine Bewegungen noch waren! Trotz seiner
hageren Gestalt war er offenbar sehr zäh. Poch - poch, poch - poch, hörte ich
seine Spitzhacke die verdichtete Erde lockern. Fast klang es wie Herzschlag,
stetig und gleichmäßig.
"Zigarettenpause!" tönte Georgs Stimme neben mir. Helga, Beate und Hannes
folgten sichtlich erleichtert diesem Signal. Vier glühende Punkte glommen in
der Dunkelheit des Kellers auf. Ich fragte erstaunt: "Und Hannes, hat er sich
etwa das Rauchen abgewöhnt, oder ist er schon in Spitzhackentrance?“ fragte
ich erstaunt. „ Ich bin hier, neben dir, hier arbeitet keiner“, erklang Hannes'
Stimme neben mir, " außer vielleicht der unheimliche Geister- workaholic,
huhu!" Dieser musste sich jetzt geradezu in einen wahren Arbeitsrausch hinein
steigern, denn immer lauter wurde das Pochen. " Lacht nicht! " rief ich, jetzt
schon alarmiert, " dieses Geräusch kenne ich, wir müssen ganz nah sein, ich
brauche mehr Licht!" Jemand reichte mir eine starke Stablampe, und ich stieg
in die Grube hinunter. Sie war inzwischen schon zwei Meter tief geworden. Das
Geräusch kam aus der Wand des Brunnenschachtes, laut und deutlich war es
zu hören, offenbar aber nur für mich.
"Klopf die Wand ab," riet Franz mir und reichte mir einen Hammer herunter,
worauf sich mein Hämmern zusammen mit dem Pochgeräusch zu einem
wilden Stakkato aufschaukelte.
95
Einer der unregelmäßigen Steine brach aus der Wand. Fast wäre er mir auf die
Zehen gefallen, ich konnte mich gerade noch durch einen raschen Sprung
davor retten. Das Loch gähnte mir wie ein dunkler Rachen entgegen, das
Schlagen des Herzens, wem auch immer es gehören mochte, drang daraus
hervor, jetzt durch keine Wand mehr gedämpft. In meiner Aufregung konnte
ich nur heiser flüstern: "ich habe es gefunden, kommt, schnell!" Hektisches
Gescharre, Stimmen rufen durcheinander, Lampen werden angezündet,
Hannes steigt in den Schacht und bricht mit einer Eisenstange weitere Steine
aus der Wand. Atemlose Stille herrscht, als wir, einer nach dem Anderen,
durch das Loch klettern.
Ich kenne diesen Ort, ich war schon hier gewesen, damals, als Georg meine
geistige Spur verloren hatte auf unserer Reise.
Finsternis,.....Enge,......Kälte,......Feuchtigkeit...Meine Hände vorstreckend,
taste ich mich weiter und stoße gegen Erdbrocken. Sie versperren mir den
Weg. Ich muss sie wegräumen, es geht so schwer, so schwer. Ich grabe,
grabe, wie ein großer Maulwurf grabe ich mich durch die weiche Erde. Endlich
gibt sie nach, da streift ein Luftzug meine Wange, dann trete ich auf festen
Grund. Wie im Traum gehe ich sicher und unbeirrt durch diesen, sich jetzt
erweiternden Gang. "Warte, Anna, geh nicht allein! Wer weiß, ob der Gang
hält! So warte doch auf mich!" Georgs Stimme klingt alarmiert und besorgt,
doch wie durch Watte, zu mir durch das immer lauter werdende Klopfen, dem
ich, willenlos wie eine Marionette, folge, folge....bis ich in der Erdhöhle stehe,
die von schattenhaften Gestalten erfüllt scheint. Geflüster, Geraune: "...
endlich ... gekommen ..... endlich ... endlich ...." Auf dem Podest aus Erde
steht sie, die kleine Figur aus Kalkstein, Sie, die so lange gewartet hat. Mit
bebenden Fingern nehme ich sie auf und drücke sie an mein Herz, das im
gleichen Rhythmus schlägt wie das Ihre.
Die Freunde sind mir jetzt alle nachgekommen und stehen im Halbrund um
das Podest. Ihre Mienen drücken fassungslose Verwunderung aus. Wo die Figur
gestanden hatte, wird nun eine Vertiefung sichtbar. Ihr entnehme ich eine
ziemlich kleine, kelchartige Schale aus dunklem Stein. Sie beginnt rhythmisch,
im Herzschlag zu pulsieren und leuchtet das Dunkel aus mit strahlendem Licht,
das keine physikalische Quelle hat.
Ich hebe sie hoch, präsentiere sie der versammelten Runde und Georg flüstert
ehrfürchtig: "der Gral, sie hat den Heiligen Gral gefunden!"
In der tiefen Stille, die sich jetzt ausbreitet, beginnt aus mir ein Lied
aufzusteigen, dumpfe Töne, wie aus der Tiefe der Erde geboren, bringen die
Luft der Höhle zum Vibrieren. "Ancient mother, I hear you calling, ancient
mother, i hear your song, ancient mother, i hear your laughter, ancient
mother, i taste your tears." Andächtig und ergriffen singen alle meine
Geschwister mit. Hohe und tiefe Stimmen, dunkle und helle mischen sich zu
einem Akkord der Anbetung, der die Höhle erfüllt.
96
"Die Statue soll hier bleiben. Hier ist ihr Reich seit Jahrtausenden, und hier soll
die heilige Stätte wieder erstehen, offen für alle Menschen, die der Mutter Ehre
erweisen wollen, ungeachtet ihres Bekenntnisses und der Namen, welche sie
Ihr geben. So sei es!" sprach ich laut in den Klang des Liedes hinein und stellte
die Figur wieder an ihren Platz. Das Singen hatte sich jetzt verändert:..."Isis,
Astarte, Diana, Hekate, Demeter, Kali, Inanna.....Isis, Astarte, Diana, Hekate,
Demeter, Maria, Inanna......." klang gefühlvoll das Singmantra, das unsere
Gruppe bei allen Festen gerne intonierte. Und so singend, wandten wir uns um
und gingen den sich wieder verengenden Gang zurück zum Brunnenschacht.
Die Schale nahm ich mit. Sie sollte bei unseren heiligen Handlungen der Kelch
der Erneuerung sein.
Alle waren wieder an die Oberfläche geklettert. Die Werkzeuge wurden
eingesammelt und sollten zu den Autos gebracht werden. Da, plötzlich, lautes
Rumpeln, Krachen! Staub, aus dem Einstiegsloch dringend, hüllte uns ein. Als
er sich wieder legte, erkannten wir, dass der Gang zur Höhle eingestürzt war.
Betroffenes Schweigen breitete sich aus, in dem man die Gedanken der
Einzelnen förmlich hören konnte: "Wenn sich nun noch jemand in der Höhle
befunden hätte...? Oder vielleicht alle? Niemand hätte uns dann gefunden!" An
dieser Vorstellung wollte niemand lange festhalten, und doch stieg sie immer
wieder auf in jedem von uns und erfüllte uns mit Schaudern. Ich aber wusste
jetzt endlich, warum ich so dringend hierher gerufen worden war, es war
wirklich der letzte Moment gewesen. Später hätte niemand mehr den Einstieg
gefunden, die Hüterin des Ortes wäre in den Grüften der Vergessenheit
begraben geblieben, der Kelch der Erneuerung hätte sein segensreiches Wirken
vielleicht niemals entfalten können. (Nachtrag: Monate später fanden wir dann
einen anderen Zugang; aber das ist eine andere Geschichte und soll ein
andermal erzählt werden.)
2.9.89
"Das ist Wahnsinn, A n n a, mein Buch, sie nehmen es!" Georgs
Triumphgeschrei erklang aus der Ecke, in der unser Telefon stand und ließ
mich erschrocken zusammenzucken, wobei mir ein Glas entglitt, das ich gerade
in der Hand hielt, um es abzutrocknen. "Jetzt sind wir unsere Sorgen los, wir
werden reich, Anna, du kannst kündigen!" Voller Überschwang vollführte er
einen wilden Indianertanz durch die ganze Wohnung. " Georg, stampf' nicht so,
die Frau Svihalek wird gleich heraufkommen und sich wieder fürchterlich
aufregen, du kennst sie doch: 'des geht aber net, mei Luster wogelt jedes Moi,
wann se durchs Zimma gengan. Mochns was mit ihnan Fuassbodn, Herr
Lassnitz!" ( Aufforderung der unter uns wohnenden Mieterin, das Trampeln zu
unterlassen oder den Fußboden zu erneuern) Das wird nun bald ein Ende
haben, unter unserer neuen Wohnung wohnt keine Frau Svihalek, sondern die
Muttergöttin, und die ist, glaube ich, nicht geräuschempfindlich . Nun, von
Reichtum ist natürlich weit und breit keine Spur, denn ein Buch zu
veröffentlichen, hat noch niemand reich gemacht, außer natürlich, es handelt
sich um einen Bestseller. Das zu glauben, so weit ist uns beiden der
Realitätssinn noch nicht abhanden gekommen
97
Das tut unserer Freude aber im Moment keinen Abbruch.
Wir schmiedeten glücklich die phantasievollsten Pläne und entwarfen ein
Zukunftsszenario nach dem anderen; eines immer noch wunderbarer als das
andere. Ich kündigte an meinem Arbeitsplatz, was großes Erstaunen bei
Kollegen und Patienten hervorrief, am meisten aber bei mir selbst. Erstaunen
darüber, dass keinerlei Zweifel und Existenzängste die Folge davon sind. Ich
fühle mich im Fluss und in Harmonie mit dem Leben und vertraue darauf, dass
sich auf unserem eingeschlagenen Weg die richtigen Türen öffnen werden.
7. 9. 89
Es geschah im Zwischenreich, das die harten Grenzen von Wachen und Schlaf
verwischt, und in dessen Hoheitsgebiet ich mich gerne noch etwas aufhalte,
wenn ich noch nicht ganz bereit bin für die Forderungen des Tages. Dessen
Geräusche drangen zwar schon, wie mit unsichtbaren Tentakeln durch den
schmalen Spalt, den der zurückweichende Schlaf hinterließ, sie wurden aber
von meinem gewitzten Unterbewusstsein geschickt in eine, gerade ablaufende
Traumhandlung eingebaut. Die Folge davon war, dass ich dem Tag noch eine
winzig kleine Spanne Schlaf abgeluchst hatte. Das monotone Geräusch von
Regen erklang in meinen Traum hinein, der mich eben verlassen wollte. Nun
aber blieb er bei mir und veränderte die sonnige Szene, indem er schnell
Wolken aufziehen ließ, die sich gleich darauf in einem milden, sanften Regen
entluden. Ich hatte gerade am Ufer meines kleinen Teiches gestanden,
demselben, wo mir einst Margot das erste Mal erschienen war. Diesmal war
das Ufer leer. Die Regentropfen liefen an Halmen und Blättern des Schilfs
herab und geleiteten das Wasser des Himmels zum Wasser der Erde. Die
Grenzlinien beider verwischten sich und wurden zu einem einzigen, grauen
Schleier, der weich über der Landschaft lag. Kein Luftzug kräuselte den
bleiernen Spiegel des Teiches, und doch war Bewegung in ihm. Nahe dem Ufer,
dort wo gerade noch die Kiesel seines Grundes zu erkennen waren, bewegte
sich etwas. Aufmerksam geworden, ging ich näher und erkannte ein
kleines......Kind? Ein winzig kleines Baby lag im Teich und hatte offenbar nicht
die geringsten Atemprobleme unter Wasser. Um solche Dinge kümmern sich
Traumrealitäten nicht, sie gehen mit nonchalanter Großzügigkeit über diese
Nebensächlichkeiten hinweg. Diese Erfahrung macht jeder, sobald er einige
Übung im Umgang mit Träumen hat. So auch ich. Also hob ich ohne jede Eile
das kleine Wesen aus dem Wasser, es war ein winziges Mädchen. Ganz gegen
die Gepflogenheiten von Babys begann es weder zu schreien, noch schien es
hungrig zu sein. Es lächelte und sagte mit deutlicher Artikulation: " Gut, dass
du da bist, Anna, nimm' mich mit zu dir, bitte!" Unschlüssig verharrte ich eine
Zeitlang. Sollte ich überhaupt noch ein Kind haben in meinem Alter? Doch ich
hatte das kleine Wesen bereits ins Herz geschlossen, und alle Fragen waren
überflüssig, also trug ich es durch den strömenden Regen nach Hause. So
schwer war es mir zuerst gar nicht vorgekommen, und es wurde immer noch
schwerer. Zuletzt konnte ich es nur mehr unter Aufbietung der letzten Kräfte
ins Haus tragen. Aber, da war es kein Baby mehr, es war während der kurzen
Strecke ein Kind von etwa neun Jahren geworden:
98
Anna, das Mädchen mit der Katze. Langsam ging es durch die Stube, als würde
es eine lang vertraute Heimat begrüßen. Am großen Tisch blieb es stehen und
zog mit seiner zarten Hand die Kerben nach, welche seit langer Zeit zu Staub
zerfallene Hände dort eingeritzt hatten, die Spuren längst verwehter
Mahlzeiten. Anschließend ging es zum Fenster und sah in den Regen hinaus,
der immer noch mit der gleichen Monotonie herabrauschte und glucksend
durch die Regenrinne im Boden verschwand. Dieses Geräusch ließ mich nicht
gleich erkennen, dass die kurze Frist abgelaufen war, die ich mich im
Zwischenreich noch hatte aufhalten dürfen. Deshalb war ich etwas
desorientiert, als ich mich im Bett liegend, wiederfand.
Nun, immerhin, es ist schon unser neues, selbstgebautes Bett in unserem
neuen, selbstrenovierten Wohn - Schlafraum, in unserem neuen, eben neu
ausgemalten Haus in unserem neuen, frisch angelegten Garten, auf unserer
frisch gemähten aber altvertrauten Apfelbaumwiese. Vor wenigen Tagen sind
wir eingezogen, nachdem wir, in einem Anfall von Leichtsinn, unsere Wiener
Wohnung aufgegeben haben. Myriam wollte sie nicht übernehmen, und wir
können sie uns nicht zusätzlich leisten. Ja, Myriam; sie hat ihre Ausbildung als
Sozialarbeiterin abgeschlossen und sucht Arbeit. Außerdem will sie sich weiter
zur Therapeutin ausbilden, fühlt sich hingezogen zur Arbeit mit Ausgegrenzten,
Gestrauchelten, Verstörten und Bedürftigen. Ich weiß, sie schmiedet Pläne
über ein Projekt mit Drogensüchtigen, und ich wünsche ihr Kraft und Ausdauer
dazu. Wir telefonieren häufig miteinander und sprechen über ihre
Zukunftspläne.
Seltsam, die neue, räumliche Distanz scheint sich eher verbindend
auszuwirken. Myriam hat mir jetzt erzählt, wie die Beziehung zu Joschi
zustande gekommen ist, dass diese sich aus einer anfänglichen Freundschaft
entwickelt hat, und dass sie mit ihm so unbeschwert lustig sein kann, wie nie
zuvor mit irgend jemand Anderem. Sie berichtete mir von ihren momentanen
Schwierigkeiten mit ihrem Vater, der seit ihrer Kindheit für sie eine Mischung
aus Superman und Weihnachtsmann gewesen ist. Nun erlebt sie ihn als den
Menschen, der er ist, der, wie wir alle mit sich und seinen Gefühlen ins Reine
kommen muss, ein Mensch mit Stärken und Schwächen, ein normaler Mensch
und nicht mehr der Papi ihrer Kleinmädchentage. Das bedeutete eben
Erwachsenwerden, Myriam, mein kleines, großes Mädchen! Plötzlich
aufkommende Zärtlichkeit überschwemmte mich wie eine warme Welle, und
ich gab mich ihr hin, ließ mich überfluten, überließ mich den aufsteigenden
Erinnerungen an ihre Kleinkind - und Babyzeit. So süß war das Gefühl
gewesen, ihre winzigen Fäustchen in meinen Händen zu halten, ihren
knuddeligen Po zu streicheln.....sollte sie das Baby in meinem Traum gewesen
sein? Und das Mädchen Anna? Was hat sein Auftauchen zu bedeuten? "Ach,
manchmal ist eine Pfeife auch nur eine Pfeife," dachte ich in Erinnerung an
diesen Ausspruch des großen S. Freud, "nicht immer hat alles eine so
hintergründige Bedeutung!" Damit tat ich das Thema ab und entschloss mich,
endgültig aufzustehen.
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Die größeren Tropfen des sanften Regens bildeten zusammen mit den
mikroskopisch kleinen des Nebels einen für meine Blicke undurchdringlichen
Vorhang, und ich fühlte mich wie auf einer einsamen Insel inmitten eines
Wolkenmeeres.
Das Haus schien darauf dahinzutreiben wie ein steuerloses Schiff, so als wäre
es nicht ganz sicher, dass es, wenn sich der Nebel lichtete, wieder auf dem
vertrauten Platz landen würde. Genauso trieben meine Gedanken dahin,
uferten aus, fanden nirgends einen Hafen und strebten endlich einer Richtung
zu, der Zukunft. Auch die lag jenseits des Vertrauten, verborgen im Nebel. Wie
zerklüftete Eilande ragten einzelne, ungeklärte Fragen im Meer der
Ungewissheit auf, doch ich fürchtete mich, dort anzulanden und daran zu
scheitern. Ich entging ihnen nicht, das wusste ich. Die Erste lautete:" Das Land
ist verpachtet, wird nach konventionellen Methoden bearbeitet. Wie können wir
beide, Georg und ich, es naturgemäß bestellen? Wir haben keine Maschinen,
kein landwirtschaftliches Wissen, keine Mittel." Das Wissen ist dabei noch die
am einfachsten zu umschiffende Klippe, man kann es sich aneignen. Alles
andere? Es war wie ein Strudel, der das Schiff meiner Gedanken hinab zog auf
den Grund, und der hieß und heißt Mittellosigkeit. Das Geld von Georgs Buch
ist fast aufgebraucht, obwohl wir äußerst sparsam damit umgegangen sind.
Bezahlte Arbeit ist weit und breit nicht in Sicht. Und doch ist da keinerlei
Hoffnungslosigkeit. Oft habe ich das unbestimmte Gefühl, als ginge ich eine
Strasse entlang, hinter deren nächster Ecke die Lösung auftauchen muss.
Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, erwarte ich, dass an diesem Tag sich etwas
ereignen wird, irgend etwas Wunderbares, der große Durchbruch. Nun, heute
würde er nicht stattfinden, das glaubte ich zu spüren. Ich holte mein großes
Garten - und Ackerbaubuch vom Regal und vertiefte mich darin. Dieser Tag
war wie geschaffen dazu, sich weiterzubilden. Georg wollte im Keller
Lagerregale zu bauen. Es würde ein geruhsamer Tag werden.
Das Telefon läutete. Ich riss mich von Fruchtfolge und Kompostbereitung los
und ging in den Vorraum, wo der Apparat stand. "Mama, ich bin's Myriam. Wie
geht's euch beiden?" Nach beiderseitigem, einleitenden smalltalk dann: "Mama,
können wir, Joschi und ich, am Wochenende zu euch hinaus kommen?" "
Nichts, was mir mehr Freude machen könnte, Kindchen, soll ich was
Bestimmtes kochen? Und kommt ihr mit einem Auto oder mit der Bahn, und
wie lang bleibt ihr denn?"
Hektische Betriebsamkeit bricht aus. Matratzen werden in unserer Wohnküche
aufgelegt - das Schlafzimmer soll die Gäste beherbergen - Bettwäsche( mein
Gott, haben wir denn auch genug?) hervorgekramt, Menuepläne besprochen.
Irgendwann zwischen dem Durchsehen unserer Vorräte und aufgeregtem
Putzen halte ich inne. Was geschieht mit mir? Was treibe ich denn da?
Falle ich zurück in längst überwunden geglaubte Perfektionsansprüche, nur weil
meine Tochter und mein Sohn?.... Mein Stiefsohn?.... Mein Fast Schwiegersohn?....
Verdammt, was ist er denn jetzt eigentlich? "Georg!" Er kommt gerade
staubbedeckt aus dem Keller. "Georg, was ist der Joschi denn eigentlich zu
mir?"
100
Er reibt sich die Nase, das heißt, dass er intensiv denkt. "Na, Dasselbe was die
Myriam zu mir ist," antwortet er dann spitzfindig. Genauer kann er das
Verwandtschaftsverhältnis auch nicht definieren. Im anschließenden Gelächter
löst sich meine verkrampfte Betriebsamkeit auf in das, was sie eigentlich von
Anfang an gewesen war: riesengroße Freude über den angesagten Besuch der
beiden jungen Leute, unserer Kinder. Die treffen am späten Nachmittag mit
einem geliehenen Auto ein und finden das Häuschen gemütlich, die Landschaft
trotz des Regens wundervoll, das fehlende Bad und das Plumpsklo im Garten
exotisch und uns beide genau hierher passend. Freudige Umarmung, Küsse auf
die Wange, die Familie ist vereint. Alles ist harmonisch, und doch werde ich das
Gefühl einer gewissen Spannung nicht los. Unterschwellig kriecht es in mir
hoch und verhindert, dass ich mich der anheimelnden Stimmung ganz
hingeben kann. Und ich glaube auch zu spüren, von welchem Familienmitglied
diese Spannung ausgeht: es ist eindeutig Myriam. Nach dem Kaffee lade ich sie
zu einem kleinen Spaziergang ein, während Georg Joschi stolz die
Renovierungsarbeiten zeigt. Stumm gehen wir über die Wiese, dem Waldrand
zu. Es hat zu regnen aufgehört, die untergehende Sonne malt einen
goldorangenen Streifen an den Horizont, die einzig leuchtende Farbe im
verschwimmenden Grau dieses Regentages.
"Erzähl, Myriam, was ist los," versuche ich meiner Tochter eine Brücke über
den trennenden Abgrund ihrer Unabhängigkeitsstrebungen zu bauen, die sie,
zaghaft zuerst, doch dann unter dem Druck ihres Problems, beherzt überquert.
"Mama, ich liebe Joschi," beginnt sie nun. "Wie schön," antworte ich, in
ehrlicher Freude zwar, doch wissend, dass dies eine einleitende Feststellung ist
und nicht das eigentliche Thema. Schweigen. Sie wartet sichtlich auf eine Frage
von mir. Die kommt aber nicht, verwirrt sieht sie mich an. Ich wende mich ihr
mit einem fragenden Blick zu, warte. Endlich, nach einer langen, Spannung
erzeugenden Pause: "Ich erwarte ein Kind."
Überraschung, Freude, Verwirrung; es sind viele, einander widerstrebende
Gefühle, die mich in diesem Augenblick überfluten. Plötzlich und ohne
Vorwarnung finde ich mich in der Rolle meiner eigenen Mutter wieder. Müssen
wir denn, wie in einer Endlosschleife, immer die gleichen Lebenssituationen
durchspielen? Jetzt erlebe ich mit einem Mal, was meine Mutter damals bewegt
haben muss. Eine Ahnung von Verstehen stieg in mir auf. Doch auch
gleichzeitig das Wissen, das mich wie ein heller Blitz durchzuckte: hier und
jetzt konnte die Endlosschleife durchbrochen werden, indem ich, Anna, so
reagierte, wie es mir entsprach. Ich bin nicht meine Mutter! Glasklar wusste ich
in diesem Moment: wir konnten hier und jetzt eine andere Möglichkeit
durchspielen, die wieder andere Konsequenzen nach sich ziehen, andere
Wahrscheinlichkeiten eröffnen, ihre eigene Dynamik entwickeln würde. Das ist
das große Abenteuer Leben. Und genau das durchflutete mich zuletzt wie ein
warmer, starker Strom und verhalf mir zu den Worten, die für mich in diesem
Augenblick und in dieser Situation die richtigen waren. Ich umarmte meine
Tochter und teilte mit ihr diese Wärme, die mich erfüllte. Erst später, nach
Minuten des Schweigens, fragte ich sie: "Willst du es bekommen?" Damit hatte
ich anscheinend eine Schleuse geöffnet, deren Tore mit viel
Selbstbeherrschung geschlossen gehalten worden waren. Sie brach in Tränen
aus und schluchzte: "Ach, Mama, ich fühle mich dem Ganzen einfach noch
nicht gewachsen. Jetzt habe ich die Ausbildung erst beendet.
101
Ich will doch noch weiterlernen, eine gute Arbeit finden, Fuß fassen in meinem
Beruf, das ist doch ohnehin schon schwierig genug, und dazu noch ein Kind!"
Wer konnte das besser verstehen als ich, die ich vor etwas mehr als zwanzig
Jahren in der gleichen Situation gewesen war?
Doch ich hatte keine Unterstützung gehabt, war von allen Seiten unter Druck
gesetzt worden, und niemand hatte mich jemals danach gefragt, was ich den
wollte und fühlte und dachte. Aus dem Schmerz dieser Erinnerung heraus
eröffnete ich Myriam nun auch eine andere Perspektive:
"Wenn du dich entscheidest, das Kind zu bekommen - und es ist zuerst einmal
deine Entscheidung, Joschi kommt erst an zweiter Stelle - wirst du die ganze
Unterstützung deiner Familie haben. Georg und ich werden für dich und dein
Kind da sein, du kannst deine Ausbildung fortführen und in Ruhe in deinem
Beruf Fuß fassen. Du musst dich nicht vom Leben abschneiden. Allerdings, und
darauf bestehe ich: du bist die Mutter und trägst die Hauptverantwortung für
dein Kind. Wir nehmen dir das nicht ab, aber mit unserer Unterstützung kannst
du rechnen und Joschi auch, wenn er seine Vaterpflichten erfüllen will. Er ist
noch sehr jung, mit vierundzwanzig Jahren sind Männer noch nicht sehr reif,
heutzutage."
Das Schluchzen verebbte schließlich, Myriam hatte sich wieder etwas gefangen.
Sie wirkte viel gefasster, als sie sagte: "Danke, Mama, ich werde darüber
nachdenken und auch mit Joschi darüber sprechen. Er wünscht sich das Kind
nämlich, aber, er will mich nicht beeinflussen. Ach, weißt du, manchmal wäre
es fast leichter, wenn ich gegen ihn oder euch kämpfen müsste, aber so, selbst
die Entscheidung treffen zu müssen, das ist nicht leicht, nein, wirklich nicht!"
Nun musste ich, fast gegen meinen Willen, doch laut auflachen. Auf den
erstaunten Blick Myriams hin, sagte ich: "Es ist doch gleich, was man tut als
Mutter, es ist sowieso immer das Falsche!" Aber," sprach ich, jetzt wieder
ernst, weiter, "ich kann dir eine Entscheidungshilfe anbieten, wenn du sie von
mir in der Form annehmen willst. Komm mit mir nach Hause, wir machen eine
Phantasiereise in dein Inneres, ins Reich der Mütter." Myriam kämpfte mit sich
selbst, das konnte ich ihr ansehen.
Nun also, anscheinend werde ich nun Großmutter! Aber ich bin doch noch viel
zu jung, Hilfe! Ich fühle mich keineswegs schon alt genug, um Enkelkinder zu
hüten, so viel habe ich noch vor!
Aha, meine Gefühle sind denen von Myriam gar nicht so unähnlich, sehr
interessant! Wir Frauen werden wohl immer von einer Schwangerschaft
überrumpelt, sei es jetzt eine eigene oder die der Töchter!
Für Myriam geht es jetzt aber auch um das Zulassen von Nähe, meiner Nähe.
Gerade erst hat sie sich einigermaßen von mir gelöst, da drohe ich ihr durch
ihre eigene Mutterschaft schon wieder drohend näher zu rücken. Ob ich wohl
richtig reagiert habe? Gibt es überhaupt ein Richtig oder Falsch in dieser
Situation? Ich glaubte jedenfalls den inneren Zwiespalt in Myriam und zu
erkennen und drang deswegen nicht weiter in sie.
102
11.9.89
Am späteren Abend,- wir hatten Feuer gemacht, denn die Abende sind jetzt
schon recht kühl in dieser Gegend, - bat mich Myriam dann doch, etwas scheu,
diese Reise mit ihr zu machen. Ich hieß sie, sich entspannt auf das Bett zu
legen und ganz gleichmäßig und tief in den Bauch zu atmen. Als sie so
entspannt war, wie es ihr nur möglich war, führte ich sie im Geist zu dem Teich
auf unserer Wiese und bat sie, hineinzugehen. "Soll ich dich begleiten?" fragte
ich sie, doch sie bestand darauf, alleine zu gehen. Also nahm ich meine
Schamanentrommel von der Wand und begleitete ihren Gang ins Reich der
Mütter akustisch, in gleichmäßigem Herzschlagrhythmus......
Als sie wiederkam, wollte sie nicht gleich über ihre Erlebnisse sprechen. Leise
ging ich aus dem Raum, wo sie, gleich danach, entspannt einschlief.
In der gleichen Nacht hatte ich einen Traum.....
......Es war dämmrig auf dem Grund des Teiches. So bemerkte ich nicht gleich,
dass ich nicht alleine war. Im Hin - und Herfluten des klaren Wassers erkannte
ich, Wasserpflanzen gleich, sich wiegende Gestalten, Frauen.......Es waren
junge und auch schon ältere, schlanke und auch untersetzte, viele mit
ausladenden Formen, manche in unterschiedlichsten Stadien der
Schwangerschaft, viele mit kleinen Kindern im Arm. Aber auch Alte, über die
fruchtbaren Jahre hinaus, waren da, die Großmütter, Ahninnen ihrer Sippen,
Behüterinnen der Nachkommen. Im Zentrum stand eine Grosse,
Respekteinflössende mit einer Spindel in der Hand: Frau Holle. Sie wachte über
das Treiben in ihrem Reich. Ihre hohe Gestalt war die Quelle eines diffusen
Lichtes, das das Dämmer durchdrang. Ich konnte gleichmäßige, an Herzschlag
gemahnende Trommeltöne vernehmen, zu deren Schlägen sich die Jungen in
einem gemessenen Schreittanz im Kreis bewegten. Die Alten standen bei Frau
Holle im Zentrum und überwachten das Ganze mit gütig, mütterlicher Miene.
Ein stetiger Wechsel war im Gange zwischen innen und außen. Tänzerinnen
lösten sich aus dem Kreis der Jungen und nahmen ihre Plätze im Inneren ein,
während Außenstehende sich in den Kreis der Tänzerinnen einreihten, alles im
Rhythmus des Herzschlages. Niemals war Stillstand, die einzige Kontinuität
war die ständige Bewegung. Und da war sie, meine Myriam! Unschlüssig stand
sie am Rand des Kreises, und ich sah, wie sie mit sich kämpfte, unschlüssig, ob
sie den Tanz mitmachen sollte oder nicht. Frau Holle winkte mit der Spindel
und lachte, wobei sie die großen Zähne sehen ließ. Sie legte die Spindel einer
der Tänzerin in die Hände, die gab sie an die nächste weiter und so fort. Im
Kreisen wickelte sich der Faden ab, bald verband ein Fadengespinst die
Tanzenden, als die Spindel von einer zur Anderen wanderte. Noch immer stand
meine Tochter am Rande...Die Gestalten begannen, zu verschwimmen, mit
dem Gespinst zu verwachsen, wurden ein wirbelnder Kreis aus Lebensfäden.
Da, mit einem Mal, sprang Myriam mit einem beherzten Satz in den Kreis und
fügte sich in den Rhythmus ein.
103
Das war nun für mich das Zeichen, meinen Platz bei den Alten im Zentrum
einzunehmen........Der Tanz wurde schneller, wirbelnd tanzte die Spindel, Frau
Holle schüttelte, laut lachend, eine Decke, aus der es zu schneien begann,
goldenen Schnee! Jemand rief: "Die Goldmarie ist hie, die Goldmarie ist hie..!"
Dann löste sich alles in einen furiosen, drehenden Tanz auf.
Ich lag im Bett, und mich schwindelte. Eine heiße Welle überflutete mich, und
ich musste die Decke zurückschlagen. Schweiß rann mir über den Rücken.
Hatte ich mich erkältet? Eigentlich fühlte ich mich nicht krank.
Als ich das Fenster öffnete, um frische Luft herein zu lassen, rührte sich Georg
neben mir und brummelte: "Was ist denn, hast du vielleicht Wallungen, Omi?"
Wütend wendete ich mich ihm zu und zischte: "Was fällt dir ein, ich bin noch
viel zu jung, um Wechseljahresbeschwerden zu haben!" Das fehlte mir noch.
Jetzt, wo ich mich gerade auf der Höhe meiner Weiblichkeit empfinde, die
durch das Begehren und die Liebe Georgs erst aus ihrem Dornröschenschlaf
erwacht ist, sollt schon wieder Schluss damit sein? Leise und unbemerkt hatte
sich meine kleine Taschenkritikerin wieder herangepirscht: "Wann hast du
denn deine letzte Periode gehabt? Schon einige Zeit her, was? Nicht sehr
regelmäßig in letzter Zeit, nicht wahr?" Dagegen hatte ich keine Argumente, es
stimmte einfach, was sie sagte. "Füg' dich in das Unvermeidbare! Du wirst
Großmutter. Dann bist du eine würdige Alte und trittst als Frau von der Bühne
ab. Hast du geglaubt, das würde ewig so weitergehen mit Liebe und
Leidenschaft? Meine Güte, es gibt doch andere Werte!" Sie ließ mich geknickt
und traurig zurück. Wenn ich aber in mich hineinhöre, kann ich da noch
keinerlei Geschmack an der Vorstellung gewinnen, alt zu sein und auf das
Gefühl erfüllter Weiblichkeit verzichten zu müssen. Außerdem kann ich mir
nicht vorstellen, dass das kommende Alter mein Liebesleben ausknipsen sollte,
wie eine Lampe. In der Stimme meiner kritischen Hälfte meinte ich ziemliche
Missgunst wahrzunehmen. Vielleicht versucht sie so, mich wieder unter ihre
Knute zu zwingen? Ich muss wachsam sein und darf ihr nicht trauen, sonst
gewinnt sie wieder Macht über mich. Es wird mir nicht erspart bleiben, mich
mit dem kommenden Alter auseinanderzusetzen, auch wenn ich mir diese
Gedanken bis jetzt erfolgreich vom Leib gehalten habe. Aber heute noch nicht,
noch fühle ich mich jung, und diese Dinge haben noch Zeit bis später, viel
später.....
Diese Nacht schlief ich nicht mehr. Unruhig wälzte ich mich im Bett, deckte
mich auf und dann wieder zu, fand keine richtige Lage... Erst, als der Morgen
langsam dämmerte, sank ich in einen flachen, erschöpften Schlummer.
"Guten Morgen, Schlafmütze!" die Familie stand rund um unser behelfsmäßiges
Bett, welches wir auf dem Fußboden der Stube hergerichtet hatten. Alle waren
schon angezogen, das Frühstück stand auf dem Tisch. Die Chimären der Nacht
hatten sich zurückgezogen, und die Sonne schien auf einen klaren Herbsttag.
"Es ist schön, euch bei mir zu haben!" begrüßte ich, seltsam glücklich nach
diesen schweren, nächtlichen Gedanken, meine Lieben.
Wir saßen beim Kaffee, da begann Joschi mit ernster Miene zu sprechen:
"Papa, Anna, wir haben euch etwas zu sagen.
104
Wir haben heute Nacht nicht viel geschlafen, weil wir ein ernstes Gespräch
miteinander hatten. Die Myriam und ich haben uns für das Kind entschieden;
das heißt," und er sah mit dem verschmitzten Lächeln seines Vaters auf seine
Freundin, "Myriam hat, und ich bin sehr froh darüber, und ich werde dem Kind
ein guter Vater sein, das verspreche ich." Meine Tochter sah mich von der
Seite an, dann sagte sie, mit einem leichten Anflug eines schelmischen
Lächelns: "Du solltest doch nicht mitgehen, du Glucke kannst es nicht lassen!"
Die Männer sahen fragend zu mir her, doch ich gab keine Erklärung ab, dies
sollte ein Geheimnis unter uns Frauen bleiben.
Die beiden haben nun beschlossen, eine leerstehende Wohnung in einem
Seitentrakt des Gutsgebäudes zu mieten. Myriam soll ihre Ausbildung beenden,
und Joschi wird hier sein, so oft es sein Studium, das sich dem Ende zuneigt,
erlaubt.
Bis zur Fertigstellung der Renovierungsarbeiten wollen wir ihnen das kleine
Zimmerchen neben der Stube überlassen, dessen Fußboden vorher noch
erneuert werden muss. Joschi hat vor, mit uns zusammen zuerst einmal ein
Feld zu bebauen.
Da wir keine Maschinen haben, vereinbarten wir mit einem der Bauern, dass er
uns gegen Bezahlung, vorerst einmal den Acker bestellen soll. Der Stall, der für
Kühe nicht geeignet ist, da er sich in keinem guten Zustand befindet, soll
Schafe und Schweine beherbergen.
Das Wichtigste aber ist: wir wollen biologisch wirtschaften. Die Tiere sollen ein
ihnen gemäßes Leben führen können, mit Auslauf und Weide, die Pflanzen in
gesunder, lebendiger Erde wachsen. Hecken wollen wir pflanzen, Naturinseln
erhalten und dadurch Wildtieren, Vögeln und Insekten ein Zuhause bei uns
bieten. Wir werden alte Nutzpflanzen erhalten und damit deren Aussterben
verhindern. Unser Stück Land soll zur Lebens - und Überlebensinsel für uns
und unsere Umgebung werden.
Es zeigte sich auch, dass Myriam nicht nur mit einem Kind schwanger geht,
nein, seit langer Zeit anscheinend auch schon mit einem heimlichen Plan. Sie
hat, schon bevor sie Joschi traf, davon geträumt, ein Projekt mit
drogensüchtigen Jugendlichen zu gründen, sie wegzuholen aus der Unterwelt
der U - Bahnstationen und öffentlichen Klos. Jetzt glaubt sie, hier den
geeigneten Platz dafür gefunden zu haben und will ihren Traum mit aller Kraft
verwirklichen. Mit der Gräfin hat sie darüber bereits erste Gespräche geführt,
es sieht gar nicht so schlecht aus. Aber es könnte schwierig werden, die
Zustimmung der Dorfbewohner zu gewinnen. Sicher werden viele Gespräche
mit ihnen notwendig werden, denn Angst und Ablehnung, die Kinder von
Unwissenheit und Desinformation werden sich wohl auch hier finden. Das
drängendste Problem aber ist die immer wiederkehrende Frage: Wer finanziert
das Ganze? Träume und Pläne, daran sind wir unendlich reich, aber diesen
Reichtum zur Entfaltung zu bringen, dazu bedarf es der Mittel, die wir nicht
haben. Das wird uns mit jedem Tag schmerzlicher bewusst. Zuletzt wurde
dieses Bewusstsein zur alles erfüllenden Sorge.
105
Sie drängt sich in meine Nächte, kriecht in jede Ritze meiner Gedanken, macht
sich des Nachts zwischen uns in unserem Bett breit und droht, alle unsere
Träume und Ideale mit ihrem schäbigen Grinsen Lügen zu strafen. Das können
wir ihr nicht erlauben, nicht, nachdem wir so weit gekommen sind und nicht
jetzt, da unsere Pläne endlich Gestalt anzunehmen scheinen!
20. 9. 89
HERBSTÄQUINOX
Nun habe ich mein Tagebuch lange vernachlässigt, aber aus gutem Grund. Es
gab einfach viel zu viel zu tun in Haus und Garten. Ich muss mich erst langsam
an all diese Arbeiten gewöhnen, und auch Georg ist ja nicht mit Sense und
Motorsäge aufgewachsen. Jeden Abend sinken wir todmüde ins Bett, gerade
dass wir einander noch gute Nacht wünschen können - schon sind wir weg.
Haben wir uns einfach zu viel vorgenommen? Manchmal sind wir beide
richtiggehend entmutigt.
So war es nicht verwunderlich, dass wir das Fest des Herbstäquinoktiums in
einer etwas gedämpften Stimmung feierten. Dazu kam noch, dass unsere
Freunde diesmal nicht bei uns sein konnten; es würde also ein sehr stilles Fest
werden. Diese Stille würde wohl auch die uns umgebende Natur erfüllen, wären
da nicht andere Geräusche, laute, dominierende. Kein hundertstimmiges
Vogelkonzert begleitet unser Erwachen mehr in den frühen Morgenstunden,
dafür erfüllt das Dröhnen der Mähdrescher den Tag vom Morgengrauen bis
zum Abenddämmern; die Ernte muss eingebracht werden, die teuren
Maschinen ausgelastet sein, um sich zu rechnen.
Scheunen und Körnerböden füllen sich mit den Früchten der Arbeit eines
ganzen Jahres. Wo noch kurz zuvor das Gelb der reifenden Kornfelder im
flirrenden Spätsommerlicht wogte, darauf flogen die schwarzen Winterboten
ein und hielten nun auf den frisch geackerten Feldern ihr Festmahl. So schnell
wendet sich also sommerliches Leben in herbstliches Sterben! Doch vorher,
das sollte ich erst noch erfahren, erleben die umgebrochenen Felder noch ein
eines kurzes, frühlingshaftes Intermezzo, wenn sie, einer alternden Frau
gleich, die noch einmal in Jugendlichkeit erblühen will, in frisches, junges Grün
ausbrechen.
"Winterbegrünung" heißt das Zauberwort und ist die Folge einer Maßnahme,
welche die noch junge Gemeinschaft der Europäischen Staaten gesetzt hat, um
europaweit der Bodenerosion und Nährstoff - Auswaschung ins Grundwasser
vorzubeugen. So werden die Nährstoffe im Boden, bzw. in den Pflanzen
gehalten. Also schiebt sich noch ein kurzer, künstlicher Scheinfrühling
zwischen Herbst und Winter und lässt das Land noch einmal ergrünen, bevor
sich endgültig der Vorhang aus Schnee und Raureif senken und auch diesen
Jahresausklang zudecken wird.
106
Morgen und Abende sind schon kalt, auch wenn sich der Tag dazwischen noch
kräftig er
wärmen kann. In glasklarem, durchscheinendem Blau wölbt sich der Himmel
über dem Land und lässt es weit werden.
Diese Weite teilt sich auch mir mit, sodass mich immer wieder eine Welle von
Hoffnung und Optimismus durchflutet, und die drängenden, materiellen Sorgen
wegschiebt. In einer solchen, heiter - gelassenen Stimmung kam mir dann
auch ein Gedanke: Warum setzen wir nicht wieder Magie ein, um uns ein wenig
auf die Sprünge zu helfen? Ja, warum eigentlich wirklich nicht? Woher kommt
dieser seltsam zaghafte Umgang damit? Irgendwo in meinem Hinterkopf ist da
anscheinend eine hemmende Vorstellung verankert. Ich musste ziemlich lange
in den verstaubten Archiven längst überholter Urteile und Meinungen stöbern,
um sie endlich ausfindig machen und zum Müll werfen zu können. Vorher hielt
ich sie eine Weile mit spitzen Fingern hoch und betrachtete sie eingehend von
allen Seiten wie ein seltsames Relikt. Sie hat auch einen Namen. Sie heißt:
"Nur harte, ehrliche Arbeit darf Wohlstand einbringen." Jaahaa!! Hab' ich dich
endlich, Schurke! Nun sagt mir: wer ist durch ehrliche Arbeit jemals
wohlhabend geworden, ohne eine Prise von Glück, Gewitztheit oder das
beruhigende Polster eines ausreichenden Erbteils? Wir sind ja auch bereit, zu
arbeiten; aber ein bisschen Starthilfe könnten wir schon gut gebrauchen. Und
was ist mit dem Magischen Gesetz: "Bedenke, was du dir wünscht, es
könnte sich erfüllen!" Ein wahrhaft hintergründiges Gesetz voller
eingebauter Stolperfallen, wahrhaftig! Du wünscht dir etwas, bekommst es
endlich.......weißt du aber auch genau, wodurch, in welcher Weise sich dein
Wunsch erfüllt, und ob du das s o auch gewollt hast? Beispiel: du wünscht dir
eine ansehnliche Summe und bekommst sie auch...........aber indem du deine
Eltern beerbst, die bei einem Unfall umkommen. Da heißt es, äußerst
vorsichtig zu sein und seine Wünsche sehr präzise zu formulieren. Und
trotzdem bleiben noch viele unbedachte Möglichkeiten offen. Das erklärt sicher
zum Teil meine Zaghaftigkeit. Das mit der harten Arbeit aber.....wurde
schleunigst entsorgt. Wir werden uns also mit Magie helfen, das habe ich hier
und heute beschlossen. Das klingt so gewichtig. In Wahrheit betreiben wir alle,
zu jeder Zeit Magie, ohne viel darüber nachzudenken. Denn tatsächlich strebt
ja jeder Gedanke danach, sich in irgendeiner Form zu materialisieren. Es liegt
nur an Dauer und Intensität, wie schnell er das tut. Die zeremonielle Magie
arbeitet nur ein wenig professioneller, mit passendem Werkzeug und knowhow,
that's it!
25.9. 89
Unser Schlafzimmer war nur von den, an den vier Kardinalpunkten
aufgestellten Kerzen erhellt. Es war die Nacht des Äquinoktiums, wenn Hell und
Dunkel einander als Gleichstarke gegenüber stehen, der nicht zu fassende
Augenblick des Jetzt, bevor das Dunkel wächst, länger wird und siegt, die
Helligkeit zurückweicht und warten muss, bis ihre Stunde wieder kommt.
107
Es war der Augenblick des scheinbaren Stillstands im ewigen Wechsel der
Gezeiten, Ebbe und Flut, Kommen und Gehen, Geburt und Sterben, Dunkel und
Licht, in dem unser Zauber seine Kräfte entfalten, in das Reich des Dunkels
eintauchen und mit dem Licht wieder geboren werden sollte. Wir hatten ein
magisches Siegel entworfen, das alle unsere Wünsche verkörperte, weihten es
mit den Kräften von Erde, Wasser, Feuer und Luft, hielten es gemeinsam in
unseren Händen, als wir im Geiste in die Erdhöhle hinabstiegen, um es dort der
Grossen Mutter ans Herz zu legen.
Wir visualisierten reich tragende Felder, üppige Gärten, gesunde Haustiere,
neue, helle Ställe und alles, was wir sonst noch erreichen wollen und um das
Wichtigste nicht zu vergessen: Georg, mich, Myriam und Joschi inmitten
anderer Menschen, die noch zu uns stoßen sollten. Dann ließen wir das Gefühl
überwältigender Freude und Dankbarkeit in uns aufsteigen, um unsere
Wünsche entsprechend mit psychischer Energie aufzuladen und blieben noch
einige Augenblicke in diesem Gefühl. Dann wandten wir uns um, um
hinaufzusteigen ans Tageslicht. Der verschüttete Gang stand uns nicht offen,
wie waren wir nur vorher hierher gelangt? Immer wieder suchten wir die
Wände nach einem Ausgang ab, doch wir konnten keinen finden. Wieder
erklang das Pochen, das mich in meinen Träumen immer ins Innere der Erde,
zu Ihrem lebendigen und lebensspendenden Herzen geführt hatte. Ihm, das
wusste ich, konnte ich mich jederzeit anvertrauen. Es erklang von der Statue
her, das war deutlich zu hören.
Also nahm ich Georg an der Hand und führte ihn dorthin, wo das Geräusch
immer lauter wurde. Zuletzt war das Dröhnen kaum mehr zu ertragen, und
doch wusste ich, dass nur ich es hören konnte. Aber, da war absolut nichts,
kein Ausgang öffnete sich vor unserem inneren Blick. Dann begann die Figur
sich zu bewegen, sie rückte ein klein wenig zur Seite, wie, um uns den Blick
auf etwas Dahinterliegendes freizugeben, und dann wurde die Wand hinter ihr
durchsichtig, und das Pochen verstummte mit einem Mal. Ein enger,
aufwärtsführender Gang wurde sichtbar, so eng, dass ein Erwachsener auf
allen Vieren kriechen musste, wollte er ihn passieren. Es blieb keine Zeit. Ich
wusste irgendwie, dass die Wand nur noch wenige Augenblicke durchlässig
bliebe.
Es war wie in einem Traum, und im Traum weiß man solche Dinge mit einer
eigenartigen Bestimmtheit, die man im wachen Leben nicht begründen kann.
"Jetzt!" schrie ich Georg zu, riss ihn mit mir, und wir durchdrangen diese
durchscheinende Membran mit einem beherzten Sprung......Dann war es
dunkel um uns. Tastend, kriechend, auf den Knien rutschend bewegten wir uns
in dem aufwärts führenden Gang weiter. Zuletzt stieß mein Kopf schmerzhaft
an ein Hindernis, ein Brett anscheinend. Ja, das ist einer der großen Vorteile
des wachen Träumens: man kann den Traum gestalten, ihn formen nach
seinen Bedürfnissen. Also imaginierte ich eine Axt und hackte so lange auf
dieses Brett ein, bis es nachgab.
Da war Kerzenschein, der Duft einer Räucherung erfüllte die Luft mit harzigen
Gerüchen, die Konturen unseres vertrauten Zimmers zeichneten sich im
Dämmerlicht ab.
108
Wir waren durch den Fußboden unseres Schlafzimmers wieder in die Welt des
Tagesbewusstseins aufgestiegen.
Georg strich sich immer wieder den Bart und ließ ab und zu ein verwundertes "
hm, hm" hören. "Georg, wir müssen den Boden aufreißen, gleich morgen früh!
Da ist ein Zugang zur Höhle, ich weiß es!" Am liebsten hätte ich gleich damit
angefangen, doch mein besonnener Partner hielt mich zurück: "Jetzt schlafen
wir einmal darüber. Morgen kannst du dann wüten, wie du willst. Ich weiß ja,
dass ich mit meinen Bedenken keine Chance habe, wenn du dir was in den
Kopf setzt."
So war es auch. Gleich am nächsten Morgen begann ich, den Fußboden
abzuklopfen, in der Hoffnung, durch eine Änderung des Geräusches den
unterirdischen Gang zu finden. "Was erwartest du eigentlich da unten zu
entdecken?" fragte Georg etwas skeptisch. "Wir waren doch schon einmal dort,
und was wir gefunden haben, nun, wir haben doch beschlossen, es da zu
lassen, oder?" In diesem "oder" schwang eine ganze Menge anderer Fragen
mit, wie bei einer Saite, die, einmal angeschlagen, ganze Klangspektren von
Ober - und Untertönen unterschwellig mit erklingen lässt." "Du hast doch nicht
im Ernst geglaubt, ich dächte nur im entferntesten daran, irgendwelche
unlauteren Geschäfte mit der Statue ins Auge zu fassen?" Verlegenes
Schweigen. "Georg! Gib Antwort, hast du? "Nein, nicht wirklich, aber, wenn
man so in der Klemme ist, wie wir......" ".....dann denkt man schon einmal
daran, die Grosse Mutter auf dem Schwarzmarkt zu verscherbeln," ergänzte
ich seinen angefangenen Satz, und Empörung schwang nun, gar nicht mehr
unterschwellig, in meiner Stimme mit.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, zu übermenschlicher Größe anzuwachsen, und
meine Stimme schien durch unendliche Räume zu hallen: "Ich bin die Hüterin
dieser Gläsernen Insel, hast du das vergessen? Wie kannst du nur glauben, ich
könnte ihr jemals das Herz herausreißen! Ich würde es mit meinem Leben
verteidigen, wenn es notwendig wäre, sogar gegen dich!" Georgs Blick drückte
Verwunderung, Ehrfurcht und totale Verblüffung aus. Doch ich hatte in ihm
nicht den Menschen Georg, sondern den Priester Merlin, den Harfenspieler,
angesprochen. Und dieser erhob sich jetzt aus Alltagssorgen, finanzieller
Beengtheit und den Beschränkungen der physischen Realität und antwortete
der Priesterin in mir mit der ihm eigenen Würde: "Ich weiß es, und ich bin
bereit, dich dabei zu unterstützen, notfalls um den Preis meines Lebens, so sei
es!"
Als sich die Überschattung durch größere Realitäten zurückgezogen hatte und
wir beide wieder als Anna und Georg zurückgeblieben waren, überfiel mich ein
Zittern, das sich auch nicht legte, als ich mir eine Decke umhängte, um mich
zu erwärmen. Auch Georg schien mitgenommen, er war weiß wie die Wand
unseres Schlafzimmers. Auch er zitterte. Wir wussten es beide: dies war ein
Schwur gewesen, und nichts würde uns davon abhalten, ihn, wenn nötig, zu
erfüllen. Deshalb und nicht, um hier angenehm und sorgenfrei zu leben, sind
wir hierher geführt worden. Dies wird uns Aufgabe und Erfüllung in diesem
Leben sein.
109
Dazu werden uns im richtigen Augenblick auch die nötigen Mittel gegeben
werden, wir müssen nur vertrauen und unsere Berufung nicht aus den Augen
verlieren.
29. 9. 89
Bis jetzt haben wir keinerlei Hinweis auf einen möglichen Zugang zu der Höhle
finden können. Ich klopfte und klopfte, doch überall klingt der Fußboden
gleichmäßig hohl; dieser Teil des Hauses ist nicht unterkellert, sondern die
Fußbodenbretter liegen über einer Schüttung aus Bruchsteinen, wie das bei
den alten Häusern dieser Gegend üblich ist.
30. 9. 89
Georg ging kurz hinaus und kam bald darauf mit seiner Wünschelrute zurück.
Er war bis jetzt immer recht erfolgreich beim Rutengehen gewesen. So bestand
zumindest eine Chance, durch diese Technik zum Ziel zu gelangen.
Nachdem er sich kurz gesammelt hatte, ging er nun konzentriert den Raum in
einzelnen, parallel führenden Bahnen ab, wobei er das Bett einfach
überquerte, als wäre es nicht vorhanden. Da, plötzlich, er war ungefähr dort
angelangt, wo unser Oberkörper zu liegen pflegte, drehte sich die Rute mit
aller Macht nach unten.
Das bedeutete, dass wir unser Bett zerlegen mussten, denn wegschieben
konnten wir es aus Platzmangel nicht. Später dann, inmitten eines Haufens aus
Betteilen, begannen wir, das erste Fußbodenbrett zu lockern und gleich darauf
abzuheben. Nichts. Finsternis. Na gut, dann eben noch eines. Ich leuchtete mit
einer Taschenlampe in das so entstandene Loch. Da war eine geringfügige
Vertiefung, fast nicht wahrnehmbar, doch durch den schrägen Lichtstrahl der
Lampe, die einen Schattenwurf erzeugte, gerade noch zu erkennen. "Hier,
Georg, ich hab's, glaube ich!" rief ich und schwenkte aufgeregt die Lampe. Als
wir eine Schicht von Bruchsteinen beiseite geräumt hatten, erschien unter dem
Fokus der Taschenlampe die deutlich erkennbare Struktur von Holz, sehr
altem, teilweise verrottetem Holz. Dieses gab wenig Widerstand, als Georg es
mit einer Axt durchschlug. Morsche Späne flogen uns entgegen, andere
vermoderte Holzteile glitten in ein, plötzlich unter uns aufgähnendes Loch, aus
dem uns ein Hauch kühler, feuchter Luft engegen wehte. Wir hatten den
Zugang gefunden, meine Vision hatte mich nicht getäuscht! Die, unser
Schlafzimmer wie eine Naturkatastrophe getroffene Verwüstung, war nicht
umsonst gewesen! Nicht auszudenken, was Georg mir an Verwünschungen an
den Kopf geworfen hätte, wäre uns kein Erfolg beschieden gewesen!
Der anfangs steil abwärts führende Schacht (wir hatten eine Leiter hinab
gelassen) machte nach etwa zwei Metern einen fast rechtwinkeligen Knick und
ging von da ab fast waagrecht in den Berg hinein. In meinem Tagtraum war er
so niedrig gewesen, dass man ihn nur kriechend passieren hatte können.
110
Es zeigte sich aber, dass wir in Wirklichkeit gebückt durchgehen konnten, was
viel angenehmer war.
Im Licht der Taschenlampe erschienen die Wände des Ganges ziemlich glatt,
manchmal waren Ritzzeichnungen zu erkennen, deren Bedeutung uns aber
verschlossen blieb. Wenn nur die Decke hielt! Es war keine angenehme
Vorstellung, hier unter meterdicken Erdschichten begraben zu werden. Nun
müsste der Gang gleich in die Höhle münden, nur noch wenige Schritte, so
schätzte ich, trennten uns noch davon. Doch, statt den Weg in die Höhle
freizugeben, endete der Gang unversehens. So sehr ich auch nach einer
Fortsetzung suchte, hier waren nur Erdwände, nirgends ein Durchgang. Was
hatte das zu bedeuten? Man baute doch keinen Gang, der nirgendwohin führte!
Oder doch? War dies einer jener, unter Heimatforschern so berühmten
Erdställe, deren wahre Funktion noch niemand je entschlüsselt hatte? Nun, es
schien jedenfalls so.
Zur Freude über unsere Entdeckung gesellte sich Enttäuschung darüber, dass
es offenbar keinen Zugang zur Höhle mehr gab. Damit musste ich mich wohl
abfinden, wie es schien. Durchscheinende Wände gab es doch nur in der
Phantasie und in Sagen und Märchen. Aber weisen nicht alle Traumbilder, alle
Märchen oder Sagen auf eine, ihnen innewohnende Wahrheit hin? Wo lag sie
hier verborgen, wartend, dass ich auf sie stieß?.....Glasinsel.....gläserner
Berg.....Was bedeutete Glas in der Sprache der Seele? Ich schloss die Augen
und ließ innere Bilder in mir aufsteigen.....Licht schien durch den gläsernen
Berg, das Licht des Geistes, das innere Licht.....das Licht der Intuition,
geistiges Sehen......es durchdrang die Dichte der Materie, die für den Geist
eine Täuschung ist, Maya.....Ich sandte also einen imaginären Strahl von der
Stelle zwischen den Augenbrauen aus, welche die indischen Weisheitslehrer
"das Dritte Auge" nennen, ließ ihn wandern wie einen geistigen
Suchscheinwerfer, vertraute meiner inneren Sicht.....und da war es!
Was eigentlich? Der Versuchung erlegen, die Augen zu öffnen, sah ich nur
Erde. Also musste ich mich weiter auf den inneren Blick verlassen. Dieser
stellte sich nicht gleich wieder ein, ich hatte die Ebenen zu schnell gewechselt.
Also, wieder Versenkung....Suchscheinwerfer.....da! Da war es wieder! Als
hätte ich einen Lichtstrahl durch ein Brennglas geschickt, wurde ein Loch
sichtbar, das sich immer weiter vergrößerte und endlich einen Durchgang
bildete, einen Durchgang in die Höhle!
Nun öffnete ich endgültig die Augen und sagte bestimmt: "Hier, hier müssen
wir durchstoßen, das ist die Stelle." Georg vermied es, zu fragen, woher ich
meine plötzliche Überzeugung bezog, mittlerweile hat er gelernt, meinen
Eingebungen zu vertrauen. Er holte eine Spitzhacke aus der Scheune und
schlug, vorsichtig zuerst, um einen Einsturz zu vermeiden, auf die Erdwand
ein. Schon nach wenigen Schlägen entstand ein Loch. Doch beim Versuch, es
zu vergrößern, stieß die Hacke auf Widerstand, ein Stein, wie wir dachten. Der
Stein erwies sich als ein rußgeschwärzter, alter Eisentopf mit Inhalt:
Goldmünzen!
111
In einem Film würden jetzt hochdramatische Klänge die Szene untermalen,
etwa so: tatatataaaaa und noch einmal tatatataaaaaa, Kameraschwenk von
dem Goldschatz auf die Gesichter der Finder, Zoom, Totalzoom, die endlos
lange Einstellung verleiht dem Ganzen unerhörtes Gewicht, so ungefähr.
Wie oft hatte ich in Tagträumen davon phantasiert, irgendwo Geld zu finden,
einen Lottosechser zu machen, das Vermögen einer lange ausgewanderten ,
unbekannten Tante aus Amerika überraschend zu erben und dergleichen
Wunschträume mehr. Jeder, der je in Geldnöten war, kennt das sicher. Und
hier hatten wir, unter unserem eigenen Haus, einen Goldschatz gefunden,
undenkbar, unvorstellbar!
1. 10. 89
Kaum gewonnen, so zerronnen! Schon ist die Freude wieder dahin. So schnell
kann das gehen. Ist uns vielleicht ein magisches Missgeschick passiert?
Anscheinend, denn dies hier ist nicht unser eigenes Haus! Es gehört der Gräfin,
folglich gehört der Schatz auch ihr! Der Hammer fiel, in Superzeitlupe zwar,
aber er fiel, zermalmte unsere Euphorie unter sich, begrub unsere, eben erst
zaghaft aufflammende Freude unter einem Haufen von Hoffnungstrümmern,
unter dem unsere Jubelschreie erstickten. Es ist so und wird immer so bleiben:
den Besitzenden wird gegeben, die Habenichtse bleiben arm. Die ganze Arbeit,
die Verwüstung unseres Schlafzimmers, all dies, um eine Reiche noch reicher
zu machen, da soll doch der Teufel dreinfahren! Es nützt nichts, wir müssen
der Gräfin den Fund melden, ach Scheiße, verdammte!
10. 10. 89
Es stellte sich heraus, dass es sich um Goldmünzen aus der Zeit Josephs II.
handelt, vielleicht vom damaligen Grundbesitzer unterschlagene Steuergelder,
genau lässt sich das nicht mehr feststellen. Tatsache war, dass Generationen
um Generationen auf einem Schatz gelebt haben, ohne auch nur das Geringste
davon zu ahnen.
12. 10. 89
Die Ereignisse überschlagen sich! Ich fühle mich wie ein Boot auf stürmischer
See. Gerade noch im tiefsten Wellental, trägt mich die nächste Woge schon
wieder hoch hinauf in Licht und Freude!
Unsere Gräfin kam und war über unseren Fund ebenso verblüfft wie wir. Auch
sie musste ja den Fund melden. Musste sie? Nach langem Überlegen entschied
sie, dass wir ein Drittel des Schatzes als Finderlohn behalten dürfen!!!!!
112
Zwei Drittel sollen an einen zu gründenden Verein gehen, der hier unter dem
Namen "Verein Lebensinsel" tätig werden soll und dessen Vorsitzende sie zu
werden gedenkt. Die Gebäude sollten bewohnbar gemacht, Landmaschinen
angeschafft, Ställe erneuert werden. Den Grundstock dazu wird der Gegenwert
der Münzen bilden, wenn sie verkauft sind und zwar heimlich. Wir beschlossen,
das Vergehen der Fundverheimlichung auf uns zu nehmen. Wer hätte das in
unserer Situation nicht getan? Dieses Geschenk ist so eindeutig für uns
gedacht, es wäre ein Sakrileg, es nicht anzunehmen, oder? Also nehmen wir es
an und danken den höheren Mächten dafür mit einem Versprechen:
"Wir werden diesen Ort zum Blühen bringen!"
So erwies sich die Gräfin als eine wirkliche Förderin unserer Ideale und als eine
mehr als großherzige Frau. Ich bin ziemlich beschämt, das hätte ich nicht von
ihr erwartet, auch wenn ich sie in einem meiner Träume als meine Lehrerin
erlebt und große Zuneigung zu ihr gefasst habe. Mit dieser Entscheidung hat
sie meine Liebe und Achtung auch hier, in der Welt der Menschen errungen.
Endlich nährt der Kessel der Fülle auch uns aus seinem unerschöpflichen
Reichtum. Wie habe ich nur jemals daran zweifeln können?
Fülle und Reichtum, innen wie außen; so wie uns gegeben wurde, wollen auch
wir diese Gaben erwecken für das Land und seine Bewohner: Pflanzen, Tiere,
Menschen, Gegenwärtige und noch Kommende. Dafür wollen wir unsere Kraft
einsetzen, sowohl auf der materiellen als auch auf der geistigen Ebene. Unser
Wirken soll alle Realitäten durchdringen. Hier, auf dem heiligen Platz, einer der
unzähligen Glasinseln dieser Welt, wird sich der Segen in alle Welten
ausbreiten, die, untereinander verbunden, einander gegenseitig befruchtend,
so das Wesen der Schöpfung, Liebe, zur Erfüllung bringen.
So sei es, mit Ihrem Segen!
23. 10. 89
Und da unsere physische Wirklichkeit, das, was wir sehen, hören, riechen,
schmecken und begreifen können, ihren Ursprung im Inneren, im Herzen der
Dinge hat, begannen wir mit unserer Arbeit auch dort, im Herzen des Ortes, in
der uralten Höhle unser aller Grossen Mutter.
Zuerst bauten eine Holztreppe in den abwärts führenden Schacht ein, und an
den Wänden von Gang und Höhle montierten wir Kerzenhalter. Der Durchbruch
zwischen Gang und Höhle wird jetzt zu einem bequemen Durchgang erweitert.
Den Sockel der Statue vergrößern wir und gestalten ihn zu einem Altar um, auf
dem die Figur der Mutter und die Schale einen würdigen Platz erhalten sollen.
Unser Schlafzimmer muss ebenfalls umgebaut werden, um den Abgang in die
Höhle frei zu halten. Wieder einmal bauen wir ein Hochbett, wie damals, am
Beginn unserer Reise ins Unbekannte. Der Einstieg zur Höhle erhält eine stabile
Holztüre.
113
Jeder Tag beginnt mit einer Meditation in der Höhle und endete auch dort. Und
die Kraft dieses Ortes begann schon bald, spürbar alles in seinem
Einflussbereich zu erfüllen. Es ist, als hätte die Grosse Mutter die Augen
geöffnet, wie damals in meinem Traum, und ihr liebender Blick erweckt nun
das Land zu neuem, pulsierenden Leben. Die Kontakte mit der Ortsbevölkerung
verlaufen im allgemeinen konstruktiv, auch, wenn manchmal Missverständnisse
die Atmosphäre zu vergiften drohen.
Wir finden dann aber doch meistens eine Brücke zwischen den so
verschiedenen inneren Heimaten, lernen langsam, uns in ihre Welt einzufühlen,
können ihnen unser Denken und Fühlen vermitteln, und werden hoffentlich
bald zu beheimateten Fremdligen, die etwas Abwechslung und Anregung in das
stille Dorf bringen. Mit unserer Verehrung der Alten Götter allerdings halten wir
hinter dem Berg. Zu fremd und bedrohlich, zu nah an Aberglauben und Furcht
vor allem, was nicht gut katholisch, rechtgläubig ist und außerdem
unverständlich, wären diese Inhalte sicherlich für unsere Nachbarn. Es fällt
schon genug auf, dass wir der Kirche fernbleiben, wenn uns auch bisher
niemals jemand nach dem Grund dafür gefragt hat. Das bedeutet natürlich
nicht, dass unser Verhalten nicht ausführlich beredet wird, wenn sie unter sich
sind.
Ein besonderes Wesen ist ihnen zu eigen, den Waldviertlern: freundlich und
bescheiden, abgerundet wie die uralten Gneis - und Granitfelsen, sowohl
äußerlich als auch in ihrer Gemütsart, können sie jedoch Haus und Hof wegen
eines, nur wenige Zentimeter breiten Ackerstreifens verprozessieren. Mir selbst
ist eine Bauernfamilie bekannt, die sich und ihre Nachkommen auf diese Art
und Weise im Laufe der Jahre, die sich diese Prozesse hinzogen, um das
gesamte Anwesen brachte. Der Zwist eskalierte derart, dass er zuletzt mit
Totschlag endete. Die Anwälte allerdings waren daran reich geworden....
Im Laufe unseres Lebens hier entdeckten wir so viele Eigenheiten in ihrem
Denken und Fühlen, dass es mich manchmal dünkte, auf einer exotischen Insel
gelandet zu sein, so weit entfernt schien die Innenwelt der Menschen hier
meiner Eigenen zu sein. Der Graben, der die Welt der Städter von jener der
Landbevölkerung trennt, ist manchmal tiefer, als er es zwischen den gleichen
Gruppen verschiedener Länder sein könnte. Unsere Sprachen, in Grammatik
und Syntax gleich, drücken jedoch so verschiedene Lebenserfahrungen aus, als
wären es Idiome engegengesetzter Weltgegenden. Umso verwunderlicher war
es da, dass wir trotzdem unseren Platz im Dorf gefunden hatten, als
"innenseitige Außenseiter" zwar, das aber war ein Optimum an Integration.
Die Renovierungsarbeiten an den Wohnungen und Ställen schritten zügig
voran. Wann immer er konnte, war Joschi da und half selbst mit. Myriam war
unterdessen auch sehr aktiv gewesen. Das Projekt war so weit gediehen, dass
die ersten Klienten, betreut von zwei Therapeuten, eine davon sie selbst,
provisorisch in die schon fertig gestellten Wohneinheiten einziehen konnten.
Sie arbeiteten fleißig an deren Fertigstellung mit. Den Dorfbewohnern hatten
wir gesagt, es wären arbeitslose Jugendliche, die in einem Projekt hier
beschäftigt würden. Wir hatten beschlossen, das Ganze sich langsam
"einschleichen" zu lassen.
114
Die Einheimischen sollten im Kontakt mit den Jugendlichen zuerst ihre Ängste
abbauen. Später, wenn sie die Betreuten dann besser kennengelernt und sie zu
akzeptieren begonnen hätten, würde die Wahrheit für sie nicht mehr so
schockierend sein, dachten wir.
Myriam zog also bei uns ein. Es war ein seltsames Gefühl für uns beide,
wieder in einem gemeinsamen Haushalt zu leben. Vorsichtig, wie zwei Katzen,
die einander in ihrem Revier begegnen, verringerten wir tastend unsere
Distanz, erprobten spielerisch den Abstand, der uns ein Zusammenleben
erlauben würde, ohne in alte, destruktive Muster zurück zu fallen. Und siehe
da! Es stellte sich heraus, dass wir beide nichts mehr zu tun hatten mit den
Rollen, die wir vor langer Zeit, an anderem Ort zusammen gespielt hatten.
Meine Tochter war tatsächlich eine erwachsene, junge Frau geworden, die
gelernt hatte, verantwortungsvoll auf ihre eigenen und fremde Bedürfnisse zu
achten und sich behutsam in unsere Welt integrierte. Die kommende
Mutterschaft verlieh ihr zusätzlich Gewicht; nicht nur ihre zarte Gestalt rundete
sich, nein, auch ihr Wesen wurde zusehends weicher und weiblicher. Ich fand
sie in ihrer neuen Erscheinung wunderschön. Oft bemerkte ich, dass Joschi sie
mit Stolz, Bewunderung und Zärtlichkeit anblickte. Die Liebe zu ihr umgab ihn
wie eine leuchtende Aura.
An einem Montag, Anfang Oktober, kamen die Jugendlichen von Myriams
Projekt bei uns an.
Es war ergreifend, zu erleben, wie diese schattenhaften Bewohner eines
grosstädtischen Hades vorsichtig Augen und Seelen weiteten, als sie das erste
Mal, ängstlich und des freien Landes ungewohnt, über das Gelände gingen.
Ihre Welt hatte aus dunklen Ecken in U - Bahnstationen, öffentlichen
Bedürfnisanstalten oder Bahnhöfen bestanden. Und war es auch ein schäbiges,
oft erniedrigendes Leben zwischen Prostitution, Dealen, Geld Auftreiben und
dem erlösenden Schuss gewesen, hatte es doch Vertrautheit und eine gewisse
Sicherheit geboten - und sei es auch die Vertrautheit des Elends und die
Sicherheit des baldigen Todes. Dies hier war unvertraut, wie das neue Leben
ohne Droge es sein würde, erzeugte Unsicherheit und Angst. Diese armen
Kinder, deren Leben noch kaum begonnen hatte, als sie schon von ihrer
Umgebung ausgewürgt worden waren wie unverdauliches Gewölle, würden viel
Liebe, Geduld aber auch Festigkeit und Strenge brauchen. Hier sollten sie den
verlorenen Kontakt mit der Erde wiederfinden, leben und lieben und auch einen
Sinn in ihrem Leben zu finden lernen - eine fast unbewältigbare Aufgabe für sie
und ihre Betreuer. Myriam würde viel Kraft und Unterstützung brauchen. Was
ich dazu tun konnte, wollte ich gerne tun.
Der erste Stall war fertig. Neu verputzt, weiß gekalkt wirkte er einladend und
gemütlich, es fehlten nur noch die Tiere. Schafe und Ziegen sollten es sein für
die Milch - und auch Fleischsorgung aller Hofbewohner. Später sollten noch
Schweine dazu kommen, Weideschweine, geeignet für die Freilandhaltung
wollten wir kaufen, das hatten wir beschlossen.
115
Als die drei Ziegen und fünf Schafe, aus denen wir die Herde aufbauen wollten,
eintrafen und in ihrem neuen Stall standen, fühlte ich, wie mein Wesen eine
neue Wurzel bildete. Sie wuchs und senkte sich in den Boden dieses Ortes,
mich festhaltend, verankernd. Ich war wieder ein Stück mehr hier zu Hause,
der Wind konnte mich nicht mehr so leicht verwehen, es war ein gutes,
starkes Gefühl und auch ein neues.
Verankert zu sein im Boden einer Heimat, einem Boden, den man selbst
bearbeitete, der nährte und das Leben garantierte, das hatte ich in meinem
Leben noch nie erfahren, und ich war dankbar dafür.
Myriam wollte die Höhle sehen. Ich hatte ihr alles erzählt an einem jener
Abende, die immer früher jetzt, eine Kuppel voller Dunkelheit, Kälte und
Sternengeflimmer über die Wiesen und Wälder stülpten. Der große, gemauerte
Herd in der Küche war das natürliche Zentrum dieser Abende, er spendete
Wärme,- eine weibliche, nährende Wärme,- hielt den duftenden Tee aus
selbstgesammelten Kräutern warm, und oft auch verlieh er der Stube einen
rötlichen Schein, bei dem es sich gut erzählen ließ. Oftmals waren auch die drei
Jugendlichen bei uns zu Gast. Sie genossen das Geschichten Erzählen und
Plaudern im einhüllenden Halbdunkel. Vielleicht erhielten ihre verhungernden
Seelen hier etwas von der so schmerzlich vermissten Nahrung, ohne die kein
Mensch wirklich leben kann: Geborgenheit und Nähe. Manchmal schien etwas
wie ein zarter Lichtstrahl durch einen nur zaghaft und furchtsam geöffneten
Türspalt, der oft aber auch gleich wieder mit einem Knall verschlossen wurde.
Gleichwohl war er da gewesen, und es durfte gehofft werden, dass die Türe
sich eines Tages endgültig dem Leben öffnete.
Ich führte also Myriam in die Höhle. Staunend sah sie sich um, betrachtete die
Figur auf dem Altar, berührte vorsichtig die Schale und setzte sich dann auf ein
Fell, das auf dem Boden ausgebreitet lag. Der Schein der flackernden Kerzen
malte tanzende Schatten an die ockerfarbigen Wände. Lange Zeit saß sie
schweigend da, dann begann sie leise, mit weicher, wohltönender Stimme zu
singen. Es waren fremd klingende Tonfolgen, die sich in Halb - und
Vierteltonschritten bald in Kopfstimmlage, bald in dumpfen Brusttönen im
Raum ausbreiteten. Ich hätte es mir denken können, auch sie war also eine
Zaubersängerin! Die Wände der Höhle schienen zu vibrieren durch diesen Ge
sang. Dann wurde mein Blick durch eine Bewegung auf dem Altar angezogen.
Die Mutterstatue hatte die Augen geöffnet und einen Arm von ihren mächtigen
Brüsten abgehoben.
Sie hielt eine Pflanze in der Hand, so wie damals, in meinem Traum. Aber
diesmal war sie nicht vertrocknet, sie erhob sich vor meinen Augen, der
Stängel streckte sich, die ganze Pflanze wurde prall und strotzend saftig. Ich
ließ mich auf die Knie nieder, neben Myriam und fiel in deren Gesang ein.
Zusammen, einander ergänzend, sangen wir das Lied vom Leben, zu Ehren der
Grossen Mutter, die auf diesem Platz ihr Wunder geschehen ließ. Sie nahm die
verlorenen Kinder der Grosstadt an ihr lebendiges Herz und schenkte ihnen
neues Leben. Und wir würden ihr dabei helfen, so weit es in unserer Macht
stand.
116
Es stand nicht immer in unserer Macht, das mussten wir bald darauf
akzeptieren lernen.
Es geschah in der Letzten Oktoberwoche, während die Apfelernte voll im Gange
war. Mittlerweile waren noch vier junge Leute eingetroffen. Sie hatten, da sie
sich in der ersten Phase der Therapie befanden, noch keinerlei Ausgang und
durften auch noch keine Besuche empfangen. So konnte man annähernd sicher
sein, dass keine unerwünschten Kontakte zur "Szene" stattfänden.
Die drei aber, die Pioniere der ersten Stunde sozusagen, durften schon, im
Schutz der Gruppe zur gegenseitigen Kontrolle, die ersten Ausgänge in eine
nahe Stadt machen. Dazu muss gesagt werden, dass die Teilnahme an Entzug
und Therapie freiwillig war. Jeder konnte jederzeit damit aufhören. Die Tore
standen offen. Keine Therapie gelingt je unter Zwang.
Die Drei waren morgens um neun Uhr in den Bus gestiegen. Um ein Uhr
Mittag kam der Anruf. Eine aufgeregte Mädchenstimme schrie ins Telefon: "
Der Bernhard, der Bernhard, er ist weg! Wir haben ihn verloren!" Myriam, die
gerade Dienst hatte, sprach beruhigend auf das Mädchen ein: "Elvira, jetzt
beruhig' dich einmal. Wie lange ist er denn schon verschwunden?"
Es stellte sich heraus, dass Bernhard bald nach ihrer Ankunft an der
Endstation, die am Bahnhof lag, kurz einmal aufs Klo hatte müssen, wie er
gesagt hatte. Die Anderen hatten einstweilen an einem Kiosk auf ihn gewartet.
Er war nicht wieder gekommen. Er kam nie wieder.
Spät abends wurde er von einem Bediensteten des Parkhauses in einer
Toilette gefunden, gestorben an einer Überdosis des Stoffes, aus dem seine
Träume gewesen waren. Nun träumte er einen anderen Traum, einen, der ihn
wegführte von Drangsal und Irrungen, hin zu seinem Selbst, zu seinem
unzerstörbaren Kern.
Auf dem Hof breitete sich entsetztes Schweigen aus. Die verschreckten
Jugendlichen waren von Georg aus der Stadt abgeholt worden. Sie waren noch
blasser als sonst, und ihre furchtsamen Augen schienen zu fragen: "Nicht
wahr, es gibt keine Rettung, es holt uns ein, wo wir auch hingehen?" Die
Therapeuten machten sich Vorwürfe, wussten aber eigentlich nicht, was sie
anders hätten machen können. Ich machte mir große Sorgen um Myriam und
das Baby. Sie brauchten jetzt unbedingt Ruhe und Entspannung. Doch die gab
es nicht, nicht jetzt. Die Medien pflegten sich auf solche Begebenheiten wie
Aasgeier auf ein Stück verrottetes Fleisch zu stürzen. Bald würde der Tod des
Jungen überall Hauptgesprächsstoff sein, besonders hier, in diesem
abgeschiedenen Teil unseres Landes, wo sonst nicht viel passierte. Meine
Gedanken kreisten und kamen auch nachts nicht zur Ruhe. Was konnten wir in
dieser drangvollen Situation nur machen? Eine Stimme, lang vertraut, doch
zuletzt wenig gehört, ließ sich, leise zuerst, in meinem Kopf vernehmen: "
Schöne Scheiße!" begann sie, wenig vornehm, aber treffend. "Euer
Superprojekt wird zu Ende sein, bevor es noch richtig begonnen hat, die
werden euch Kübel voll Scheiße über den Kopf schütten!"
117
Madame beliebte heute im Fäkalchargon zu kommunizieren, das konnte ja
heiter werden. Aber diesmal, im sicheren Wissen, die Chefin im Haus zu sein,
würde ich ihr zuhören, solang es mir richtig schien. " Jetzt gib' mal was
Konstruktives von dir, du Waschweib" forderte ich sie auf. "Das ist nicht mein
Revier, das Konstruktive, aber, bevor du mich wieder in den Sack steckst,....
also:
"Warum geht ihr nicht in die Offensive, nehmt ihnen doch den Wind aus den
Segeln!" "Du hast leicht reden, in die Offensive gehen. Wie soll denn das
funktionieren?" "He, willst' die Chefin sein, dann lass dir selber was einfallen,"
maulte sie. "He, du bist Untermieterin in meinem Haus, vergiss das nicht, also
kooperiere, oder du fliegst raus!" Anscheinend durfte man mit ihr nicht zu
zimperlich umgehen, sonst fühlte sie sich gleich wieder stark. "Ich glaube, ich
muss dir wirklich auf die Sprünge helfen. Vor lauter Schrecken kannst du
anscheinend nicht mehr richtig denken. Warum ladet ihr nicht alle wichtigen
Leute ein, vielleicht zu einen Tag der offenen Tür oder so was in der Art." "Ja,
das ist es, du bist super, ich möchte dich umarmen!" Dieses total ungewohnte
Verhalten verschreckte sie wohl, denn plötzlich, wie sie gekommen war, war
sie auch wieder verschwunden. Ich schickte ihr ein aufrichtiges Dankeschön
hinterher.
Fast alle, die wir eingeladen hatten, waren gekommen: ein Reporter der
Bezirkszeitung, einer eines bekannten Boulevardblattes, der Bürgermeister,
der Postenkommandant der Gendarmerie, der Ortsvorstand, der Pfarrer; nur
die Ortsbewohner waren bis auf wenige Ausnahmen, ferngeblieben.
Anscheinend hatten wir einen großen Fehler gemacht, indem wir ihnen die
Wahrheit über unser Projekt verschwiegen hatten.
Nun würde es sehr schwer, wenn nicht unmöglich werden, die Mauer aus
Angst und Abwehr zu durchbrechen, die sie gegen uns aufgebaut hatten.
Vielleicht aber wäre es möglich, einen kleinen Durchschlupf hineinzubrechen?
Also, fasste ich mir ein Herz und ging mit einem der Mädchen von Tür zu Tür,
ein wahrer Canossagang, doch er lohnte sich. Wir baten alle, die wir antrafen,
doch noch zu kommen und sich selbst ein Bild zu machen, bevor sie ein Urteil
fällten. Manche entschuldigten sich, doch es war offensichtlich, dass sie kniffen.
Manche aber kamen. Sie waren letzten Endes dann auch verantwortlich dafür,
dass sich die Waage der öffentlichen Meinung leicht zu unseren Gunsten
neigte.
Die Jugendlichen hatten sich wirklich große Mühe gegeben. Ein
schmackhaftes Buffet war in der Mitte des großen Raumes aufgebaut,
allerdings gab es keinen Alkohol und auch keinen Kaffee, was gleich zu Beginn
Interesse erweckte. Ein Therapeut hielt eine kleine Ansprache und erklärte
genau den Zweck dieser Einrichtung und den Ablauf der Therapie. Er stellte die
Klienten vor und ließ die Anwesenden ein wenig Einblick nehmen in deren
Vorgeschichte (mit der Zustimmung der Betreffenden natürlich). Die Besucher
waren sehr betroffen von dieser, ihnen total fremden Welt, aber Betroffenheit
ist die Voraussetzung für ein Umdenken, diesen Keim hatten wir bewusst
gelegt. Anschließend wurden die Gäste noch auf dem Gelände umhergeführt.
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Dabei zeigten die Klienten mit echtem Stolz, was sie bisher geleistet hatten:
den Umbau der Räume, ihre gemütlichen Schlafkojen, die Mostpresse, den
Stall und die neue Melkanlage und die eben begonnene Milch - und
Käsekammer. Zuletzt wurden noch die Gemälde und bildhauerischen Arbeiten
vorgeführt, welche die jungen Leute im Zuge ihrer Therapie gestaltet hatten.
Und das war nun auch für mich eine verblüffende Überraschung. Es war, als
hätte das Öffnen der verborgenen Räume ihres Gemütes eine Schleuse
geöffnet, hinter der auch das schöpferische Potential dieser Menschen lange
gewartet hatte, um endlich mit Gewalt hervorzubrechen. Was ich und unsere
Gäste hier zu sehen bekamen, schien mir, trotz der oft schmerzlichen Inhalte,
das Schönste zu sein, was ich bisher auf diesem Gebiet gesehen hatte. Es
sprach so unmittelbar von Seele zu Seele, so ergreifend unverhüllt, dass keiner
sich der Wirkung ganz entziehen konnte. Auch die einfachsten Leute, denen die
Beschäftigung mit Kunst fremd war, wurden davon angerührt. Zuletzt gaben
diese kreativen Arbeiten der Waage den entscheidenden letzten Schubs, und
die Veranstaltung wurde zu einem ersten Erfolg. Die Herzen hatten sich einen
Spalt geöffnet, und dieser konnte erweitert werden, das wussten wir.
Diese, schnell notwendig gewordenen Aktivitäten hatten etwas Wichtiges
verhindert, nämlich das Bewältigen unserer eigenen Trauer und Verstörtheit.
Die Therapeuten würden das Ihrige dazu in den Gruppensitzungen tun, dazu
waren sie bestens ausgebildet und besaßen auch genug Erfahrung. Mein
Beitrag dazu war ein anderer. Ich bat alle Bewohner des Hofes, am Abend des
nächsten Tages zu uns ins Haus zu kommen und etwas aus dem persönlichen
Besitz von Bernhard mitzunehmen. Georg und ich führten alle in die Höhle, die
von einigen wenigen Kerzen dämmrig erleuchtet war. Wir stellten uns im Kreis
auf, und ich hielt eine kurze Ansprache: "Diese Höhle ist ein Ort, auf dem seit
Tausenden von Jahren Menschen ihre Anliegen, ihre Ängste, ihre Freuden aber
auch ihre Trauer abladen konnten. Sie legten diese Gefühle ihrer Muttergöttin
ans Herz, die sie sich so vorstellten, wie ihr sie hier seht. Außerdem ist an
diesem Ort der Vorhang zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der
Toten dünn. Hier können wir unserem verstorbenen Freund alles sagen, was
wir gerne wollen, er wird uns hören. Vor allem aber können wir uns hier und
jetzt von ihm verabschieden, ich meine, wirklich verabschieden, denn er hat
einen anderen Weg gewählt als wir. Auch, wenn wir in unserem Entsetzen das
momentan nicht glauben können: er ist an einem sicheren Ort und wird seine
Probleme bewältigen, auf seine Weise. Wir aber haben uns entschieden, hier zu
bleiben, zu leben, an uns zu arbeiten und uns gegenseitig dabei zu
unterstützen. Lassen wir unseren Freund also los, binden wir nicht unsere und
seine Kräfte, denn zuletzt gibt es den Tod nicht, nur Leben, wenn sich das auch
momentan noch unserer Wahrnehmung entzieht."
Jeder bekam nun eine Schnur um sein Handgelenk gebunden, deren Ende
im Zentrum unseres Kreises um einen Teddybären, Bernhards vielgeliebtes
Maskottchen, geknüpft wurde. Wer wollte, sagte jetzt noch ein paar
Abschiedsworte, laut oder für sich und verweilte in Gedanken bei dem
Verstorbenen. Myriam sang dazu gedämpft ein anrührendes Lied, es war ein
Schlaflied, das Lied einer Mutter für ihr verängstigtes Kind:
119
Mutter, jag die Schatten fort,
sie tanzen an den Wänden dort!
Still, mein Kind, fürcht dich nicht!
Schatten flieh'n das Licht.
Sie können dir nichts tun,
du kannst ganz sicher ruh'n.
Still, mein Kind, fürcht' dich nicht,
Schatten flieh'n das Licht.
Langsam löste sich die Starre des Entsetzens, und endlich flossen die
erlösenden Tränen. Sie schwemmten Angst und Verzweiflung mit sich fort und
waren gleichzeitig das befruchtende Nass, welches die zarten Pflanzen
Hoffnung und Vertrauen so nötig für ihr Wachstum brauchten.
Als das Schluchzen verebbt war, schnitt nun jeder die Schnur an seinem
Handgelenk durch. anschließend wurde der Bär vergraben. Noch einmal flossen
Tränen, doch sie waren anders jetzt, sanft wie Sommerregen. Wir fassten uns
alle an den Händen, und Myriam sang ein Lied, dessen Worte sich immer
wiederholten. Langsam fiel Einer nach dem Anderen in den Gesang ein, und
zuletzt war die Höhle erfüllt davon. Es war ein Lied an das Leben:
"We all come from the godess, and to her we shall return, like a drop of
rain, flowing to the ocean..."
( Wir alle kommen von der Göttin, und zu ihr kehren wir wieder zurück, wie
ein Regentropfen, der wieder dem Ozean zufließt.)
Als alle wieder gegangen waren, fiel mein Blick auf den Kalender, der über
der Küchenanrichte hing. Heute war genau der 30. November, SAMHAIN ! Die
Aufregungen der letzten Woche hatten mich diesen wichtigsten Termin im
Jahreskreis vergessen lassen. Das Totenfest! Genau heute vor einem Jahr
hatte meine Reise in ein neues Leben begonnen. Es war ein Aufbruch gewesen,
der das Schiff meines Lebens aus dem vertrauten Hafen in unbekannte
Gewässer geführt hatte. Und auch, wenn dieses Jahr mit einem Totenfest
endete, so war es doch eine Reise auf den Wassern des Lebens gewesen.
Denn das Leben entspringt dem Tod und endet dort, um wieder von Neuem zu
beginnen. So war es, so ist es, und so wird es sein, blessed be!
120
3.BUCH
DIANA
Die Tageshelligkeit war mehr und mehr im dunklen Tunnel der Nacht
verschwunden, je näher die Winter - Sonnenwende und damit Weihnachten
rückte. Kaum war das schwächliche Tagesgestirn über den Horizont geklettert,
sank es auch schon wieder, als wäre es nicht kräftig genug, sich länger am
Himmel zu halten. Wir feierten in der Nacht zum 21. Dezember das Fest der
Winter - Sonnenwende in unserer Höhle, anschließend, am 24. Dezember, ein
ganz normales Weihnachtsfest mit Christbaum und Geschenken für alle
Hofbewohner. Gerade war ein fröhlicher Tanz um den Weihnachtsbaum zu
Ende gegangen, er hatte sich, wie üblich, mit viel Gelächter und Gestolpert
abgespielt, da zupfte mich Myriam am Ärmel meines Pullovers. "Anna," sie
nannte mich neuerdings beim Vornamen, besonders in Gegenwart Anderer.
Das war zwar ungewohnt für mich, gab aber unserer Beziehung eine neue,
kameradschaftliche Note. "Anna, ich möchte mein Kind in der Höhle
bekommen. Was sagst du dazu?" Ich war etwas verblüfft. Hier, inmitten des
größten Trubels - das Fest hatte mit der Verteilung der Geschenke seinen
Höhepunkt erreicht - stellte sie mir derart tiefgründige Fragen. "Können wir das
vielleicht nachher besprechen? Oder, und das glaube ich eigentlich, teilst du
mir ohnehin nur deinen Entschluss mit, und deine Frage war eher rhetorisch?"
Ich musste lächeln, denn in diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie groß
die Ähnlichkeit zwischen uns, trotz der äußerlichen Unterschiede, doch war.
Wie oft hatte Georg mir, oftmals in gespielter Verzweiflung, meine
Dickköpfigkeit vorgeworfen.
Die Hebamme, die die Geburt leiten sollte, hatte unter gewissen
Bedingungen, nichts dagegen einzuwenden. Sie war eine äußerst
aufgeschlossene und auch sehr kompetente Frau, eine Nachfahrin jener Weisen
Frauen früherer Zeiten. Es waren außerdem keinerlei Komplikationen zu
erwarten.
Aber, ich will nicht vorgreifen. Noch war Weihnachten. Und hier nun, auf
meiner Glasinsel, im winterlichen Norden unserer Heimat, durfte ich endlich
das erleben, was ich mir vor einem Jahr so sehr gewünscht hatte: Stille und
winterlichen Weihnachtszauber mit verschneiten Wäldern und Gesprächen am
Kamin. Georg hatte den Vorschlag gemacht, die Mitternachtsmette im
Nachbarort zu besuchen. Diese Idee war bei den Meisten zuerst auf einige
Verwunderung gestoßen, dann aber waren überraschenderweise alle zum
Aufbruch bereit gewesen, als es Zeit wurde zum Abmarsch. Wir beschlossen,
die wenigen Kilometer bis zur Kirche zu Fuß zu gehen. Und siehe, unsere
kindlichen Bilderbucherwartungen wurden erfüllt, ob vom Weihnachtsmann,
vom Christkind oder von der Natur, die sich endlich einmal so verhielt, wie man
es von ihr zu dieser Zeit erwartete, war dabei Nebensache. So stapften wir
also, vermummte Gestalten unter einem gleißenden Sternenhimmel, durch den
vor eisiger Kälte knirschenden Neuschnee, Dampfwolken vor den rot
gefrorenen Nasen, aber im Inneren voller wärmender Freude über dieses
exquisite Erlebnis. Die Strasse, kaum erkennbar unter der dicken Schneedecke,
senkte sich in sanftem Gefälle zum Fluss hinunter.
121
Das Wirbeln und Sprudeln des Wassers war wie in einer Momentaufnahme
festgehalten worden durch die Erstarrung des Eises. Nur ein dünnes Rinnsal
war noch unter der Eisdecke lebendig geblieben und nützte diese Gnadenfrist
zu eiliger Flucht. Die aber war vergebens. Bald würde auch diese letzte
Erinnerung an lebendige Beweglichkeit vom Frost eingefangen werden und
stillstehen.
Vom Fluss weg stieg die Strasse wieder an, senkte sich zum Ortseingang,
von dort ging es wieder bergauf, zu Dorfplatz und Kirche. Vor der standen
bereits einige Dorfbewohner, frierend in Mäntel und Schals verkrochen. Unser
Kommen verursachte Bewegung in der stillen Gruppe.
Ich konnte die Blicke in meinem Rücken wie feine Nadelstiche spüren. War es
vielleicht falsch gewesen, hierher zu kommen? Wir würden es gleich erfahren.
Unsere Grüsse wurden freundlich erwidert, als wir an den Leuten vorbei,
eintraten in das von Kerzen festlich erhellte Kirchenschiff, in dem ich mich fast
wie ein blinder Passagier fühlte. Was hatte ich denn erwartet, ich war fremd
hier und brachte noch dazu eine Gruppe randständiger Existenzen mit, einen
weiteren Fremdkörper. Doch die meisten unserer Gruppe waren zumindest
Katholiken, hatten also ein gewisses Heimatrecht hier. Meine Gedanken wurden
jetzt vom Eingangslied unterbrochen, der Orgelklang blies meine krausen
Gedanken wie ein Sturmwind davon. Dann begann die Magie der Liturgie ihren
Zauber zu entfalten. Gesang und Gegengesang, eine vertraute Sprache
zwischen Priester und Gemeinde, die mir zwar nicht geläufig war, deren
unterschwellige Botschaft aber von den tiefer liegenden Schichten meines
Wesens wohl verstanden wurde. Sie hieß: "Ihr seid meine gesegneten Kinder,
ich bin bei euch, fürchtet euch nicht!" Dann wurde die Weihnachtsbotschaft
verlesen, es waren die entsprechenden Stellen aus den Evangelien. Es folgte
die Predigt, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Was dann kam, brachte
einige Bewegung in den ritualisierten Ablauf des Gottesdienstes einerseits und
uns Freude und das Gefühl von Angenommensein andererseits. Es kam
vollkommen unerwartet. Der Pfarrer war fast am Ende seiner Predigt
angelangt, da hob er noch einmal seine Stimme und sagte eindringlich:
"Liebe Gemeinde, Maria und Josef suchten eine Herberge und fanden nur
verschlossene Herzen und Türen. So musste unser Herr, der doch das Licht des
Lebens ist, in einem Stall zur Welt kommen. Hier sind nun Menschen zu uns
gekommen, die auch keinen Platz in ihrer Gesellschaft finden konnten, deshalb
drohte ihr Licht auch zu erlöschen, und ist doch Licht von seinem Licht. Weisen
wir sie nicht von unserer Schwelle, und geben wir ihnen eine Herberge, dann
nehmen wir auch Ihn bei uns auf. Denn Er hat gesagt. was ihr einem von
denen tut, tut ihr auch an mir."
Tiefe Stille herrschte in der Kirche, man konnte das Knistern der
brennenden Kerzendochte hören. Dann wendeten sich viele Gesichter uns zu
und sahen uns an. Augenpaare, die vorher noch misstrauisch geblickt hatten,
drückten jetzt vorsichtige Freundlichkeit, ja sogar echte Herzlichkeit aus.
122
Manche der Jugendlichen waren offensichtlich überfordert von dieser
plötzlichen Aufmerksamkeit und rutschten unruhig auf den Bänken hin und her.
Aus dieser Verlegenheit wurden sie durch das Dröhnen der Orgel erlöst, das
Vorspiel zum alten Weihnachtslied "Es ist ein Ros entsprungen..." erklang.
Gleich darauf fiel die ganze Gemeinde unter der erfahrenen Führung des
Kirchenchores ein, und mir war, als dringe der Gesang durch die Ritzen der
Mauersteine wie ein warmer Schein und erfüllte die Winternacht mit Hoffnung
und Liebe. Jetzt fühlte ich mich nicht mehr wie ein blinder Passagier an Bord
des Kirchenschiffes, sondern wie ein geladener Gast auf einer Fahrt, die uns,
auf verschiedenen Wegen zwar, aber an ein gleiches Ziel führen sollte, ins
Licht. Dieser Vorfall legte den Grundstein für eine freundschaftliche Beziehung
zum Pfarrer dieser Gemeinde, getragen von gegenseitigem Respekt.
Der dunkle Tunnel gab langsam, Tag für Tag etwas mehr, das Licht wieder
frei. Aber die Winter dauern lange im Waldviertel, und wenn in anderen
Gegenden schon gesät und angebaut wird, liegt hier oft noch lange Schnee.
Doch dann war es auch bei uns so weit. Mit ungeheurer Kraft stieß die Vorhut
des kommenden Frühlings ihre grünen Lanzen durch die schwere, nasse Erde,
die Wintersaat grünte dort, wo der Schnee auf den Feldern schmolz. Es
erschienen Himmelsschlüssel, Frühlingsknotenblumen, bald darauf auch die
gelben Sonnen des Löwenzahns. Das war das Signal. Überall erklang wieder
das Knattern der Traktoren. Die Vögel gaben sich alle Mühe, gegen diesen
Lärm an zu singen, das ergab eine bodenständige, Waldviertler
Frühlingssymphonie. Die Schafe und Ziegen hatten abgelammt, und auf der
Weide vollführten die Jungtiere die unglaublichsten Sprünge, was manche
Alttiere dazu animierte, es ihnen gleichzutun. Joschi führte die Klienten in die
Geheimnisse des Acker- und Gemüsebaus ein, und ich machte mit. Ich wollte
auch etwas lernen.
Heute stand Traktorfahren auf meinem Lernprogramm. Nach einigen
Übungsfahrten saß ich stolz im Sattel des Ungetüms, ich fühlte mich als seine
Herrin. Dann parkte ich ihn rückwärts in die Scheune ein. Im Vollgefühl meiner
neuerworbenen Fähigkeiten legte ich den Rückwärtsgang ein und stieg aufs
Gaspedal...... es war der Vorwärtsgang gewesen! Die Fahrt endete an der
Schleppkette unseres Nachbarn, des Ortsvorstehers. Ich hatte den Traktor in
einen Graben manövriert und kam alleine nicht mehr heraus; die Basis zu einer
gern erzählten, im Lauf der Zeit immer mehr ausgeschmückten Legende war
gelegt.
Und dann spülten die Wasser des Lebens ein neues Wesen an seine Ufer,
ein kleines Mädchen, dem seine Eltern den Namen Diana gaben, wurde Myriam
und Joschi geboren. Es war zum Glück eine sanfte Landung, und sie geschah
im Kreise der Familie. Wie sehr unterschied sich diese Geburt von der Myriams,
vor einundzwanzig Jahren! Fast beneidete ich meine Tochter um dieses
Erlebnis. Wir hatten Felle auf dem Boden der Höhle ausgebreitet, Kerzen
aufgestellt und ein kleines Feuer entzündet, um die Höhle gemütlich warm zu
machen. Eines der Mädchen, sie war gerade achtzehn Jahre alt und hatte sich
ihren Stoff ehemals durch Prostitution verdient, hatte gebeten, bei der Geburt
dabei sein zu dürfen. Still und ergriffen verfolgte es die Vorgänge und ging der
Hebamme unaufdringlich zur Hand. Joschi stand seiner Frau tapfer zur Seite.
123
Er stützte sie, hielt sie von hinten umfasst, wischte ihr den Schweiß von der
Stirn und sprach ihr immer wieder Mut zu, wenn sie sich unter dem Ansturm
der Wehen aufbäumte. Dann war es so weit. Ein kleines, dunkles Köpfchen
erschien am Tor des Lebens, eine letzte Wehe noch, dann glitt das winzige
Körperchen in meine Hände. Das hatte ich mir ausgebeten, ich wollte mein
Enkelkind in Empfang nehmen, so schien es mir richtig und gut. Die Hebamme
hatte sich dabei im Hintergrund gehalten und nur eingegriffen, wenn es nötig
gewesen war. Ich legte es Myriam auf den Bauch, nachdem es seinen ersten
Schrei getan hatte. Mit ungläubiger Verwunderung sahen sie und Joschi auf das
neue Wesen, das sie da aus ihrem bergenden Körper ins Leben entlassen
hatte. Sie mussten diesen neuen Zustand des Elternseins erst langsam
erfassen, zu überwältigt waren beide von diesem, sich immer wieder neu
ereignenden Wunder der Geburt. Noch vor gar nicht langer Zeit hatten wir hier
einen Abschied gefeiert. Ein Leben war durch das Tor hinüber gegangen, war
hineingeboren worden in ein anderes Land; ein anderes war jetzt zu uns
gekommen durch ebendieses Tor. "Ein ganz schöner Verkehr herrscht hier, am
besten sie bauen eine Drehtür ein!" Solche, wenig pietätvollen Einlagen
produzierte ein Teil meines Denkens oft, wenn die Feierlichkeit des Augenblicks
drohte, mich zu überwältigen, aber jetzt war so etwas ganz entschieden nicht
am Platze. Georg hatte mein plötzlich wechselndes Mienenspiel beobachtet, er
hatte feine Antennen für diese Dinge. Er sah mich fragend an, doch ich gab
diese kleine komische Einlage nicht preis, war sie doch zu banal gewesen. Als
das Baby abgenabelt und gewaschen war, wickelte die Hebamme es ein und
legte es Georg, Joschi und mir nacheinander in die Arme, und wir begrüßten es
zärtlich. Die blauen Babyaugen blickten konzentriert in meine, als suchten sie
sich an etwas zu erinnern, das vor seiner Geburt in diese Welt geschehen war,
etwas zwischen uns Beiden; und ich wusste, mein Traum hatte sich erfüllt. Das
kleine Mädchen aus dem Teich war eingetreten in unsere Wirklichkeit. Später
wurde das kleine Mädchen Diana oft von seinen Freunden "die Anna" gerufen.
Sie änderten den ihnen unbekannten Namen in einen Vertrauten um, wie
Kinder das gerne tun..........
Am Morgen des nächsten Tages fand ich ein winziges, schwarzes Kätzchen
in unserer Scheune, und ich hatte keine Ahnung, woher es gekommen sein
könnte. Aber, gewisse Fragen stellte ich nicht mehr. Sie waren, das ahnte ich,
nicht so einfach zu erklären. Ach, es war ein seltsames Gefühl, Großmutter zu
sein! Es schien mir, als wäre ich wieder eine junge Frau, wenn ich das kleine
Wesen im Arm hielt, seine winzigen Fingerchen liebkoste und erheitert sein
angestrengtes Mienenspiel beobachtete, wenn es versuchte, seine Augen auf
etwas zu richten. Oft vermeinte ich sogar, das Einschiessen der Milch in meine
trockenen Brüste zu spüren, so tief eingeprägt hatte sich meine eigene,
ehemalige Mutterschaft meinem Wesen. Manchmal schienen sich die Zeiten zu
vermischen und es war mir, als hielte ich wieder meine kleine Myriam im Arm.
Ich durfte mich nicht zu sehr auf diese Gefühle einlassen, mich nicht verlieren
auf längst gegangenen Wegen, im Labyrinth der Vergangenheit, auch, wenn sie
mir noch so gegenwärtig schien. Meine Aufgabe war es, Groß - Mutter zu sein,
den Verpflichtungen der körperlichen Mutterschaft enthoben, um Mutter sein zu
können für einen größeren Kreis, der alle hier Lebenden einschloss. Und doch
war ich es in meinem Traum gewesen, die das Kind aus dem Teich geborgen
hatte....
124
Dreimal hatte sich der Geburtstag der kleinen Diana jetzt gejährt. Die
Landwirtschaft war unter der kundigen Führung von Joschi gediehen und
versorgte das Projekt mit allem Lebensnotwendigen. Viele unserer
Mitbewohner waren in ein drogenfreies Leben entlassen worden, zu viele
allerdings wurden wieder eingeholt von dem menschenfressenden Moloch ihrer
Vergangenheit. Manche waren in einem zweiten Anlauf noch einmal den
steinigen Weg der Entwöhnung gegangen und ihm diesmal entkommen, dem
Ungeheuer Droge. Das waren für mich die wahren Helden der Gegenwart! Sie
kämpften gegen Zyklopen, widerstanden den Sirenengesängen der Synapsen,
die nach der gewohnten Substanz gierten, umschifften Skylla und Karybdis
beim Wiedereinstieg in ein geordnetes Berufsleben, um endlich, nach einer
Ewigkeit, in der sie die Knochenmühle einer intensiven Psychotherapie
durchlaufen hatten, festzustellen, dass sie in eine Gespensterwelt
zurückkehrten. Eine Welt, deren Funktionieren auf dem Verleugnen von
inneren Wahrheiten begründet war, jener inneren Wahrheiten, denen sie eben
gelernt hatten, sich zu stellen. Ein Drama von wahrhaft klassischer Größe!
Über ein Jahr hatten sie auf der paradiesischen Glasinsel verbracht, in Avalon,
wo die Verwundeten Heilung fanden an Körper und Seele, um anschließend
wieder zurückkehren zu müssen in diese Welt, die sie so sehr verwundet hatte.
Würden sie die Glasinsel in ihrem Herzen behalten können? Würde die ihnen
dort zugewachsene Kraft ausreichen, um ihnen ein einigermaßen "normales"
Leben zu erlauben? Das waren die Fragen, die uns täglich begleiteten;
besonders Myriam und ihre Kollegen stellten sie sich häufig.
Aber zurück zu Diana. Es war nicht nur mein Großmutterstolz, der mich in
ihr ein außergewöhnliches, kleines Menschenskind sehen ließ. Ihre zarte
Gestalt, dunkle, lange Haare und die großen, braunen Augen, die so viel mehr
zu sehen schienen als andere Menschen, erinnerten mich immer an
Feendarstellungen in Märchenbüchern.
Immer, wenn Myriam Dienst hatte, schlief Diana bei uns im Haus. So auch
diesmal. Ich war eben aufgestanden, um Frühstück zu machen, da hörte ich
aus dem kleinen Zimmer, wo sie schlief, undeutliche Worte. "Ach ja, sie
unterhält sich mit der Katze," dachte ich kurz, um mich wieder meiner
Morgenbeschäftigung zu widmen. Die Katze hüpfte auf den Tisch und rieb sich
schnurrend an meiner Hand. Mit wem sprach sie dann? Leise, auf
Zehenspitzen, schlich ich zur Tür, öffnete sie, ebenso leise und sah durch den
Spalt. Diana stand in ihrem Nachthemdchen beim Fenster, die dunklen Locken
ringelten sich schlafzerzaust um ihre ernsthaft blickenden Augen. Sonst war da
niemand, zumindest niemand, den ich sehen konnte. Sie hielt das Köpfchen
schief, wie immer, wenn sie aufmerksam zuhörte, manchmal nickte sie
ernsthaft. Dann spielte ein Lächeln um ihren Mund, und gleich darauf brach sie
in fröhlich glucksendes Kleinkinderlachen aus, offensichtlich war sie sehr
amüsiert über irgend etwas. Was war das, zum Schnupftuch der Frau Holle,
noch mal! Um das sehen zu können, musste ich weiter in das Zimmer
hineingehen. Da stand ich nun und sah.....nichts! Meine Enkelin blickte mich
mit gerunzelter Stirn missbilligend an. "Ach, Anna!" rief sie, anscheinend wenig
erfreut, mich zu sehen, "Jetzt hast du sie erschreckt!"
125
"Wen habe ich erschreckt, Diana? Es ist doch niemand hier, oder doch?" "Na
meine Freunde, die machen immer so lustige Sachen. Jetzt sind sie weg.
"Waren sie schon öfter da?" fragte ich erstaunt.
"Sie wohnen doch da, weißt du das nicht?" erklärte mir Diana,
offensichtlich erstaunt über so viel Unwissenheit meinerseits. Jetzt galt es,
behutsam vorzugehen, um das Kind nicht in Verwirrung zu stürzen.
Ich sagte also, so normal, wie es mir nur möglich war: "Sie werden sicher
wieder kommen. Jetzt ziehen wir dich einmal an, dann werden wir mit Georg
frühstücken. Vielleicht möchtest du mir dann eine Zeichnung von deinen
Freunden machen, dass ich auch weiß, wie sie aussehen, ja?" Damit war sie
fürs Erste einmal zufrieden.
Ein andermal waren wir unterwegs gewesen, um Heilkräuter zu sammeln,
geflecktes Lungenkraut im Wald und Himmelsschlüssel auf den feuchten
Wiesen, beide gut gegen Husten und Verschleimung. Manche unserer
Mitbewohner wurden jetzt im Frühling oft und lange davon gequält. Hier und da
wuchs auch die vitaminreiche Gundelrebe am Waldrand. Ich verwendete sie
gerne zu Suppen und Salaten als gesunde Würze. Diana erwies sich als
gelehrige Schülerin, mit ihren drei Jahren kannte sie schon viele Pflanzen mit
ihrem Namen. Es war eine reine Freude für mich, sie zu unterweisen, bald
würde sie eine richtige kleine Kräuterhexe sein. Leichtfüßig hüpfte sie dort und dahin, wurde nicht müde, Käfer und Vögel zu beobachten und kam auch
immer wieder mit Blumen oder Gräsern angelaufen, um sie mir zu zeigen. Ich
bückte mich gerade, um einen Himmelsschlüssel zu pflücken, da nahm Diana
meine Hand von der Blume weg und sagte mit der ihr eigenen Ernsthaftigkeit:
"Nein, Anna, nicht die nehmen, die hat nicht das Licht, weißt du!" "Was meinst
du mit: die hat nicht das Licht, Kleines?" fragte ich verwundert. "Na, das Licht
um sie rum! Die anderen Blumen haben ein Licht, aber die da hat keins, und
du sollst nur die mit dem Licht nehmen, die sind schöner!" Dann zeigte sie auf
eine andere Blume und rief entzückt aus: "Schau, Anna, die hat ein ganz
großes Licht, die sollst du mitnehmen! Siehst du?" Ich sah nichts, nichts als die
Notwendigkeit, mit ihren Eltern und Georg über diese Fähigkeiten zu sprechen.
"Familienrat!" rief ich, als Myriam vom Dienst kam, um Diana abzuholen.
Sie pflegte dann immer ein wenig bei uns sitzen zu bleiben, um mit uns zu
plaudern und sich ein bisschen entspannen zu können. Ich kochte also Kakao,
das war schon ein unausgesprochenes Zeichen zwischen uns, dafür, dass eine
Aussprache stattfinden sollte. Diana hatte sich in den Garten zurückgezogen.
Sie musste unbedingt für ihre Zapfentiere ein Gehege aus kleinen Hölzchen
bauen. Joschi kam eben aus dem Stall, wo ein kleiner Nachzügler eben das
Licht der Welt erblickt hatte, ein kleiner Ziegenbock. Die Mutter war noch
unerfahren, es war ihr erster Wurf gewesen, deshalb hatte er die Geburt
überwacht.
126
Dann saßen endlich alle Familienmitglieder um den großen Tisch, und ich
konnte beginnen: "Es geht um Diana," begann ich vorsichtig. Ich wusste nicht
genau, wie ich ihnen, besonders den Eltern, das Problem erklären sollte.
Myriam war wohl "eine von uns", eine Zaunreiterin, vermied es allerdings
meistens, über den Zaun zu blicken, da sie befürchtete, sonst in ihrer Welt für
unseriös gehalten zu werden. Sie würde noch lernen müssen, ins weite Land
der Seele auf dem Hexenbesen einzureiten. Dann könnte sie ihre Erfahrungen
in ihr Therapeutendeutsch übersetzen und würde somit eine wunderbare
Psychologin werden.
Ich entschloss mich, Klartext zu reden. "Unsere Diana sieht mehr als wir
Anderen," setzte ich meine begonnene Rede fort. "Sie spricht mit unsichtbaren
Freunden und sieht offenbar die Aura von Lebewesen, jedenfalls von Pflanzen,
dass weiß ich sicher." "Aber Mama," rief Myriam abwehrend, "du steigerst dich
da wieder einmal in deine Altweiber - Traumwelt hinein und nimmst meine
Diana mit! Das finde ich unverantwortlich von dir! Du weißt doch, wie
phantasiebegabt kleine Kinder sind. Aber ich werde nicht erlauben, dass du sie
mit deinem Hexenblödsinn ansteckst!" Kawumm, da war sie also wieder, meine
alte Myriam, sie hatte nichts an Biss und Schärfe verloren. Armer Joschi, er
hatte wohl oft ganz schöne Brocken einzustecken von ihr. Aber er ähnelte in
seiner Ruhe und Ausgeglichenheit so sehr seinem Vater. Allem Anschein nach
konnte er sehr gut mit dieser Eigenheit meiner Tochter umgehen.
Jetzt meldete er sich zu Wort: "Myriam, treib es nicht immer auf die
Spitze, die Anna wird sich diese Dinge doch nicht aus dem Finger saugen!" und
zu mir gewendet, "Erzähl' einmal, was hast du denn wirklich beobachtet."
"Zuallererst möchte ich mich dagegen wehren, von dir als altes Weib
bezeichnet zu werden, du Göre!" erwiderte ich, erbost über ihre Frechheit. Sie
hatte genau meine empfindlichste Stelle getroffen, das konnte sie immer noch
bis zur Perfektion. "Und weil du meine Traumwelt ansprichst, da solltest du
vielleicht ein paar Dinge erfahren, die du bis jetzt noch nicht weißt. Vielleicht
wird dir dann Einiges klar in deinem beschränkten Psychologenhirn!" Ich war
richtig in Fahrt. Sollte unser Gespräch noch fruchtbar werden, musste ich mich
einbremsen. Nach zehn tiefen Atemzügen begann ich also, ihr und Joschi die
ganze Geschichte zu erzählen: wie das kleine Mädchen in meinen Träumen
aufgetaucht war, die Geschichte mit der Geisterkatze.....Ich sah, wie sich
Myriams Pupillen schlagartig erweiterten, als ich die Katze erwähnte. Sie
erinnerte sich noch genau an ihre Erlebnisse in unserer Wiener Wohnung,
damals, als sie kurz dort gewohnt hatte. Gespannt verfolgte sie jetzt meine
Erzählung. Ich fuhr fort mit der Geschichte der Gräfin, von dem kleinen
Mädchen Anna, das im Brunnen so unglücklich ums Leben gekommen war.
Zuletzt erwähnte ich den Traum vom Teich, in welchem ich das Baby aus dem
Wasser geholt und nach Hause gebracht hatte, wo es zum Mädchen Anna
geworden war, und dass ich glaubte, Die - Anna sei unsere Diana.
Das Schweigen lastete wie eine förmlich spürbare Substanz im Raum.
Keiner wollte das Wort ergreifen.
127
Noch hatte niemand durch Zustimmung meine Erzählung wahr gemacht, sie
hing zwischen Fiktion und Wirklichkeit und wartete darauf, von meinen
Zuhörern endgültig auf diese oder die andere Seite verwiesen zu werden.
Georg brach nun das Schweigen: "Ich kenne meine Anna, und ich habe bis
jetzt die Erfahrung gemacht, dass ihre Träume wahr sind, wahr im Sinne einer
inneren Wahrheit. So unwahrscheinlich diese Geschichte auch auf euch wirken
mag, ich glaube sie. Meine Enkelin (in diesem Wort klang so viel Zärtlichkeit
mit, dass mir die Tränen in die Augen stiegen) ist ein ganz besonderes Wesen,
und wir müssen gut auf sie achtgeben. Ich, für meinen Teil werde das tun, was
auch kommt." Gerührt umarmte Myriam jetzt Georg und dann, nach einem
kleinen inneren Schubbs, auch mich, worauf sie sich entschuldigte für ihre über
schießende Reaktion von vorhin. Mein Zorn war bereits verraucht, aber ich
musste unbedingt loswerden, was ich für wichtig hielt. "Wenn ich auch ein
altes, vom Hexenblödsinn verwirrtes Weib bin, eines muss ich euch doch noch
sagen, und ihr müsst es einfach akzeptieren. Und wenn ihr das momentan
nicht könnt, dann, bitte, lasst es in euch wirken, bedenkt auch, bevor ihr es
verwerft, nämlich: Diana ist, dessen bin ich ziemlich sicher, eine Angehörige
einer,- ach, wie soll ich es nur ausdrücken, dass ihr mich richtig versteht einer Art neuen Menschheit, der Beginn einer neuen Rasse." Ich war mir nicht
sicher, nicht im Sinne einer alten, abgelebten Rassentheorie missverstanden zu
werden, aber es fiel mir kein anderes Wort ein. "Schaut, in unserem Kult gibt
es die Verszeile: follow the old ways, bring in the new days; also etwa 'folgt
den alten Wegen, bringt den Neuen meinen Segen,' frei übersetzt. Georg und
ich und unsere Schwestern und Brüder sind so etwas wie ein Verbindungsglied,
eine Brücke aus dem Vorgestern ins Übermorgen. Im Vorgestern, vor
zigtausenden Jahren vielleicht, waren die Menschen Eins mit der Natur. Sie
konnten mit dem Wasser fließen, sich in einen Stein versetzen oder eine
Zeitlang in einem Baum sein. Später dann wurden wir uns unseres Ich bewusst
und begannen, es gegen das Du der Natur zu erleben. Das führte endlich zum
Imperativ des Christentums: macht euch das Erdreich untertan! Unsere,
technisch ausgerichtete Zeit brachte diese Aufforderung an ihren Höhepunkt.
Der ist, das glaube ich, jetzt überschritten. Ich sehe Krisen und Notzeiten auf
uns zu kommen. Aber diese Krisen werden eine Neugeburt einleiten, eine
anders ausgerichtete Zivilisation wird sich etablieren, dann, übermorgen. Die
Menschen werden wieder lernen, ihre inneren Sinne zu gebrauchen. Das, was
wir heute als aufregende, außergewöhnliche Phänomene betrachten, wie etwa
Telepathie oder Hellsehen wird dann ganz normal sein, wie es vor Zeiten auch
schon normal gewesen ist, und wir werden uns bewusst wieder ihrer bedienen.
Unser Umgang mit der Natur wird von Respekt und geschwisterlicher
Verbundenheit geprägt sein, weil wir einfach wissen werden, dass alles
miteinander verbunden, ja in Wirklichkeit Eins ist. Und unsere Diana ist, und
das wird keine leichte Aufgabe für sie werden, eine der ersten Vertreterinnen
dieser neuen Menschheit, mit ihr beginnt vielleicht eine neue Evolutionslinie,
was weiß man. Wie ihr ja wisst, hüten wir in unserer Höhle eine uralte Schale,
für uns ist es der Heilige Gral, das Gefäß des Lebens. Er wurde mir anvertraut,
und ich werde ihn, wenn die Zeit gekommen ist, an eine neue Hüterin
weitergeben, und diese wird Diana sein, die Reponse de Joye der alten Sage,
die Gralsjungfrau. Sie hat ja auch ihre Hexentaufe aus dem Gral empfangen.
128
Und deshalb werdet ihr Beiden auch keine weiteren Kinder mehr bekommen,
weil in diesem Einen eure ganze Substanz liegt, und weil dieses Eine eure
ganze Kraft und Aufmerksamkeit brauchen wird."
Diese lange Rede hatte mich ziemlich erschöpft. Ich lehnte mich zurück,
nahm einen Schluck Kakao und kam innerlich gleich darauf zur Ruhe. Ich hatte
diese Worte nicht vorbereitet gehabt, sie waren aus mir herausgeflossen, wie
ein Bach, der sich allein sein Bett sucht, so, als wären sie nicht von mir
gekommen. Hatte ich wegen meiner Vorhersage die weiteren Kinder
betreffend, Widerspruch erwartet, so hatte ich mich getäuscht. Tiefe
Nachdenklichkeit zeichnete sich auf den Zügen meiner Familie ab. Still gingen
Joschi und Myriam, Diana zwischen sich an den Händen führend, nach Hause,
während mir ein seltsamer Gedanke durch den Kopf blitzte, über den ich
verwundert den Kopf schüttelte: "Die Heilige Familie, Josef, Maria und das
Kind...."
Diana brauchte Freunde, sichtbare Spielgefährten, sie sollte ein möglichst
normales Kinderleben führen. Deshalb wurde sie im Kindergarten angemeldet.
Der Schulbus schluckte die quirlige Kinderschar jeden Tag um die gleiche Zeit,
Dianas ernsthaftes, kleines Gesichtchen sah aus dem Fenster. Sie winkte kurz,
gleich darauf plauderte sie schon lebhaft mit ihren Freunden. Man konnte ihr
ansehen, wie wohl sie sich fühlte. Drei Wochen lang. Dann kam der
Umschwung. Sie trödelte morgens, wollte ihr Frühstück nicht essen und sagte
eines Tages: " Ich gehe heute nicht in den Kindergarten, ich bleibe bei dir,
Anna." "Warum willst du nicht gehen?" fragte ich sie. Sie schwieg. "Diana,
gefällt es dir nicht dort? Komm, sag's mir. Willst du nicht bei deinen Freunden
sein?" Ein langer, intensiver Blick aus ihren dunklen Augen traf mich bis ins
Innerste, dann sagte sie ruhig und bestimmt: "Meine Freunde sind hier." Das
war's. Mehr konnte ich von ihr nicht erfahren. Sie nahm ihre Katze auf den Arm
und ging in den Garten. Als ich später hinausging und nachsah, saß sie auf der
Schaukel, die Katze im Arm, den Kopf leicht geneigt und schien versonnen auf
etwas zu lauschen, das nur sie allein hören konnte. Alle Alarmglocken läuteten
in meinem Kopf. Hier lief etwas ganz entschieden falsch! Was das war,
mussten wir herausfinden.
Myriam, Joschi und ich trafen uns mit der Kindergärtnerin. Sie war eine
durchaus sympathische, junge Frau mit warmherzig blickenden Augen, und sie
schien ernsthaft beunruhigt über irgend einen Vorfall mit Diana. Meine
Befürchtungen gingen in eine bestimmte Richtung, leider wurden sie bestätigt.
"Nun, was ist geschehen, dass unsere Diana nicht mehr in den Kindergarten
gehen will? Es muss ja etwas vorgefallen sein, den anfangs hat es ihr doch gut
gefallen." begann Joschi das Gespräch ohne große Umschweife. Es war der
Kindergärtnerin deutlich anzusehen, dass sie nicht genau wusste, wie sie
beginnen sollte. Ihre Finger verschlangen sich ineinander, lösten sich wieder,
zupften nervös an ihrem Rock, um sich zuletzt wieder aneinander festzuhalten.
Dann begann sie unsicher: "Die Diana ist ein wirklich liebes Kind und dazu ein
sehr begabtes......." "Aber?" "Ja, das ist ein bisschen schwierig zu erklären. Es
ist da etwas sehr Seltsames geschehen, eigentlich mehrere Dinge...."
129
Sie straffte ihren Oberkörper und entschloss sich nun sichtlich zu einer
Schilderung des Vorgefallenen. "Ja, also, die Geschichte ist die: Die Kinder
haben gerade im Garten gespielt. Dabei ist der kleine Philip beim Laufen
niedergefallen und hat sich das linke Knie ziemlich aufgeschürft. Grosses
Geschrei, Blut ist über sein Schienbein heruntergeronnen.
Solche Schürfwunden sind ja sehr schmerzhaft, das wissen wir alle. Ja, und
jetzt kommt's. Ich bin hineingelaufen, wollte Verbandzeug holen und
Desinfektionsmittel, und wie ich wieder rauskomm' seh' ich, wie die kleine
Diana die Hand auf seiner Wunde liegen hat. Ich will noch schimpfen, weil ihm
das doch weh tun musste, da fängt sie auf einmal an, irgendwelche komischen
Töne zu singen. Ich sag's ihnen, ganz enterisch is mir wor'n dabei!" In der
Aufregung verfällt sie in ihren heimatlichen Dialekt, ohne es zu bemerken. "Sie
hat mi gar net g'segn, ganz wo anders woas, die Augn habm an ganz komischn
Blick ghabt. Und dann hat's die Hand wegagnumman, und i sag's ihnan, da
woa de Wundn weg, nix mea woa zan segn! So was is mia no nia unterkemma,
des woa de reinste Hexerei!"
Aber, dieser Vorfall war nicht der letzte gewesen, wie sich bald
herausstellte. Die Kinder pflegten einige Topfpflanzen in ihrem Gruppenraum.
Sie waren dafür verantwortlich und kamen dieser Aufgabe meistens auch mit
viel Eifer nach. Dennoch hatte ein kleiner Bub anscheinend mehrere Tage
hintereinander vergessen, seine Pflanze zu gießen. Sie war vertrocknet und
tot. Alles spätere Giessen hatte nur mehr bewirkt, dass das Ganze zu einem
matschigen Klumpen mit einem traurig herabhängenden Stängel verkommen
war. Die Trauer war groß gewesen, wieder waren Tränen geflossen. Diana
hatte den Kleinen anscheinend trösten wollen. Deshalb hatte sie die Pflanze
aus dem Mist gefischt und sie ihrem kleinen Freund zurückgegeben. Da war sie
wieder prall und lebendig gewesen. "Die - Anna kann zaubern, die - Anna kann
zaubern!" singend waren die Kinder um Diana herumgetanzt, und die war
überglücklich gewesen über den Erfolg ihrer Bemühung und die Freude, die sie
damit den Kindern gemacht hatte. Mit dieser Freude war es allerdings bald
vorbei gewesen. Ihre Freundin Ines hatte Einladungen für ihr Geburtstagsfest
unter ihren engsten Freunden verteilt. Dazu hatte bis jetzt auch Diana gehört.
Sie hatte ihrem ersten Kindergeburtstag schon erwartungsvoll
entgegengefiebert und immer wieder davon gesprochen. Sie erhielt keine
Einladung. Seither wollte sie nicht mehr in den Kindergarten. Sie war durch
nichts dazu zu bewegen, wieder dorthin zu gehen. Darin glich sie ihrer Mutter.
Auch sie war ähnlich bestimmt in ihren Entscheidungen. Hier endete wohl
Dianas Kindergartenlaufbahn, abrupt und endgültig. In Zukunft, das ahnten
wir, würde noch Einiges auf uns zukommen.
Diana musste lernen, ihre Fähigkeiten einerseits zu verbergen, wenn es
geraten schien; und anderseits war es wichtig für sie, zu lernen, wie sie richtig
einsetzen konnte. Himmel, sie war gerade erst drei Jahre alt! Solche Dinge
wären für einen Erwachsenen schon schwierig genug, dann erst für ein so
kleines Kind! Offen, wie eine eben erst erblühte Blume, sollte sie schon lernen,
ihr Wesen zu verstecken vor einer Welt, die sie nicht verstand, ja, sie nicht
verstehen konnte. Würde es ihr Schicksal sein, wie das legendäre Einhorn, als
einzige ihrer Art, in Einsamkeit und Isolation zu leben?
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Dieser Gedanke drückte mir vor Schmerz die Kehle zu, das konnten, durften
wir nicht zulassen! Aber wo war der Ausweg, ich stand vor einer Mauer aus
Fragen und wusste keine Antwort.
In solchen, ausweglos scheinenden Situationen pflegte ich mich in die Höhle
zurückzuziehen. Ihre Stille und Dunkelheit hatte mir schon oft geholfen beim
Hineinhören in mich selbst. Denn dort lagen die Lösungen der meisten
Probleme verborgen auf dem Grund meines Wesens und warteten wie Blumen
der Dunkelheit, bis ich sie pflückte und ihre bestechend, überzeugende Klarheit
am Licht des Tagesbewusstseins erkannte.
Die Höhle erwartete mich wie ein großer Mutterleib. Ich musste mich nur
entspannen und mich wie ein kleines Kind, offen und vertrauend,
hineinschmiegen, ohne Wollen und Zielgerichtetheit. Das fiel mir diesmal nicht
eben leicht. Zu sehr waren meine Gedanken und dadurch auch mein Körper,
angespannt und verkrampft. Also, brauchte ich ein wenig Unterstützung: eine
Kassette mit stampfenden, afrikanischen Rhythmen hatte mir bis jetzt immer
am besten geholfen. Zu den mitreißenden Trommelklängen tanzte ich und
stampfte, wirbelte durch den Raum, mein ganzer Körper wurde erfasst von der
unwiderstehlichen Gewalt dieser archaischen Klänge, die meine Glieder
schüttelten, wie der Sturm die Äste eines Baumes.
Meine wieder in Fluss gekommenen Energien brachen alle Blockierungen und
schufen sich freien Raum. Warm und lebendig konnte ich ihr Strömen fühlen.
Meine Bewegungen wurden weicher, harmonischer, ich floss mit dem Strom
meiner Lebenskraft, dann sank ich zu Boden und gab mich dem
ausschwingenden Rhythmus hin. Die Stille nachher fiel zusammen mit der Stille
in meinen Gedanken, die jetzt endlich eingekehrt war. In dieser hoffte ich die
Worte der Göttin zu hören, für mich bestimmt, an mich gerichtet, Antwort auf
meine Bitte: "Ich bin ein leeres Gefäß, fülle mich, Mutter!"
Flüchtige, nicht zu fassende Bilder zuckten hinter meinen geschlossenen
Lidern auf, Wetterleuchten, das immer nur kurz einzelne Szenen erleuchtete,
doch zu kurz, um sie erkennen zu können. Dann Kinderlachen, Wortfetzen,
gesungene Reime, es klingt wie ein altes Kinderspiel. Girlanden schwingen im
Wind, Lampions, auf Bäumen schaukelnd. Etwas, das wie Puppen
aussieht....Marionetten....sie bewegen sich zu einem Lied, das von Kindern
gesungen wird.....Dann schiebt sich ein Bild dazwischen, ganz kurz nur: ein
Hügel mit stehenden Steinen.... Dann schwankende Laternen in der
Dunkelheit, wie Glühwürmchen tanzen sie durch den Abend. Deutlich kann ich
Diana erkennen. Sie geht lachend mit anderen Kindern in dem Laternenzug,
der sich durch unseren Garten bewegt.....Eine großgewachsene Frau mit
weißen Haaren winkt mir zu, als wolle sie mir dringend etwas sagen. Gleich
darauf ist sie wieder verschwunden..... Ich sehe ein Feuer, rundherum sitzen
Menschen und braten Würste an einem Stöckchen, lohende Feuergarben
fliegen in den dunklen Himmel. Es sieht aus, wie ein großes
Sommerfest......Sommerfest, das ist es! Wir müssen eines veranstalten und die
Kinder mit ihren Familien einladen! Damit können wir vielleicht den Graben
überbrücken und ihnen zeigen, dass Diana ein Kind ist wie alle Anderen, nur
eben ein bisschen anders.
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Dieses kleine bisschen Anderssein könnte durch Kennenlernen, sich
Näherkommen und durch beginnende Freundschaft in Vertrautheit
umgewandelt werden und letztendlich in Zugehörigkeit. Integration hieß das
Zauberwort, und es war in aller Munde, wenn es darum ging, Ausländer oder
Behinderte hereinzuholen in das warme Nest menschlicher Nähe. Warum sollte
es bei unserer Diana nicht funktionieren? Etwa vielleicht, weil es so viel leichter
ist für uns Menschen, Beschädigungen und Unvollkommenes zu lieben als das
Überlegene, das uns Furcht einjagt und das Gefühl von Minderwertigkeit? Wie
auch immer, wir mussten es versuchen, es wäre die einzige Möglichkeit, Diana
zu integrieren in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen, die sie so sehr brauchte,
um nicht zu einem außenseitigen Sonderling zu werden.
Gleich morgen wollte ich das Nötige in die Wege leiten. Ich hätte also,
zufrieden mit dem Ergebnis meiner Meditation, ruhig schlafen müssen. Und
doch war es nicht so. Eine unterschwellige Unruhe und Unzufriedenheit ließ
meine Gedanken kreisen, mein Körper kreiste mit. Ich drehte und wälzte mich,
bis Georg endlich, verschlafen brummelnd, das Licht aufdrehte, sich auf den
Ellenbogen aufstützte und mich kopfschüttelnd ansah: "Denkst du schon
wieder im Kreis, Liebste? Komm, sag es mir, vorher ist an Schlaf ohnehin nicht
zu denken, wie ich dich kenne." " Aha, dir geht es also gar nicht um meine
innere Ruhe, sondern um deinen ruhigen Schlaf!" warf ich ihm, in
unangemessen beleidigtem Tonfall an den schläfrigen Kopf. "Jetzt benimmst du
dich aber wie ein kleines, trotziges Kind, und nicht wie eine würdige
Großmutter, riss dich zusammen!" Was musste eigentlich geschehen, damit er
seinen Humor verlor? Immer wieder gab er mir das behagliche Gefühl einer
weichen, warmen Decke, in die ich mich zurückfallen lassen konnte. Woher
nahm er nur diese Ruhe und Sicherheit, und bekam er von mir eigentlich
genau soviel, wie ich von ihm? Von plötzlicher, über schießender Zärtlichkeit
übermannt, schmiegte ich mich in seine Arme. Meine Probleme wurden in
dieser Nacht nicht durch ein klärendes Gespräch, sondern durch eine völlig
andere Therapie behandelt. Sie löste zwar nicht die Ursache, aber sie löste
mich auf im Glück inniger Verbundenheit. Endlich fand ich den erlösenden
Schlaf.
Die Welt entschwand wie eine leise verwehende Melodie, und schon war ich
woanders.
Da waren Apfelbäume, frisch - grünes Gras, die Stimmen junger Frauen
klangen aus der Nähe an mein Ohr. Hinter der Wiese erhob sich ein Hügel, auf
seiner höchsten Stelle ein Steinkreis. Alles war so seltsam vertraut, und doch,
dies hier war nicht meine Apfelbaumwiese. Nein, schlagartig wusste ich, wo ich
hier gelandet war: es war das Urbild aller Apfelbaumwiesen, ich befand mich
auf Ynys Vytrin, meiner Anderswelt - Heimat. Ja, hier war ich zu Hause!
Frieden und Ruhe breiteten sich in mir aus und ein zeitloses Gefühl von "Ich
Bin".
132
Hier würden alle Fragen und Unklarheiten von mir abfallen wie welkes Laub im
Herbst, und erneuert, jung und frühlingshaft fühlte ich mich sofort, im selben
Augenblick, da ich dies dachte. "Heimaturlaub!" schoss es mir durch den Kopf,
dieser trocken, humoristische Teil gehörte wohl auch hier zu meinem Wesen,
war also nicht nur Teil meiner Menschenwelt - Persönlichkeit.
Da waren kleine Häuser aus Flechtwerk. Locker verteilt standen sie
zwischen den Apfelbäumen.
Junge Mädchen und Frauen in dunkelblauen, langen Kleidern, die durch eine
Schnur zusammengehalten wurden, hingen eben Wäsche auf eine, zwischen
den Bäumen ausgespannte Leine. Dabei plauderten und lachten sie
unbeschwert. Wie lange war es wohl her, da ich selbst Eine von ihnen gewesen
war? Ich fühlte ein leises Ziehen in der Herzgegend, Sehnsucht war es wohl,
Sehnsucht und Heimweh, denn ich wusste, dass ich hier nicht bleiben konnte,
noch nicht. Ich ging den Weg, der sich spiralig den Hügel hinauf wand, bis zu
einem etwas größeren Haus mit einer Umfassungsmauer, dem Haus der
Hohepriesterin. Ihr musste man seine Aufwartung machen, wenn man hierher
kam. Dämmrige Kühle umfing mich beim Eintreten und ein feiner, leicht herber
Duft, - ach ja, eine Kräutermischung mit Salbei, ich erinnerte mich wieder! Der
Raum war äußerst sparsam eingerichtet; auch die Hohepriesterin lebte in
großer Einfachheit, wenn auch viel Wert auf Sauberkeit gelegt wurde und auf
edles Material und dessen beste Verarbeitung.
Sie saß auf einem etwas erhöht stehenden Stuhl. Als ich eintrat, erhob sie
sich und kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen. Es war die Gräfin,
Nimue hieß sie hier, wie sie mir damals, in meinem ersten Traum von Avalon,
erschienen war! Warm und liebevoll umarmte sie mich, dann hielt sie mich mit
ausgestreckten Armen von sich weg und begutachtete mich mit gerunzelter
Stirn. "Kind, es war offensichtlich höchste Zeit, dass ich dich hergeholt habe!
Wie siehst du denn nur aus! Wie eine Bäuerin!" "Ich bin doch auch Bäuerin,
das weißt du doch," gab ich ihr zur Antwort und kam mir gleich darauf reichlich
dumm vor. Missbilligend strich sie mit einer flüchtigen Geste über meine ganze
Gestalt, und schon floss dieses weiche, glatte Kleid über meinen Körper, mein
Haar ergoss sich, rot, lang und dicht, von einigen grauen Strähnen durchzogen,
über meine Schultern. "Zuallererst bist du eine Priesterin von Avalon, was auch
immer du da drüben, in der Welt der Menschen tust, vergiss das nicht. Und
jetzt komm, ich habe Wichtiges mit dir zu besprechen!" Hoheitsvoll nahm sie
Platz auf ihrem Stuhl, Zoll für Zoll eine Herrscherin, und doch war sie so
mütterlich und warmherzig, dass man sie sofort lieben musste, wenn sie sich
einem zuwandte.
"Ich habe heute versucht, dich zu erreichen, aber es ist mir nicht gelungen.
Du konntest dich nicht leer genug machen, zu sehr warst du von deinem
Problem gefangen genommen. Kind, Kind," sie sah mich mit mütterlicher
Besorgtheit an, "du musst wieder mehr in die Stille gehen, lass dich nicht
absorbieren von deinen Pflichten. Wir müssen in Kontakt bleiben, besonders
jetzt, da du eine derart diffizile Aufgabe zu erfüllen hast." "Du weißt also......?"
fragte ich überflüssigerweise. Auf diese unnütze Frage ging sie erst gar nicht
ein.
133
Ernst sah sie mich an , mit diesem Blick, der mein Innerstes bloßlegte. "Du
liebst deine Enkelin sehr, das weiß ich, und deshalb wird es für dich oft nicht
leicht sein.....Sie kann nun einmal nicht das Leben eines ganz normalen Kindes
führen, auch, wenn du ihr das gerne ermöglichen möchtest. Sie ist ein ganz
zentraler Bestandteil des Planes..." Empört fuhr ich auf: "Meine Diana ist kein
Bestandteil, sie ist ein Kind, und ich werde nicht erlauben....!" "Morgan!" rief
sie mich zur Ordnung, "du hast diese Aufgabe bewusst auf dich genommen,
weißt du das nicht mehr?"
Ach ja, nun kamen die Bilder wieder und die Erinnerungen. Damals, scheinbar
vor Ewigkeiten und doch erst vor meiner Geburt in die Menschenwelt, war das
Drehbuch für dieses Stück geschrieben worden, und ich hatte die Rolle darin
freiwillig übernommen, eine ungeheuer wichtige Rolle, und sie musste ich jetzt
erfüllen, auch, wenn sie mir jetzt zu schwierig erschien. Und jetzt, für einen
Augenblick, außerhalb des gewohnten Rahmens von Zeit und Raum wurde mir
das ganze Gewebe wieder sichtbar, das die Zeiten, die Menschen und die
Schicksale miteinander verflocht, zu einem Muster, das einzigartig war in
seiner Sinnhaftigkeit und doch so zufällig wirkte wie das Gekritzel, das
mancher beim Telefonieren auf den Notizzettel wirft.
"Morgan," fuhr sie nun fort, meine Gedanken unterbrechend. "Diana
braucht Führung. Sie muss lernen, ihre Fähigkeiten richtig zu nutzen. Wir
können das nur bis zu einem gewissen Grad tun, denn unsere Magie ist nur
eine ferne Erinnerung an die Fähigkeiten, die das Volk ihrer Vorfahren vor
langer, langer Zeit besaß.
"Ich werde dir die Geschichte ganz kurz erzählen, damit du weißt, womit
du es hier zu tun hast." Sie hieß mich, auf dem weichen Polster zu ihren
Füssen Platz zu nehmen, so wie damals, als ich als junge Priesterin so gerne
ihren Unterweisungen gelauscht hatte. "Wie du weißt, sind wir nicht das erste
Menschengeschlecht. Schon vor uns gab es einige Hochkulturen, denke an die
Geschichten über das sagenhafte Atlantis. Nun, eine dieser Zivilisationen war
Lumania. Die Lumanianer waren körperlich eher klein und von zarter Statur.
Sie brauchten auch keine großen körperlichen Kräfte, da sie sich darauf
spezialisiert hatten, besonders ihre geistigen Fähigkeiten zu entwickeln. Sie
waren Meister der Künste Malerei und Musik. So konnten sie zum Beispiel
durch Töne heilen...." Ich war plötzlich wie elektrisiert, "Diana kann..." "Ich
weiß, du wirst es gleich verstehen. Also, sie waren auch imstande, schwere
Gegenstände mit Hilfe von Tönen zu bewegen und dergleichen mehr. Tonfolgen
transportierten aber auch Information, Tonhöhe, Tonlänge, ja sogar die Pausen
dazwischen drückten ganz differenzierte Inhalte aus, ebenso die Malerei. Ihre
Bilder waren multifunktional und enthielten ganz subtile Informationen.
Außerdem konnten sie so viel mehr wahrnehmen als wir. Was wir heute
Hellsehen nennen oder auch Aurasehen, war für sie das Normalste überhaupt.
Es gehörte sozusagen zu ihrer Grundausstattung. Ja, und irgendwann machte
sich eine Gruppe von ihnen auf zu den Sternen und vertraute sich einer neuen
Evolutionsrichtung an. Im Laufe der Zeit passten sie sich an die dort
herrschenden Gegebenheiten. Sie wären hier bei uns nicht mehr lebensfähig.
Ihr Interesse an ihrem ehemaligen Heimatplaneten aber verloren sie nie.
134
Von Generation zu Generation wurde es, in Mythologie und Religion verpackt,
weitergegeben. Sie besuchten die Erde immer wieder, und sie tun das auch
noch jetzt, allerdings nicht in ihrem physischen Körper, sondern mit dem
Geistigen, der manchmal, ähnlich einer Geistererscheinung, manchen
Menschen auf der Erde sichtbar wird. Das ist die Ursache der vielen
Ufoberichte, die einander so ähnlich sind. Sie nehmen Anteil am Schicksal der
Erde, deshalb sehen sie mit Sorge die diversen Irrwege unserer Zivilisation und
wollen uns helfen, einen anderen, besseren Weg einzuschlagen. Sie sind
unsere älteren Geschwister. Ihre Nachfahren lehrten uns einst die Magie. In
Diana ist Eine von ihnen freiwillig wiedergekehrt, um den Samen ihres Wissens
im Erbgut des heutigen Menschengeschlechtes auszusäen. Und du bist dazu
ausersehen, ihn zu hegen und zu pflegen, damit er reiche Ernte bringt. Also
bist du doch in gewissem Sinne eine Bäuerin, wenn auch in einer etwas
anderen Bedeutung."
Ich hatte ihrer Erzählung fasziniert zugehört. Dennoch hatte ich einige
Fragen. "Wie soll ich aber Dianas Fähigkeiten schulen, Fähigkeiten, die mir
nicht gegeben sind? Ich kann das nicht." "Du bist dafür verantwortlich, dass sie
sich frei entfalten kann und nicht durch Einrichtungen eurer Welt beengt und
abgeschnitten wird von ihrem eigentlichen Wesen. Dazu besitzt du die
allerbesten Fähigkeiten. Außerdem ist der Ort, an den wir dich geführt haben,
dazu ideal. Ja, dieser Ort....Du weißt wahrscheinlich nicht, dass er weiter in die
Tiefe der Zeit zurückführt, viel weiter, als du denkst.
Den Augen Dianas werden sich tiefer liegende Gänge und Räume öffnen,
dort wird sie auch die Unterweisung finden, die sie braucht........
Und nun, leb wohl, Tochter meines Herzens, es ist Zeit zur Rückkehr. Eines
noch: Mach dir keine Sorgen um Myriam. Sie wird ihren Weg gehen, auf ihre
Weise und zu ihrer Zeit. Denk daran, wie lange du gebraucht hast, dich zu
erinnern, wer du bist! Sie macht ihre Arbeit sehr gut. Und du wirst meine Hilfe
haben, wenn immer du sie brauchst, wenn immer du mich rufst, werde ich da
sein. Sei gesegnet!
Ich schwebte im Nichts zwischen den Welten und wollte noch nicht
zurückkehren zu meinen Aufgaben, in Erdenschwere und Körperlichkeit, wollte
mich noch ein wenig diesem Dahintreiben hingeben, diesem wunderbaren
Gefühl der Leichtigkeit. Doch etwas zog an mir wie ein festes Band, zog mich
gegen meinen Widerstand hinein in meinen irdischen Körper, der nun die
Augen aufschlug und sich im gewohnten Schlafraum wiederfand. Ach, Avalon,
meine Heimat! Wie gerne wäre ich noch in deinen zeitlosen Gefilden geblieben,
bei meiner Lehrerin, meinen Schwestern, auf dem Hügel der Hohen Steine. "Du
bist ein undankbares Wesen!" schimpfte ich mich innerlich aus, "lebst auf
diesem wunderbaren Platz, inmitten von Menschen, die dich lieben und sehnst
dich nach Avalon! Du musst in dir finden, was du suchst, dann ist Avalon
überall......."
Wie eine letzte Mahnung meiner mütterlichen Lehrerin erklang dieser
Gedanke in mir und half mir, wieder im Hier und Jetzt zu landen und fröhlich
den Tag zu beginnen.
135
Das Sommerfest wurde ein Erfolg. Viele Eltern mit ihren Kindern waren
gekommen, und bei Spiel und Spaß, bei Essen und Trinken schien die
Fremdheit zu schmelzen, wie Schnee in der Frühlingssonne. Müde und glücklich
war Diana zum Schluss von Joschi zu Bett gebracht worden. Da hatte sie schon
geschlafen.
Diana ging also wieder in den Kindergarten. Kleine Kinder sind seltsame
Wesen. Sieht man davon ab, sie in die Kategorien der Erwachsenenwelt
pressen zu wollen und betrachtet sie mit unvoreingenommenen Augen, dann
erscheinen sie als eigenartig vollkommene Persönlichkeiten, vom ersten
Augenblick ihres Erscheinens in der Menschenwelt an, bis, na ja, sagen wir, bis
zum Eintritt der Pubertät. In dieser, sowohl notwendigen, als aber auch
unglücklichen Phase wirken sie dann manchmal, wie in einem dieser
Zerrspiegel betrachtet, die oft Arme, Beine und Nasen ins Groteske verlängern
und fühlen sich wahrscheinlich auch so. Aber bis dahin sind sie vielleicht noch
nicht so ganz abgetrennt von der Erinnerung an ihre ursprüngliche Herkunft.
Das bewirkt, dass man, hat man die Augen dafür, noch manchmal die andere
Welt durch sie hindurchscheinend sieht, wie durch dünnes Papier. Auch unsere
Diana war ein solch transparentes Wesen. Oftmals betrachteten wir sie, wenn
sie schlief. Dann schienen ihre entspannten Züge von innen heraus zu leuchten
vor Lebendigkeit, und jeder konnte sehen, dass ihr inneres und ihr äußeres
Wesen in vollkommener Übereinstimmung waren: Unschuld nannte man das
wohl. Bis jetzt war es so gewesen.
Um so verwunderlicher war es für uns alle, dass sie anscheinend einem
unausgesprochenen Befehl Folge leistete, seit sie wieder in den Kindergarten
ging. Der lautete: "verbirg dein wahres Wesen vor Anderen!" Sie musste
unsere Befürchtungen in dieser Richtung mit feinen Antennen aufgefangen
haben, wie viele Kinder das tun und schützte damit sich und uns vor der
Ausgrenzung. Sie hatte ihre Unschuld verloren. Der Schmerz darüber zog mir
förmlich das Herz zusammen, als ich dessen gewärtig wurde. Aber es
ermöglichte ihr und uns ein angemessen normales Leben in dieser Umwelt, an
diesem Ort, der uns zu sich geholt hatte und den wir zu behüten hatten.
.......Jahre später.......Myriam war letztendlich zu einer anerkannten
Therapeutin geworden. Sie hatte gelernt, bewusst die Ebenen zu wechseln, das
war ein bedeutender Fortschritt für ihre Arbeit gewesen. Zusammen mit einem
feinen Einfühlungsvermögen und der wirklichen Zuneigung zu den ihr
anvertrauten Menschen hatte ihr das schließlich den beruflichen Durchbruch
verschafft.
Sie hatte einen Lehrauftrag in Wien erhalten, war dadurch an zwei Tagen
der Woche nicht bei uns. Joschi schrieb an seiner Dissertation. Georg und ich
entlasteten ihn in der Landwirtschaft, wir waren schon fast richtige Bauern
geworden. Georgs Stirne war, seit wir hier angekommen waren, Jahr um Jahr
etwas höher geworden, was ihm ein sehr bedeutsames Aussehen verlieh. Er
wurde, auch äußerlich, seinem Vorbild Merlin immer ähnlicher; vorausgesetzt,
man stellte sich den alten Magier mit einem gemütlichen Bäuchlein vor.
136
Um meine Augen zeichneten sich ein paar Fältchen mehr ab, zum Lesen
brauchte ich eine Brille, und die grauen Strähnen in meinem roten Haar waren
in den letzten Jahren deutlicher sichtbar geworden. Georg war davon entzückt.
Man mochte glauben, er könne es nicht erwarten, eine alte Frau an seiner
Seite zu haben. Meine Anlage zur Molligkeit hielt ich durch Diät im Zaum. Ich
wollte nicht zur fülligen Matrone werden.
Die Tage des Hochsommers waren angebrochen. Das Jahr hatte nicht ganz
dem entsprochen, was es zuletzt verheißen hatte. Einem warmen und
trockenen Juni waren ein Juli und August gefolgt, die Gummistiefel zum Objekt
aller größter Wichtigkeit hatten werden lassen. Die Erdäpfel drohten in der
Erde des Ackers zu verfaulen, oder aber, und das war gleich schlimm, von
Pilzen verdorben zu werden. Die erste Heuernte war eingefahren, nicht ohne
im letzten Moment einen Regenguss abbekommen zu haben.
Ob wohl das Sommergetreide wirklich zur Reife käme? Der Hafer hatte erst
spät gesät werden können, da der Schnee so spät weggetaut war; auch um ihn
fürchteten wir. Die Schweine blieben von diesen Sorgen unberührt. Mit Wonne
wühlten sie im Boden ihres Geheges oder suchten ihr Lieblingsgrünfutter, den
Giersch (Aegopodium podagraria) auf der Weide. An ihm bestand kein Mangel.
Die Herde der Schafe und Ziegen war ziemlich angewachsen, schon wieder
machten Zicklein ihre erheiternden Luftsprünge oder übten sich in der
sportlichen Disziplin der Bockstöße. Das Wetter jedenfalls war das häufigste
Gesprächsthema im Ort. Das war nicht weiter verwunderlich, ist doch das
Fortkommen einer Bauernwirtschaft ganz eng an gute Wetterverhältnisse
gebunden. Mit dem Wetter steht oder fällt ein ganzer Jahresertrag, und das hat
schon manchen Bauern schaudernd in den gähnenden Schlund des drohenden
Ruins blicken lassen. Aber, so weit war es noch nicht! Noch konnte auf einen
heißen August und einen warmen September gehofft werden.
Diana hatte im Mai dieses Jahres ihren neunten Geburtstag gefeiert. Sie
war zu einem feingliedrigen Mädchen mit dunklen, dichten Haaren
herangewachsen, ein Wachstumsschub hatte ihre, ohnehin dünnen Beine in
lange, staksige Gebilde verwandelt. Aus allen Hosen und Pullis war sie in kurzer
Zeit herausgewachsen wie eine Bohnenranke aus dem Saatbett. Die
Volksschulzeit ging langsam ihrem Ende zu. Ein Jahr noch, dann sollte sie auf
ein Musisches Gymnasium in der nächsten größeren Stadt gehen. Sie war eine
sehr gute Schülerin in allen musischen Fächern, außerdem in Sprachen. Den
Realien war sie weniger zugewandt, ein großmütterlich, - mütterliches Erbe.
Natürlich galt sie in ihrer Klasse als Träumerin, war aber trotzdem beliebt unter
ihren Kollegen, da sie es meisterlich gelernt hatte, die andere Seite ihres
Wesens zu verstecken. Nur in der Kunst, da ließ sie zu, dass es hervortrat. Ihre
Arbeiten waren erfüllt von Fabelwesen, ein wahrer Strom aus Feen, Elfen,
Gnomen und auch jener kleinen Wesen mit der eigenartig zarten Gestalt und
den großen Augen, ergoss sich über ihre Zeichnungen. Hier aber waren diese
Dinge erlaubt, galten nicht als sonderbar, vorerst noch nicht.....Ihre Arbeiten
strahlten aber auch eine eigenartige Faszination auf die meisten Betrachter
aus. Irgendwie schienen sie nicht allein der Phantasie entsprungen, nein, sie
wirkten wie Momentaufnahmen, Schnappschüsse einer verborgenen
Wirklichkeit. Das waren sie auch, das musste aber keiner wissen....
137
Außerdem sang sie sehr gerne. Darüber waren wir nicht verwundert, was
mich aber staunen machte, war etwas Anderes.
Ich war eben damit beschäftigt, die trocknenden Kräuterbüschel auf dem
Dachboden durchzusehen, damit keines schimmlig würde oder gar faulte. Der
feuchte Sommer ließ mich da Einiges befürchten. Mittlerweile hatten wir den
Dachboden so weit hergerichtet, dass er sich für diese Zwecke gut eignete. Wie
liebte ich den feinen ,würzigen Duft hier oben, in meinem Reich! Da waren die
Hauptthemen der kräuterlichen Symphonie: der frische Duft der verschiedenen
Minzen. Sie wurden strukturiert durch den Takt von Schafgarbe, Salbei und
Thymian und abgerundet vom Fein- süßlichen Duft der Kamille und der
Zitronenverbene. Unterschwellig konnte man noch eine zarte Melissennote und
einige andere, eher der Untermalung des Ganzen dienende, unaufdringliche
Gerüche wahrnehmen, die Essenz eines ganzen Sommers. Durch die runde
Öffnung an der Stirnwand des Hauses hörte ich das Blöken der Schafe, die
eben in den Stall getrieben wurden. Es vermischte sich mit dem
variationsreichen Lied einer Amsel, die offenbar auf dem Giebel unseres
Hauses saß und dem kommenden Regen entgegensang. Eine erdige, breite
Zufriedenheit erfüllte mich, und ich gab mich mit geschlossenen Augen dieser
Empfindung hin. Daher brauchte ich einige Zeit, um aus der Vielzahl dieser
Sinneseindrücke die Laute herauszufiltern, die fremd hier waren, unvertraut.
Jemand sang. Es musste im Haus sein, denn es klang gedämpft. Deshalb
konnte ich die Worte des Liedes nicht verstehen. Neugierig geworden, stieg ich
die steile Holztreppe, die ins Vorhaus führte, leise hinunter. Der Gesang war
jetzt deutlich zu hören, klar und rein klangen die Töne einer mir unbekannten,
weichen Melodie an mein Ohr. Die Worte waren mir immer noch
unverständlich.
Diese Sprache kannte ich nicht. Leise öffnete ich die Türe zur Stube und
sah hinein. Da saß Diana, über eine Aquarellmalerei gebeugt und sang
selbstvergessen vor sich hin, sie bemerkte mein Eintreten nicht. So konnte ich
sie beobachten und ihrem Lied lauschen. Dann, als hätte sie meine Blicke
gespürt, sah sie auf, lächelte mir strahlend zu und unterbrach ihren Gesang.
"Anna, ich hab dich gar nicht gehört," sagte sie, wie entschuldigend. "Was hast
du denn da gesungen, Diana? Dieses Lied habe ich noch nie von dir gehört.
Welche Sprache war denn das?" Nun zeichnete sich leichte Verlegenheit in
ihren Zügen ab. und wie entschuldigend sagte sie: "Es ist Lumani, ich singe
manchmal in dieser Sprache, wenn mich niemand hört." Leider hatte dieses
Verbergen eines wesentlichen Teiles ihrer Selbst vor der Umwelt zu Folge
gehabt, dass sie auch ihrer Familie gegenüber damit zurückhielt. Sie schien
sich uns angleichen zu wollen, vermied es, damit aufzufallen, weil sie das
Unbehagen genau spüren konnte, das sie ihren Eltern damit bereitete. Dass sie
sich aber jetzt anscheinend auch vor mir zurückzog, schmerzte und
beunruhigte mich. Ich war es doch gewesen, die sie immer wieder dazu
aufgefordert hatte, über ihre Freunde zu erzählen, zu malen, was nur sie sehen
konnte und mir beim Kräutersammeln zu helfen. Durch sie hatte ich auch
schon gelernt, manchmal das Lebenslicht um die Pflanzen wahrzunehmen .
138
Ihre Malerei war anders heute. Das Motiv war ungewöhnlich. Es zeigte eine Art
unregelmäßiges Gewölbe, nicht aus Steinen erbaut, sondern aus
durchscheinendem Material, lichtdurchflutet, aber ohne sichtbare Lichtquelle.
Ihre Maltechnik hatte sich in den letzten Jahren zusehends verbessert. Es war
abzusehen, dass ihre Werke sehr bald hohen Ansprüchen genügen würden,
vorausgesetzt, sie entwickelte sich in dem Tempo weiter. Sie sah mich
erwartungsvoll an, erwartete eine Bemerkung über ihr neuestes Werk. "Was ist
das, Kind, was stellt das dar?" fragte ich und erwartete eine Antwort wie etwa:
'eine Feenburg' oder 'ein Märchenschloss' oder etwas in dieser Richtung,
schließlich war sie ein Kind von neun Jahren, dass vergaß man leicht bei ihr.
Deshalb überraschte mich die Antwort, die ich jetzt bekam. Ein direkt
körperlich fühlbarer Schreck durchzuckte mich, als sie zur Antwort gab: "Das
ist die Höhle im Berg, sie liegt hinter unserer Erdhöhle. Meine Freunde wohnen
dort." Erschreckt und ungläubig sah ich sie an. Wir hatten bisher vermieden,
sie in die Erdhöhle mitzunehmen.
Myriam fürchtete, sie könne das traurige Schicksal ihrer Vorgängerin auf
irgendeine Weise wiederholen und hatte mir deshalb streng verboten, dieses
Gewölbe auch nur zu erwähnen in ihrer Gegenwart - und nun das!........"Du
weißt von der Höhle?!.....Wie hast du davon erfahren?" Diana schien amüsiert
über meine entgeisterte Miene. "Ich war dort, schon oft, und dahinter war ich
auch, und da ist diese Höhle, dahinter, den Gang weiter, weißt du."
Ihre kindliche Ernsthaftigkeit sprach der vollkommenen Absurdität dieser
Behauptung Hohn. Aber, wäre es mir nicht auch ähnlich absurd erschienen,
hätte mir vor zehn Jahren jemand klar zu machen versucht, unter unserem
Haus befände sich eine Höhle und ein geheimer Gang? "Diana, sag mir, könnte
ich auch in diese Höhle gehen, oder deine Mutter oder irgend ein anderer
Mensch außer dir?" "Jetzt noch nicht," erklärte sie nach einem Moment des
Nachdenkens. "Aha, und warum noch nicht?" "Na, weil der Gang doch
aufhört." Sie verlor jetzt langsam das Interesse an dieser Unterhaltung, ihr
angefangenes Bild schien ihr mehr zu bedeuten. Meines aber war entfacht, ich
spürte, dass da etwas war, etwas, das mir Dianas Wesen besser verstehen
helfen würde und die Türe wieder öffnen könnte, die sich drohte, zwischen uns
zu schließen. Deshalb durfte ich die Sache jetzt nicht auf sich beruhen lassen,
das wusste ich. Und es war mir, als hörte ich ganz leise die Stimme von Nimue,
meiner geliebten Lehrerin: "Es ist Zeit, Kind, tu deine Arbeit!" Ich spürte, wie
sich etwas Anderes, Größeres, über meine großmütterliche Persönlichkeit legte
und so nun, mit der Autorität der Hohepriesterin, sprach ich zu der Diana, die
jetzt hinter ihrer kindlichen Person hervortrat und mir antwortete. "Sage mir,
was bedeuten die Worte deines Liedes, und was verbirgt sich noch im Inneren
des Berges, sprich zu mir, Diana, es ist wichtig!" Diana hob den Kopf und sah
mich mit sich weitenden Augen an. Kein Zweifel, sie erkannte, wen sie da vor
sich sah. Und sie, die doch so viel mehr Fähigkeiten besaß als ich, sie, die Erste
einer neuen Art, beugte sich der Macht der Alten Götter, die ich in diesem
Augenblick verkörperte. Diese Erkenntnis nahm mir fast den Atem. "Die Worte
sind in den Linien der Zeichnung eingeschrieben, ja, die Linien sind die Worte.
Und indem ich die Linien aus meinem Inneren heraus male, werden die Worte
in mir lebendig, auch die Melodie. Man kann sie nicht übersetzen, weil diese
Sprache ganz andere Begriffe benützt als die Unsere.
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Sie hat Worte für alles, was die heutigen Menschen aus ihrer Wirklichkeit
verdrängt haben. Die Melodie dazu gibt die feineren Bedeutungen wieder, zum
Beispiel, wenn wir sagen: ein Blatt, dann weiß niemand, ob es ein lebendes,
ein sterbendes oder ein vor Lebendigkeit leuchtendes Blatt ist. Das wird durch
die Melodie ausgedrückt, verstehst du mich? Das Ganze ist stark vereinfacht,
aber unsere Begriffe sind eben vereinfachend, leider. Sie können nicht das
Alles ausdrücken, was Lumani sagen kann." Sie hielt kurz inne, um sich zu
sammeln, dann sprach sie weiter: "Meine Freunde haben mich in meinem
Geistkörper ins Innere dieses Berges geführt. Es ist, wie soll ich es sagen, ja,
es liegt hinter deiner Höhle, so wie sich die Wahrheit hinter den sichtbaren
Dingen verbirgt. Sie ist da und auch wieder nicht. Du kannst sie nur in deinem
Geistkörper aufsuchen. Sie gehört einer feineren Ebene als der physischen an.
Würdest du versuchen, den Gang mit der Spitzhacke zu erweitern, fändest du
nur Steine und Erde. Dort wohnen meine Freunde. Sie sind nur Besucher in
unserer Welt, aber sie lehren mich, und sie sind die Einzigen, die meine andere
Seite ganz verstehen. Und so habe ich eine Familie und Freunde auf dieser
Seite der Realität und auch auf der anderen. Du bist ein Wanderer, du besuchst
die eine wie auch die andere Seite, deshalb verstehst du mich und glaubst mir,
obwohl du nicht sehen kannst, was ich sehe. Ich bin ein neuer Trieb an einem
sterbenden Baum, welcher, im Inneren morsch, bald fallen wird. Er wird mich
aber aus seiner zerfallenden Substanz nähren, auf dass ich wieder Samen
tragen und das Leben weitergeben kann, mit dem Segen der Mächtigen. So sei
es!"
Gleich darauf wurde aus Diana wieder das kleine Mädchen, das sich ein
wenig verwirrt umsah und sich dann, fast übergangslos, wieder seiner Malerei
widmete. Sie hatte ganz offensichtlich keinerlei Erinnerung an die Worte, die
sie eben noch zu mir gesagt hatte. Auch ich war wieder als diejenige
zurückgeblieben, die ich normalerweise war, Anna, Dianas Großmutter.
Doch etwas war anders diesmal. Bisher hatte es mir niemals etwas
ausgemacht, die Ebenen zu wechseln, nein, leichtfüßig wie ein junges Reh war
ich immer über den Zaun hin - und herüber gesprungen, hatte mich den ganz
verschiedenen Bedingungen der Hier - und Anderswelt flexibel anpassen
können. Heute, zum ersten Mal spürte ich eine leichte Übelkeit, verbunden mit
Kopfschmerzen. Nun ja, ich war nicht mehr die Jüngste, vielleicht reagierte ich
auf den Wetterumschwung; es hatte wieder begonnen zu regnen nach ein paar
trockenen Tagen.
"Anna, aufstehen, es ist heute schon halb neun, du Schlafmütze!" Georgs
muntere Stimme drang durch die Ausläufer irgendeines letzten, verwehenden
Traumes in mein Bewusstsein. Nun ja, er war immer noch ein Morgenmensch,
das würde sich nicht mehr ändern. Aber ich? Ich war doch sonst nicht eine
derartige Langschläferin, besonders nicht, seit ich etwas älter war! Aber ich
konnte in mir nicht den leisesten Anstoß zum Aufstehen finden. Am liebsten
hätte ich mich wieder umgedreht und weiter geschlafen.
140
"Anna, was ist los, fühlst du dich nicht wohl?" Besorgnis schwang in Georgs
Frage mit. "Ich weiß nicht," antwortete ich unsicher, "ich fühle mich so
eigenartig müde, so richtig bleiern, das ist komisch, aber selbst das Sprechen
scheint mir zu viel zu sein." Georg fühlte meine Temperatur mit seiner
Handfläche und schüttelte dann den Kopf: "Jedenfalls, Fieber hast du keines,"
stellte er, schon etwas beruhigter jetzt, fest. "Na komm, ich hab schon
Frühstück gemacht, steh einmal auf, dann fühlst du dich vielleicht gleich
besser. Du solltest einmal deinen Blutdruck messen lassen, vielleicht ist das die
Ursache." Ich beschloss, das wirklich bald zu tun und stand auf. Und
tatsächlich, im Laufe des Vormittags verschwand alles wie ein flüchtiger,
nächtlicher Schatten.
Bald darauf, die Ernte war in vollem Gange, und ich stand auf dem
Anhänger des Traktors, um die Strohballen aufzuschlichten, erhielt ich die
nächste Warnung. Eine Welle von Übelkeit und Schwindel erfasste mich und
drohte, mich vom Hänger zu stürzen. Ich konnte nur noch mit den Armen
rudern, dann sank ich benebelt auf die Strohballen nieder.
Der Arzt wurde gerufen. Er konnte nichts feststellen und überwies mich ins
Spital. Nach einigen Untersuchungen fühlte ich mich schon wieder besser und
wollte unbedingt nach Hause. Ich rief Georg an, er solle mich heimholen. An
seiner bekümmerten Miene konnte ich sehen, dass etwas nicht stimmte, "Was
ist los mit mir, kann ich nach Hause?" fragte ich möglichst unverfänglich. Doch
er schüttelte ernst den Kopf "Sie müssen noch einige Tests machen, es gibt da
noch Unklarheiten...." "Georg, du weißt etwas, was ich nicht weiß, stimmt's?"
Und als er nicht antwortete: "Es ist also ernst. Wie ernst, oder glaubst du etwa,
wenn du es nicht aussprichst, ist es nicht da?" Wieder eine endlos scheinende
Pause. Er setzt sich auf mein Bett, nimmt meine Hand in die Seine und sieht
mich lange, zärtlich und traurig an; und mir ist, als wären wir wieder in dem
Vorstadtcafe, damals vor unendlich langer Zeit, als er mich gebeten hatte,
seine Frau zu werden. "Oh, ich liebe dich so, ich wollte keinen Tag mit dir
missen! Es war eine so unsagbar schöne Zeit mit dir!" drängt es mich zu
sagen. Er nimmt mich zärtlich in die Arme und flüstert in mein Ohr: "Meine
Anna, meine Einzige, meine Geliebte, du hast mich so glücklich gemacht!" Jetzt
bin ich bereit für die Wahrheit. "Es ist etwas nicht in Ordnung mit deinem Blut,"
beginnt er. Da weiß ich, was nun kommen wird. Mein Vater, dessen Bruder und
auch sein Neffe, mein Cousin waren an dieser Krankheit gestorben, von der ich
geglaubt hatte, dass sie in unserer Familie nur bei Männern zum Ausbruch
käme. "Leukämie?" frage ich leise und scheue mich fast, das Ungeheuer beim
Namen zu nennen, wie, um es nicht dadurch erst ins Leben zu rufen. " Sie sind
sich noch nicht ganz sicher, sie sagen, einige Tests......aber man kann heute
schon..." Ich lege ihm die Hand auf den Mund. "Sssch, still...." Ich muss mich
etwas bedenken, dann sage ich, laut und bestimmt: "Ich möchte diesen
ganzen Medizinzirkus nicht mitmachen. Bitte, nimm mich mit nach Hause. Ich
will die Zeit, die mir noch vergönnt ist, bei euch sein, daheim, bis ich endgültig
heimkehre, nach Ynys Vytrin, meiner Heimat!"
Und da ist er wieder, mein Georg, mein Harfenspieler, er reagiert so, wie
ich es von ihm erwartet habe. Kein Wort des Widerspruchs, kein Abwiegeln
oder Verharmlosen, keine verschleiernden Phrasen.
141
Seine Antwort ist: "So soll es sein, Morgan von Avalon, sei gesegnet!"
So geschieht es auch, gegen den Willen der Ärzte, die mich zu einer
Behandlung bewegen wollen; Chemotherapie, vielleicht auch
Knochenmarksspende. Es ist nicht leicht für mich, ihnen meine Beweggründe
verständlich zu machen, aber ich bin schließlich im Vollbesitz meiner geistigen
Kräfte und kann selbst entscheiden.
Daheim ist eine seltsam gedämpfte Stimmung ausgebrochen. Die
Hofbewohner, Myriams Klienten, haben schließlich von meiner Krankheit
erfahren, aber sie brauchen alle ihre Kräfte, um gegen ihre eigenen Monster zu
kämpfen. Und trotzdem erhalte ich von ihnen so viel an emotionaler
Zuwendung, als hätten sie unerschöpfliche Reserven. Meine Familie, im
Gegensatz dazu, versucht, so unbefangen wie nur möglich mit mir zu
verkehren. Keiner spricht je meine Krankheit an, oder zeigt offen seine
Gefühle. Mit der Zeit wächst dadurch ein fast unüberwindlicher Wall aus
aufgestauten Empfindungen um mich herum, die nie ausgedrückt, verhärten
und mich gleichsam einmauern, ausschließen aus der warmen Geborgenheit
der Lebenden. Und obwohl körperlich noch am Leben, fühle ich mich eigentlich
schon tot. Hier, auf meiner Lebensinsel, meinem ganz persönlichen Avalon , wo
die vom Leben Verwundeten Heilung finden können, sterbe ich langsam und
leise einen vorzeitigen Tod, welcher grausame Anachronismus! Ich fühle mich
auf einmal zurückversetzt in die Zeit vor zehn Jahren, als mich auf der Fahrt
zur Arbeit der Blitz der Erkenntnis getroffen hatte, dass ich, obwohl lebend,
schon fast zu den Abgeschiedenen gehörte. "Ein Gespenst unter Gespenstern",
so fühlte ich mich damals, und das bin ich auch heute wieder. Sollte mein
Leben so enden? Und alles, was dazwischen geschehen war, wurde es dadurch
nicht zur lächerlichen Farce, einem grausamen, höhnischen Scherz? Ich
fürchtete mich nicht vor dem Tod, ich wusste, dass er ein Übergang ist; dieser
Tod aber war nicht der, den ich sterben wollte.....Außerdem war ich noch nicht
bereit, ich glaubte zu fühlen, dass ich im Fluss des Lebens, dessen Strömung
natürlicherweise in den Tod mündete, noch nicht an dieser Mündung angelangt
sei. War meine Aufgabe in diesem Leben schon erfüllt, und konnte ich, im
Einverständnis mit den Zyklen der Natur sagen: "Herr, es ist Zeit, der Sommer
war sehr groß...." Wieder einmal, wie damals, am Beginn meiner Reise in
dieses neue Leben: so viele Fragen! Und leise zuerst, fast unmerklich, dann
immer mächtiger, drängender stieg die Antwort in mir hoch, schaffte sich
Raum und artikulierte sich endlich in einem Schrei, der das stille Haus erfüllte
und weit über die engen Grenzen meines Ich bis dorthin drang, wo er endlich
gehört wurde: im Zentrum meines Selbst, meiner inneren Mitte. Dort, wo alle
Dinge Eins sind, wo alles Leben seinen Ausgang nimmt, löste dieser Schrei die
Bande der Erstarrung, und das Leben begann sich wieder kräftig in mir zu
regen. "Neeeeeeiiiiiinnnnnn!!!!!
"Anna, was ist los, um Gottes Willen, hast du Schmerzen?" Das besorgte
Gesicht meines Mannes erschien in der Türöffnung. In den letzten Tagen waren
schmerzhafte Geschwülste in meinen Achselhöhlen und Leisten aufgetreten.
"Georg, bitte, setz dich zu mir, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen!"
bat ich mit überzeugender Dringlichkeit in der Stimme.
142
Gleich darauf erschienen Myriam und Joschi, sie waren zum Abendessen bei
uns gewesen. Ihre Mienen drückten äußerste Beunruhigung aus. Zuletzt kam
Diana. Sie kletterte auf mein Bett, strich mir mit einer behutsamen Geste über
die Stirn und lächelte mich aufmunternd an. "Weißt du, dass dein Licht heute
heller leuchtet als gestern, Anna?" versicherte sie mir mit kindlicher
Ernsthaftigkeit.
"Familienrat, meine Lieben," bestimmte ich autoritär, "setzt euch bitte, zu
mir her und hört mir zu!" Da wir ein Hochbett hatten, war diese Aufforderung
nicht leicht zu erfüllen. Alle kletterten also zu mir herauf, und ich fürchtete,
dass die Konstruktion des Bettes dieser Belastung nicht gewachsen wäre, doch
siehe da, sie hielt. Unsicher und betreten sahen die Kinder an mir vorbei. Sie
erwarteten wohl meine letzten Worte!
"Meine Lieben" begann ich mit angemessenem Ernst. Ihre Mienen wurden noch
um eine Schattierung verlegener. "Ich kann und will so nicht mehr
weitermachen. Ihr haltet mit euren Gefühlen vor mir und auch untereinander
zurück. Ich verstehe schon, ihr wollt stark sein, wollt euch gegenseitig stützen,
außerdem fürchtet ihr, mich damit zu belasten. So ist das aber nicht, denn so
erfriere ich innerlich; bitte, lasst mich leben, solange ich noch nicht tot bin!
Lassen wir doch dieses unnötige Theater, und zeigen wir uns gegenseitig
unsere Gefühle, auch, wenn sie nicht immer nur sanft und lieb sind, auch,
wenn wir einander vielleicht wehtun damit. Alles ist besser als dies hier, diese
Kälte, diese Starre!"
Solche letzten Worte hatten sie nicht erwartet. Betroffenes Schweigen
erfüllte den Raum. Dann, nach einer langen Pause, sagte meine Tochter
unsicher: "Du solltest vielleicht doch medizinische Hilfe annehmen." "Ich weiß,
dass es schwer ist für euch, meinen Entschluss zu verstehen. Ich habe das
langsame Sterben meines Vaters miterlebt. Er hatte medizinische Versorgung,
von Chemotherapie bis Knochenmarksspende. Dies Alles war sehr qualvoll für
ihn und minderte die Qualität des ihm verbleibenden Lebens erheblich. Es
verlängerte letzten Endes nur sein Sterben. Ich will das nicht, und ich stehe zu
meiner Entscheidung. Darüber brauchen wir nicht mehr zu sprechen. "Ermüdet
durch diese Rede lehnte ich mich in die Kissen zurück. Ich konnte sehen, wie
meine Tochter versuchte, eine starke Regung zu unterdrücken, die sich aber
nun doch durch ihre eisern auferlegte Zurückhaltung Bahn brach. Zuerst war
Vorwurf in ihrer Stimme, dann verzweifelter Zorn, zuletzt nur mehr kindlich
haltloses Schluchzen, als sie mir antwortete: "Du verlangst uns Einiges ab,
Mutter. Weißt du, wie furchtbar es für mich ist, wenn ich jeden Tag zusehen
muss, wie du immer schwächer wirst? Du musst einfach irgendwas tun,
vielleicht kann man ja doch noch was machen! Die Medizin ist doch seither
sehr viel weiter fortgeschritten. Du bist es uns einfach schuldig, wir brauchen
dich, ich brauche dich noch und ganz besonders Diana! Hast du daran
eigentlich schon gedacht? Wir wollen nicht,.... ich will nicht, dass du schon
stirbst, Mama! Mama, bleib bei mir, bitte, bleib doch noch bei uns!"
143
Endlich konnte ich mein weinendes Kind in die Arme nehmen, ihm tröstend
über den Kopf streichen, es festhalten, und seine Tränen ließen die frostige
Todeszone um mich herum schmelzen, bis wir einander wieder nahe waren und
uns gegenseitig als lebendige, warme und fühlende Wesen spüren konnten.
Georg hielt mich von hinten umfasst mich wie ein Ertrinkender, und seine
Tränen flossen in meinen Halsausschnitt. Auch Joschi weinte, eher still, wie es
seinem ruhigen Wesen entsprach. Diana lag an meine Beine gekuschelt, ihren
Kopf in meinem Schoss. Von da blickte sie mit großen, rätselhaft, glänzenden
Augen zu mir auf. Die Katze war auch da, sie war überall, wo Diana war. Laut
schnurrend, lag sie eingerollt, ganz eng an sie geschmiegt. "Ach, ich liebe euch
so sehr! Es ist so schön, bei euch zu sein, meine liebe, meine geliebte Familie!
Ich bin so dankbar für euch! Ihr habt mir heute das Leben neu geschenkt, wie
lange es auch immer dauern mag!"
Langsam verebbte das Schluchzen, wurde weich, und eine pulsierende
Wärme begann sich zwischen uns auszubreiten. Sie verband uns, würde uns
immer verbinden, denn nichts verging je wirklich, besonders nicht die Liebe.
Und noch etwas musste ich unbedingt meiner Familie sagen, auch wenn alle
jetzt sichtlich erschöpft waren durch diese Katharsis.
"Hört zu, ich habe einen Entschluss gefasst. Ich will zwar keine ärztliche
Hilfe in Anspruch nehmen, das bedeutet aber nicht, dass ich so einfach
aufgebe. Ihr habt mir heute den Willen und die Kraft geschenkt, zu kämpfen
gegen dieses Leiden, und ich glaube jetzt nicht mehr, dass meine Zeit schon
abgelaufen ist, noch nicht. Dieser Ort ist ein Ort der Heilung, und Heilung
werde auch ich hier finden, das weiß ich jetzt. Dianas Kräfte sind noch zu
schwach, wir dürfen sie auf keinen Fall überfordern. Aber alle zusammen, ihr,
ich selbst, unsere Freunde aus Wien; mit euch zusammen könnte ich es
schaffen!" Mit unseren Covengeschwistern waren wir immer in Verbindung
gewesen, der Kreis war niemals gebrochen worden. So wussten natürlich alle
von meiner Erkrankung und nahmen auch lebhaft Anteil daran. Seit unserem
Weggehen aus Wien vor zehn Jahren hatte sich natürlich Einiges geändert.
Manche hatten sich abgelöst, zum Beispiel Beate und Stefan. Helga hatte
geheiratet. Ihr Mann hatte nie Interesse an diesen Dingen entwickelt, so war
auch sie eines Tages weggeblieben. Dafür waren Alfreds Frau Lisa und seine
älteste Tochter Nana dazugekommen. Alles ist eben im Fluss, nichts bleibt
immer gleich, auch, wenn wir uns das manchmal wünschen, töricht, wie wir
Menschen eben oftmals sind.
Eine Heilungszeremonie wollte ich, in unserer Höhle sollte sie stattfinden,
und erstmals sollte auch Diana an einem derartigen Ritual teilnehmen.
Aus weichen Fellen war ein Lager für mich auf dem Erdboden hergerichtet
worden. Dort lag ich, zugedeckt mit einer warmen Felldecke, inmitten des
Kreises meiner Familie und meiner Freunde und fühlte mich reich, unendlich
reich und beschenkt durch ihre Zuwendung. Einige Kerzen spendeten warmes,
flackerndes Licht, und tanzende Schatten zuckten an den Höhlenwänden. Es
war still um mich und auch in mir.
144
Alle schwiegen. Sie sammelten ihre inneren Kräfte, wandelten sie um in
gleißendes Licht, ließen es ihre Körper durchdringen, luden sich gleichsam
damit auf, bis es ihre Körpergrenzen durchdrang, sich mit dem der Anderen
vereinigte und die Höhle erfüllte mit der unerschöpflichen Kraft des Lebens.
Deutlich konnte ich das Prickeln auf meiner Haut spüren, es war wie
Schwimmen in kaltem, kristallklaren Wasser. Nun begann die Reise ins Reich
jenseits der Erscheinungen, dorthin, wo die Seele aus dem tiefen Brunnen des
Lebens trinken kann, wo sie findet, was ihr zur Heilwerdung fehlt. Meine
Freunde waren meine Reisegefährten, sollten mir bei meiner Suche helfen und
mir ihre Kraft leihen. Margot begann, eine Rahmentrommel zu schlagen;
gleichmäßig und monoton führten die Trommelschläge mich in einen dunklen
Tunnel, tiefer, immer tiefer wie in einen unergründlichen Schacht. Jeder Schlag
geleitete uns weiter hinaus aus der Welt des Tages, hinein in das Land der
Seele, dorthin, wo die Gesetze nicht mehr gelten, die zwischen Unten und
Oben, Hier oder Da, Gut und Böse, Ich oder Du unterscheiden.
Dies Alles gab es hier nicht. Es gab nichts, überhaupt nichts, nur
Dunkelheit. Dann spürte ich etwas um meine Beine streichen, knisterndes Fell,
das elektrische Funken sprühte: die Katze! Sie war mir wohl gefolgt. Was
konnte sie hier nur wollen, in dieser undurchdringlichen Dunkelheit? Es war
tröstlich für mich, ihre Wärme an meinem Körper zu fühlen, ich hielt sie eng an
mich gedrückt. Da, das Dunkel lichtete sich, und ich wusste mit der
eigenartigen Sicherheit der Träume, dass meine Freude über die Katze die
Ursache für das Hellerwerden gewesen war. Jetzt konnte ich erkennen, wo ich
mich befand: es war der Gang unter unserem Haus. Nie hatte ich ihn so lang
und dunkel erlebt! Und dann passierte etwas Unglaubliches. Ich begann mit
einem Mal, mich zu erheben, ich schwebte höher und höher, (wie, dieser Gang
war doch gar nicht so hoch?). Dieser Gedanke ließ mich gleich wieder etwas
tiefer sinken. Unter mir lag etwas, nein jemand, ganz und gar bewegungslos,
starr und wie tot. Oh Göttin, das war ich! Oh, nein, das war doch nicht
möglich!........Ich war doch hier, hier oben!........ Etwas wie eine Schnur, eine
hell leuchtende Schnur verband "mich" hier oben mit "mir" dort unten. Ich
hatte keine Zeit, lange über dieses erstaunliche Phänomen nachzusinnen, denn
die Katze begann nun, dem Gang folgend, weiter in den Berg hineinzulaufen
(wie nur, er endete doch hier?) und verschwand langsam durch die Wand.
Wenn ich ihr folgen wollte, und ich wusste irgendwie, dass ich das sollte,
musste ich ihr nachgehen.....gehen? Ich lag auf dem Rücken in der Luft! Auf
irgendeine Weise musste ich versuchen, meine Lage zu ändern, aber wie? Ich
erinnerte mich an unzählige Träume vom Fliegen. Da hatte ich mich immer mit
Schwimmbewegungen fortbewegt.
Na, also, schon schwamm ich mit ausgreifenden Tempi durch.....die Luft!
Das war wohl nicht ganz die adäquate Fortbewegung für dieses Medium,
außerdem würde das sicher relativ unelegant wirken. Eigentlich sollte ich mich
doch aufrecht fortbewegen! Kaum hatte ich das gedacht, stand ich auch schon
senkrecht. So einfach war das also, ich musste nur etwas denken, und schon
geschah es. Würde diese Methode mich auch die Wand durchdringen lassen?
Wenn die Katze das konnte, sollte es wohl auch mir möglich sein? Nie und
nimmer, Menschen konnten nicht,.....und schon stieß ich gegen feste
Erdwände.
145
Meine Zweifel hatten den Durchtritt verhindert. Wie bitte, konnte man sich
selbst daran hindern, an etwas zu zweifeln? Das wäre so ähnlich, als wollte
man sich befehlen, nicht zu denken. So ging es also nicht. Wie dann? Was
hatte ich denn vorher getan, um mich aufrichten zu können? Ja, natürlich, das
war es! Ich musste mir vorstellen, es zu tun, mir das Unvorstellbare fest
vorstellen! Schon war ich auf der anderen Seite. Mein Traumkörper reagierte
auf den leisesten Gedanken. Da war auch die Katze wieder! Gang um Gang
öffnete sich vor mir, immer durchscheinender wurden die Wände, und ich
schwebte durch alle hindurch, als wären sie nicht vorhanden. Die Katze führte
mich weiter in den Berg hinein, dessen gläserne Wände nun auseinander
wichen und sich zu einem Saal mit riesigen Ausmaßen erweiterten.
Durchscheinende, lichtdurchflutete Gewölbe verloren sich in schwindelnde
Höhen, gegliedert durch gläserne Kreuzrippen, die auf runden Säulen von
vollkommener Glätte ruhten. Überall war dieses goldene Licht, dessen Quelle
ich nirgends finden konnte. Seltsam bekannt wirkte dies Alles auf mich, und
dennoch ganz unvertraut. Und dann wusste ich mit einem Mal, wo ich war:
Dianas Zeichnung hatte diese Gewölbe gezeigt!
Die tiefe Stille von vorher war plötzlich mit wispernden Stimmen erfüllt,
nicht meinen Ohren vernehmbar, sondern innen, irgendwo in meinem Kopf
.Dann konnte ich auch Gestalten erkennen. Aber gleich den Stimmen waren
auch sie körperlos, schattenhaft, durchscheinend wie aus Glas. Es waren
kleine, zartgliedrige Wesen, und ihre Augen glänzten mir groß und rätselhaft
entgegen. Diese Augen.......ich kannte sie.......es waren...........Dianas Augen!
Hatte sie nicht immer wieder, schon seit frühester Kindheit behauptet, ihre
Freunde, ja, ihre "andere Familie" lebte hier, hier im Inneren dieses gläsernen
Berges? Es stimmte also, und eigentlich hatte ich es immer gewusst, auch
wenn ich es nie so wie heute hatte sehen können. Jetzt war ich also
hierhergeführt worden und sah mit eigenen Augen, was mir bisher verborgen
geblieben war: Hier, in den verborgenen Welten, im Inneren des Glasberges,
lebten unsere "älteren Geschwister" immer noch, den physischen Augen
unsichtbar, der Zeit der Menschen entrückt, und nahmen Anteil an unserem
Geschick. Und ich wusste mit einem Mal, dass unsere Zeit nur ein Schatten an
der Oberfläche der Welt ist, hervorgebracht durch das Licht, das aus der Tiefe
dringt.
Wäre nur unsere Sprache nicht so beschränkt, so dem Dinglichen
verhaftet, und könnte ich nur besser beschreiben, was ich nun erlebte! Doch
leider muss meine Erzählung Gestammel bleiben, kann sich nur annähern an
das, was mir in weiterer Folge geschah.
Musik erklang. Ich sage Musik, weil ich für das, was ich hörte, kein anderes
Wort finde; oh ja, vielleicht könnte man es das Urbild aller Musik nennen, dem
alle Klänge unserer Welt entspringen. Sie war so herzbewegend schön, dass
ich glaubte, mich in ihren Tönen auflösen zu müssen. Dann erschien eine Frau,
eine Menschenfrau, jung, zartgliedrig und unbeschreiblich schön. Sie schien
aus purem Licht zu bestehen, und Licht drang auch aus dem Gefäß, das sie
trug. Die Musik schien ebenfalls diesem Gefäß zu entströmen und ein
unbeschreiblicher Duft, wie aus allen Blüten dieser Welt komponiert.
Hoheitsvoll schritt die Frau durch das Gewölbe auf mich zu.
146
Im Näherkommen glaubte ich, sie schon einmal gesehen zu haben, doch wo
und wann, das wusste ich nicht. Dann stand sie vor mir und lächelte mich an,
und ich sah in ihre Augen, sie waren mir so seltsam vertraut, so nah. Sie sahen
direkt in mein Herz, öffneten die Türen zwischen gestern, heute und morgen,
zwischen innen und außen, hoben alle Gegensätze auf, und ich erkannte in
ihnen die Augen Dianas. "Reponse de Joye!" konnte ich nur mehr ergriffen
flüstern und "der Heilige Gral!"
Dann fiel ich vor Ehrfurcht auf die Knie. Sie hob mich auf mit einem
unsagbar liebevollen Lächeln und erhob dann das Gefäß (es glich der Schale in
unserer Höhle aufs Haar) mit beiden Händen. Das Licht, das nun daraus
hervordrang, war von einer solch blendenden Helle, dass kein Wort unserer
Sprache es beschreiben kann. Sie setzte mir den Gral an die Lippen, und ich
trank einen tiefen Schluck von etwas,......... ach, ich finde keine Worte mehr!
Wenn man Licht trinken könnte, dann müsste es so schmecken! Kaum hatte
ich getrunken, erfüllte mich ein Vibrieren, ein Zittern und Beben; jede Zelle
meines Traumkörpers wurde reines Licht, strahlte aus sich heraus, als könne
es die Welt erhellen. Ich hörte die Worte in meinem Kopf, gleichzeitig erfüllten
sie die Gewölbe: "Ich bin das Licht, ich bin das Leben, ich bin die Liebe; du bist
Licht von meinem Licht, Leben von meinem Leben, liebst durch meine Liebe.
Trage mich also mit dir, wohin du auch gehst;
lebe....leuchte......liebe.....liebe........l i e b e !"
Dann spürte ich einen harten Ruck........und fand mich auf dem Boden der
Höhle , in meinen weichen Fellen liegend, wieder. Der Nachhall der Worte
erfüllte noch den Raum, in welchem meine Familie und meine Freunde immer
noch saßen und mich forschend ansahen. Die Trommel war verstummt. Die
Katze lag zusammengerollt auf meinem Bauch und blickte mich aus
unergründlichen Katzenaugen an. Diana war auf dem Boden
zusammengesunken, ihr Atem ging flach und schnell. Ich wusste, dass sie
meine Hilfe brauchte, also erhob ich mich,- meine Beine waren wie weicher
Gummi,- und beugte mich über sie. Sie rührte sich nicht. Ach, mein armes
Enkelkind, hatte es seine Kräfte verausgabt, um mich zu retten? Das wäre
wohl ein schlechter Tausch gewesen! Das durfte einfach nicht sein! Es war jetzt
genug Kraft in mir, um sie meiner Enkelin zu schenken, das spürte ich.
Langsam und konzentriert ließ ich die Energie durch eine bestimmte Stelle im
Nacken in ihren zarten Körper einfließen. Grosse Vorsicht war geboten, man
konnte mit solchen gewaltigen Energien einem kindlichen Leib sonst eher
schaden als nützen. Ich konnte spüren, wie ein Strom von Kraft aus meinen
Händen in den Körper Dianas überwechselte, ihn erfüllte und stärkte, bis er
von selbst nachließ und schließlich versiegte. Sie war jetzt wieder rosig und
atmete tief und gleichmäßig, wie ich erleichtert feststellte. Aber auch meine
Kraft war nicht etwa geschwunden, nein, frisch und erholt fühlte ich mich, wie
schon lange nicht mehr seit Beginn meiner Krankheit.
Endlich schlug sie die Augen auf. Noch kurze Zeit waren es die Augen der
Gralsjungfrau, die mich ansahen, dann allmählich kehrte das kleine Mädchen
wieder zurück, meine kleine Enkelin, die in zukünftiger Gestalt, mir das Leben
gerettet hatte.
147
"Oh, Anna, ich habe geträumt.....ich war.....ich habe.....,." "Ssschh, still
Diana, nicht sprechen, ich weiß, mein Kleines, ich weiß alles, du musst jetzt
ausruhen, lieg ganz still." Behutsam legte ich sie auf das Fell und deckte sie
mit der weichen Pelzdecke zu, gleich darauf war sie eingeschlafen. Doch nun
war es der tiefe, gesunde Schlaf eines Kindes, der sie gleichmäßig atmen ließ
und ihre Wangen sanft rötete. Wir beschlossen, Diana hier ein wenig schlafen
zu lassen und sie erst später zu Bett zu bringen.
Etwas war anders verlaufen diesmal, die vertrauten Bilder von Tunnel oder
Röhre, von Schacht oder Brunnen, die sich bei solchen Reisen gewöhnlich
einstellen, waren zwar bei allen aufgetreten, dann aber....Dann war allen,
wohin sie ihre Reise auch geführt hatte, eine leuchtende Schale erschienen,
hatte sich wie von Geisterhand bewegt, ihnen zugeneigt und alle getränkt
mit....ja, womit? Darüber gingen die Erzählungen auseinander. Franz war
sicher, den exquisitesten Wein seines Lebens gekostet zu haben (er war
Weintrinker), konnte sich aber nicht über Herkunft und Lage klar werden. ..
Alfreds Frau Lisa schwor, allerfeinsten Papayasaft getrunken zu haben; Margot
versicherte mit Kennermiene, Sekt, Veuve Clicot oder eine andere teure Marke
sei es gewesen; Georg schwärmte von diesem wunderbaren Budweiser Bier, er
hatte es in dieser Qualität noch nie irgendwo bekommen.
Für Joschi war es einfach das allerbeste Wiener Hochquellenwasser gewesen;
Myriam meinte, sie wäre ganz sicher: diesen süßen Met gäbe es irgendwo bei
einem Bienenzüchter in der Steiermark und Vera, die Kaffeeschwester, lobte
die kostbare Hochlandsorte: "Sehr teuer, kann ich euch sagen; so was
bekommt man nicht so leicht bei uns!" Zuletzt mokierte sich Nana, die Tochter
von Alfred und Lisa über die komischen Erwachsenen, die anscheinend nicht
einmal in der Lage waren, die neueste Milchshake - Kreation von Mc Donalds
zu erkennen. "Vollkommen uncool!" war ihr Kommentar. Ich aber hatte vom
Wasser des Lebens selbst trinken dürfen. Es war mir durch die Hand meiner
Enkelin gereicht worden, die eine zukünftige Gestalt ihrer selbst ausgesandt
hatte, um mir das Leben neu zu schenken. Ich würde leben durch das Licht des
Grals, das die Liebe selbst war.
Von diesem Tag an schritt meine Gesundung rasch voran. Ich wurde mit
jedem Tag kräftiger, und bald konnte ich meinen gewohnten Tätigkeiten wieder
nachgehen. Alles war wieder wie früher und doch,.....doch war es ganz anders.
So musste ein neugeborenes Kind wohl die Welt erleben, dachte ich oftmals,
wenn mir die vertrauten Dinge in meiner Umwelt völlig neu erschienen. Alles,
jeder Grashalm, jedes Blatt, ja, selbst die gemeinhin als unbelebt bezeichneten
Dinge erstrahlten in exquisiter Einmaligkeit und waren so sehr "sie selbst", so
erfüllt von diesem Selbstausdruck, dass sie gleichsam von innen heraus
leuchteten. Dieses Leuchten umgab in verschiedenen Farbtönen alles um mich
her, besonders die Lebewesen. Diese neue Erfahrung machte, dass ich
manchmal stundenlang nur erstaunt um mich blickte, als sähe ich die Welt zum
ersten Mal. Das war es also, was Diana immer meinte, wenn sie behauptete,
die Dinge hätten ein Licht! Anfangs war Georg ziemlich verunsichert über
meine neue Fähigkeit, besonders, wenn ich ihm die bezaubernden Lichtspiele
beschrieb, die ich um ihn herum beobachten konnte.
148
Ständig wechselten die Farben, es blitzte einmal da, einmal dort auf, Garben
aus farbigem Licht schossen aus seinem Kopf, wenn er an seinem neuen Buch
schrieb. Ja, er hatte nach dem Erlebnis mit dem Gral wieder zu schreiben
begonnen. Ein kraftvoller Schub neuer Kreativität hatte ihn erfasst, die
Gedanken flogen ihm nur so zu, und die ausgedruckten Seiten begannen, einen
immer höher werdenden Stapel zu bilden.
Joschi hatte plötzlich Lust am Holzschnitzen bekommen. Er besorgte sich
Schnitzmesser und sammelte geeignete Hölzer in der Scheune. Eines Tages,
als ich Traktorschnüre dort suchte, fand ich eine fast fertig gestellte Holzplastik
von ungefähr fünfzig Zentimeter Höhe. Sie stellte eine Frauengestalt,
bestehend aus drei Einzelfiguren dar: ein junges Mädchen mit Dianas Zügen,
eine blühende, junge Frau mit dem Gesicht Myriams und eine ältere Frau, in
der ich mich erkannte. Er hatte der Dreifachen Göttin die Gestalt der drei
Frauen gegeben, die für ihn der lebendige Ausdruck dieser Triade waren:
Diana, die Jungfrau; Maria, die Mutter und Ana, die Alte Weise. Erschauernd
vor Ergriffenheit betrachtete ich das Erstlingswerk meines Schwiegersohnes, es
erschien mir vollkommen in Ausdruck und Technik. Erstaunlich, Joschi hatte
meines Wissens noch niemals bisher geschnitzt!
Auch an Myriam war das Gralserlebnis nicht spurlos vorüber gegangen. Sie
begann damit, schamanistische Techniken in ihrer therapeutische Arbeit zu
verwenden. Wie die Schamanen der alten Stammesvölker benutzte sie die
Trommel als ihr "Reittier" in die weiten Gefilde der Seelen ihrer Klienten. Diese
konnten auf diese Weise ihre eigenen Verwundungen als Dämonen, wilde Tiere
oder andere Dramatisierungen ihrer Innenwelt erleben. Sie begegneten ihrer
Angst, ihrer Verzweiflung und ihrer Trauer, erlebten sie wieder, und Viele
lernten, die verleugneten, in den Untergrund gedrängten Bewohner ihrer Seele
wieder zu sich zu nehmen. Und diese erwiesen sich, jetzt, da sie wieder
geachtete Mitbewohner des inneren Haushalts waren, als wertvoll und nützlich,
die Heilwerdung konnte beginnen. Die hohe Rückfallsquote von !70%! sank mit
dieser neuen Behandlungsmethode auf 40%, ja später sogar auf 30%! Wenn
man sich vor Augen hält, dass diese nüchternen Zahlen Einzelschicksale sind,
kann man erst ermessen, welcher Erfolg das war!
Die Subventionen waren damit wieder gesichert, und die Arbeit, die vorher
manchmal in Frage gestellt war, konnte in Ruhe weitergeführt werden. Eine
große Last fiel damit von den Schultern aller Beteiligten.
Ich hatte wieder begonnen zu massieren. Mit meinen "neuen Augen"
konnte ich jetzt viel genauer erkennen, was die Menschen leiden machte, die
zu mir kamen. Bald wusste ich die einzelnen Farben, und was sie mir über
Fühlen und Denken eines Menschen erzählten, besser und besser zu deuten.
Schließlich war ich wieder dort angelangt, wo ich vor Jahren schon einmal
gewesen war: die Patienten erzählten mir von ihren Leiden. Doch jetzt erst
verstand ich richtig, was sie mir sagten. Ich hatte gelernt, die Sprache von
Körper und Seele mit dem inneren Ohr zu hören und Symptome mit geistigen
Augen zu lesen. Ich wusste, dass ich Vielen jetzt w i r k l i c h helfen konnte.
Meine eigene Krankheit hatte mir geholfen, mich in das Leiden Anderer besser
einzufühlen, meine eigene Heilung ließ mich zur Heilung Anderer beitragen.
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Wieder hatte sich ein Kreis geschlossen, und dieser Ort war erneut zu einem h
e i l - i g e n Platz geworden. Auch er entfaltete sich also in innerer Verbindung
mit den Menschen, die ihn b e - l e b t e n . Die Wahrheit einer uralten, aber
oft vergessenen Erkenntnis war hier auf allen Ebenen wieder einmal offenbar
geworden. Sie heißt:
ALLES IST MIT ALLEM VERBUNDEN
Ja, das hätte ich fast vergessen zu erzählen, noch jemand hatte
anscheinend aus dem Gral getrunken: unsere Katze. Seit fast zehn Jahren
lebte sie jetzt bei uns, hatte in all diesen Jahren aber nicht einmal Junge
geworfen. Wer Katzen kennt, weiß wie ungewöhnlich das ist. Als es wieder
Frühling wurde, lagen fünf entzückende Kätzchen in unserem Schuppen, zwei
Schwarze, ein Dreifärbiges und zwei Getigerte!
Und letzten Endes gab es da noch Jemanden, dessen Existenz sich
grundlegend geändert hatte. Sie war mir bereits abgegangen. Während der
Zeit meiner Krankheit hätte sie ja wohl genug Gelegenheit finden können, ihre
boshaften Giftpfeile gegen mich abzuschießen, ich wäre ihr in meiner Schwäche
wehrlos ausgeliefert gewesen. Vielleicht aber hatte meine Schwäche auch sie
betroffen, wer weiß? Jedenfalls hatte sie nichts mehr von sich hören lassen.
Dann hatte ich einen Traum:
Da saß jemand in unserer Stube, eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte.
Als ich eintrat, hob sie den Kopf. Oh nein, mir war, als blickte ich in einen
Spiegel! Sie trug meine Züge, ohne Zweifel, und doch sah sie auch wieder
anders aus, wirkte strenger, kantiger, und der Blick, den sie mir zuwarf, war
ziemlich kritisch. Ich wusste sofort, wen ich da vor mir hatte! Lange standen
wir einander gegenüber und unsere Blicke verschmolzen miteinander, bis sie
sich mit einer resignierten, kleinen Geste abwandte und zur Türe ging. Da, mit
einem Mal, spürte ich das ganz starke Bedürfnis, sie aufzuhalten. Ich nahm sie
bei der Hand und hielt sie zurück. Sie sah mich mit fragender Unschlüssigkeit
an. Auch ich wusste nicht genau, was ich jetzt tun sollte, aber gehen lassen
konnte ich sie nicht, nicht so! Ich wusste, sie würde nie mehr wiederkommen.
Aber war es nicht das, was ich mir so oft gewünscht hatte, wenn sie zynisch
und verletzend gewesen war? Wie hätte mein Leben aussehen können ohne
sie, ohne die kränkende und herabsetzende Stimme in meinem Inneren, die
mich von frühester Kindheit an glauben gemacht hatte, nicht schön genug,
nicht gut genug, nicht klug genug und überhaupt von Grund auf ungenügend
zu sein. Ach, sollte sie sich doch zum Teufel scheren! Sie hatte wahrlich genug
angerichtet in meinem Leben! Wie sehr hatte ich die Kräfte von Verstand und
Gemüt mobilisieren müssen, um ihr nicht für immer zu unterliegen! Ja, aber
das war es doch! Sie war mir Hammer gewesen, Meißel und Stemmeisen,
Säge, Feile und Raspel, um in jahrzehntelanger Bildhauerarbeit meine heutige
Persönlichkeit zu formen! Ein hartes Stück Arbeit, doch ich wusste, es hatte
sich gelohnt. Sie hatte gute Arbeit geleistet, ihre Aufgabe war erfüllt. Und
durfte man das einst nützlich gewesene Werkzeug zuletzt lieblos wegwerfen?
Die Arme hatte eine ziemlich undankbare Aufgabe zu erledigen gehabt, und
jetzt wollte ich ihr noch die Tür weisen!
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Ein mitleidige, zärtliche Regung erfüllte mich mit einem Mal, ich lächelte ihr
aufmunternd zu, und da veränderten sich ihre scharfen Züge, wurden jung und
mädchenhaft weich, und ein scheues Lächeln huschte darüber hin. Ja, war
denn das die Möglichkeit, diese plötzliche, unglaubliche Veränderung!
In einem plötzlich aufwallenden Gefühl von Zuneigung nahm ich sie in die
Arme und hielt sie lange und liebevoll umfasst, bis sie weicher und weicher
wurde, langsam an Konsistenz verlor und zuletzt verschwand. Sie löste sich
nicht etwa auf, nein, sie war, das spürte ich ganz genau, verschmolzen mit mir,
aufgegangen in meinem Ich. Nun würde es keine Dialoge mehr geben zwischen
ihr und mir, wir sprächen von nun an nur mehr mit einer Stimme, der Meinen.
Wieder waren Jahre vergangen. Diana war im Mai 17 Jahre alt geworden
und besuchte die letzte Klasse des Musischen Zweiges eines
Oberstufenrealgymnasiums. Sie kam nur an den Wochenenden nach Hause,
weil die tägliche Fahrt zur Schule zu lange gedauert hätte. Welch ein
wunderschönes Mädchen sie doch geworden war! Sie war ziemlich klein, aber
wunderbar grazil gewachsen, ihr Gang war leicht und schwebend, ihre ganze
Erscheinung hatte etwas Feenhaftes. Das wurde noch verstärkt von ihren
großen, dunkel - glänzenden Augen und einem eher blassen Teint. Jedenfalls
war sie der ganze Stolz ihres Vaters, der keine Gelegenheit versäumte, sich
mit ihr zu zeigen. Und erst Georg, einen verliebteren Großvater hatte ich nie
erlebt! Auch Diana war ihm sehr zugetan und versäumte es nie, an ihren freien
Wochenenden wenigstens ein paar Stunden bei uns in unserem Häuschen zu
verbringen. Oft brachte sie auch ihre beste Freundin und einen Schulfreund
mit, der Kontakt mit den jungen Leuten war eine interessante Erfahrung für
uns beiden "Alten". Sie hatte eine glückliche Kindheit verlebt, im bergenden
Schoss ihrer Familie und an diesem wunderschönen, friedlichen Ort. Ihr Wesen
hatte daraus hervorwachsen dürfen wie eine behütete Pflanze, stark, gesund
und aufrecht. Diesen Nährboden hatte sie allerdings auch gebraucht, denn es
war viel von ihr verlangt worden und wurde es auch noch. Hatte sie auch noch
so sehr versucht, ihr Licht vor der Welt zu verbergen, irgendwo war doch
immer ein Schimmer durch eine Ritze der Verhüllung gedrungen und sie an
eine Umwelt verraten, die meist mit Unverständnis reagiert hatte. Es ist wohl
eine Eigenheit unserer, ach so aufgeklärten Zeit, dass die Menschen fasziniert
sind vom sogenannten Unerklärlichen; begegnet es ihnen aber, leugnen sie es
und erklären es als Täuschung, Schwindel oder Taschenspielertrick. So war
unsere arme Enkelin von frühester Kindheit an im eigenen Interesse
gezwungen gewesen, ihre wunderbaren Fähigkeiten, ja, ihr wahres Wesen zu
verbergen wie eine ekelhafte Perversion. Daran hätte ein weniger stabiles Kind
schon zerbrechen können, Diana aber hatte sich aus aller Liebe und
emotionalen Unterstützung nähren dürfen, die wir fähig gewesen waren, ihr zu
geben. So war sie war an Geist und Seele gesund geblieben und versprach, zu
einer beeindruckenden jungen Frau heranzuwachsen.
Sie wollte Malerin werden, und niemand wunderte sich darüber, wenn er
ihre Werke einmal gesehen hatte. Sie hatten an Ausdruckskraft noch
gewonnen; dazu war noch eine Vervollkommnung der Technik gekommen und
eine Fülle an Bildern, die aus den Tiefen ihrer Seele hervorquollen wie ein
unversiegbarer Strom.
151
Oft, wenn ich lange vor einem ihrer Bilder saß, es in Stille auf mich wirken ließ,
glaubte ich daraus flüsternde Stimmen oder wunderbare Musik zu vernehmen,
die meinen Geist weitete und mit anderen, verborgeneren Sphären verband.
Dann fühlte ich mich anschließend immer erfrischt und gekräftigt, ja sogar
verjüngt. So erging es nicht nur mir, nein, die meisten Menschen wirkten
sichtbar zufriedener, nach dem sie ein Bild meiner Enkelin betrachtet hatten.
Ihre Züge glätteten, entspannten sich, erschienen jünger, auch wenn sie selbst
diese Veränderung oftmals selbst nicht bewusst wahrnahmen.
Diese Begabung entsprang einer Quelle in der Tiefe ihres Wesens und ließ
sich niemals ganz verbergen, denn Selbstausdruck ist der Urgrund aller
Erscheinungen; und malte Diana nicht, dann wirkte sie allein durch ihr Dasein
heilend auf alles Lebendige in ihrer Umgebung.
Natürlich, das machte den Umgang mit ihr nicht gerade leicht für ihre Lehrer
und Mitschüler. Denn in ihrem Dunstkreis war es niemandem wirklich möglich,
sein innerstes Wesen zu verbergen, jedes Imponiergehabe, jede Unechtheit
wurde sofort jedem selbst und auch allen Anderen offenbar und auch deren
Ursache , und die hieß meistens Angst, Angst, als der, der man war, nicht
geliebt zu werden. Das führte dazu, dass die Meisten die Nähe Dianas mieden.
Lehrer fürchteten um ihre Autorität, die Gleichaltrigen glaubten, auf ihre
Masken nicht verzichten zu können. Gerade in der Pubertät, wo sie
verschiedene Rollen erst ausprobieren, die vielen möglichen Erscheinungen
ihrer selbst erfahren mussten, um später zu ihrem eigentlichen Wesen
vordringen zu können, waren sie durch diese Wirkung Dianas reichlich
überfordert. Aber Diana selbst, wie wurde sie mit dieser Situation fertig? Nun
ja, in früheren Jahren, in ihrer Volksschulzeit, war sie ein fröhliches, kleines
Mädchen gewesen, und ihre Eigenheiten waren von den anderen Kindern
letzten Endes akzeptiert worden. Kinderlachen war auf der Wiese vor unserem
Haus ein gewohntes Geräusch gewesen, niemals hatte es meiner Enkelin an
Spielkameraden gemangelt. Später aber, besonders in der Oberstufe, ja, da
war eine schwere Zeit für Diana angebrochen. Man hielt sie zuerst für
eingebildet. Bald aber war sogar den Borniertesten unter ihren
Schulkameraden klar geworden, dass diese Einschätzung nicht stimmte. Was
aber dann? Man hätte ihr noch eher Hochnäsigkeit nachgesehen, doch dass sie
sich allen Kategorisierungen entzog, verunsicherte die Meisten. Sie war nicht
einzuordnen, ein verwirrendes Faktum, das ihr fast niemand verzieh. So
blieben ihr nur zwei Mitschüler: ihre beste Freundin Sarah und ein
sympathischer Bursche namens Sebastian, ihre erste, scheue Teenagerliebe.
Sie hatten sich angefreundet, langsam und zögernd, zuerst über die Malerei,
die auch Sebastian am Herzen lag. Er schien ihr Wesen zu verstehen, und vor
ihr brauchte er nicht den überlegenen Mann zu spielen, das wäre ihm sowieso
unmöglich gewesen in ihrer Gegenwart. Dadurch zeigte er ihr seine zarten,
verwundbaren Seiten; das ließ die Beiden einander näher kommen, als das bei
Halbwüchsigen sonst der Fall ist. Sie wurden dicke Freunde. Später dann, als
Dianas Weiblichkeit erblüht war wie eine zarte Blume, hatte er sich verwirrt
und verunsichert zu
rückgezogen. Das war die Zeit gewesen, als die Mädchen wie junge Frauen, die
Burschen aber noch wie schlaksige Kinder gewirkt hatten.
152
Damals war Dianas Klasse ein inhomogener Haufen gewesen, ein Fass mit
gärendem Inhalt, brausend, unruhig und voller unklarer, drängender Gefühle,
eine schwierige Herausforderung für alle Lehrer. Dianas Freundin war erfüllt
gewesen von äußerst wichtigen Dingen wie irren Klamotten, coolen Parties
oder events, wie sie sagte, tolle "Typen" waren ebenfalls ganz oben gestanden
in der Hierarchie ihrer momentanen Interessen. Diana hatte versucht, ebenfalls
Begeisterung für derartige Dinge zu empfinden. Sie wollte ihre Freundin nicht
verlieren. So drehte und wendete sie sich in hautengen Miniröckchen vor dem
Spiegel, probierte die klobigsten Plateauschuhe von Sarah, gewöhnte sich
einen neuen Sprachschatz an, der ihre Mutter entsetzte und ihren Vater
belustigte. Bald darauf aber brach die schwache Brücke aus angelernten
Äußerlichkeiten unter Dianas Unfähigkeit, sich selbst zu belügen. Ihre
Einsamkeit begann, sie wie eine kalte Gloriole zu umgeben. Es war Zeit, etwas
zu unternehmen, wie damals, in ihrer Kindergartenzeit. Doch jetzt würden
solche einfachen Lösungen wie Sommerfeste etc. nicht mehr genügen. Ich
wusste, sie war nicht ganz allein, ihre Freunde im Berg hatten ihre Jugendjahre
begleitet, ihre Nähe waren Diana Trost und Anregung gewesen, wenn immer
sie sie gebraucht hatte. Aber das genügte nicht. Diana gehörte unserer Welt an
und brauchte Freunde auch hier, sonst würde sie fortsegeln auf dem Meer der
inneren Realitäten und sich endlich auch dort verlieren, ihren Weg verfehlen,
der in die Zukunft führte.
Ihre Eltern waren sehr beunruhigt. Sie dachten an eine Therapie. Doch ich
konnte sie letzten Endes davon überzeugen, dass das nicht die geeignete Hilfe
für Diana wäre. Was sollte denn an ihr auch therapiert werden? Ihre Klarheit,
ihre Unfähigkeit zur Lüge, ihre innere Fülle? "Ach, Nimue, ich brauche wieder
deine Hilfe!" seufzte ich beim Schlafengehen und hoffte, sie würde in meinen
Träumen auftauchen, wie schon so oft. Sie kam nicht. Tief und traumlos war
mein Schlaf, wie schon lange nicht mehr in den letzten Jahren. War also wieder
eine Höhlensitzung notwendig?
Gut, dann sollte es also sein. Aber, trotz aller Entspannungstechniken wollte
es mir nicht gelingen, in Trance zu gehen, eine schöne Bescherung! Sollte mir
das "Tor ohne Schlüssel" neuerdings verschlossen sein, vielleicht eine
Alterserscheinung? Immer wieder und bei wechselnden Gelegenheiten kroch
jetzt oft die Ahnung des kommenden Alters wie ein kalter Hauch durch meine
Gedanken.
Wovor fürchtete ich mich denn, ich hatte dem Tod ins Auge geschaut, da
war nichts, was man fürchten musste - und dennoch.....Nicht den Tod
fürchtete ich, sondern das Sterben, dessen sichtbarer Ausdruck das Alter ist.
Der Abschied von Schönheit, weiblicher Attraktivität, von anerkennenden
Männerblicken. Fragte ich Altersgenossinnen, wie sie denn diesen
Lebensabschnitt erlebten, faselten sie meistens von Würde und Reife, und dass
die Qualität ihres Liebeslebens eher noch gewonnen hätte. Ich sah diese
Aussprüche aber eher als das, was sie in den meisten Fällen auch waren, reiner
Selbstbetrug. So w o l l t e n sie sich sehen! Ja, natürlich, es gab Frauen, die
eine bewundernswerte Altersschönheit und Ausstrahlung besaßen, meist
Schauspielerinnen, bei ihnen war es eine Folge strengster Disziplin.
153
Dagegen standen hunderttausende Andere, die zu einem Zerrbild ihrer selbst
geworden waren, sowohl an Körper als auch an Geist. " Ja, ja, ich weiß' ja, es
liegt in meiner Hand, der Geist formt den Körper, aber kein noch so
entwickelter Geist kann das Altern verhindern. Es wird doch noch erlaubt sein,
sich ab und zu ein wenig darüber Gedanken zu machen!" redete ich mir selber
zu. "Aha, Selbstgespräche, auch eine Alterserscheinung!" Ich musste wirklich
meine Gedanken besser kontrollieren, sonst würde ich noch überall den
Gespenstern meiner Furcht begegnen!
Am nächsten Tag bekamen wir Besuch. Die Gräfin war gekommen, um ihre
Wohnung für einen Sommeraufenthalt herzurichten. Sie hätte sich doch
wirklich ansagen können! Ich hatte sie seit dem letzten Sommer nicht mehr
gesehen. Sie war eine jener bewundernswerten alten Frauen, von welchen man
sagt, sie glichen alten, wertvollen Weinen. Ihre hohe Gestalt war kein bisschen
gebeugt, ihr durchdringender Blick hatte nichts von seiner wunderbaren
Klarheit verloren, trotz ihres Alters wirkte sie nicht im geringsten greisenhaft.
Das strenge Regiment ihrer Kindheit hatte sich wenigstens in dieser Beziehung
vorteilhaft ausgewirkt.
Sie begrüßte mich herzlich, und ich bat sie, zum Kaffe zu bleiben. Georg
kam aus seiner Schreiberklause, wir hatten sie im kleinen Zimmer eingerichtet,
seit Diana nicht mehr bei uns übernachtete. Seitdem er wieder angefangen
hatte zu schreiben, wie damals, vor achtzehn Jahren, konnten wir von seiner
Autorentätigkeit sogar leben. Die Landwirtschaft überließen wir zum Grossteil
Joschi und den Hofbewohnern. Ich betreute meinen großen Gemüse- und
Kräutergarten weiter, weil er mir am Herzen lag.
Die Gräfin, so nannte ich sie für mich noch immer, obwohl wir einander seit
Jahren beim Vornamen nannten, sah mich forschend an. Ihrem Blick blieb nicht
leicht etwas verborgen. Bei mir war das allerdings nicht sonderlich schwierig ,
meine Miene drückte immer meine Befindlichkeit aus, es erging mir dabei
ähnlich wie Diana. "Du machst dir Sorgen über irgend etwas?" Das sollte eine
Frage sein, war aber tatsächlich eine Feststellung. Nun, im Gespräch mit ihr
konnte ich einleitende Floskeln ruhig weglassen, das war sehr angenehm. "Ja,"
antwortete ich also, "ich mache mir Sorgen. Du weißt ja über unsere Enkelin
Diana Bescheid, ja, also, sie vereinsamt immer mehr, jetzt, in einem Alter, in
dem sie eigentlich ihre Jugend aus vollen Zügen genießen sollte, unbeschwert
und im Kreise ihrer Altersgenossen...." "Und eigentlich wäre jetzt auch die Zeit
zum Verlieben, aber, da ist weit und breit niemand, seit der Basti sich
zurückgezogen hat," ergänzte Georg. Sophia, die Gräfin, nickte verstehend,
stützte ihr Kinn in die Hand und sah dann nachdenklich zum Fenster hinaus in
den Garten, wo es bereits dämmerte. Eine Amsel sang ihr Abendlied, sonst war
Stille, eine Stille, die unseren Gedanken Raum gab.
"Diana macht doch jetzt, im Mai Matura," fragte Sophia in die Stille hinein,
während unsere umherirrenden Gedanken anlandeten und festmachten an
dieser Frage. Ich bejahte. "Glaubt ihr, dass ihre Eltern ihr erlauben würden, ein
Jahr im Ausland zu verbringen?" Das konnten wir uns schon vorstellen, doch
wovon sollte sie dort leben, als au - pair Mädchen?
154
"Sie könnte doch vielleicht im Ausland studieren, das wäre sicher gut für sie,
sich ein bisschen fremden Wind um die Nase wehen zu lassen, oder?"
Sie wartete unsere Antwort nicht ab und sprach gleich weiter: "Hört zu, ich
denke da an eine Cousine von mir. Sie ist Witwe, und seit ihr Sohn in Rom
verheiratet ist, wohnt sie ganz allein in ihrem großen Haus in Florenz. Eure
Diana könnte vielleicht bei ihr wohnen. Das wäre genau das Richtige für sie,
die Luft ist dort ja förmlich mit Kunst gesättigt. Sie kann malen, studieren,
neue Leute kennenlernen, das wird ihr sicher gut tun!" "Das hört sich gut an,
nur, ich weiß nicht, wie das mit Auslandsstipendien ist, sie muss ja auch von
etwas leben, und sie ist noch so jung!" wandte ich besorgt ein. Die Gräfin fiel
mir ins Wort: "Jetzt hör' mir zu und unterbrich mich nicht! Ich bestehe darauf,
dieses Jahr für ihren Unterhalt aufzukommen. Das ist mein Maturageschenk,
und es liegt mir wirklich am Herzen. Ich habe ja keine Kinder, und eure Diana
verdient es, dass man ihr hilft, also kein Wort mehr darüber! Ich werde gleich
morgen meiner Cousine schreiben, aber ich versichere euch, die wird glücklich
darüber sein, ein so liebes, junges Mädchen bei sich zu haben."
Sie brauchte meine Hilfe bei den Vorbereitungen für ihren
Sommeraufenthalt, also begleitete ich sie zum Schlösschen, wo ihre Wohnung
lag. Später dann, beim Abschied, umarmte sie mich. Das hatte sie bisher noch
nie getan, hier, in ihrer Diesseits - Persönlichkeit. Ich konnte es nicht genau
erkennen, aber die beiden Personen, Sophia und Nimue, schienen zu
verschmelzen, oder lag es an meiner Wahrnehmung, dass ich nicht genau
wusste, wen ich umarmt hielt? Und dann hörte ich sie sprechen, und sie
bewegte die Lippen dabei nicht, das sah ich ganz genau: "Wie konntest du nur
daran zweifeln, dass ich dich gehört habe! Ich habe dir doch versprochen, dir
zu helfen, wenn immer du mich brauchen würdest. Wann wirst du endlich
vertrauen auf deine Andere Seite, was muss denn noch geschehen, dass du
deiner endlich sicher bist?" "Oh, Mutter, es tut so gut, in deiner Nähe zu sein!
Ich fürchtete schon, das Tor nicht mehr zu finden!" Tränen der Erleichterung
traten in meine Augen. "Ich weiß," entgegnete sie zärtlich, "ich hatte zu viel
Angst, dass du wieder einen Teil von dir zurücklassen würdest, wie letztes Mal,
als du mich in Avalon besucht hast. Das war mir zu gefährlich, ein zweites Mal
könntest du wahrscheinlich nicht mehr geheilt werden." Oh, Schreck, das war
also die Ursache meiner Erkrankung gewesen! Ein Teil von mir hatte sich so
sehr gewünscht, bleiben zu dürfen, dass er zurückgeblieben geblieben war in
der Heimat, und ich war mir dessen nicht bewusst gewesen! Deshalb hatte
Nimue heute ihre diesseitige Gestalt ausgesandt, um mir zur Hilfe zu kommen!
Alles was geschah, folgte also immerdar einer inneren Ordnung, diesem
unendlichen, verschlungenen Muster. Ich hatte es doch immer gewusst, warum
vertraute ich denn immer noch nicht diesem Wissen! Dankbar und glücklich
sah ich meiner alten Lehrerin in die Augen: "Oh, Mutter, ich danke dir, ich will
es nie wieder vergessen!" Leise, fast nicht mehr wahrnehmbar, klangen noch
letzte Wortfetzen an mein Ohr......"sei deinem Selbst dankbar.....ich bin ein
Teil davon.......alles verbunden......leb wohl........" Dann stand mir wieder die
Gräfin gegenüber, und übergangslos fuhr sie mit weiteren Instruktionen für
mich fort.
155
Diana war sofort Feuer und Flamme für dieses Angebot. Sie konnte es gar nicht
erwarten, ihre letzten Prüfungen hinter sich zu bringen, um endlich abreisen zu
können. So sehr ich mich für sie freute, einen Hauch von Kummer spürte ich
doch, weil sie es anscheinend so eilig hatte, von hier und von uns
wegzukommen. Ihre Mutter kam noch sehr viel schlechter mit dieser neuen
Situation zurecht. Sie machte ihren widersprüchlichen Gefühlen Luft, indem sie
mir alles möglichen Vorhaltungen an den Kopf warf: "Du bist unverantwortlich,
Mutter (Mutter nannte sie mich immer, wenn sie sich von mir distanzieren
wollte)!
Wie kannst du Diana diesen Floh ins Ohr setzen, sie ist doch noch viel zu jung,
um im Ausland zu leben! Und überhaupt, man kennt doch die Geschichten über
die Papagalli, und Diana ist noch so unerfahren in Bezug auf Männer! Ich
verstehe dich nicht!"
Ach ja, dieses 'Ich verstehe dich nicht', ich hatte es vor ungefähr zwanzig
Jahren schon gehört aus ihrem Mund. Sie wollte damals unbedingt in diese
Wohngemeinschaft ziehen, und sie hatte mich eine besorgte, alte Glucke
genannt, die sie nicht aus ihrem Einflussbereich entlassen wollte.
"Und überhaupt, besitzergreifend und machtgierig bin ich auch, kannst du
dich noch erinnern?" gab ich mit verschmitztem Lächeln ihre damaligen
Anschuldigungen wieder. Mit überraschtem Ausdruck hielt sie kurz inne.
Erinnerte sie sich an die Szenen, die sich damals zwischen uns abgespielt
hatten? Ein Anflug von Rot überzog kurz ihre Wangen, dann aber entgegnete
sie, laut und zornig: "Das ist doch ganz etwas Anderes, das kannst du nicht
vergleichen. Du bist gemein, mir das jetzt vorzuhalten!" Krach, bumm, die
Türe flog ins Schloss, und Georg steckte den Kopf aus seinem Studierstübchen:
"Fällt uns der Himmel auf den Kopf, Schatz?" Nein, der Himmel fiel uns noch
nicht auf den Kopf, zweifellos aber dräute er gewitterschwanger.
Es war also wieder Zeit, Kakao zu kochen. Myriam hatte etwas Zeit gehabt,
über alles nachzudenken und war schon viel ruhiger. Sie war ja ein sehr
reflektierender Mensch, das brachte schon ihr Beruf mit sich. So hatte sie
natürlich erkannt, dass sie ihre Trauer über das Flüggewerden ihres Kükens
letzten Endes nicht wegschieben durfte. Denn was bedeutet es für uns Eltern,
wenn ein Kind und erst noch das Einzige, erwachsen wird? Das Nest wird leer,
ein Teil von uns löst sich, und dort, wo er vorher gewesen war, bleibt eine
schmerzhafte Wunde zurück. Alle Liebe, alle Fürsorge, aber auch alle
gewichtige Bedeutung, die unser Wesen durch die Verpflichtung der
Elternschaft gewonnen hatte - was blieb davon? "Wer bin ich nun? Was macht
mich aus?" Das sind die Fragen, die wir uns dann stellen müssen,
allerspätestens jetzt, als letzte Chance, die das Leben uns schenkt, uns selbst
zu finden. Abschiedsschmerz und Neugeburt, wieder und immer wieder haben
wir diese Türpfeiler zu durchschreiten, bis wir an der letzten Türe stehen; doch
dann sollten wir schon einige Übung darin erworben haben.
156
Nun saß Myriam an unserem großen Stubentisch, trank ihren Kakao und gab
sich ihren Gedanken hin. Endlich, nach langem Schweigen, welches durch das
gleichmäßige Ticken der Wanduhr in unzählige Bruchstücke zerteilt wurde,
sagte sie leise: "Ich hab' gar nicht mehr gewusst, welches Ekel ich gewesen
bin, damals, vor hunderttausend Jahren....." Ich musste lachen bei der
Erinnerung an unsere Kämpfe, jetzt, damals war mir nicht nach Lachen zumute
gewesen. Oh nein, damals war unsere Beziehung oft ein Schlachtfeld gewesen,
von dem ich mich nicht nur einmal wie ein verwundeter Krieger weggeschleppt
hatte. Doch letzten Endes hatten diese Kämpfe damit geendet, dass ich Myriam
ziehen ließ. Und es war gut so gewesen und richtig. Sie hatte sich zu einem
eigenständigen jungen Menschen entwickelt, und ich war meinem Weg gefolgt.
Das war die Voraussetzung dafür gewesen, dass wir jetzt an diesem Ort
zusammenleben konnten, ohne Zwist und Feindseligkeiten. Das Alles sagte ich
Myriam, und sie nickte nachdenklich. "Mama, meinst du, ich könnte Diana ohne
Gewissensbisse dorthin fahren lassen? Hältst du sie für erwachsen genug? Es
ist ja nicht so, dass ich sie nicht von mir weglassen will, nein, aber ich habe
Angst um sie, schreckliche Angst!" "Ja, ich weiß, wir haben immer Angst um
unsere Kinder, sie ist auch nicht unberechtigt. Aber was ist die Alternative,
weißt du eine? Ich habe mir damals oft gedacht, so müsse sich eine
Vogelmutter fühlen, wenn die kleinen Vögel sich das erste Mal vom Nest
abstoßen, um zu fliegen. Diese Ungewissheit, so ohne Netz und Sicherheit,
hinein in die Gefahren der Welt. Aber, ich glaube, wir dürfen die Angst nicht so
sehr zeigen, sonst nehmen wir unserem Vögelchen den Mut zum Fliegen.
"Ach, Myriam," ich musste ihr wohl ein wenig Mut zusprechen, "sie ist ja
nicht ganz alleine, sie lebt doch bei einer Cousine von Sophia. Vertrau ihr nur
ruhig, du hast deine Arbeit als Mutter doch gut gemacht! Und Joschi war ihr ein
liebevoller Vater, und wir haben auch unser Bestes gegeben, zumindest haben
wir es versucht. Also, sie hat doch eine gute Abflugbasis, oder? Außerdem ist
sie wirklich ein wunderbarer junger Mensch, sie wird es schaffen, da bin ich
ganz sicher!" "Danke Mama," sagte Myriam mit einem tiefen Seufzer, " jetzt ist
mir schon ein bisschen leichter. Ich versteh' nur das Eine nicht, der Joschi, so
ein verliebter Vater er ist, er macht sich nicht im Mindesten so viel Sorgen wie
ich!" Machte er doch, dessen war ich gewiss, aber ich hatte genug geredet für
heute, also nickte ich nur verständnisvoll und schwieg.
Diana war also weg. Noch nie hatte ich sie derart aufgeregt erlebt, wie die
Tage vor ihrer Abreise. Sie packte Koffer ein, bald darauf wieder aus, glaubte
Dieses oder Jenes unbedingt zu brauchen, um Stunden später wieder ganz
andere, ungeheuer wichtige Dinge aus Kasten und Läden hervorzukramen. Am
Tag ihrer Abreise waren ihre Eltern der Erschöpfung nahe gewesen.
Myriam gestand mir, sie sei eigentlich ganz erleichtert darüber, dass das
Theater nun endlich ein Ende hätte. Es hatte einige Tränen gegeben,
regelmäßige Briefe und Telefonate waren treuherzig versprochen worden, dann
endlich hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt. Lange hatten wir Dianas
Haarschopf aus dem Abteilfenster wehen sehen, dann war der Zug um eine
Kurve verschwunden. Myriam hatte einmal tief und bedeutsam aufgeseufzt, in
Joschis Augen hatte es verdächtig geglitzert, Georg hatte sich die Nase
abgewischt und etwas wie "Alles Gute, meine kleine Fee!" in sein Taschentuch
gemurmelt.
157
Dann hatten wir beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und in ein
Heurigenlokal zu gehen, die es hier in Hülle und Fülle gab. Wir hatten unsere
Gläser auf Diana erhoben und ihr alle guten Wünsche der Welt nachgeschickt.
Für uns ging das Leben hier weiter, und es sollte sich bald darauf zeigen, dass
es all unsere Kräfte fordern würde.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sich schon seit langem zu
verändern begonnen. Diverse Sparpakete waren von der Regierung fester und
fester geschnürt worden, die Kaufkraft der Bevölkerung sank
dementsprechend, Arbeitsplätze wurden Mangelware; mit einem Wort, eine
abwärtsführende Spirale, wie der Sog eines Strudels, begann sich immer
schneller zu drehen. Mehr und mehr Menschen fielen durch die weiter
werdenden Maschen des sozialen Netzes, dies Alles erzeugte Unsicherheit und
Zukunftsangst. Viele unserer entlassenen Klienten konnten keine Arbeit mehr
finden. Das war ein äußerst gefährlicher Zustand, damit war ein erneuter
Einstieg ins Drogenmilieu oftmals geradezu vorprogrammiert. In unserer
Umgebung wurden zahlreiche Landwirtschaften aufgegeben, Tiere verkauft, die
Flächen verpachtet. Immer neue Förderungsmassnahmen sollten
gewährleisten, dass die Wiesen weiter gemäht würden, auch wenn niemand
mehr das Heu brauchen konnte. Landschaftspflege, eine neue, bezahlte
Tätigkeit für Bauern, wurde erfunden. Gleichzeitig wurden die Auswirkungen
unseres unverantwortlichen Umgangs mit der Natur empfindlich spürbar.
Diverse Ozonlöcher bildeten oder vergrößerten sich, der Treibhauseffekt
begann sich auch bei uns auszuwirken, die saftigen Weiden für die heilige Kuh
der heimischen Tourismuswirtschaft, den Wintersport, wurden magerer. "El
Ninjo", ein neues Vokabel, tauchte in unserem Sprachschatz auf. Es war ein
warmer Wind, der riesige Meeresgebiete aufheizte und so für furchtbare
Stürme und Überschwemmungen sorgte. Der Blick in die Zukunft war nicht
besonders angenehm. Viele meiner Massagekunden hatten jetzt oftmals dunkle
Schlieren in ihrer Aura, ein deutlicher Hinweis auf Angst oder Bedrückung.
Viele ehemaligen Mitbewohner hatten sich mit dem Leben auf dem Land
angefreundet. Der tägliche Umgang mit den Tieren, die Zyklen von Wachstum,
Ernte und Ruhe hatten sie in Kontakt mit ihren eigenen inneren Vorgängen
gebracht. Außerdem erlitten die Meisten eine Art von Zivilisationsschock, wenn
sie in die Stadt zurückkehrten. Dies Alles machte mich sehr nachdenklich.
Ich erinnerte mich an das leuchtende Netz, das ich in einem meiner Träume
das Land umspannen gesehen hatte. Immer, die ganzen Jahre hindurch, hatte
dieses Bild in einem vergessenen Winkel meiner Erinnerungen gewartet. Jetzt
trat es ans Licht und forderte meine Beachtung. Eine Lebensinsel, davon hatten
wir geträumt, und die hatten wir hier schaffen dürfen; aber diese Insel quoll
bereits über von Schiffbrüchigen. Was war also zu tun in einem solchen Fall?
Vor mich hinträumend, stellte ich mir eine wirkliche, kleine Insel vor, die über
und über bedeckt war von Menschen. Vor meinem inneren Auge wimmelte
meine Insel von ameisengleichen Bewohnern. Da, was taten sie da? Eine
Gruppe von ihnen hatte mit einer Art geordneter Tätigkeit begonnen. Ich
stellte mein inneres Objektiv auf Nahaufnahme. Und, ja, es war eindeutig, sie
bauten ein Boot! Ja, natürlich, das war es! Dass ich nicht gleich auf diesen
Gedanken gekommen war!
158
Ich sprang auf und hüpfte wie ein junges Zicklein durch die Stube. Gut, dass
ich alleine war, eine Großmutter, die mit Bockssprüngen durchs Haus tobte,
wäre wohl ein etwas ungewöhnlicher Anblick für Manchen gewesen. "Alte
Ziege," tadelte ich mich, nicht sehr ernst, "wirst auch nie eine würdevolle Alte!"
Aber meine Freude über diese Idee ließ mich alle Würde vergessen. Ich musste
sofort mit Myriam darüber sprechen.
Myriam fand meine Idee aufregend, zweifelte aber an ihrer Realisierbarkeit.
Wie überall, so war auch hier die Finanzierung das Problem. Ein weiterer Topf
mit Münzen würde sich wohl kaum finden lassen. Märchen geschehen zwar
manchmal, aber sie wiederholen sich nicht beliebig oft, es sei denn, man half
ihnen ein wenig auf die Sprünge. Das taten wir und hatten Erfolg damit. Aber,
das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls konnten wir einen leerstehenden Hof
in der Nähe unseres Anwesens pachten, und bald darauf begannen die ersten
vier ehemaligen Klienten, zwei Männer und zwei Frauen, mit den
Renovierungsarbeiten. Einer von ihnen wurde auf eine landwirtschaftliche
Fachschule geschickt, um sich auszubilden. Vorläufig konnten wir einen
ehemaligen Bauern gewinnen, der den Hof leiten sollte. Wir hatten
verschiedene öffentliche und private Geldgeber finden können, die ersten
beiden Jahre waren so gesichert. Und diese weitere Insel sollte nur die Erste
von Vielen sein, wir sahen voller Hoffnung in die Zukunft, wo ein Netzwerk
solcher Lebensinseln das Land überziehen sollte. Wieder war ein Traum von
mir dabei, in die Wirklichkeit überzutreten.
Für Myriam war diese geschäftige Zeit ein Segen. Sie hatte wenig
Gelegenheit, an ihre Tochter zu denken, zu ausgefüllt waren ihre Tage mit
Organisationsarbeit. Und dann gab es ja auch noch ihre normale
Therapeutentätigkeit. Sie gönnte sich kaum Ruhe, und manchmal drückten
mich Gewissensbisse, weil ich ihr diese Idee in den Kopf gesetzt hatte. Auf
irgend eine Weise hätte ich sie gerne unterstützt. Da hatte ich noch eine Idee:
Man müsste das Lebensinsel- Projekt bekannt machen, es irgendwie
dokumentieren, Menschen dafür begeistern. Städter sollten ihre Lebensmittel
auf unseren Höfen direkt kaufen, vielleicht auch Vieles selbst ernten, Urlaube
bei uns verbringen und einschlägige Kurse hier besuchen können. Vielleicht
konnten ja auch Arbeitslose, die gerne sinnvolle Arbeit verrichten wollten,
Gartenbau und Landwirtschaft bei uns lernen und damit fähig werden, einen
Teil ihres Lebens vom Land bestreiten. Das Land war da, wartete darauf, den
Menschen Nahrung und Lebenssinn zu geben, wir mussten nur eine Möglichkeit
finden, diese Idee zu verbreiten und Menschen dafür zu begeistern. Was
konnte ich dazu tun? Sollte ich Vorträge halten? Nein, vor vielen Leuten zu
sprechen, das war nicht meine Stärke....oder vielleicht ein Buch?.......Schon
eher. Schreiben, ja, damals, vor vielen Jahren, als ich Georg bei seinem Buch
geholfen hatte.....hatte es mir nicht Freude gemacht? Allerdings, in all den
Jahren hatte ich nicht eine Zeile geschrieben, dieses Talent war sicherlich
eingerostet seit damals. Aber, der Gedanke ließ mich nicht mehr los.
"Georg, zeigst du mir einmal, wie man mit dem Computer umgeht?"
Möglichst harmlos und unverfänglich musste meine Frage klingen, denn, sollte
mir nichts gelingen, konnte ich leicht einen Rückzieher machen. "Nanu, du
wolltest doch nie - niemals etwas mit einem Computer zu tun haben.
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Willst du etwas schreiben? Na, komm, ich schreib's dir!" "Nnnein....ich möchte
kein Computer -Analphabet sein, so unbedarft hinter dem Mond leben.
Man muss doch auch Neues lernen, sonst verrostet man ja!" Er sah mich
einigermaßen erstaunt an, aber ich wurde unterwiesen in der hohen Kunst des
Winword - Programmes.
Da saß ich nun, aufgeregt wie ein Erstklässler und wartete auf Einfälle.
Nichts. Vielleicht sollte ich eine Gliederung schreiben, wie bei einem
Schulaufsatz? Blödsinn! Wie machte man das denn, ein Buch zu schreiben, wie
öffnete man die Türe zu all den Bildern und Worten, die irgendwo warteten,
heraus wollten, wie eine Herde Ziegen, die auf die Weide drängten? He, guckte
da nicht das Zipfelchen eines Wortes aus dem Türspalt? Ich zog daran, sieh da,
ein Satz! "Schreib ihn auf, schnell, bevor er sich wieder zurückzieht, nagle ihn
fest!" schrie eine innere Stimme mir zu. Ich tat, was sie mir riet. Irgendwie
musste dieser Satz mit anderen verknüpft, daran festgemacht sein, denn nun
stürzten Weitere dem Ersten nach. Je mehr ich schrieb, desto mehr quollen
heraus, als könnten sie es nicht erwarten, sich auf dem Bildschirm zu
materialisieren. Ich merkte nicht, wie die Zeit verging, manisch schlug ich auf
die Tasten. Plötzlich war ich ein Schöpfer, malte Wortbilder, komponierte
Wortsymphonien, gestaltete Plastiken aus Worten.
Die Worte wurden Fleisch und Blut, gingen ihre eigenen Wege, wie flügge
gewordene Kinder, ich brauchte nichts weiter zu tun, als sie aus meinem Kopf
zu entlassen. Sehr viel später schaute Georg herein und fragte: "Lebst du
noch? Was ist mit dir los, du sitzt jetzt schon stundenlang hier drinnen!"
Gewichtig erwiderte ich: " ich schreibe ein Buch."
"Oho! Du schreibst also ein Buch, in m e i n e m Arbeitszimmer, an m e i n
e m Computer, vielleicht sogar mit m e i n e n Ideen! Dazu wolltest du also den
Computer bedienen lernen, du hinterlistige Hexe!" Jetzt war ich wütend: "Du
Platzhirsch!" schleuderte ich ihm entgegen, "hätte ich das Haus hier nicht
gefunden, säßest du heute noch an deiner alten Reiseschreibmaschine in einer
dreißig - Quadratmeter - Substandardwohnung und tipptest an der
fünfundzwanzigsten Version des Jahrhundertwerkes mit dem Titel M a g i e!"
Das saß. "Vergiss nicht, wir leben von m e i n e r Schreiberei, ich verdiene hier
die Brötchen!" antwortete er , und seine Stimme erbebte vor gekränktem
Stolz. Aha, er sah seine überlegene Rolle als Ernährer in Gefahr. Das fein
ausbalancierte Machtgefüge zwischen uns beiden drohte ins Wanken zu
geraten. Typisch Mann, dachte ich, erwiderte aber: "Deshalb willst du mich
nicht schreiben lassen. Du hast Angst, ich könnte vielleicht besser sein als du,
und das darf es einfach nicht geben, das ich vielleicht auch Erfolg haben
könnte!" "Du und Erfolg, du hast doch bisher noch nie Ambitionen gehabt zu
schreiben. Jetzt auf einmal, weil du erlebst, dass ich das kann, willst du auch
auf dieses Pferd aufspringen. Such dir doch selbst ein Hobby, Stricken oder
Nähen oder lerne eine Fremdsprache, aber mir kommst du nicht ins Gehege!"
Also, das war jetzt eindeutig zu viel gewesen; Stricken und Nähen, damit
wollte er mich auf einen Platz verweisen, der ihm nicht gefährlich werden
konnte. Er würde schon noch sehen......
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Ich verließ das Schlachtfeld unter heftigem Türenknallen und hörte gerade
noch seine Bemerkung: "Jetzt weiß ich, von wem die Myriam das hat!"
Aber, ich entgegnete nichts mehr, überhaupt nichts mehr, lange Zeit. Unser
Haus war selten laut gewesen, außer wir hatten Besuch von den Hofbewohnern
gehabt. Doch jetzt lastete drückendes Schweigen darauf wie eine dunkle,
schwere Wolke. Dies war, so unglaublich es scheinen muss, unser erster,
wirklicher Streit seit zwanzig Jahren gewesen und dann gleich eine solch
dumme Querele, denn von einer wirklichen Auseinandersetzung konnte hier
nicht die Rede sein. Vielleicht hätten wir öfter streiten sollen. Vielleicht war
Manches unausgesprochen geblieben zwischen uns. Vielleicht aber hatten wir
auch Manches nicht als Problem erkannt, und es hatte sich derart aufstauen
können. Aber, so sehr ich auch grübelte, ich konnte mich nicht erinnern, jemals
derartigen Ärger über meinen Mann empfunden zu haben. Das war nicht mehr
mein Harfenspieler, der mein Herz vor Liebe erbeben machte, nein, jetzt bebte
ich vor Zorn! Als der verraucht war, wurde er zu Kummer und Traurigkeit
darüber, dass mein Mann in mir eine Konkurrentin sah. Wir waren doch Partner
gewesen bisher, wie hatte das denn nur geschehen können!
Georg schlug sein Bett in seinem Arbeitszimmer auf und versetzte mir damit
einen erneuten, schmerzhaften Schlag. Was wollte er denn? Konnte er wirklich
wollen, dass ich meine, eben erst entdeckte Freude am Schreiben wieder
einmottete, wie Winterkleidung im Sommer? Das glaubte ich nicht wirklich, so
war er doch nicht; niemand könnte doch sein wahres Gesicht so lange und so
perfekt verbergen vor einem Lebenspartner! Nein, bestimmt kämpfte er mit
seinen eigenen, widersprüchlichen Gefühlen und konnte mir das nicht zeigen,
so musste es sein! Ich fühlte mich in unserem Hochbett allein und verlassen,
wie ein Schiffbrüchiger auf dem weiten Ozean. Traurig schlief ich endlich ein....
........und fand mich endlich wirklich auf einer weiten Wasserfläche treibend,
alleine in einem Boot, das unserem Bett glich. Auch die Kissen und Decken
waren da, dafür fehlten die Ruder. Das beunruhigte mich nicht weiter. Wohin
hätte ich hier auch schon rudern können?
Tiefe Stille umgab mich, auch nicht das kleinste Geräusch war zu hören,
kein Wind, kein Wellenschlag, nichts, nur Einsamkeit und Stille. Weit weg, dort
wo sich Himmel und Meer im dunstigen Schimmer trafen, schaukelte etwas,
etwas Kleines, wie ein Boot sah es aus. Vielleicht war ich ja doch nicht ganz
alleine! Ich wollte dorthin, doch ohne Ruder, wie sollte das gehen? Die
Strömung trieb mich langsam näher, bis ich eine Gestalt in diesem anderen
Boot erkennen konnte. Schreiend und gestikulierend versuchte ich, den
Anderen auf mich aufmerksam zu machen, vergebens, zu viel Entfernung war
zwischen uns. Die kalte Hand der Verzweiflung griff nach mir und erstickte
meine Schreie in der Kehle. Dieser Mensch dort, ich wollte seine Nähe, so sehr,
dass es mich körperlich schmerzte! Doch die Weite dehnte sich schier
unüberwindlich zwischen uns. Der Wunsch nach der tröstlichen Nähe des
Anderen wurde schließlich so stark, dass ich mich, ohne weiter zu überlegen,
ins Wasser stürzte. Würden mich die Kräfte verlassen, würde das Boot uns
beide tragen, würde er mich überhaupt in sein Boot lassen?
161
Ich musste es darauf ankommen lassen, denn nun war ich schon ein Stück weit
geschwommen. Dennoch war die Entfernung zwischen uns noch nicht sehr viel
geringer geworden. Ich schwamm und schwamm, bis Beine und Arme mir den
Dienst zu versagen drohten. Endlich hatte der Mann im Boot (ich konnte ihn
jetzt deutlich sehen), mich wahrgenommen. Sein Blick war seltsam traurig,
und erinnerte mich an die Augen des Harfenspielers! Er streckte die Arme nach
mir aus, sehnsuchtsvoll und verlangend. Dann sprang er mit einem Satz ins
Wasser, schwamm mit kräftigen Zügen auf mich zu, nahm mich in die Arme,
hielt mich über Wasser, wie ein Rettungsschwimmer. Die Boote waren beide
abgetrieben und nicht mehr zu sehen. Gemeinsam, immer Einer den Anderen
abwechselnd hochhaltend, trieben wir auf den Weiten dieses seltsamen
Meeres......ohne Angst oder Anstrengung, so hätte ich endlos lange mit
meinem Gefährten dahintreiben können.....Endlich fühlte ich, wie wir sanft an
einen Strand gespült wurden, wir lagen auf festem Untergrund.........Wir waren
gelandet......in der Geborgenheit unseres (meines?) Hochbettes. Mein Partner
war immer noch bei mir, und sah mich aus bekümmerten Harfenspieler Augen an. Ich schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn lange und
zärtlich an mich. "Ich bin so froh, dass ich dich wiedergefunden habe, da
draußen (oder da drinnen?) im Meer!" seufzte ich, glücklich und erleichtert, "du
warst so weit weg!"
Später dann, nachdem wir unsere Versöhnung ausgiebig gefeiert hatten,
besprachen wir, wie wir unsere Arbeitsplätze gestalten wollten. Ich bestand
darauf, dass Georg sein Zimmer behielt und wollte mir einen Schreibplatz in
der Stube herrichten, mit Georgs Computer. Er wollte sich schon lange einen
Neuen, Besseren besorgen. "Glaubst du immer noch, dass ich in deine Domäne
eindringen und dir Konkurrenz machen will?" fragte ich Georg an einem der
nächsten Tage. Er lachte sein verschmitztes Georglächeln und sagte:
"Natürlich, jetzt muss ich mich eben noch mehr anstrengen, damit ich der Chef
im Hause bleibe!"
Die Tage des Sommers vergingen rasend schnell, weil wir beide so intensiv
arbeiteten. So wurden wir vom ersten Brief Dianas regelrecht überrascht. Sie
schrieb:
Liebe Grosseltern!
Es war mir schon ein richtiges Bedürfnis, Euch zu schreiben, denn wem das
Herz voll ist, dem geht der Mund (die Feder) über, sagt man. Ich bin so froh,
dass ich hergekommen bin, ein schöneres Geschenk hätte mir die Gräfin
wirklich nicht machen können! Ich habe ihr übrigens schon geschrieben und
mich bei ihr bedankt. Ich male auch gerade an einem Bild für sie, als kleines
Dankeschön.
Also, ich wohne in einem regelrechten Palazzo, einem ziemlich alten, aus
dem fünfzehnten Jahrhundert, es gehörte früher einer reichen
Tuchmacherfamilie. Mein Zimmer liegt im zweiten Stock, und ich kann direkt
auf den Arno hinunterschauen. Dazu bleibt mir aber sehr wenig Zeit.
162
Meine Gastgeberin, sie heißt übrigens auch Anna, genauer gesagt Anna Maria, hat meine ersten beiden Wochen hier total mit Besichtigungen und
kleinen Ausflügen in die Toskanische Landschaft verplant. Das war wirklich gut
für mich, weil ich mich jetzt, da ich auf eigene Faust unterwegs bin, wesentlich
besser orientieren kann. Sie ist eine sehr warmherzige und kraftvolle Person,
ganz anders als unsere Gräfin, viel erdiger. Ich mag sie sehr, und ich glaube,
sie mich auch. Jetzt unterrichtet sie mich täglich eine Stunde in Italienischer
Sprache. Wir sprechen auch meistens Italienisch miteinander, damit ich es
schneller lerne.
Seit kurzem besuche ich einen Kurs in einer Malklasse auf dem
Konservatorium. Ich lerne dort sehr viel über Maltechniken und überhaupt viel
vom Handwerk des Malens. Alles Andere, na ja, ich weiß nicht, ich glaube, ich
muss meinen Stil und Ausdruck behalten, sie wissen eben dort nichts über
multidimensionelle Kunst. Ihr Beiden versteht wohl, was ich damit meine. Sehr
oft, wenn das Wetter es erlaubt, fahre ich mit dem Bus hinauf nach Fiesole.
Das ist ein Städtchen auf einer Anhöhe im Nordosten von Florenz. Hier gibt es
Römische Ausgrabungen inmitten eines Etruskischen Tempel
Bezirkes. Man hat von hier einen sehr schönen Ausblick über Florenz, und ich
male häufig dort. Hier ist eine gewisse Stelle, die mich besonders anzieht.
Bilder, die ich hier male, werden auf eine ganz besondere Weise
ausdrucksstark. Manchmal kann ich hier auch Lichter sehen oder Musik
vernehmen, Ihr wisst schon, Feenmusik, wie in unserem Berg. Ich habe da so
meine Vermutungen, aber, ich möchte mich nicht allzu sehr darauf einlassen,
weil ich hier einige Freunde gefunden habe und fürchte, sie gleich wieder zu
verlieren, Ihr wisst ja.... Es gibt zwischen uns noch eine gewisse
Sprachbarriere, weil mein Italienisch noch recht mangelhaft ist, um es einmal
vorsichtig auszudrücken. Das hat aber auch seine Vorteile, weil meine kleine
Andersartigkeit dadurch nicht so auffällt. Sie meinen dann immer, es läge an
der Sprache, dass sie mich oft nicht verstehen; gut, nicht wahr? Wir gehen oft
miteinander abends in kleine Trattorias oder Cafes oder bummeln einfach in
der Gegend um die Plaza della Signoria. Hier ist so viel Leben auf den
Strassen, das könnt Ihr Euch nicht vorstellen! Am Abend glaubt man, die ganze
Stadt ist "aus dem Häuschen".
Es sind wirklich ganz viele Leute auf der Strasse. Ich muss auch sehr
achtgeben, dass ich mein Taschengeld nicht in den vielen Läden gleich
ausgebe, es gibt hier so viele schöne Dinge. Überhaupt, Schönheit ist hier in
Allem, in den Bauten, in der Kunst, in den Menschen; man glaubt, sie durch
alle Poren einatmen zu können. Ich meine damit eine andere Schönheit als die
bei uns zu Hause, nicht so erdenschwer und ernst, sondern leicht, irgendwie
heiterer, südlich eben.
Liebe Anna, lieber Georg, hoffentlich habe ich euch nicht das Herz schwer
gemacht mit meiner Schwärmerei! Meine Heimat ist mir lieb und wert und wird
es immer bleiben, aber, ich genieße den Aufenthalt hier sehr.
163
Vielleicht könnt ihr mir auch einmal schreiben, wie es Euch geht, ich denke oft
an Euch und an unseren Gläsernen Berg!
in Liebe
Diana
Wir waren sehr beruhigt darüber, dass sich Diana anscheinend so glücklich
an ihrem neuen Aufenthaltsort fühlte und schrieben ihr gleich zurück. Erst sehr
viel später, zu Mitte des Sommers, erhielten wir Antwort von ihr.
Liebe Anna, lieber Georg!
Ich danke Euch für Euren lieben Brief. Erst jetzt habe ich wieder Ruhe
gefunden und kann Euch schreiben. Es ist so viel geschehen, und ich weiß nicht
genau, womit ich beginnen soll.
Wie so oft war ich auch diesmal wieder auf meinem Lieblingsplatz bei den
Ausgrabungen und habe dort gemalt. Übrigens male ich jetzt oft nicht mehr
gegenständlich, sondern anders, gewissermaßen abstrakt.
Das heißt, ich male nicht, was ich außen sehe, sondern die Bilder, die an
diesem bestimmten Ort in mir aufsteigen, dazu diese besondere Musik; auch
sie fließt in die Bilder ein. Man kann sagen, ich bilde die Seele des Ortes ab, so
wie sie mir zu diesem bestimmten Zeitpunkt erscheint.
Ich saß also, ganz vertieft in meine Arbeit an der Staffelei und malte, was
ich sah, hörte und fühlte. Ihr wisst doch, dabei nehme ich von außen nichts
mehr wahr, weil ich so konzentriert bin. So habe ich lange nicht bemerkt, dass
jemand von hinten an mich herangetreten war. Ich hörte die Töne und die
Worte eines alten Lumani- Liedes und glaubte, mein Bild hätte sie zum Leben
erweckt, wie das sonst auch oft der Fall ist. Deshalb fiel es mir lange Zeit nicht
auf, dass ich die Töne von außen, mit meinen physischen Ohren hörte. Erst, als
mich jemand an der Schulter berührte, fuhr ich er
schreckt herum. Und jetzt haltet Euch fest! Da stand ein Mädchen, etwa in
meinem Alter, lächelte mich freundlich an und sagte entschuldigend: "Ich
hoffe, ich habe dich nicht erschreckt!" Sie sprach übrigens nicht sehr gut
Italienisch, so wie ich. Man konnte deutlich hören, dass es nicht ihre
Muttersprache war. Ihr könnt Euch vorstellen, dass es mir die Rede
verschlagen hat! Als ich mich wieder gefasst hatte, fragte ich sie, welche
Sprache das denn gewesen sei, vorhin. Sie antwortete mit der größten
Selbstverständlichkeit, dass sie dieses Lied aus meinem Bild "gelesen" hätte.
Sie sprach Lumani!!!! Anna, stell Dir das mal vor! Ist das zu glauben! Jedenfalls
stellte sich heraus, dass sie von ihren Eltern, die in England leben, hierher
geschickt worden ist zu einer entfernten Verwandten, um, ja, um auf andere
Gedanken zu kommen, sich ein wenig andere Luft um die Nase wehen zu
lassen, auch, um andere Menschen kennenzulernen - genau wie ich! Wenn das
nicht ein Zufall war! Oder, meint Ihr, es war vielleicht gar keiner? Sie sieht
übrigens ähnlich aus wie ich: sie ist klein und zart wie ich, hat große, dunkle
Augen, nur ihr Haar ist anders, heller als meines, honigfarben. Sie spielt
wunderschön Harfe und will Musikerin werden, aber für mich ist sie das schon.
Ihr könnt Euch denken, dass wir uns viel zu erzählen hatten.
164
Endlich, nach so vielen Jahren hatte ich jemand getroffen, der so ist wie ich,
der mich versteht, der weiß, wovon ich spreche! Es war wie Nach Hause
Kommen, und ihr ging es ganz genauso. Kein Verbergen, kein Versteckspiel,
um akzeptiert zu werden, ist das schön! Trotz der verschiedenen Sprachen
verstanden wir einander sofort und fast ohne Worte. Wir hatten beide nie
gewusst, dass es auch noch Andere von unserer Art geben könnte. Seither
stellen wir uns manchmal vor, wie es wäre, die Anderen zu treffen. Wie viele
wir wohl bereits sind?
Meine neue Schwester heißt Vivian. Sie hat mir erzählt, ihre Eltern seien
Wiccas, das sei eine alte, vorchristliche Religion, sie stamme aus ganz früher
Zeit, aus der Zeit der Megalithkulturen, wie sie sagte. Deshalb war sie sehr
erstaunt, von mir zu hören, dass meine Familie, besonders meine Grosseltern,
auch Wiccas sind. Wo sie herkomme, hätten sie so einen Hügel mit einem
Turm obendrauf, dort soll früher einmal ein Steinkreis aus der Megalithzeit
gestanden sein. Der Hügel hieße übrigens "Tor", das heißt nichts Anderes als
"Hügel" in der alten, keltischen Sprache. Nun, liebe Grosseltern, habe ich euch
überrascht? Dann werdet ihr noch mehr staunen, dass Vivians Eltern einen
Platz am Fuße des Hügels bewohnen, unweit von zwei Quellen, einer "Blood
Well" und einer
"White Well", beide ungeheuer heilig. In England würden die alten Traditionen
noch viel mehr bewahrt, hat sie mir erzählt, und noch etwas: Ihre Eltern hätten
den Platz, auf dem sie jetzt wohnen und den sie auch behüten, durch Träume
und Visionen gefunden, wie Ihr den Euren. Er hieße Ynys Vytrin, die Gläserne
Insel!
Könnt ihr euch vorstellen, wie erstaunt Vivian war, als ich ihr dies Alles
genau beschreiben konnte und ihr sagte, dass meine Großmutter mir als Kind
immer davon erzählt hat, wenn sie mich zu Bett brachte.
Jetzt habe ich Euch wohl viel zum Nachdenken verschafft, oder? Wir beide
jedenfalls, Vivian und ich, hatten uns sehr, sehr viel zu erzählen, das kannst du
mir glauben. Auch sie hat mir von ihren "kleinen Freunden" berichtet, von
Unterweisungen irgendwo im Inneren des Glasberges, davon, wie erstaunt sie
war, als sie das erste Mal erfuhr, dass ihre "wirklichen Spielkameraden" viele
Dinge nicht sehen und hören konnten wie sie. Ihre Geschichte hörte sich wie
meine eigene an.
Leider wurde meine Freude ziemlich getrübt, als ich erfuhr, dass Vivian in
zwei Monaten nach Hause reist; sie beginnt ein Musikstudium am
Konservatorium von Salysbury. Aber sie hat mich für die Ferien zu sich
eingeladen, dann reisen wir gemeinsam, was haltet Ihr davon? Vorausgesetzt
natürlich, ihre Eltern sind einverstanden, aber, ich denke das sollte kein
Problem sein.
165
Ich verabschiede mich jetzt, Vivian und ich wollen ein Kammermusikkonzert
besuchen, im Garten des Belvedere, mit Harfe und Querflöte. Das wird sicher
sehr schön, ich freue mich schon sehr darauf!
Bis bald,
Eure
Diana
Hope to see you as soon as possible, be blessed by the Godess!
Vivian
P.S.: Übrigens, ich weiß jetzt, was ich werden möchte, aber darüber Näheres
im nächsten Brief. Meinen Eltern habe ich auch geschrieben. Sie wissen schon
alles, also, ciao amici!
Wir beide, Georg und ich, waren wie vom Donner gerührt, als wir den Brief
zu Ende gelesen hatten. Nie im Leben wären wir auf den Gedanken
gekommen, es könnte irgendwo noch Andere von Dianas Art geben. Und doch
schien uns das jetzt, als wir die Sache mit neuen Augen betrachteten, völlig
logisch und sinnhaft, ja sogar zwingend notwendig. Wie sonst könnte eine neue
Art von Menschen sich sonst verbreiten, wären nicht genügend von ihnen
vorhanden! Ich jedenfalls war schlichtweg begeistert von Dianas Plan, nächsten
Sommer nach Glastonbury zu reisen, man stelle sich nur vor: unser beider
Heimat in ihrer diesseitigen Erscheinung und das im zwanzigsten Jahrhundert,
wie aufregend! Das aller größte Wunder aber war für mich, dass unsere kleine
Diana, unser einsames kleines "letztes Einhorn" eine Seelenfreundin gefunden
hatte, endlich, nach so vielen Jahren des Außenseitertums. Gerührt und
dankbar dachte ich an Nimue, weise hatte sie die Schicksalsfäden zu einem
kunstvollen Muster verwoben, dessen Sinn wir jetzt erst erkennen konnten.
Noch einige Briefe waren hin und her gegangen, bevor Diana zu Beginn des
nächsten Sommers heimkehrte. Dieses eine Jahr hatte sie verändert, ihre
Erscheinung und ihr Wesen hatten sich gerundet, und aus dem noch etwas
unsicheren, eckigen Mädchen war eine junge Frau geworden. Sie strahlte
Selbstsicherheit und Würde aus, ja richtig, Würde, trotz ihres jugendlichen
Alters. Sie wusste jetzt, was sie früher nur vage geahnt hatte: sie war keine
seltsame Kuriosität, keine Laune der Evolution, nein, sie war eine von jenen,
die den Fortbestand der menschlichen Spezies sichern würden. Scherzhaft
nannten wir sie manchmal ein verbessertes Modell, einen Prototyp, der sich
anschickte, in Serie zu gehen.
Und noch etwas wusste sie. Ihr eigentlicher Beruf würde nicht die Malerei
sein. Sie hatte erfahren, wie heilsam der Kontakt mit ihren Bildern auf die
verwüsteten Seelenlandschaften vieler, an ihrer Umwelt erkrankter
Mitmenschen wirkte. Malerei und Musik, besonders Gesang, die heilenden
Töne, die in die Linien und Farben ihrer Bilder eingeschrieben waren, wollte sie
den Menschen als Medizin reichen. Wie Orpheus einst Eurydike, würde sie die
die toten Seelen durch ihre Kunst wieder ans Licht des Lebens führen. Wir Alle
wussten, dass sie das vermochte, ich hatte es erfahren dürfen; und noch heute
verlieh dieses Erlebnis meinem Dasein etwas vom Glanz des Unendlichen
166
Nun war es also wieder Sommer geworden. Unsere Reise stand bevor. Georg
hatte einen alten VW-Bus erstanden, der, zu einem einfachen Wohnmobil
umgestaltet, uns Beiden eine gemächliche Reise ermöglichen würde. Vorher
hatten wir noch wichtige Dinge zu erledigen. Mein Buch war fertig. Ich übergab
es Myriam, alles Weitere würde ihre Sache sein. Wir ordneten unsere
persönlichen Dinge, es konnte ja sein, dass wir einen Unfall hätten, so etwas
musste man immer bedenken. Ich hatte auf einem Abschiedsabend für die
ganze Familie bestanden. "Warum triffst du denn Vorbereitungen, wie für einen
endgültigen Abschied, Mama, wir machen doch nur eine Urlaubsreise?" fragte
Myriam verwundert. "Mein liebes Kind, man kann ja nie wissen, ob man wieder
gesund und munter wiederkehrt. Und nachher nützen alle Vorwürfe der Welt
nichts mehr. Wir müssen immer so zueinander sein, als hätten wir nicht mehr
viel Zeit. Deshalb möchte ich dich um Verzeihung bitten für alles, was ich dir
vielleicht irgendwann angetan habe und dir sagen, dass ich dich liebe und dich
auch," sagte ich, zu Joschi gewendet. Gerührt schlossen wir uns gegenseitig in
die Arme. Nun konnte die Reise beginnen.
Diana war schon vor einer Woche mit dem Zug abgereist, Myriam und
Joschi wollten sich einen Flug gönnen und gleich die Gelegenheit nützen, einen
Ausflug nach London zu unternehmen. Am ersten August sollte Treffpunkt sein,
auf dem Gipfel des Tor - Hill, abends um sechs Uhr, das war unter uns Allen
vereinbart worden.
Diana und Vivian hatten vor ihrer Abreise ein Inserat in alle wichtigen
Tageszeitungen ihrer beider Länder setzen lassen. Es richtete sich an alle ihre
Brüder und Schwestern und war deshalb in Lumani verfasst. Es lautete, sehr
frei übersetzt, etwa so:
Liebe Geschwister! Zwei von Eurer Art rufen Euch. Treffpunkt: 1. August,
dieses Jahres, 18 Uhr, Tor- Hill, Glastonbury, England, entweder leiblicher oder
Geistkörper! Das sah in geschriebenem Lumani so aus:
Ama Umhapi! Enari sumati, Schat un August, 18 Uhr, Tor - Hill, Glastonbury,
England, humlan og sallan!
Amati, Vivianadiana !
Weder Diana noch Vivian hatten gewusst, ob und wie Lumani geschrieben
werden konnte, deshalb hatten sie in einer phonetischen Schrift geschrieben
und darauf gehofft, dass die richtigen Menschen sie auch verstehen würden.
Über unsere Reise ist nichts weiter zu sagen, als dass sie uns in zweieinhalb
Tagen bis Calais geführt hatte, ohne Pannen und Zwischenfälle.
Die Wolken hingen tief und sahen regenschwer aus, als wir an Bord einer
Fähre gingen. Eigentlich fuhren wir ja, tief hinein in den Bauch eines Schiffes
der Linie Sealink. Zusammen mit unzähligen anderen Fahrzeugen verschlang
sie unseren Bus, bis sie anscheinend gesättigt war, denn sie legte ab. Die
hohen und langgezogenen Wellen versetzten den Schiffsrumpf in eine
gedehnte Schaukelbewegung, von welcher ich fand, dass ich sie im Inneren
des Schiffes nicht ertragen würde können. Deshalb verbrachte ich die Überfahrt
auf dem oberen Deck und hielt meine Nase in den Wind.
167
Georg saß bei einem ersten Glas englischen Bieres im Schutze des Mitteldecks.
Kalter, feuchter Wind prickelte auf meinen Wangen, bald schmeckten meine
Lippen salzig. Der Boden unter meinen Füssen schwankte in einem langsamen
Rhythmus, während die Linie des Horizontes sich ebenso langsam hob und
senkte, hob und senkte, immer und immer wieder, bis mein Atem, mein
Herzschlag, ja, sogar das Pulsieren meines Blutes in Einklang waren mit dem
Atem der See. Ich sank in einen seltsamen Zustand zwischen Wachen und
Traum. Bilder aus meinem Leben mischten sich mit Sequenzen vergangener
Träume. Erinnerungen stiegen auf und versanken wieder, mit dem Heben und
Senken der Wellen. Sogar das Krächzen der Möwen schien manchmal dem Hier
und dann wieder dem Anderswo zu entspringen. Je weiter sich das Schiff von
der Küste Frankreichs entfernte, desto unwirklicher wurden die Bilder meines
vergangenen Lebens, und desto deutlicher, plastischer schienen die
Traumbilder, bis mein Leben hinter mir zurückblieb wie der Schaum des
Kielwassers hinter dem Schiff. Als endlich die Kreidefelsen von Dover aus dem
Dunst auftauchten, weiß aus dem dunklen Blau der bewegten See, war Anna
nur mehr die ferne, leise verwehende Erinnerung eines längst vergangenen
Traumes. Das Hafenbecken von Dover empfing eine Andere, Vertraute;
Morgan, eine Priesterin von Avalon kehrte heim. Mit ihr kam Einer, der immer
schon das alte Wissen und die alten, heiligen Plätze gehütet hatte, der Merlin
von Brittannien. Ihn aus der Persönlichkeit seines vergangenen Lebens zu
lösen, stand Morgan noch als Aufgabe bevor, bis beide endlich heimkehren
konnten, nach Avalon, ihrer Heimat.
Der Hafen von Dover war von Abgas und Lärm erfüllt, Spielhallen mit
blinkenden Automaten suchten sich die Ankommenden gleich einzuverleiben.
Georg fuhr ohne Aufenthalt weiter, er wollte an diesem Tag noch so weit wie
möglich kommen. Das alles nahm Morgan kaum wahr. Wo sie ihren Fuß
hinsetzte, erstand der Zauber der Anderswelt; wie die glitzernde Schleimspur
einer Schnecke zog sich ein Streifen aus Feenglas durch das heutige England
und hob diesen für Augenblicke aus dem gewohnten Rahmen von Zeit und
Raum. Menschen, die sich in dieser Spur befanden, hielten verwundert inne.
Irgend etwas, so meinten sie, habe sie gestreift, eine Erinnerung, ein Duft, die
Laute eines vergessenen Liedes; etwas, was sie als Kind wohl gewusst, nun
aber, in der Geschäftigkeit des Erwachsenenlebens vergessen hatten. Gleich
darauf waren sie zurückgeglitten in ihre vertraute Welt, dieses kleine, nur kurz
währende Aufleuchten der Anderswelt aber trugen sie mit sich, wie ein
unbemerkt gebliebenes Samenkorn. Vielleicht würde es bei dem Einen oder
Anderen keimen und Wurzeln schlagen, wer weiß?
Georg blickte seine Frau immer wieder verwundert an. Sie war es, und doch
war sie es wieder nicht. Sie hatte sich sogar äußerlich verändert, seit sie an
Land gegangen waren, wenn er auch nicht sagen hätte können, was eigentlich
an ihr anders geworden war. Und die Veränderung schritt weiter fort. Bald
meinte er, sie von einem Leuchten umgeben zu sehen, das die vertrauten
Konturen ihrer Gestalt umfloss und sie irgendwie durchscheinend aussehen
ließ. Er führte diese Wahrnehmungen auf Müdigkeit zurück. Schließlich hatte er
die ganze Fahrt hindurch fast ausschließlich darauf bestanden, zu chauffieren,
er, der Mann. So war es nicht verwunderlich, dass er bald darauf drängte, eine
Rast einzulegen.
168
Morgan legte eine Decke unter einen weit ausladenden, sparrigen Dornstrauch
und lud den Mann ein, sich hinzulegen. Sie wollte eine kleine Mahlzeit bereiten
und ihn dann zum Essen wecken. Georg legte sich unter den Strauch.
Das Gras war weich, die Sonne, die endlich doch noch hervorgekommen war,
schien warm. Er gähnte. Er hatte gar nicht gewusst, wie müde er eigentlich
gewesen war. Als er die Augen schloss, spürte er, wie seine Frau seinen Kopf
sanft in ihren Schoss bettete und ihm zärtlich über die Augen strich. Er
versuchte sie zu öffnen, doch die Lider waren zu schwer, als dass er sie heben
hätte können. Sie sang ein einschläferndes Lied:
"Mutter, halte meine Hand,
es zieht ein kalter Hauch durchs Land!
Still, mein Kind,
es ist nur der Wind!
Er spielt in alten Bäumen,
und lässt so schwer dich träumen.
Still, mein Kind,
es ist nur der Wind!"
"Seltsam," konnte er gerade noch denken, "ich habe es noch nie von ihr
gehört! Wie schön! Es klingt wie ein Schlaflied, das meine Mutter immer für
mich gesungen hat......damals.......wann eigentlich.......ach gleichgültig......."
Er sank in einen tiefen Schlaf des Vergessens, Bilder aus seinem Leben
leuchteten kurz noch einmal wie Sternschnuppen vor seinem inneren Auge auf
und verloschen dann, Stimmen klangen an sein Ohr. Sie gehörten Menschen,
die ihm einst nahegestanden waren......wo und wann?........Er wusste es nicht
mehr. Es war unwichtig geworden. Nur der monotone Gesang blieb bei ihm und
begleitete seinen Schlaf, während alles Andere hinab sank zwischen die
Wurzeln des Weißdornbusches. Die hielten es fest, sogen es mit dem Wasser
des Bodens in sich auf und leiteten es in Äste, Zweige und Blätter. Bald war
der Strauch durchdrungen vom Wesen des Menschen, der einmal Georg
gewesen war, einmal, vor Zeiten, irgendwann.
Das Lied endete. Der Mann erwachte und schlug die Augen auf. Es waren
die Augen des Harfenspielers, und sie suchten nach Morgan, seiner Gefährtin in
vielen Leben und in manchen Gestalten. Er hatte seine wirkliche Gestalt
wiedererlangt und auch das ungeteilte Wissen um sein wahres Wesen: Er war
Merlin, und er war auf dem Weg nach Avalon, mit Morgan, ohne die kein Ort je
Heimat für ihn sein würde.
Die Distanz, die sie noch von Glastonbury trennte, legten sie wie im Traum
zurück. Sie schaukelten auf den grünen Wellen der Hügel auf und ab, als wären
sie noch auf einem Schiff. Die weißen Flecken der Schafe waren Schaumflocken
auf diesem grünen Meer. Nur die Hecken, die die Hügel in unzählige Parzellen
unterteilten, passten nicht ganz zu diesem Eindruck. Wo waren nur die
mächtigen Wälder geblieben, tief und undurchdringlich, Heimat der Feen, einst
den Druiden heilig?
169
Bald beruhigten sich die Wellen des Hügelmeeres, das Land wurde flacher.
Deutlich konnte man sehen, dass die Wiesen ohne Abflussgräben und
Drainagen sumpfig gewesen wären. Hier und da erhoben sich kleine Hügel aus
der Ebene, so, als hätte abfließendes Wasser kleine Häufchen aus Sand
zurückgelassen. Einer von ihnen sah ziemlich hoch aus. Er war schon aus der
Ferne sichtbar gewesen. Jetzt, wo sie näherkamen, erkannten sie einen
freistehenden Turm auf seiner höchsten Kuppe. Sie waren angekommen. Über
eine kleine Brücke gelangten sie in ein typisch südenglisches Provinzstädtchen.
Es unterschied sich auf den ersten Blick nicht von den meisten Anderen dieser
Region, auf den zweiten Blick allerdings schon. Das Städtchen besaß eine
besondere Atmosphäre, die sich auf unterschiedliche Weise sofort dem
Reisenden mitteilte: sie war das Zentrum des Gralsmythos, der hier sichtbar
und unsichtbar überall in der Luft lag. Die Hauptstrasse war gesäumt von einer
Unzahl von Esoterikshops, in welchen dem Interessierten alles angeboten
wurde, was er sich nur erträumen mochte:
Bücher, Ritualgegenstände, Kunsthandwerk, ethnologische
Musikinstrumente, Räucherwaren und sonst noch vielerlei Gerätschaften, die
dem Bewusstsein auf eine höhere Stufe verhelfen sollten.
"Alternativdevotionalien" bemerkte Merlin trocken, trotzdem genoss er sichtlich
die Atmosphäre, genauso wie Morgan, wenn auch ihr mehr daran gelegen war,
endlich zum Zentrum ihres Interesses, dem Tor - Hill zu gelangen. Eigentlich,
das wusste sie, war jetzt keine Eile mehr vonnöten. Sie waren am Ziel ihrer
Reise angelangt, hierher hatten alle Wege ihres Lebens geführt, keiner würde
für sie jemals mehr von hier wegführen. Sie hatten alle Zeit der Welt.
Am Fuße des Tor - Hill lag ein stimmungsvoller Garten. Er war angelegt
worden, um der "Blood Well" eine würdige Fassung zu geben. Trotz des lauen
Sommernachmittags waren erstaunlich wenige Menschen hier, deshalb konnten
Merlin und Morgan ungestört den schweren, schmiedeeisenverzierten Deckel
der Quelle hochheben und still in das durch Eisen rötlich gefärbte Wasser
hinunterblicken. Hier hatte Josef von Arimathia der Sage nach den Heiligen
Gral verborgen, und die Sage hatte Recht. Er war hier, tief im Inneren des
Gläsernen Berges, hier wie überall, wo man an seine Bedeutung glaubte.
Morgan konnte seine Anwesenheit spüren, mit allen Organen ihrer wachen
Seele. Anschließend badeten beide in einem tiefer liegenden, kleinen Becken,
"Pilgrims Bath" genannt. Sie taten das mit einer sicheren
Selbstverständlichkeit, dass niemand, wäre er zufällig vorbeigekommen,
Anstoß daran genommen hätte.
Es war nun an der Zeit, auf den Hügel zu steigen.
Die Apfelbäume, würden sie noch da sein, und der alte, spiralförmige Weg
auf den Gipfel, den sie so oft gegangen waren? Gab es noch den Platz unter
dem uralten Weißdorn, wo der Eingang in den Berg, für die Augen der
Uneingeweihten verborgen, lag? Ja, es gab ihn noch, mit traumwandlerischer
Sicherheit folgte Morgan einem fast unsichtbaren Pfad, der etwa in der halben
Höhe des Hügels an einem runden Felsen endete. Ein Schafzaun umgab einen
Platz von ungefähr hundert Metern im Quadrat.
170
Als sie ihn überklettert hatten, gingen Morgan und Merlin auf die Baumgruppe
zu, deren Mittelpunkt ein unendlich alter, knorriger Weißdorn bildete, zwischen
dessen Wurzeln eine kleine Öffnung sichtbar war. Öllichter brannten hier, von
andächtigen Menschen entzündet, welche der Heiligkeit des Ortes immer noch,
wie vor langer Zeit ihren Tribut zollten, auch in Form bunter Stoffstreifen, die
überall in den Zweigen des Weißdorns hingen. Merlin legte seinen Armreif in
der Form einer Schlange in die Höhlung unter dem Baum, Morgan hing ihre
Kette mit dem Anhänger aus Mondstein in die Zweige, um einen Teil ihrer
beider Selbst dem Ort zu schenken. Dann setzten sie sich am Fuße des runden
Felsens nieder und versanken für lange Zeit in der Stille, die diesen Ort umgab.
Ein plötzlicher Windstoss holte sie wieder aus ihrer Versenkung zurück. Es
war ihnen, als hätten die Geister des Platzes sie willkommen geheißen. Erst
jetzt schien es ihnen richtig, ihren Aufstieg fortzusetzen. In alter Zeit hatte ein
spiralförmig angelegter Weg auf den Gipfel geführt. Die Spirale ist seit jeher
ein Symbol des Lebens, denn Leben entfaltet sich spiralig, angefangen von der
Winzigkeit der DNS(Desoxyribonukleinsäure) bis hin zur Riesigkeit einer
Galaxie. Obwohl dieser alte Weg nicht mehr zu erkennen war, folgten sie
seinem Verlauf, ihrem inneren Blick erschien er wie ein leuchtendes Band aus
Sternen. Sie waren die Ersten auf dem Gipfel, und es war richtig so. Alles war
so, wie sie es in Erinnerung hatten, bis auf den Turm, der statt der Stehenden
Steine jetzt hier stand. Er war geblieben von einem Kloster, das einst den Sieg
der Kirche über das sogenannte Heidentum demonstrieren sollte. Aber der
Wind der Zeiten machte keinen Unterschied, er wehte über alle Denkmale
menschlicher Überheblichkeit hinweg und ließ sie zu dem werden, was sie
ursprünglich waren: Staub.
Merlin und Morgan ließen ihre Blicke über die Weite des Landes gleiten.
Die Sümpfe des Sommerlandes waren trockengelegt worden, trotzdem ragte
der Tor immer noch wie ein Insel aus dem umliegenden Tiefland, eine Insel im
Trubel der Zeitläufe, wie die Nabe eines Rades, die stillzustehen scheint,
während alles um sie in Bewegung ist. Ein Ort, an dem die unruhige Seele zur
Ruhe kommen kann, zwischen den wirbelnden Spiralen der verschiedenen
Leben.
Ein großer Holzstoss war bereits von jemandem aufgeschlichtet worden,
vielleicht von Diana, Vivian und deren Eltern.
Morgan begann den Kreis zu ziehen, der alle Realitäten miteinander
verband. Merlin sang dazu mit seiner weichen, tiefen Stimme ein altes Lied,
das ihm auf einmal wieder eingefallen war. Da kamen auch schon die ersten
Menschen den Hügel herauf. Es waren Myriam und Joschi. Wortlos küssten sie
ihre Eltern und stellten sich in den Kreis. Es wurde bereits dunkel. Andere,
ihnen Unbekannte folgten. Viele von ihnen waren auffallend klein und zierlich.
Dann kam Diana. Sie umarmte ihre Eltern und Grosseltern und stellte sich zu
ihnen, nicht ohne ihnen vorher noch Vivian und deren Eltern vorgestellt zu
haben. Es wurde nur das Nötigste gesprochen, nachher würde es noch genug
Gelegenheit dazu geben. Joschi entzündete das Feuer. Es war sehr groß, man
würde es weithin sehen können.
171
Morgan begann mit der Anrufung der vier Himmelsrichtungen, ihre volltönende
Stimme hallte über den Hügel wie Glockenklang. Merlin erwies ihr die Ehre des
Fünffachen Kusses. Dann rief sie die Göttin dieses Ortes an, ein letztes Mal in
diesem Leben, das wusste sie mit der glasklaren Sicht des inneren Auges. Ihre
erhobenen Arme bildeten die Form eines Kelches, die beschwörend
gesungenen Worte der überlieferten Anrufung bauten die Brücke, auf welcher
die Göttin jetzt den Abgrund zwischen den Sphären der Mächtigen und der
Menschen überquerte, er war unendlich groß und kleiner als ein Atomkern.
Wind erhob sich , er entstammte nicht einer labilen Luftschichtung, nein, er
wehte aus anderen Regionen, jenseits unserer Welt. Dann war Sie da, jeder im
Kreis konnte es spüren. Niemand konnte den Blick von der älteren Frau, Ihrer
Priesterin abwenden. Sie war so sehr zu Ihrem Gefäß geworden, dass sie von
innen erstrahlte wie eine eben erst geborene Sonne. Alle Spuren des Alters
waren verschwunden, ihre Schönheit war die Schönheit der Grossen Göttin. Sie
ließ nun Ihre Kraft in den Kelch einfließen, der ebenfalls zu leuchten begann
und alle Menschen im Kreis aus seiner Fülle nährte. Und noch etwas blieb zu
tun. Morgan ging auf Diana zu und holte sie zu sich in die Mitte des Kreises.
Dann sprach sie:
"Ich bin die Priesterin der Alten Religion. Ihre Kraft durfte noch einmal
aufleben, um einen neuen Spross auf ihrem alten Holz austreiben zu lassen. Er
ist jetzt kräftig genug, um eigene Wurzeln zu schlagen. Ich und mein Gefährte,
wir haben unsere Aufgabe erfüllt und ziehen uns zurück, um auszuruhen, bis
wir vielleicht einmal wieder gebraucht werden. Wir werden immer da sein,
wenn ihr nach uns ruft. Durch Träume und Ahnungen werden wir zu euch
sprechen, hinweg über die trennenden Abgründe der Zeit, und auch die ist nur
ein Traum."
Morgan segnete Diana mit dem Fünfzackigen Stern, reichte ihr den Kelch
und ließ sie noch einmal daraus trinken. In diesem Augenblick wurde für aller
Augen der Berg leuchtend und durchscheinend wie Glas. Merlin und Morgan
waren aus dem Kreis verschwunden, wie Schatten waren sie beide noch kurz
im Inneren des Glasberges zu sehen, dann verschwand die Vision so schnell,
wie sie gekommen war. Im Rauschen des Windes vermeinten manche noch die
verwehende Stimme Morgans zu hören......."die Zeit.......nur ein Traum......ein
Traum.........ein Traum!"
Ich konnte mich diesmal lange nicht orientieren, als ich erwachte. Wo war
ich nur, und was noch wichtiger war, wo war ich nur gewesen? Ein feiner Duft
nach reifen Äpfeln hing in der Luft. Meine Augen sahen Wände, ziemlich nahe
Wände. Sie gehörten zu einer sehr kleinen Wohnung, und sie lag in der Stadt,
das hörte man an den Verkehrsgeräuschen, die sogar durch das geschlossene
Fenster zu mir hereindrangen. Wo war denn nur Georg? Ich machte Licht und
sah mich um.
Ich befand mich alleine in meiner kleinen Wohnung in einem Wiener
Vorortebezirk, und alles war nur ein unglaublich lebendiger, farbiger Traum
gewesen. Da fiel mein Blick auf eine Schale mit rot - gelben Äpfeln, glänzend in
ihrer glatten Schale.
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Ach ja, gestern, vor hunderten von Jahren hatte ich sie an einem Obststand
gekauft und war dann aus Enttäuschung darüber, dass sie keinerlei Geruch
hatten, in Tränen ausgebrochen! Doch nun,.....ich hielt einen Apfel an meine
Nase,........oh Göttin, er duftete, wie einer von meiner Traumwiese! Aber ich
fühlte mich unfähig, das Rätsel meines Traumlebens (oder meines
Lebenstraumes?) jetzt, im Augenblick zu lösen. Entschlossen stand ich auf, ich
wusste, ich hatte noch viel zu tun. Ein Leben wartete auf mich.
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