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Mutterseelenallein
Im Prozess um die verhungerte Jessica wird demnächst das Urteil gesprochen. Die Richter müssen dabei
auch entscheiden: Wie schwer wiegt die Schuld einer Mutter, die als Kind selbst gequält wurde?
Von Sabine Rückert
(c) DIE ZEIT 06.10.2005 Nr.41
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Vor den verglasten Fenstern, durch die Licht
Jenfeld an den Folgen ihrer Isolation und an
hereinfallen soll, ist Holz aufgestapelt, sodass in der
Unterernährung.
Kammer auch am Tage tiefe Dämmerung herrscht
Vor einer Schwurgerichtskammer des Landgerichts
und dem Kind jeder Zeitbegriff abhanden kommt. Die
Hamburg sind nun Jessicas Eltern angeklagt wegen
Temperatur ist immer gleich. Irgendwo gibt es eine
60 gemeinschaftlichen Mordes durch Unterlassen. Der
Tür, die aber ist verriegelt. Während das Kind schläft,
Staatsanwalt wirft ihnen vor,
muss manchmal jemand
ihre Tochter in der
hereinkommen, denn Wasser
gemeinsamen Wohnung
und Brot stehen oft neben dem
»gequält« und durch
Lager. Aber niemand wäscht das
65 »böswillige
Kind, niemand richtet ein Wort
Pflichtverletzung« in ihrer
an es, und niemand berührt es.
»körperlichen und
Das Kind kann nicht laufen und
seelischen Entwicklung«
nicht sprechen, nie sieht es ein
schwer geschädigt zu
menschliches Wesen. Die
70 haben. Als Jessica
spärlichen Erinnerungen an sein
schließlich nicht mehr
Verlies hat man dem Kind später
vorzeigbar war, hätten die
entlocken können, weil es die
Angeklagten sie zur
Einzelhaft überlebt hat. Später,
Verdeckung der eigenen
Als Jessica mit sieben Jahren starb, wog sie nur noch 8,7
als seine Füße das Laufen
Kilo. Jahrelang hatten sie ihre Eltern in einem Zimmer ihrer 75 Schande »grausam
gelernt haben und die Augen
Hamburger Wohnung eingesperrt. Die Fenster waren
getötet«. Der Saal 237 ist
sich vor dem Tageslicht nicht
verdunkelt, das Schlüsselloch war mit Klebeband
voll bis auf den letzten Platz.
abgedichtetIllustration: Rinah Lang für DIE ZEIT
mehr schließen müssen. Als es
Der Fall wühlt die Leute auf.
einfache Sätze sagen kann und
Gleich zu Beginn muss der Vorsitzende Richter
nicht mehr nur Laute ausstößt oder Wortgehäcksel.
80 Gerhard Schaberg einen Randalierer hinausweisen,
Als man das Kind bei dem Namen ruft, der auf einem
der seiner Wut Luft macht.
Brief in seiner Jacke gestanden hat: Kaspar Hauser.
Jessicas Vater, der arbeitslose Maler Burkhard M.,
Jessica kann nichts mehr erzählen, ihre Geschichte
wird stets zuerst hereingeführt: ein Vorstadtindianer
musste rekonstruiert werden: Ihre Umgebung – ein
mit schlohweißem Pferdeschwanz. Obwohl erst 50,
kahler, düsterer Raum. Der Boden – ein löchriger
85 kommt er wie ein Greis daher. Er setzt sich und starrt
Teppich, durch den stellenweise der blanke Estrich
zur voll besetzten Pressebank hinüber, ohne Neugier,
kommt. Das Stockbett, auf dem sie zum Schluss nur
ohne Scham, ohne Aggression. Es ist der
noch liegt, trägt eine verrottete Matratze und eine
abgestorbene, irgendwo am Horizont hängen
schmutzige Decke ohne Überzug und fast ohne
gebliebene Blick eines Alkoholikers, der Blick eines
Federn. Die Fensterflügel des Kinderzimmers sind mit
90 Immermüden, der durch nichts mehr aus der
dunkler Folie abgeklebt, sodass im Raum auch
Lethargie zu reißen ist – der Blick eines Menschen,
tagsüber ein Dämmerzustand herrscht, der jeden
neben dem ein Kind verhungert.
Zeitbegriff aufhebt. Der Drehgriff der Heizung ist
fixiert, die Temperatur bleibt immer gleich. Die
Dann huscht gesenkten Hauptes Marlies S. herein,
Zimmertür ist von außen verschlossen. Damit auch
Jessicas 36 Jahre alte Mutter. Sie rutscht hastig auf
vom Flur aus kein Lichtstrahl ins Zimmer falle, ist das
95 ihren Platz, wendet sich zur Seite und verkriecht sich
Schlüsselloch zugeklebt. Manchmal – immer seltener
förmlich im hölzernen Schnitzwerk des alten
– muss eine Frau hereingekommen sein und das
Gerichtssaals. Mit den Händen schützt sie sich gegen
Kind, das sich nur durch Laute verständlich macht,
die Blicke der Medienvertreter. So verharrt sie alle
gefüttert haben. Laufen kann Jessica da längst nicht
Tage. Bei keinem Zeugen, keinem Sachverständigen
mehr, ausgebesserte Stellen an ihrer Jeanshose
100 hebt sie den Kopf, nur manchmal, wenn es schlimm
lassen vermuten, dass sie sich monate-, vielleicht
kommt, weint sie still in ihre Ecke. Ihr Gesicht ist von
jahrelang nur auf dem Gesäß rutschend fortbewegt
wächsernem Grau, fast wie das einer Toten.
hat. Niemand wird Jessica das Sprechen lehren,
Burkhard M. macht von seinem Recht Gebrauch, vor
niemand wird ihr – wie das zwei fränkischen Lehrern
Gericht zu schweigen. Dem Haftrichter hat er gesagt,
vor bald 200 Jahren beim Findelkind Kaspar Hauser
105 er habe die Tochter kaum wahrgenommen, Jessica
gelang – Auskünfte über das Verlies entlocken, in
sei die Sache von »Frau S.« gewesen. Jetzt sitzt er
dem sie jahrelang verkümmerte. Jessica hat ihre
da und schaut.
Dunkelhaft nicht überlebt. Sie starb siebenjährig am 1.
März 2005 in der elterlichen Wohnung in HamburgFrau S. dagegen will aussagen. Das tut sie so leise,
dass trotz der Mikrofonanlage selbst die Richter nichts
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verstehen und die Leute im Publikum zu schimpfen
anfangen. Der Vorsitzende versucht die Angeklagte
aufzulockern: »Wie haben Sie denn ihren eigenen
Vater erlebt?«, beginnt er freundlich. »Gar nicht
erlebt«, flüstert Marlies S. »Wie war Ihr Verhältnis zu
115 ihrer Mutter?« – »Schlecht.« – »Können Sie das
beschreiben?« – »Sie war immer betrunken.« –
»Wann haben Sie sie so erlebt?« – »Ich hab sie nur
so gesehen, von morgens bis abends. Die
Mitschüler…« Der Satz wird zum Wispern. »Bitte,
120 Frau S.«, sagt Richter Schaberg mit aller
Liebenswürdigkeit, die er aufbringt, »reden Sie doch
ein bisschen lauter!« – »Die Mitschüler haben das
auch irgendwann mitgekriegt«, kann vernehmen, wer
die Ohren spitzt. »Sind Sie gehänselt worden?« –
125 »Sie wollten mich verprügeln, weil meine Mutter eine
Hure ist.« – »War da was dran?«, forscht der
Vorsitzende. »Ja«, haucht Marlies S. – »War sie eine
Art Hobbyprostituierte?« – »Ja.« – »Hat das schon zur
Schulzeit angefangen?« – »Ja.«
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Kein Teddy, kein Kasperle, kein Buntstift
Euphemistisch ausgedrückt: Marlies S. hatte keine
schöne Kindheit. Das wird allen klar im Saal. Sie ist
eine Überlebende, eine Schwerbeschädigte, die sich
irgendwie allein durchgeschlagen hat. Ihre zwei
135 älteren Brüder starben unter ungeklärten Umständen
im Säuglingsalter, der Familiensage nach soll die
Mutter nachgeholfen haben. Die Mutter selbst wird als
haltlos geschildert, als eine, die ihre Nächte in
Spelunken vertrinkt, Zechbrüder aufgabelt und
140 abschleppt. Die kleine Marlies bleibt sich selbst
überlassen, als Zeichen der Zuwendung wird sie mit
dem Kochlöffel verhauen, bis der in Stücke bricht.
Was mag in einem Kind vorgehen, dem so etwas
widerfährt? Das immer verlassen ist? Dem niemand
145 den heißen Kopf streichelt, wenn es krank ist? Das
niemand tröstet, wenn es Kummer hat? Dem niemand
antwortet, wenn es nachts ruft? Und was für ein
Erwachsener wird aus so einem Kind?
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Als Marlies etwa sechs ist, tut sich die Mutter in einem
inzestuösen Verhältnis mit ihrem eigenen Onkel
zusammen. Die drei hausen jetzt in einer
Einzimmerwohnung, wo alle Verrichtungen des
Geschlechtslebens ohne Rücksicht auf die Kleine
stattfinden. Es wird gequalmt, Schnaps und Kaffee
getrunken, feste Mahlzeiten gibt es nicht. »Kinder sind
wie Unkraut, die finden selber was zu essen«,
philosophiert der Onkel, und die Mutter hält sich dran.
Eine Verwandte der Marlies S., die damals einige
Tage in diesem Ambiente verbringen musste, sagt im
Prozess unter Tränen aus. Das Kind habe die ganze
Zeit im Bett liegen müssen, den Kopf unter der Decke:
»Wenn sie nur mal rausguckte, ist der Onkel
aufgesprungen, hat sie aus dem Bett gezogen und mit
dem Kopf auf den Boden geknallt.« Die Stimme der
Zeugin bricht: »Ihre Mutter hat nichts dagegen
unternommen und ich auch nicht.« Die Frau zittert vor
Reue.
Wie ihr Verhältnis zur Mutter sei, will der Vorsitzende
von der Angeklagten wissen. »Es gibt kein
170 Verhältnis«, flüstert sie, »da ist nur Hass, Hass,
Hass!« – »Gibt es etwas besonders Schönes in Ihrer
Erinnerung?« Kopfschütteln. »Etwas besonders
Schlimmes?« – »Ja, als der Onkel mich angefasst
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hat.«– »Haben Sie Ihre Mutter um Hilfe gebeten?« –
Kopfschütteln: »Sie hat dabei zugesehen.« Die
Übergriffe hätten erst aufgehört, als es aus gewesen
sei zwischen der Mutter und ihrem Onkel.
Als das Mädchen stirbt, bleibt der Vater vor dem
Fernseher sitzen
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Das Gericht hat auch die Mutter der Marlies S. hören
wollen, die aber hat von ihrem
Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.
Weniger Zurückhaltung zeigte sie gegenüber den
Medien. Schon kurz nach dem Tod ihrer Enkelin
185 Jessica überschüttete sie die Tochter im Fernsehen
mit Hasstiraden, und zum Prozessbeginn forderte
ausgerechnet sie in der Bild-Zeitung, man möge ihre
Tochter mindestens lebenslang einsperren und am
besten noch zwangssterilisieren. Angesichts dieses
190 Vernichtungswillens kann man sich vorstellen, was
dem Kind einst widerfuhr.
Erst als die Mutter für einige Monate ins Gefängnis
musste, gelang Marlies die Flucht. Sie kam bei einer
Tante unter. Über die Vergangenheit schwieg sie sich
195 aus, ein in sich gekehrtes, verschlossenes Kind. Den
Kontakt zur Mutter brach die 13-Jährige für immer ab.
Die Fotos, die die Hamburger Polizei vom
Appartement gemacht hat, in dem Jessica starb,
zeigen eine ganz normale Wohnung der Unterschicht,
200 in einem ganz normalen Hochhaus, das Hartz-IVFamilien beherbergt, eine über der anderen. In der
Küche sieht es unaufgeräumt aus, aber keineswegs
chaotisch. Die geöffneten Hängeschränke geben den
Blick frei auf Reis und Nudeln, Gemüsebüchsen und
205 die – diskret verstellten – Schnapsflaschen des
Burkhard M. Im Wohnzimmer die Couch, gegenüber
der Fernseher, ein Computer. Auf dem Teppich putzt
sich eine fette Katze neben einem Luftballon mit dem
Aufdruck »Ein Herz für Kinder«. Alles wirkt
210 gewöhnlich, keine Andeutung von Tod und Qual.
Dann, am Ende des Ganges – die Tür mit dem
verklebten Schlüsselloch. Dahinter der kindliche
Kerker, ein Loch für wilde Tiere. Kein Teddy, kein
Kasperle, kein Buntstift. Schimmel an den Wänden,
215 der Teppichboden in Fetzen, Müll auf dem leeren
Schrank. Den Putz hat die kleine Gefangene in ihrer
Not ringsum von den Wänden gekratzt. In Märchen
kommen solche Räume vor, die am Ende eines
Ganges liegen und für die es keinen Schlüssel gibt,
220 deren Betreten bei Todesstrafe verboten ist, weil sie
böse Geheimnisse bergen.
Die Jenfelder Wohnung spiegelt das Leben der
Marlies S. – dem Anschein nach verläuft es normal.
Ohne Sitzenbleiben schafft sie den
225 Hauptschulabschluss, sie heiratet, trinkt keinen
Alkohol, lebt in äußerlich geordneten Verhältnissen,
erst mit ihrem Ehemann, dann mit Burkhard M. Sie
funktioniert, soziale Entgleisungen sind nicht bekannt.
Erst als sie Mutter wird, tut sich die Tür zu ihrer
230 dunklen Vergangenheit auf.
Noch in der Obhut der Tante, gerade volljährig,
bekommt sie den ersten Sohn, André. Sie heiratet
ihren Freund Ralph und zieht aus. Auch die Tante
weint bei der Zeugenaussage. Dem kleinen André
235 erging es schlecht bei seiner Mutter: »Aber wenn man
einen Menschen besucht, den man gern hat,
verdrängt man vieles.« Dauernd lag der Säugling
allein im verdunkelten Zimmer, nie habe Marlies ihn
geholt. Als André sieben Monate alt ist, hütet die
240 Tante ihn übers Wochenende. Am Montag will Marlies
den Jungen nicht mehr zurück. Er wird zur Adoption
freigegeben. Heute besucht er das Gymnasium.
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Auch Ralph S., der Geschiedene der Marlies S., tritt
vor Gericht auf. Er erzählt von Schnullern, die am
Mund festgeklebt wurden, und von Windeln, die
niemand wechselte, weil Marlies schon vom Geruch
übel wurde. Trotzdem zeugt er nach Andrés Adoption
noch zwei weitere Kinder mit ihr. Aber auch viele
Kinder machen Marlies S. nicht zur Mutter: Als der
zweitgeborene Philipp schwer erkrankt und
wochenlang in der Klinik liegt, lässt sie sich nicht
blicken. Und die Betreuung der kleinen Jacqueline
lastet ebenfalls allein auf Ralph. Durch die Wohnung
des Ehepaars läuft bald ein tiefer Graben: Auf der
einen Seite zieht der Vater zwei Kinder auf, auf der
anderen Seite sitzt die Mutter, Süßigkeiten vertilgend,
vor dem Fernseher. Marlies habe die Kleinen
verabscheut, sagt S.: »Sie betrat ein Zimmer erst,
wenn sie raus waren.« Die Kinder hätten ihre Mutter
nicht einmal berühren dürfen. Sei eines auf sie
zugekrabbelt, habe Marlies hysterisch geschrien:
»Nimm das Kind weg! Nimm das Kind weg!« Als sehe
sie nicht ihr Baby, sondern eine Ratte. Irgendwann
habe er von Marlies genug gehabt, sagt der Zeuge, er
habe ihr die Sachen vor die Tür gestellt und den
Hausschlüssel verlangt.
Noch an ihrem Todestag wird Jessica obduziert, die
Eltern hatten die Feuerwehr gerufen. Auf den Fotos,
die im Gericht gezeigt werden, ist die Leiche eines
Kleinkindes zu sehen, mit schneeweißer Haut, die
sich pergamenten über ein Skelett spannt. Ein zartes,
vom Todeskampf entstelltes Gesichtchen. Was muss
Jessica ausgestanden haben! Das Körpergewicht der
Siebenjährigen betrug 8,7 Kilo, zuzüglich 870 Gramm
Kotstein, der als Folge von Wassermangel den Darm
des Kindes vollständig verstopft hatte. Man müsse
schon bis zu den Sektionsprotokollen des Warschauer
Ghettos zurückgehen, um solch einen Befund in
Europa aufzutreiben, sagt der Gerichtsmediziner. Im
Übrigen hat er sich an die Erkenntnisse aus den
Hungerzonen Afrikas gehalten. Doch Hunger war nur
die indirekte Todesursache. Am Abend vor ihrem
Ende hat die Mutter Jessica mit Hühnerfrikassee
gefüttert, der Speisebrei konnte den versteinerten
Dickdarm nicht passieren, und Jessica erbrach.
Geschwächt von jahrelanger Mangelernährung,
erstickte das Kind am eigenen Erbrochenen. Zuvor
muss es aber noch um Hilfe gerufen haben, denn
Burkhard M. hat der Polizei zu Protokoll gegeben, er
habe es aus dem Verlies noch »meckern« und
»quaken« gehört, habe es aber, vor dem Fernseher
sitzend, nicht für nötig gehalten, nach der
Eingesperrten zu sehen.
Geprügelt wurde Jessica nicht, die Leiche trug keine
Zeichen von Gewalt. Es war die Apathie des Vaters
und die unterschwellige Gehässigkeit der Mutter, die
ihr das Leben nahmen.
Anfangs – als sie mit M. und anderen Personen noch
in einer Wohngemeinschaft lebte – scheint Marlies S.
300 es mit ihrem vierten Kind immerhin versucht zu
haben: Frühe Familienfotos zeigen ein Baby, das
zumindest normal aussieht, später stehen und gehen
kann. Doch im Jahr 2000, nach dem Umzug der
Kleinfamilie in jene Jenfelder Anonymität, bricht die
305 Fotoserie ab. Da ist Jessica knapp drei. Danach hat
so gut wie kein Zeuge das Mädchen mehr gesehen.
Ihr Kaspar-Hauser-Schicksal hat begonnen.
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Von Kaiser Friedrich II., dem Staufer aus dem
13.Jahrhundert, weiß man, dass er wissenschaftliche
Versuche mit kleinen Kindern anordnete. Er ließ sie in
totaler Isolation aufwachsen, ohne die geringste
Zuwendung, ohne Zärtlichkeit, ohne ein Wort – auf
diese Weise hoffte er zu erfahren, welche Sprache
dem Menschen angeboren sei: Griechisch, Lateinisch
oder Hebräisch. Doch die Kinder sprachen nicht, sie
starben alle, obwohl sie sauber gehalten und gefüttert
wurden. »Sie können nicht leben ohne
Händeklatschen und Winken«, schreibt ein
zeitgenössischer Chronist, »ohne fröhliches Lächeln
und ohne Koseworte.« Ein Wunder, dass Jessica so
lange durchgehalten hat. »Sie war nicht einfach nur
zu dünn, sondern auch geistig und psychisch schwer
beschädigt«, sagt der Rechtsmediziner, »sie litt am
Kaspar-Hauser-Syndrom.« Jessica zeigte massive
Verhaltensauffälligkeiten: Fast alle Haare hatte sie
sich ausgerupft und immer die Kleider vom Leib
gerissen. Deshalb fing ihre Mutter irgendwann an,
Unterwäsche und Hosen mit Kabelbinder am Körper
der Tochter zu fixieren. Als man Jessicas Leiche fand,
war sie mit dem Plastikklebeband förmlich verschnürt.
Sämtliche Spielsachen habe das Kind zerstört, klagt
Frau S. dem Gericht, alles habe sie ihrer Tochter
wegnehmen müssen. Und zuletzt habe sie auch die
Nahrung verweigert. »Sie wollte nicht mehr trinken«,
beteuert die Angeklagte leise, »nicht mal aus der
Nuckelflasche.« Sind das Schutzbehauptungen einer
Kindsmörderin? Oder konnte Jessica nicht mehr, so
mutterseelenallein? Vorstellbar wäre es, dass sie –
wie die Kinder des Staufers – das Leben einstellte.
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Jessicas langes Sterben vollzog sich unbemerkt von
der Zivilisation. Die Hamburger Behörden hatten sie
aus dem Blick verloren, ihre Eltern lebten
eingesponnen und weitab jeder sozialen Kontrolle.
Kein Fremder hat die Wohnung betreten. Und die
345 wenigen Personen, mit denen die Eltern umgingen,
waren von ihrem eigenen Untergang vollständig in
Anspruch genommen. Von Alkoholsucht und
Arbeitslosigkeit, von Depression und
Partnerproblemen. Wie hätten sie solch sinistrem
350 Verbrechen auf die Schliche kommen sollen?
Gundula, der einzigen Freundin der Angeklagten, ist
aufgefallen, dass diese noch Windeln kaufte für ihre
siebenjährige Tochter. Aber Marlies sei ihr eine
Erklärung schuldig geblieben. »Ich hatte den
355 Eindruck, dass sie sich dauernd Sorgen gemacht hat
um Jessica«, sagt Gundula, eine verhärmte
Erscheinung mit schriller Stimme, auch deshalb habe
sie den stillen Verdacht gehegt, das Kind sei
behindert. Marlies dagegen habe im Viertel verbreitet,
360 ihre Tochter lebe meistens bei einer Pflegemutter.
Sonst weiß die Zeugin nicht viel von der Angeklagten:
Ȇber die Vergangenheit wurde nicht gesprochen.
Marlies und ich sind Menschen, die in der Gegenwart
leben.«
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Im Gerichtssaal 237 wird versucht, das Böse
plausibel zu machen
Auch die Nachforschungen von Thorsten, einer
Wurstbudenbekanntschaft der Marlies S., blieben
erfolglos. Mit ihm ging die Angeklagte im Frühling
2004 – als die Zweisamkeit mit Burkhard M. bröckelte
– eine kurze Liebschaft ein. Zeitweise habe Marlies
sogar bei ihm gewohnt, sagt der Zeuge, doch auf die
Frage, wer sich inzwischen um ihr Kind kümmere, sei
die sonst so schüchterne, stille Frau »regelrecht
aggressiv« geworden. Als Thorsten – die
gemeinsame Zukunft im Blick – auf einem Treffen mit
der unsichtbaren Tochter besteht, macht Marlies
sofort Schluss. Es mag an der Aussage der
Angeklagten, sie habe sich doch »immer nur um die
Lütte gekümmert«, etwas Wahres sein. All ihren
Verstand verwandte sie darauf, durch Ausreden und
Winkelzüge die Lage zu kaschieren. Das Mädchen
war der Stachel im Fleisch der Mutter, ihr Haut und
Knochen gewordenes Scheitern. Wie ein Geschwür
schleppte Marlies S. den Gedanken an ihr
verkümmertes Kind mit sich herum. Fragen
ausweichend, um Lügen verlegen, an den
teilnahmslosen M. gekettet. Was auch immer Jessicas
Eltern sonst verbunden haben mag –
zusammengeschweißt waren sie jedenfalls durch das
gemeinsame Wissen um das Grauen im
Kinderzimmer.
Wenn Unmenschlichkeiten sich nicht fassen lassen,
ruhen alle Hoffnungen auf der forensischen
Psychiatrie – auch im Schwurgerichtssaal 237.
Seelensachverständige sollen das Unerklärliche
klären und das Böse plausibel machen. In dieser
Hinsicht hat es der Essener Kriminalpsychiater
Norbert Leygraf mit Burkhard M. vergleichsweise
leicht: Er konnte bei ihm eine durch frühkindlichen
Hirnschaden und jahrelangen Alkoholmissbrauch
bedingte »krankhaft seelische Störung«
diagnostizieren, die als »schrecklicher Gleichmut«
daherkommt. Jessicas Vater sei nur eingeschränkt
schuldfähig. Er sei, sagt Leygraf, zu echten Gefühlen
nicht imstande und flüchte sich in Phrasen und
Redensarten. Das illustriert auch der Notruf des
Angeklagten am frühen Morgen des 1. März 2005.
Dabei teilte Burkhard M. den Behörden mit, dass
»unser Kind heute Nacht entschlafen ist«.
Warum rief man die Feuerwehr? Manfred Getzmann,
Verteidiger der Marlies S., sitzt in seinem Büro auf
Sankt Pauli und zerbricht sich den Kopf. Er hat seine
Mandantin gefragt, warum sie Jessicas kleine Leiche
415 nicht einfach in einen Müllsack gepackt und entsorgt
habe. Wer hätte sie schon vermisst? Da habe Frau S.
das Gesicht in den Händen verborgen und
geschluchzt: »So was kann ich doch mit meinem Kind
nicht machen!« Unbegreiflich, findet Getzmann, »aber
420 ich bin sicher, sie trauert um Jessica«. Auch deshalb
hält er Marlies S. für »eine schwer gestörte
Persönlichkeit«, die ihr Kindheitstrauma wie unter
Zwang mit den eigenen Kindern immer wieder habe
neu durchleben müssen und deshalb für Jessicas Tod
425 nicht voll verantwortlich zu machen sei. Das ist
Getzmanns Überzeugung, und für die kämpft er vor
Gericht. Er will seiner Mandantin die lebenslange
Freiheitsstrafe ersparen, die ihr unausweichlich droht,
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wenn das Gericht nicht finden sollte, dass ihre
Schuldfähigkeit erheblich vermindert war.
Die Angeklagte sei eine normale, intelligente Frau,
sagt der Psychiater
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Muss krank sein, wer grausam handelt? Oder ist der
Gedanke, Marlies S. sei verrückt, bloß die Hoffnung
der Menschen im Saal 237 – um abzuschütteln, was
ihre Vernunft übersteigt? Hätte Jessicas Mutter
anders handeln können? Der Berliner Psychiater
Hans-Ludwig Kröber hat daran keinen Zweifel. Er hat
Marlies S. im Auftrag des Gerichts untersucht und
keine klassische psychische Erkrankung festgestellt.
An das große Trauma glaubt er auch nicht. »Ich wäre
heilfroh gewesen, wenn ein seltener hirnorganischer
Befund vorgelegen hätte oder irgendein grässliches
Erlebnis«, sagt Kröber zu den Richtern, »dann hätten
wir uns alle besser gefühlt – ich auch.« Aber die
Jugend der Marlies S. unterscheide sich in nichts von
der Tausender anderer ungeliebter Kinder. Wohl sei
die Angeklagte mit enormen Defiziten behaftet, aber
doch letztlich eine normale, intelligente Frau, deren
infantile Bedürfnisse sich mit den Anforderungen
eines kleinen Kindes nicht vertrugen und die deshalb
angefangen habe, es zu piesacken und
wegzusperren. Ȇber Wochen und Monate ist Zeit
gewesen, das Kind zu retten«, sagt Kröber, »sie hat
es nicht getan.« Jessicas tödliches Siechtum sei die
Entscheidung ihrer Mutter gewesen.
Als der israelische Schriftsteller Amos Oz im August
den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt entgegennahm,
hielt er eine Rede über das Böse. »Ich glaube, dass
460 jeder Mensch in seinem Herzen fähig ist, das Gute
vom Bösen zu unterscheiden«, sagte er, »auch wenn
er vorgibt, es nicht zu können. Das Böse hat einen
untrüglichen Geruch. Jedes Kind weiß, was Schmerz
ist. Darum wissen wir jedes Mal, was wir tun, wenn wir
465 einem anderen mutwillig Schmerz zufügen: Wir tun
Böses.« Selbst Kaspar Hauser, den niemand zum
Menschen erzogen hatte, soll das gewusst haben.
Augenzeugen berichten, dass er außer sich geriet und
in Tränen ausbrach, wenn ein Kind geschlagen
470 wurde. Wollte jemand ein Insekt töten, habe er das
Tier geschützt und geschrien: Es will auch leben.
Und Marlies S.? Hat sie sich für das Böse
entschieden? Und ist bloß ein Beispiel dafür, dass
menschliche Not für das Böse anfällig macht? Dass
475 Böses auch ein Defizit am Guten ist und jeder nur
geben kann, was er empfangen hat? Ihr Verteidiger
spricht von der »transgenerationalen Weitergabe von
Traumatisierungen«. Man kann es auch Erbsünde
nennen. Gemeint sind jene Gesetzmäßigkeiten der
480 Familiengewalt, die von den Eltern auf die Kinder und
Kindeskinder übergehen und die trotzdem den
Einzelnen nicht aus seiner Schuld entlassen. Es fragt
sich nur, ob solch ererbte Schuld nicht doch geringer
wiegt.
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Folgt das Landgericht Hamburg aber dem
Sachverständigen Kröber, so muss es gegen Marlies
S. die lebenslange Freiheitsstrafe verhängen. Was sie
selbst erlitten hat und wie sie wurde, was sie ist,
bliebe ohne Wirkung auf das Strafmaß. Die Gestraften
490 werden bestraft. Das ist das Dilemma der Strafjustiz.
Und die Tragödie der Marlies S.
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