Leseprobe

Werbung
Im Menschenleben gibt es ein Alter, in dem man viel empfindet und nur wenig
davon wirklich versteht. Ein Alter der kleinen und großen Geheimnisse.
Es ist schon eine Weile her. Wir lebten am Rande einer Großstadt. Unser Haus stand
an einem ruhigen Ort und war bescheiden. Davor breitete sich ein immer sorgsam
gemähter englischer Rasen, an dessen Ende uns eine mannshohe Hecke von der
Straße trennte. Unser Grundstück lag zwischen einem großen Stadtpark und einem
noch größerem Geheimnis. Das unerforschte Geheimnis lag hinter einer
unüberwindbaren grauen Natursteinmauer, die der Zahn der Zeit schon ziemlich
angenagt hatte. Gleich hinter der Mauer standen dicht nebeneinander Bäume und
wildes Gebüsch, durch die das Haus im Hintergrund fast völlig abgeschirmt war. Von
der Straße aus konnte man nur die dunkle, hölzerne Eingangstür mit einer von
Grünspan überzogenen Kupferklinke und zwei Fenster sehen, die, solange ich mich
erinnern kann, nie geöffnet waren. Die Fläche um das Haus herum sah nicht
gepflegter aus als der Amazonas-Urwald in meinem Erdkunde-Schulbuch. Von uns
Kindern aus der Umgebung traute sich damals nicht einmal der Mutigste nur einen
Schritt hinter das schwere eiserne Jugendstil Gartentor, das diesen mysteriösen Ort
unserer Kindheit beschützte. Von unserem Dachboden aus konnte man einen Teil
des Geisterhauses und des hinteren Gartens sehen, wo unter verwilderten
Rosensträuchern ein kleiner, früher einmal weißer Springbrunnen mit einem
verwitterten Marmorengelchen stand. Das Wasser sprang von oben in das
muschelförmige mit grünen Algen bedeckte Becken, so leise, dass man fast
annehmen konnte, es hätte Angst, die hier laut herrschende Stille zu stören. Es war
das einzige, was hier zu leben schien.
Einmal am Tag kam er heraus, setzte sich auf die verwitterte Sandsteinbank unter
den Rosen und hörte der mannigfaltigen Melodie des Wassers, der Vögel und
Bienen zu. Ein alter Mann mit silbernem, nein, weißem Haar und gleichfarbigem
Vollbart. Sein Gesicht war ein mosaikartiges Kunstwerk, zusammengesetzt aus
Falten. Zu den eleganten, schneeweißen, altmodisch geschnittenen Anzügen trug er
bunte Halstücher. Über die schwarzen Schuhe weiße Gamaschen. Er saß da, in
seinen Gedankenlauf versunken, unbeweglich und Ruhe ausstrahlend wie eine
Sphinx vor ihrer Pyramide, nur auf irgendeine Art lebendiger. Mein Vater hatte mir
mal erzählt, dass der alte Mann sein Leben lang durch die Welt zog, auf der Suche
nach etwas, wovon er selbst nicht wusste, was es war. Er jagte Schatten nach, die
keine Werfer hatten. Dann kam er schließlich wieder zurück in das Haus seiner
verstorbenen Eltern, das die ganze Zeit leer gestanden hatte und um das sich
niemand kümmerte, um hier endlich seine Ruhe zu finden. Damals war es für mich
unvorstellbar, von zu Hause wegzugehen und ich war davon überzeugt, so etwas nie
tun zu können. Für mich gab es nichts Schöneres und Aufregenderes, als da, wo ich
aufwuchs, zu bleiben. Manchmal können die Erwartungen so eng sein wie die
Träume eines Taschendiebes.
Es war am zweiten Tag der Sommerferien. Ich saß in unserem Garten auf dem
grünen Grasteppich und ordnete meine Proprietäten. Auf einmal, wie aus dem
unbeschädigten Boden geschossen, stand vor mir ein Junge. Dünnes gelbes Haar
und Spatzennest-Frisur. Er guckte mich mit seinen hellblauen Augen aus dem
sommersprossigen Gesicht an. Nicht nur sein Gesicht, sondern auch die Arme bis zu
der Stelle, in denen sie in seinem roten T-Shirt verschwanden und wahrscheinlich
noch weiter, waren mit Sommersprossen reichlich besät. Seine Größe entsprach
etwa der meinen vor zwei Jahren und sein Alter dem meinen in einem Jahr. Er stand
einfach da und sagte: "Hallo. Ich bin Harry und ich bin neun, aber das glaubt mir
sowieso keiner." Da ich keine Zweifel zum Ausdruck brachte, erklärte er ruhig weiter:
"Ich mache hier Ferien bei meinem Alten. Er ist der Vater meiner Mutter und er kann
sehr gute Kuchen backen." Ich saß da, auf dem Rasen unter unserem alten
Kastanienbaum und wartete, ob vielleicht noch etwas vom Himmel fällt. Es fiel nichts
mehr. Harry setzte sich mir gegenüber, lehnte sich mit seinem schmalen Rücken an
den breiten Baumstamm und angelte aus seiner Hosentasche zwei Elefanten
heraus, die sich in Farbe und Form wie zwei Eier glichen. "Elfenbein", sagte Harry.
Seinem Gesichtsausdruck konnte ich nicht entnehmen, dass es sich um eine
Kostbarkeit handle. Sie waren aus Indien, wo sein `Alter' zwei Jahre verbracht hatte,
ohne einen bestimmten Grund dafür zu haben und die zwei Elefanten kamen mit,
oder so. Jeder für ein Jahr. Schon damals glaubte ich nicht an Elfen. Ich hatte das
erste Wunder noch nicht richtig verdaut, da hielt er schon eine richtige, riesige weiße
Ratte, mit einem langen rötlichen nackten Schwanz, in der Hand. "Hat `Er' mir
geschenkt", sagte Harry stolz und legte mir die Ratte aufs Knie. "Darum habe ich die
Elefanten mitgenommen. Damit Obo nicht so alleine ist. Er hat zwar mich, aber ich
bin als Spielkamerad zu groß für ihn, auch wenn er sich gern unter meinem Hemd
versteckt. Er hat auch schon zweimal reingepinkelt. Macht nichts, man kann es
auswaschen und es stinkt auch nicht so wie bei den Menschen. Die Elefanten
gefallen ihm aber nicht besonders. Er knabbert an ihnen nur herum. Schau", er
zeigte auf die Stelle, wo mal das Ende eines Rüssels gewesen war, "hier hat er
schon alles abgenagt. Stück für Stück. Kleine Bisse, große Wirkung." Harry sah
dabei aus wie ein Fachmann für Beißologie und Wirkungskunde. Ich schaute mir das
kleine Kerlchen mit den roten Augen aufmerksam an. Noch nie zuvor hatte ich eine
lebendige Ratte gesehen, geschweige berührt. "Warum heißt er Obo?", fragte ich, da
es doch ein ungewöhnlicher Name war, wenn auch nur für eine weiße Ratte. Nicht,
dass mir auf Anhieb andere Namen von weißen Ratten einfallen würden. "Weil er
überall rumknabbert und wenn er frisst, nimmt er dabei den Mund so voll, dass er wie
ein Obo aussieht", erklärte Harry und er versuchte nachzumachen, wie es aussieht.
Er presste die Lippen zusammen und blies seine Backen auf. Dabei sah er aus wie
Louis Armstrong, der schwarze Trompetenspieler auf einer Plattenhülle aus meines
Vaters Sammlung, wie er gerade Trompete blasend von einem Fotografen erwischt
wurde. Er sah wirklich aus wie ein richtiger Obo. Ich lachte nur, dann hob ich Obo auf
meine Augenhöhe und machte "Ooobooo...". Obo schaute mich entspannt an und ich
und Harry lachten. Ich freute mich, dass er hier war und schenkte ihm einen
Kugelschreiber, mit Wasser oder etwas ähnlichem gefüllt, das leicht blau gefärbt war.
Darin schwamm ein kleiner bunter Taucher auf und ab, je nach dem, wie man den
Kugelschreiber hielt. Harry steckte ihn wortlos ein, dafür lieh er mir Obo und einen
Elefanten schenkte er mir noch dazu. Das tollste dabei war, dass ich Obo über Nacht
mit nach Hause nehmen durfte. Meine Mutter war zwar zuerst dagegen, aber mein
Vater und ich überzeugten sie schließlich doch noch. Es war ja nur für eine Nacht.
Obo bekam in meinem Zimmer einen mit Gras ausgelegten Schuhkarton. In einer
Ecke legte ich ihm mit einem Apfel, einer Karotte und vielen Nüssen einen
reichlichen Fressvorrat für die Nacht an. In der Dunkelheit hörte ich mit
angehaltenem Atem wie Obo in dem Karton herumlief, raschelte und an den saftigen
Köstlichkeiten knabberte. Ich konnte vor Aufregung kein Auge zumachen. Ich sah
Harry, wie er `Ooobooo' macht mit dem gelblichen Elefanten in seinen
sommersprossigen Händen und viele weiße Ratten mit leuchtend roten Augen, die
sich unter meiner Bettdecke und unter dem Kopfkissen zu verstecken versuchten.
Irgendwann schlief ich schließlich doch ein.
Am nächsten Morgen war Obo verschwunden. Nach kurzer Suche fand ich ihn unter
dem Bett. Er war gerade dabei die Lokomotive meiner elektrischen Eisenbahn zu
reparieren. Frühstücken wollte ich nicht. Kein Hunger. Ich rannte aus dem Haus in
den Hintergarten, wo Harry schon auf mich wartete. Er hatte ein tolles Messer dabei,
dessen Klinge auf Knopfdruck raussprang. Ich hatte Obo dabei. Harry bekam ihn
zurück, dafür bekam ich das Messer für den ganzen Vormittag. Wir gingen in den
Stadtpark. Ich zeigte ihm, wo man am besten die Enten und Schwäne füttern konnte.
Er brachte bei der Gelegenheit Obo das Schwimmen bei, da es bis dahin niemand
getan hatte. Obo war ein guter Schüler. Wahrscheinlich hatte Harry geschummelt,
denn so gut kann es beim ersten Mal niemand. Egal. Vor dem Mittagessen kamen
wir wieder zurück zu uns in den Garten. Harry war verblüfft, dass ich keine Ahnung
hatte, wie man über die Steinmauer zu seinem Alten kommt. Ohne zu prahlen zeigte
er mir den Weg. Ich hatte schon immer da gewohnt, trotzdem war es mir neu, dass
man so leicht hinüber konnte. Um dies festzustellen hatte Harry nicht mal einen
halben Tag gebraucht. Unter uns; hätte ich den Weg auch gekannt, ich wäre nie
hinübergeklettert. Dazu war meine Angst vor dem Haus und seinem mysteriösen
Bewohner viel zu groß.
Zu Mittag habe ich gegessen, aber nur meiner Mutter zuliebe. Ich hatte nämlich
überhaupt keinen Hunger, aber Mutters Zwetschkenknödel schmeckten einfach
fabelhaft, so konnte ich mich leicht überwinden und fünf Stück davon verdrücken.
Nach dem Essen kam Harry wieder. Ohne lange zu erklären, sagte er nur: "Komm
mit!" Ich ging. Ich hatte sogar vergessen meine Jacke anzuziehen, aber man muss
nicht alles der Mutter zuliebe machen. Wir kletterten über die unüberwindbare Mauer
und landeten im Garten von Harrys Alten. Mann, war das toll. Es sah nicht nur aus
wie ein richtiger Dschungel, es war einer. Das hohe Gras und die Sträucher, die
schon einige Jährchen, falls überhaupt, wie mein Vater sagen würde, nicht kultiviert
worden waren. Der Schatten, die Kälte und der nasse, etwas weiche Boden unter
den Schuhen und alles so schön zusammengewachsen. Ich wusste nicht, ob ich
noch mein Herz besaß, oder es jemand gegen eine mittelgroße rasende Erdölpumpe
ausgetauscht hatte. Ich stand mitten in meinem Alptraum und dabei war ich totwach.
Harry hatte schon einen Gang durch das Gebüsch freigemacht, durch den wir bis zur
Hauswand gelangen konnten. Dicht an sie gequetscht kamen wir um die Ecke bis zur
riesigen vorderen Haustür. Als Harry sie öffnete, quietschte sie nicht einmal. Er zog
mich hinein. Ich stand in der Düsternis des Treppenhauses, spürte die Kälte und
atmete den seltsamen Fäulnisgeruch der alten Wände und der hölzernen
Treppenstufen ein. Das Jugendstil-Treppengeländer aus der Jahrhundertwende
schlängelte sich bis zum Dachboden. Ich wartete, bis sich meine Augen an die
Finsternis gewöhnt hatten. Jetzt war ich endgültig in das größte Geheimnis unseres
Viertels eingedrungen. Ein ähnliches Gefühl hatte ich gehabt, als ich von den grünen
Aprikosen Durchfall bekommen hatte. Oben am Treppenabsatz befanden sich zwei
Türen, unter der Treppe eine Stahltür, die wahrscheinlich zu den Geheimnissen des
Kellers Einlass gewährte. "Da ist es voll mit Staub und altem Gerümpel", sagte Harry
mit leicht hallender Stimme und zeigte dabei mit seinem sommersprossigen Finger
auf eine der oberen Türen, wo er auf mich wartete. Ich ging die Treppe hoch. Die
Stufen knarrten, na wie eben alte Holzstufen so knarren können. Die andere Tür war
mit einem Bleiglasfenster versehen das offen stand. Harry steckte seine Hand durch
das Fenster und öffnete die Tür von innen, denn außen gab es statt einer Türklinke
nur einen abgegriffenen Messingknauf. Wir betraten die Wohnung. Ich atmete die
Wohnungsluft tief ein und hielt den Atem an. Es war der Geruch von Ölfarben. Der
Farbengeruch, er füllte die ganze Wohnung so, dass man ihn fast wie eine
Sahnetorte aufschneiden und in einer Tüte verpackt nach Hause hätte mitnehmen
können. Am Boden lag ein dunkler, bunter Perserteppich und die Tapeten an der
Wand waren kaum zu sehen, da sie mit Bildern aller Zeiten, Stilrichtungen, und aus
allen Weltwinkeln verkleidet waren. Ich befand mich gleichzeitig an zehn
verschiedenen Orten in allen vier Jahreszeiten. Dazu genügte es, nur die Augen und
den Kopf zu bewegen. Es war, als wären hier viele Fenster und jedes einzelne zeigte
in eine andere Zeit und Richtung. Einfach wie eine weite Ferienreise. Ich wollte aus
den Schuhen schlüpfen, aber Harry stoppte mein Vorhaben mit einem einfachen und
für mich zwar ungewöhnlichen, aber sehr logischen, lebensfreudigen Satz: "Wir sind
nicht die Sklaven der eigenen Einrichtung. Lass an." Ich behielt die Schuhe an und
ging sachte Harry über dem schönen Perser nach. Es war kein Besuch bei einem
Bekannten, sondern eine Exkursion durch die gemütliche Galerie eines
ungewöhnlichen Lebens. Nach links ging es in die Küche. Über einem alten
Spülbecken hing ein Holzregal mit unzähligen Gewürzen in unterschiedlichen
Fläschchen und Dosen, versehen mit Etiketten in verschiedenen Schriften und
Formen. Die restliche Einrichtung war schlicht, alt, aber sehr sauber und gepflegt.
Durch den Flur geradeaus und dann rechts, kamen wir in das Esszimmer. In der
Mitte stand ein riesiger dunkler Tisch mit einer schwarzen Marmorplatte. Sechs
übergroße Stühle aus massivem, fast schwarzem Holz geschnitzt, mit Lederpolstern
versehen, standen von beiden Seiten der Tafel. Die Rückenlehnen der Stühle waren
einen Kopf größer als ich und mit je zwei Drachenköpfen mit spitzen Ohren, scharfen
Zähnen, großen Nüstern und einem starren bösen Blick geschmückt. Die Köpfe
sahen so echt aus, als wären sie nach einer lebendigen Vorlage geschnitzt worden.
Die Wände versteckten sich hinter Glasvitrinen, die voll mit Porzellangeschirr,
Gläsern und Bechern aller Arten, Farben, Größen, Formen und Materialien waren. In
einer Ecke stand eine rötliche Holzstatue, die irgend einen weitäugigen Gott
darstellte, der sicher keine Probleme mit dem Arbeiten und Händedrücken hatte, da
er von Armen sage und schreibe zwölf Stück besaß. Über diesem Reich der
hungrigen Köpfe hing ein silberner Kronleuchter aus undurchschaubarem
Schlangengedränge, das unbeweglich auf sein Opfer wartete. "Na, komm schon
endlich", unterbrach Harry die Stille der lebendigen Luft und verschwand wieder in
der Tür gegenüber. Ich überließ die göttliche Tiersammlung der Masseneinsamkeit
und ging ihm in das nächste Zimmer nach. Es war fast so groß wie die
Möbelabteilung im Kaufhaus im Industriegebiet, nur nicht so überfüllt. Rechts an der
Wand zwei niedrige Schränke, in der Mitte ein langer Messingtisch und um ihn herum
eine dunkelbraune Ledersitzgruppe für ungefähr fünfzig dicke Leute mit Gepäck.
Gegenüber der Tür war statt einer Wand ein Schaufenster, rechts und links an den
Wänden hingen je ein Panoramabild mit einem Panoramabett mit verschiedenen
Panoramafrauen, die nicht viel zum Anziehen hatten. Es schien sie jedoch nicht zu
stören. Ich würde sogar sagen, dass das Gegenteil der Wahrheit näher käme.
Offensichtlich war es in den Bildern warm genug. Gleich hinter der Tür stand eine
Staffelei mit einem Ölportrait einer älteren, aber immer noch sehr schönen Frau. Auf
dem Boden lag wieder so ein golfrasengroßer Perserteppich und irgendwo an
seinem Ende an der linken Seite war noch eine Tür, offen wie der Himmel am
jüngsten Tag. Von dort kämpften sich seltsame Geräusche zu mir durch, die sich
anhörten, als hätte sich ein Pferd in eine Schachtel mit Weihnachtskugeln, Bremsen
und Stachelschweinen verirrt. Ich folgte meinen Ohren und verließ nur ungern die
zwei, für meine unverdorbenen Augen, äußerst interessanten hautvollen Exemplare
des anderen Geschlechts. In einer kleinen Kammer, deren Wände hinter den
Regalen das Haus hielten, fand ich den energischen Strohhaarkopf. Die Regale
waren voll beladen mit bunten Steinen, Knochen, Vasen und Figuren, Messern,
Dolchen, Hüten und Schmuck, Sachen, die aus Leder, Holz, Stahl, Kupfer, Messing,
Silber oder Wachs waren. Da lagen dazwischen chinesische Stäbchen und
Patronenhülsen, Werkzeuge, Pfeifen, Pfeile und Amulette, als wäre das Ganze
gerade aus einem Betonmischer ausgekippt und mit einem reichlichen Schuss Staub
überstreut worden, so wie man Teig mit Mehl bestreut, damit er nicht an den Händen
kleben bleibt. Auf einem Stuhl stand ein Hocker und auf dem stand Harry. Gestreckt
nach oben suchte er fieberhaft im obersten Regal. Er hörte nicht auf, bis er in der
Hand einen Geigenkasten hielt, den er mir auch prompt nach unten reichte. Am Ziel
angelangt, stieg Harry von seinem selbstgebauten Turm runter. Der Geigenkasten
war schwarz, lederbezogen und so ziemlich abgegriffen. Da aber kein Staub drauf
lag, war es nur offensichtlich, das der Kasten öfters unterwegs war. Unten
angekommen, nahm mir Harry den Kasten aus der Hand und eilte voll Enthusiasmus
und Unternehmungslust, wie schon die ganze Zeit, weiter. Ich nahm aus einem
Regal Obo, der sich in dieser chaotischen Ordnung wie zu Hause fühlte, machte das
Licht aus, die Tür zu und versuchte den Geigenkasten einzuholen. Er verschwand in
Harrys Begleitung im nächsten Zimmer. Dieses war auch geräumig und mir gefiel es
von allen, die ich bis jetzt gesehen hatte, am besten, da es hier, außer einem
Schreibtisch mit vielen Schubladen und einem strubbeligen Sommersprossler oben
drauf, einem alten, wackeligen Stuhl und einem ganz verlorenen und versessenen
Sofa am anderen Ende des Raumes nur noch Bilder, Rahmen, ungeduldig wartende
noch unberührte Leinwände, Holz- und Gipsskulpturen, Baumstämme,
Holzschnitzermesser, Holzhämmer, Ölfarben in Dosen, Flaschen, Tuben und
vielleicht auch in Eimern, Pinsel und Spachtel und einen Holzspänenteppich und
Ölfarbengeruch wie ihn nur Sardinen in der geschlossenen Dose kennen, fast nichts
anderes mehr gab. Ich stand in der Tür und kam aus dem Staunen nicht mehr
heraus. "Keine Angst, er sitzt draußen bei seinem Mannequin-Pis", sagte Harry zu
meiner Beruhigung. Ich hatte zwar keine Ahnung bei wem "Er" draußen saß, aber die
Aufnahmefähigkeit meiner Sinne schien langsam erschöpft zu sein. Ich machte die
Tür hinter mir leise zu. In der Zwischenzeit fischte Harry die Geige aus ihrem
Versteck heraus, was man auch ohne hinzuschauen unschwer erkennen konnte.
Das arme Instrument beachtlichen Alters heulte flehentlich durch den schönen
sonnigen Nachmittag. Mich interessierten die herumstehenden Bilder. Meistens Akte
oder Stilleben, nur selten Studien in Kohle, die einen Hund, ein Pferd oder ein mit
wenigen Strichen hingezaubertes Portrait festhielten. Gleich neben dem Tisch stand
noch eine Staffelei. Das Bild darauf war erst angefangen. "Schau Dir lieber das an!"
Harry zeigte aufs Sofa. Da lag eine große, halb zerfetzte, zum Zerreißen volle Mappe
und davor sicher viele hübsche und auch andere Modelle. "Die hat er alle gehabt.
Zuerst hat er sie gemalt, dann hat er mit ihnen gesoffen und anschließend ist er mit
ihnen ins Bett geklettert, wobei die Reihenfolge nicht immer feststand. Keine ist bei
ihm reich geworden, aber keine hat sich je beschwert. Außer Geld und Alkohol gab
er ihnen auch Mut und Glück, wenn auch nur für kurze Zeit. Mein Alter ist einfach
Klasse." Harry sprach wie ein erfahrener Seemann. Zu der Zeit war es mir aber noch
nicht so bewusst. Ob er wusste, wovon er sprach, habe ich bis heute nicht erfahren.
Wo hatte er das alles bloß her? Ich nahm die Mappe und legte sie auf den
bekleckerten, aber längst trockenen bunten Boden, setzte mich wie ein
Indianerhäuptling hin und schlug sie auf. Vor mir lagen nackte Frauenkörper
verschiedener Proportionen in allen erdenklichen Posen. Ich nahm ein Blatt nach
dem anderen und bewunderte die Leichtigkeit der Hand, die diese Bilder erschaffen
hatte. Manchmal genügten nur ein Paar Striche, doch die waren so ausführlich wie
die Anfangstöne einer berühmten Melodie. Die Körper waren dick und dünn,
langbeinig, vollbusig, reif und unterentwickelt, verblüht und sportlich, graziös und
hart, biegsam, straff und weich und alle waren wunderschön und so natürlich, dass
ich dabei vergaß, dass es nackte Frauenkörper waren und ich schämte mich nicht
einmal für ihre Nacktheit. Beeindruckt von so viel natürlicher Schönheit bemerkte ich
nicht, dass Harry aufgehört hatte die Geige zu quälen und wir nicht mehr zu zweit im
Zimmer waren. "Guten Tag", sagte "Er" zu mir mit sanfter Stimme und beobachtete
mich ruhig, als hätte er dafür noch zweihundert Jahre vorgesehen. Ich schaute ihn
an. In diesem Moment verschwand alles um mich herum. Ich sah nur das Gesicht
des alten Mannes an. Das Gesicht, welches ich schon so oft aus der Dachluke
unseres Hauses versuchte zu entziffern. Die geheimnisvolle Gestalt, die in diesem
wunderschönen Haus wohnte. "Hallo Alter", rief Harry erfreut und legte die Geige auf
den Tisch, wo sich Obo ihrer gleich annahm. "Das ist unser Nachbar. Rudi. Er ist in
Ordnung", erklärte Harry ausführlich meine Anwesenheit. "Es freut mich, dich kennen
zu lernen", sagte der alte Mann mit seiner sanften tiefen Stimme, und er blickte dabei
in meine Augen. All die Angst der vergangenen Jahre hat sich in diesem Augenblick
wie Zigarettenrauch in der Zugluft aufgelöst. "Guten Tag", sagte ich endlich und
wollte aufstehen. Er streckte mir seine Hand entgegen. Sie war warm, trocken und
weich wie seine Handschrift beim Malen. "Lass dich nicht stören", sagte er und zeigte
auf die Mappe. Er warf einen kurzen Blick auf das Bild, das oben auf dem Stapel lag.
"Die mochte ich besonders gerne. Ein ganz liebes Mädchen, nur etwas einsam." Das
Mädchen hätte mühelos meine Mutter sein können. Er stand da und lächelte uns und
das liebe Mädchen an. "Habt ihr Hunger?", fragte er nach einer kurzen Pause und
schaute dabei Harry an. Wahrscheinlich wusste er, dass ich nein sagen würde, auch
wenn ich mit dem nächsten Stundenschlag der alten Wanduhr vor Hunger ins Koma
fallen sollte. "Ich nicht, aber er bestimmt", sagte Harry und zeigte dabei mit der Nase
in meine Richtung. Der alte Mann schenkte mir einen kurzen Blick, dann verschwand
er nach draußen, um kurz darauf mit einem kuchenvollen Teller in der Hand wieder
zu erscheinen. Er stellte ihn auf den Tisch und sagte nur "bitte". "Den hat Großvater
selber gebacken" sagte Harry stolz. Ich habe ihn das erste Mal Großvater sagen
hören. Harry nahm die Geige und reichte sie seinem Großvater. "Bitte, spiel uns was
vor. Wenigstens ein bisschen." Die alten, aber immer noch sehr lebhaften Augen
schauten zuerst mich, dann Harry an. Er wischte seine Hände mit einem weißen
Taschentuch ab, dann entstaubte er die saubere Geige. Langsam und sorgfältig. Das
Stofftaschentuch steckte er wieder in die Hosentasche, nahm die Geige, hielt sie an
sein Ohr und mit einem Finger zupfte er die vier Töne hoch und runter. Dabei
korrigierte er den jeweils gespielten Ton. Das wiederholte er so lange, bis er mit der
Reinheit der Töne zufrieden zu sein schien. Aus dem Geigenkasten nahm er ein
kleines weiches Tuch und legte es über den dicken Rand des Geigenkörpers. Dann
stellte er sich ans Fenster, nahm den silberweißen Bart hoch und schob sich die
Geige mit dem Tuch darunter. Er hielt den Bogen so sanft, dass ich zuerst dachte er
würde ihm gleich herunterfallen. "Schubert", sagte er leise. Es erklangen die ersten
Töne und das Haus füllte sich mit herrlicher gefühlvoller Musik, die nicht aus der
Geige, sondern aus dem alten Herzen des weißhaarigen Mannes zu kommen schien.
Es war alles so unwahrscheinlich. Der Duft der Farben, vermischt mit den sauberen
Tönen der Melodie und dazu noch der alte Mann mit der aprikosenfarbenen Sonne in
seinem silberweißen Haar beim Sonnenuntergang, der in seinem weißen Anzug mit
hellblauem Taschentuch in der Brusttasche und schwarzen, hochglänzenden
Schuhen mit schneeweißen Gamaschen vor dem offenen Fenster stand. Sogar das
lose, an der Handseite des Bogens abgerissene Rosshaar, gehörte unbestritten
dazu. Obo, der in der Zwischenzeit die Staffelei hochgeklettert war und hin und her
an der oberen Bildkante des angedeuteten Blumenstraußes in einer noch fast
unsichtbaren Vase spazierte, die bunten Bilder, die zum Teil noch nicht fertig gemalt
waren, weil die Motive schneller als der Pinsel waren und nur einen Bruchteil des
prallgefüllten Lebens des alten Mannes festhielten, genau wie das Zimmer nur einen
Bruchteil der Welt darstellte, der in diesem Augenblick mit unbeschreiblicher
Schönheit, Ruhe und Glück gefüllt war. Der alte Herr hatte die Augen geschlossen,
sein Geist und seine Gedanken schwangen weit weg von dem, was hier vor sich
ging. Ich saß da, überwältigt von Gefühlen, die ich nie zuvor gekannt hatte. Es schien
mir, als würde ich dieses Haus und diese zwei Menschen schon seit einer Ewigkeit
kennen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es mal vorbei sein könnte. Und ich
wollte es mir auch nicht vorstellen. In diesem Augenblick glaubte ich die ganze Welt
zu kennen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie etwas Schlechtes in sich
verbergen könnte. Ich wollte weinen und ich verstand nicht warum, und sollte das
Leben jetzt zu Ende sein, hätte ich mit meinen acht Jahren nichts dagegen, wenn ich
auch von diesem wunderschönen Gefühl nicht genug kriegen konnte. Langsam hörte
die Musik auf und ich merkte, dass nicht nur ich ein Anderer geworden war. Die
Gesichter der beiden waren weich und in uns spielte die Musik weiter und nur
langsam verfloss sie durch alle Sinne und hinterließ eine Strähne ausgeglichener
Zufriedenheit.
Nach Hause kam ich erst spät am Abend. Meine Eltern fragten mich nicht ein Mal wo
ich war. Ich war es, der jemanden unbedingt erzählen wollte. Von dem alten Mann
und seiner Musik, von den Bildern und Farben und dabei vergaß ich von der
Schatzkammer mit den vielen interessanten Sachen zu erzählen und von den
Drachenköpfen und all dem anderem. Mein Vater las lieber ein Buch, aber meine
Mutter hörte mir zu und ich hoffte, dass sie verstand, was ich fühlte.
Die Ferien vergingen wie ein gutes Buch. Man wünscht sich, dass es einen zweiten Teil gibt. Noch oft
war ich in dem Haus, wo sich der alte Mann seine eigene wunderbare Welt erschaffen hatte. Ich aß
noch oft seinen Kuchen und sah seine Hand mit dem Pinsel zaubern. Der kleine sommersprossige
Junge half mir Großzügigkeit zu lernen und Sachen zu erkennen, die andere übersehen.
Eines Tages war Harry fort. Ich bekam nur einen Zettel, den er mir geschrieben
hatte. Er sei wieder zu seiner Mutter zurückgekehrt, aber er wolle mich bald wieder
besuchen kommen. Den kleinen zerknitterten Zettel gab mir der alte Mann, als ich
Harry zu den Schwänen abholen wollte. Er bot mir an herein zu kommen, aber ich
ging nach Hause. Schade.
Jeden Tag kam ich auf meinem Schulweg an dem Haus vorbei, jedoch hatte ich
keine Angst mehr vor diesem Gebäude. Es ist zu einem noch größeren Geheimnis
geworden, als es je zuvor war. Ich fürchtete mich nicht mehr vor dem alten Mann und
wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich ihm etwas von meiner Jugend geschenkt.
Es war nur einige Wochen später. Ich kam gerade von der Schule, als ich den langen
schwarzen Leichenwagen sah, der sich vom Bürgersteig unseres Nachbarhauses
löste und langsam die Straße, an mir vorbei, herunter fuhr. Dann verschwand er
hinter der Kurve. Meine Mutter stand vor unserem Haus und sagte mir, dass sie den
alten Mann geholt haben. Ich fühlte, wie ein Teil meines Lebens in der Ewigkeit
versank. Erst da ist mir klar geworden, wie ich den alten Mann geliebt hatte und was
er mir bedeutete. Ich erinnerte mich an die Musik und an sein glückliches, faltiges,
liebevolles Gesicht und an seine Augen, die, wenn er lächelte, so eng wurden, wie
die eines Mandarins. Ich roch wieder den Duft der Ölfarben und wusste genau, wie
sein Kuchen schmeckte. Ich spürte, wie ich erwachsen wurde und ich versprach mir,
dieses Gefühl, das ich in dem Haus zum ersten Mal entdeckte wieder zu finden. Das
Gefühl, das mir der alte Mann geschenkt hatte. Und wenn ich es in der ganzen Welt
suchen müsste.
Herunterladen