Rolf Seubert „Besonders schwer haben es junge Ausländer. Häufig bleiben gerade sie ohne Schul- und Berufsabschluss. Hier brauchen wir eine gezielte Förderung. Wenn ein Drittel aller Schüler einen ‚Migrationshintergrund‘ hat, wie man das nennt, dann darf ‚Integration‘ nicht nur schmückendes Beiwerk sein. Integration muss zentrales Element der Bildung sein – und zwar auf jeder Stufe. Das beginnt beim Kindergarten und setzt sich fort über die Grundschule und die weiterführenden Schulen bis hin zur Berufsausbildung. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass Kinder aus zugewanderten Familien die deutsche Sprache sicher beherrschen. Die katastrophalen Sprachdefizite, gerade bei den türkischen Kindern der dritten und vierten Generation, sind die Hauptursachen für deren Misserfolge in der Schule. Deswegen ist es auch richtig, wenn Lehrer und Schulleiter darauf achten, dass in ihrer Schule deutsch gesprochen wird. Wo dies nicht geschieht, scheitert die Integration von Anfang an. ... Für das Ziel Integration ist Bildung das A und O. Sie schützt am besten vor Ausgrenzung und Abkapselung, vor Fundamentalismus und Rassismus.“ (Aus der Grundsatzrede des Bundespräsidenten Johannes Rau auf dem ersten Kongress des Forums Bildung am 14. Juli 2000 in Berlin) „Integration ist in aller Munde, doch sie ist mehr als ein Sprachkurs bei Einreise. Sprachkompetenz ist zwar ein wichtiges, aber nicht alleiniges Mittel zur Integration, denn von ebenso hoher Bedeutung sind schulische und berufliche Bildung. Trotz weitgehend formaler Gleichstellung kann von Chancengleichheit von Migrantinnen und Migranten im deutschen Bildungssystem nicht die Rede sein. Dies gilt vom Kindergarten über die Schule bis hin zur beruflichen Qualifizierung. (Grußwort der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck, MdB, zur Fachtagung Förderung von Migrantinnen und Migranten in der Sekundarstufe I in Berlin am 3. Dezember 2003) Ausländische Jugendliche in der Berufsausbildung, ein Fall eklatanter Chancenungleichheit 1. Zur Entstehung des Problems. Ein Rückblick Seit der Mitte der 50er Jahren erreichte die deutsche Wirtschaft nicht nur die Vollbeschäftigung, sondern wurde in ihrem weiteren Wachstum schon bald durch Arbeitskräftemangel gebremst. Zum Zweck der Anwerbung von Arbeitskräften schloss die Bundesregierung bereits 1955 erste bilaterale Verträge. Jedoch hielt sich der Zustrom zunächst in Grenzen, da der wachsende Bedarf durch Übersiedler aus Ostdeutschland befriedigt werden konnte. Die DDR stellte in dieser Zeit die wichtigste Humankapitalressource Westdeutschlands dar. Immerhin wechselten bis 1960 etwa 3,3 Millionen DDR-Bürger über die Grenze. Sie waren in sozialer wie kultureller Hinsicht problemlos zu integrieren. Als durch die Abriegelung Westberlins 1961 die Wanderung gestoppt wurde, öffnete sich der westdeutsche Arbeitsmarkt vermehrt ausländischen Arbeitskräften. Diese Immigration war im Grund nicht neu, denn Deutschland war bereits seit Jahrhunderten sowohl Ein- als auch Auswanderungsland. Waren es in der frühen Neuzeit vor allem Glaubenskriege, die zu Vertreibungen in großem Stil führten man denke nur an die Hugenotten aus Frankreich-, so waren es die politischen Umwälzungen des frühen 19. 2 Jahrhunderts, die große Menschenmassen in Bewegung setzten. Auslöser war die sogenannte Bauernbefreiung der Stein-Hardenberg’schen Reformen, die in Preußen letztendlich als unbeabsichtigte Nebenwirkung zahllose Bauern um die Möglichkeit einer selbständigen Existenz brachte. Sie wanderten nach Westen, an den Standort der sich rasch entwickelnden Kohle-, Stahl- und Textilindustrie. Hier herrschte Mangel an Arbeitskräften, denn die bäuerliche Bevölkerung dieses Raumes war nach den Napoleonischen Kriegen in großen Kontingenten nach Übersee ausgewandert, so dass „das immer stürmischer wachsende Industrierevier ... mit Arbeitskräften aufgebaut werden (musste), denen nicht nur jede Industrieerfahrung abging, sondern die dazu auch noch ‚landfremd‘ war“. 1 Ähnlich wie später in den verschiedenen Wanderungswellen, wurde der Prozess der Industrialisierung zu einem großen Teil mit Menschen aus Regionen, die selbst über kein industrielles Entwicklungspotential verfügten, vorangetrieben. Diese agrarischen Räume verfügten über eine große Zahl freigesetzter Arbeitskräfte. Ihnen blieb nur die Wahl zwischen lokaler Chancenlosigkeit und der Hoffnung auf Verbesserung der sozialen Lage in den Wachstumsregionen. Nach dieser Binnenwanderung, die fast das 19. Jahrhundert über anhielt, vollzog sich die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte nach Deutschland in drei großen Wellen: Da war zunächst von 1890 bis zum I. Weltkrieg die sogenannte Polenwanderung ins Ruhrgebiet. Die zweite große Welle stellt die Rekrutierung von 7,7 Millionen von Sklavenund Zwangsarbeitern dar, die im II. Weltkrieg nach Nazi-Deutschland verschleppt wurden.2 Nach dem II. Weltkrieg wanderten Hunderttausende Deutscher nach Übersee aus. Sie wurden ersetzt durch die 1955 einsetzende Wanderungsbewegung aus den Anwerbeländern des Mittelmeerraums. Bereits 1964 wurde der Millionste „Gastarbeiter“, ein Portugiese, feierlich begrüßt. Alle Arbeitsverträge mit den „Gastarbeitern“ wurden auf Zeit geschlossen. Ihnen lag als Leitidee das sogenannte „Rotationsprinzip“ zugrunde. Danach gingen beide Vertragsparteien von einer vorübergehenden, meist vierjährigen Verbleibedauer aus. An eine soziale Integration, gar an einen Nachzug der Familien dachte zunächst niemand. So vollzog sich Integration zunächst ohne klare gesetzliche Grundlage und eher chaotisch, begleitet von z. T. heftigen Abwehrreaktionen von Politik und Öffentlichkeit. So schürten noch 1982 eine Gruppe von Professoren in rassistischer Diktion im berüchtigten „Heidelberger Manifest“ die Ängste vor einer „Unterwanderung des 1 A. R. L. Gurland, Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang zum Zeitalter der Industrie, in: Golo Mann (Hrsg.), Propyläen Weltgeschichte, Bd. 8, Frankfurt am Main/Berlin 1960, S. 279-336, hier S. 309 3 deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen Ausländern und ihren Familien“, von „Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“.3 An der Tatsache des De-facto-Einwanderungslands Bundesrepublik vermochten solche Ausfälle ebensowenig zu ändern wie die immer wieder aufkommende Diskussion um „deutsche Leitkultur“. Die Ausländer wurden zu einem beständigen Teil der deutschen Bevölkerung. Im März 2004 betrug der Anteil der ausländischen Beschäftigten 1,860 Millionen bei einer Wohnbevölkerung von 7,335 Millionen Ausländern.4 Auffallend ist dabei, dass sich die Schere zwischen der Zahl der ausländischen Beschäftigten und ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung ständig öffnet. Während erstere sogar absackt, ist die Zahl der Familienangehörigen vor allem seit 1988 kräftig angestiegen. Diese Familienzusammenführung wie auch die große Zahl der hier geborenen Kinder sind Indizien dafür, dass Deutschland längst Einwanderungsland geworden ist. Die Wanderungsbilanz scheint sich inzwischen stabilisiert zu haben. Sie hat sich seit etwa zehn Jahren auf der Höhe von etwa 7,3 Millionen Ausländern eingependelt. Dies entspricht gegenwärtig etwa 8 Prozent der Gesamtbevölkerung.5 Mit dieser Ausländerquote liegt Deutschland lediglich auf einem Mittelplatz in Europa. Der ausländische Schüleranteil ist, wie oben dargestellt, mit knapp 10 Prozent um einiges höher, was für einen etwas günstigeren Altersaufbau der Ausländer im Vergleich zum deutschen spricht. 6 Auch hier sind die Zahlen seit Beginn der 1990er Jahre in etwa stabil.7 Nicht berücksichtigt sind bei dieser Betrachtung etwa 130.000 Spätaussiedlerkinder, die etwa 10 Prozent der ausländischen Schüler ausmachen. Ihre Lebensbedingungen und Bildungschancen entsprechen zwar in vielen Hinsichten denen der Kinder von Arbeitsimmigranten. Da sie jedoch im Sinne des Grundgesetzes nicht als Ausländer gelten, werden sie im Folgenden nicht in die Betrachtung einbezogen.8 2 Zu dem ganzen Komplex liefert die lesenswerte Studie von Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980, Bonn 1986, einen ausgezeichneten Überblick. 3 Zit. nach der Internet-Fassung unter dem Stichwort „Heidelberger Manifest“. 4 Ich lasse ausser Acht, dass die gesamte Wanderungsbilanz, also die Bruttoeinwanderung nach Deutschland minus der Weitergewanderten oder Zurückgekehrten, erheblich höher ausfällt. Dieser in der Diskussion häufig vergessene Faktor unterschlägt eine erhebliche Belastung der deutschen Gesellschaft durch Migrationsbewegungen. 5 Allerdings ist die rückläufige Zahl von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten, wie z. B. aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei, auf Einbürgerungen zurückzuführen. Inwieweit sich daraus für die Schüler Verbesserungen des sozialen Status und der Bildungschancen ergeben, müsste gesondert untersucht werden. 6 Einen ausgezeichneten statistischen Überblick über Grunddaten insbesondere im Bildungsbereich geben die jährlich vom Bundesminister für Bildung und Forschung herausgegebenen Grund- und Strukturdaten. Hier verwendet wurde die Ausgabe 2003/2004. 7 Problematisch ist dabei, dass ausländische Kinder, die inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben 8 Art. 116 GG regelt, wer Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist. Im Kommentar zu Art. 116 heißt es unter Bezug auf das Bundesvertriebenengesetz, deutscher Volkszugehöriger sei, „ wer sich in seiner Heimat 4 Die Kontinuität des Aufenthalts von Ausländern und die Tatsache, dass ihre Kinder bereits in der 3. Generation hier geboren werden, läßt nur einen Schluss zu: Deutschland ist de facto längst zu einem Einwanderungsland geworden, auch wenn konservative Politiker nach wie vor eine diesem Umstand entsprechende gesetzliche Regelung ihre Zustimmung verweigern. So bleibt eine liberale rechtliche Lösung der längst ansässig gewordenen Nicht-EU-Ausländer weiterhin politisch umstritten. So wundert nicht, dass auch Teile der deutschen Bevölkerung eine großzügige Integrationsregelung ablehnen. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die Kodifizierung der Bürgerrechte der EU-Mitgliedsstaaten sich die Gruppe der Ausländer weiter ausdifferenziert, und zwar in Alt-EU-Bürger mit vollen Rechten, Neu-EU-Bürger mit eingeschränkten Rechten und solche aus Nicht-EU-Staaten mit noch geringerem Rechtsstatus. Vor allem bei letzteren herrscht eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich ihres rechtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Status und des Rechtsstatus ihrer Kinder.9 Hieraus erwachsen im Alltag wie in der Schule vielfältige Konfliktpotentiale. Die fehlende Rechtssicherheit wirkt auch nachteilig auf die Bildungschancen. 2. Zur Aktualität des Problems Am 28. November 2002 veröffentlichte das Forum Bildung, ein bei der Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung angesiedelter exklusiver Kreis, seine „12 Empfehlungen zur Entwicklung des Bildungswesens“. Dem Forum gehören die Bundesbildungsministerin und ihr Staatssekretär, sechs Kultusminister der Länder, Vertreter der Arbeitergeber, der Gewerkschaften, der Wissenschaft, der Kirchen und zwei Jugendvertreter an. Die 9. Empfehlung mit dem Titel „Bildung und Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten“ betrifft das oben genannte Thema. Unter der Überschrift: „Das Bildungspotenzial der jungen Ausländer erschließen“ wurde folgende Feststellung getroffen: „Knapp jeder fünfte jugendliche Ausländer (19,5%) verließ 1998 die Schule ohne Abschluss. Nur 8,7 Prozent erreichen das Abitur. 39,6 Prozent der ausländischen jungen Erwachsenen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Das zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“. Vgl. hierzu Maunz-Düring, Grundgesetz. Kommentar zu Art. 116, S. 11. 9 Allerdings gehört die Bundesrepublik Deutschland zu den Signatarstaaten der UnoMenschenrechtserklärung, der Konvention über die Freizügigkeit von Wanderarbeitern, der KSZESchlussakte von Helsinki und der UNO-Kinderrechtskonvention. Sie bilden den Rahmen, in dem die Bildungschancen von ausländischen Kindern realisiert werden müssen. 5 Forum Bildung stellt fest: Das Bildungswesen erfüllt den Auftrag der Förderung und Integration von Migrantinnen und Migranten noch immer nicht hinreichend.“ Nach dieser noch sehr oberflächlichen, und in den statistischen Aussagen schönfärberischen Beschreibung ist es dem deutschen Bildungswesen nicht gelungen, seinem Bildungsauftrag gegenüber den Migrantenkindern, die inzwischen bereits der 2. und 3. Generation angehören können, aber auch gegenüber den Kindern anderer Zuwanderungsgruppen, gerecht zu werden. Es hat weder seine kompensatorische Funktion - die Beseitigung von Sprach- und Bildungsdefiziten - angemessen erfüllt noch hinreichend seine sozial-integrative. Diese Schüler stehen, anders als es die Selbstanklage des Forums Bildung vermuten ließe, nicht als kontinuierliche Aufgabe im Blickfeld der gegenwärtigen bildungspolitischen Debatte. Wenn derzeit von Bildung die Rede ist und Investitionen vorgenommen werden, dann geht es um „Exzellenzinitiative“, um „hervorragend qualifizierte Fachkräfte (als) Grundlage für erfolgreiche Spitzenforschung“ zur Rettung des „Standorts Deutschlands“ vor dem ökonomischen Abstieg.10 Der in diesem Zusammenhang lautstark erfolgende Verweis auf Lern- und Veränderungsprozesse in der Bildungsadministration als Folge des „Pisa-Schocks“ ist wenig glaubwürdig, wenn Teile der nachwachsenden Generation gar nicht in die Lage versetzt werden, erfolgreich am Bildungsprozess teilzunehmen. Sie sind zugunsten einer weiterhin selektiv orientierten „Exzellenz-Bildung aus dem Blickfeld geraten. Die Aussage des Forums enthält zudem den impliziten Vorwurf mangelnder Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Der Vorwurf ist durchaus berechtigt. Allerdings kommt diese nüchterne Bilanz einer impliziten Selbstkritik gleich, denn dieser Vorwurf wird ja von für das Bildungswesen verantwortlichen Politikern erhoben. Aber der „Schwarze Peter“ wird nach unten, an die vielfältig be- und überlasteten Schulen, als zusätzliche Aufgabe weitergereicht: „Erforderlich ist in allen Fächern eine stärkere Konzentration auf das Erlernen der deutschen Sprache, deren Beherrschung entscheidend für den späteren Bildungserfolg ist. In den Schulen sollen Mehrsprachigkeit und Interkulturalität als Bereicherung begriffen werden.“11 Von welchen Schulen - so möchte man überspitzt fragen - ist da die Rede, von den Hauptschulen in den Brennpunkten der Ballungsräume oder den International Schools im „Speckgürtel“ der Städte? So vordergründig richtig die Betonung der Bedeutung der Beherrschung des Deutschen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme ausländischer Schüler am Bildungsprozess 10 So die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, im Vorwort zu Grund- und Strukturdaten 2003/2004. Hrsgg. vom BMBF, Berlin 2004 11 Forum Bildung (Hrsg.), Die zwölf Empfehlungen im Überblick, Bonn, vom 28.11.2002 6 auch sein mag, so wenig taugt sie für die Erklärung der komplexen Ursachen und Hintergründe der Chancengleichheit Entstehung der der niedrigen Migrantenkinder. Die Bildungsteilhabe vom „Forum und geringen Bildung“ gegebene Zustandsbeschreibung lässt sich bei aller Oberflächlichkeit nicht anzweifeln, im Gegenteil, sie muss in eine Gesamtschau der Entwicklung des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland einbezogen werden, um zum Kern des Problems vorzustoßen, nämlich wie es heute um die Bildungs- und Ausbildungschancen jener Kinder bestellt ist, deren Eltern und Großeltern als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Die Frage ist zu klären, ob und inwieweit das Bildungs- und Ausbildungssystem dazu beigetragen hat, die Kinder der 2. und 3. Generation im weitgehend inferioren Sozialstatus ihrer Eltern zu halten bzw. diesen zu überwinden. Denn nur dann könnte von einer geglückten Integrationsleistung gesprochen werden, wenn für die Nachkommen der Migranten12 heute annähernd Chancengleichheit wie bei deutschen Jugendlichen ähnlicher sozialer Herkunft gewährleistet wäre. Dass dies nicht der Fall ist, soll im Folgenden dargestellt werden. 3. Arbeitsmarktrisiken von Jugendliche ohne Berufsausbildung Moderne Hochzivilisationsgesellschaften sind bildungszentriert. Das heißt, Bildung und Ausbildung erhalten Schlüsselfunktionen bei den Selektionsprozessen auf dem Arbeitsmarkt. In diesem Prozess kommt den erreichten Zertifikaten, Berechtigungen und Abschlüssen eine zentrale Steuerungsfunktion bei der Zuweisung von Sozial-, Berufs- und Aufstiegschancen zu. Mit diesem System kommt die große Mehrheit der Schüler gut zurecht: 70 Prozent aller Schüler eines Jahrgangs erreichen über Real-, GesamtFachoberschulen und Gymnasien einen höheren Bildungsabschluss, auch wenn der Übergang in das Berufsausbildungssystem längst nicht mehr reibungsfrei funktioniert.13 Dennoch ist das duale System der Berufsausbildung weiterhin hoch attraktiv; immerhin absolvieren im Durchschnitt zwischen 60 und 70 Prozent eines Jahrgangs eine Berufsausbildung. Und dieses System erweist sich in der Regel als aufnahmefähig, sofern die Bewerber um betriebliche Ausbildungsstellen eine schulische Normalbiographie vorweisen können. 12 Mir ist bewusst, dass der Begriff Migrantenkinder die Schülergruppe zwar mehrheitlich umfasst. Er berücksichtigt nicht, dass viele ehemalige „Gastarbeiter“ inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt haben. Dies differenziert den Gegenstand zusätzlich, in der Betrachtung bleiben die Schüler mit Migrationshintergrund außen vor. 13 Einen differenzierten Überblick über den Zusammenhang von Bildungs- und Ausbildungschancen geben die jährlich erscheinenden Berufsbildungsberichte der Bundesregierung. 7 Allerdings verbleiben die restlichen etwa 30 Prozent aller Schüler in den Haupt- und Sonderschulen. Davon erreichen etwa 9 Prozent der Jugendlichen keinen Schulabschluss. Sie repräsentieren als sogenannte „trop-outs“ eine „normabweichende“ Minderheit, die beim Übergang in das Ausbildungs- und Beschäftigungssystem auf erhebliche Integrationsschwierigkeiten stößt. Fehlende oder unzureichende Bildungsabschlüsse stellen für diese Jugendlichen, ob Deutsche oder Ausländer, angesichts knapper werdender und strukturell gewandelter Arbeit ein erhebliches Marginalisierungsrisiko dar. Dieses verstärkt sich durch die immer geringer werdenden Chancen, ohne Ausbildung den Übergang in das Beschäftigungssystem zu meistern, weil ihr Arbeitsvermögen nicht mehr den Anforderungen moderner Arbeitsprozesse entspricht bzw. ihre Qualifikationsreserven zu gering sind, um sich flexibel anpassen zu können. Diese Jugendlichen sind die prädestinierten „Modernisierungsverlierer“ (Heitmeyer) der künftig stärker werdenden Verteilungskämpfe um die knapper werdende Arbeit. Trotz der allgegenwärtigen parteipolitischen Propaganda, die angesichts der hohen Arbeitslosigkeit im postmodernen Industriesystem die Schaffung von Arbeitsplätzen hervorhebt, zeigen nüchterne Analysen die genau gegenläufige Tendenz: „Die Arbeit unterliegt einem Prozess wachsender Professionalisierung, der sämtliche Handlungsträger, die sich nicht eingliedern können, an den Rand der Gesellschaft drängt.“ So weit der französische Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen.14 Ähnlich lautet der Befund des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Das Arbeitsvolumen sinkt künftig gesamthaft. Es sinkt insbesondere bei den einfachen Tätigkeiten in den Dienstleistungssektoren und in der Industrie, d. h. besonders dort, wo die Automatisierungspotentiale groß sind und mit einer hohen Ausschöpfung der Potentiale gerechnet werden muss.“15 Diese Perspektive wird durch eine Studie bestätigt, die sich zum Ziel setzte, den Bedarf an industriellen Fachkräften für das 21. Jahrhundert zu prognostizieren. Sie kam zu dem Schluss: Einfache Tätigkeiten in der Produktion, die ohne längere Ausbildung oder Anlernung verrichtet werden können, werden am Standort Deutschland weiter an Bedeutung verlieren.“16 Der Hinweis auf das erhebliche, künftig noch anwachsende soziale Spannungsfeld der Modernisierungsprozesse der Arbeit - gleichbedeutend mit gestiegenen Anforderungen an die 14 allgemeine und berufliche Durchschnittsqualifikation bei sinkendem Daniel Cohen, Fehldiagnose Globalisierung. Die Neuverteilung des Wohlstands nach der dritten industriellen Revolution, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 89 15 Inge Weidig, Peter Hofer, Heimfrid Wolff, Arbeitslandschaft 2010 nach Tätigkeiten und Tätigkeitsniveau (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Heft 27) Nürnberg 1999, S.58 16 Burkhard Lutz, Pamela Meil, Bettina Wiener (Hrsg.), Industrielle Fachkräfte für das 21. Jahrhundert. Aufgaben und Perspektiven für die Produktion von morgen, München 2000, S. 23 8 Gesamtarbeitsvolumen - einerseits und den höheren Anforderungen auf ein entsprechendes Erziehungs- und Bildungssystem andererseits stellt alle Schulen vor die Aufgabe, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, das Durchschnittsniveau der Schulabschlüsse drastisch zu steigern. Dies gilt insbesondere für große Teile der ausländischen Jugendlichen, denen - wie zu zeigen sein wird – eine ausreichende schulische Basisqualifikation fehlt. Für sie stellt sich das existenzielle Problem, dass sie nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht bereits dauerhaft auf eine Teilnahme am Arbeitsmarkt verzichten müssen, während gleichzeitig ein Nachfrageanstieg nach qualifizierter Facharbeit durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung prognostiziert wird.17 Und sie erhebt die bildungspolitische Forderung: „Junge Menschen mit schlechten Startbedingungen müssen trotz sinkender Zahl von Einfacharbeitsplätzen eine berufliche Zukunft haben. Sie brauchen eine ihren Fähigkeiten angemessene Qualifizierung, die mehr sein muss als das Anlernen für einfache Tätigkeiten.“18 Die folgenden Forderungen richten sich gleichermaßen an den Bund wie die Länder „darauf hinzuwirken, durch spezifische Maßnahmen die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss zu reduzieren“, z. B. indem die systematisch“ „Verknüpfung von ausgeweitet wird, Berufsvorbereitung „um nachträglich und Berufsausbildung den Erwerb des Hauptschulabschlusses zu ermöglichen“, dadurch dass ausreichend geeignete betriebliche Ausbildungsplätze speziell für diese Jugendlichen angeboten werden, indem sie „ihre Aktivitäten zum Abbau von Sprachdefiziten bei ausländischen Jugendlichen intensivieren und ihre Anstrengungen verstärken, ausländische Jugendliche zu vergleichbaren allgemeinen Abschlüssen zu führen“.19 3. Fehlendes „kulturelles und soziales Kapital“ als Ursache? Um die anhaltenden Anpassungsschwierigkeiten ausländischer Schüler im Übergang von der allgemeinen Schule in die Berufsausbildung darzulegen, nähere ich mich dem Problem zunächst von der theoretischen Seite über den Bourdieu’schen Ansatzes von Schule als Vermittler von „kulturellem Kapital“.20 Im Kontext seines Modells vom „sozialen Kapital“ 17 Vgl. hierzu den Bericht der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Hrsg.), Zukunft von Bildung und Arbeit. Perspektiven von Arbeitskräftebedarf und -angebot bis 2015, Bonn 2001, S. 4 18 Ebenda, S. 8 19 Ebenda, S.9 20 Das nachfolgende Betrachtung bezieht sich auf Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1997, ferner den Aufsatz desselben Autors, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, 9 kann, so Bourdieu, „kulturelles Kapital“ zunächst verstanden werden als ein Merkmal von Individuen, etwa unter der Fragestellung: Über welche sozialen Beziehungen und Möglichkeiten verfügt der Einzelne und welche sozialen Ressourcen stehen in diesem spezifischen Feld bereit, um eigene Ziele und Wünsche zu realisieren. „Soziales Kapital“ im erweiterten Sinn wird verstanden als eine Eigenschaft, als ein Merkmal eines sozialen Milieus oder einer gesellschaftlichen Klasse, aber auch einer Institution. In dieses Milieu ist der Einzelne eingebettet. Es definiert seine sozialen Beziehungen und legt seine sozial stratifizierten Umgangs- und Interaktionsräume fest. Diese stratifizierten Räume sind mit unsichtbaren Grenzen ausgestattet und hierarchisch gegliedert. Und sie stellen unterschiedliches soziales und kulturelles Kapital zur Verfügung. Hierbei gerät insbesondere die Selektions- und Allokationsfunktion der Schule als Institution der Vermittlung von schichtspezifischem „kulturellem Kapital“ ins Blickfeld, wie am Beispiel des fünfgliederigen Schulwesens der Bundesrepublik unmittelbar einleuchtet: In Bezug auf das Thema dieses Beitrags soll die These aufgestellt werden, dass sich die soziale Stratifikation des deutschen Bildungssystems unter dem Einfluss des Migrationsprozesses verschärfte. Das „soziale Kapital“ der Hauptschule hat sich in gleichem Maße verringert, wie sie sich zur „Restschule“ und zur „Migrantenschule“ entwickelte bei gleichzeitig quantitativ ansteigender Bildungsbeteiligung am und der Weiterentwicklung des gehobenen und höheren Schulwesens. Überspitzt könnte man sagen, dass die Immigration seit den 1960er Jahren den Prozess der Segregation des Bildungssystems beschleunigt hat. Diese Segregation war bereits vorher ein spezifisches Merkmal des deutschen Bildungssystems, trotz aller Reformversuche der 1970er Jahre. Im Gegenteil: Sie haben die vertikale Gliederung möglicherweise sogar verfestigt, wie das Beispiel zeigt: Der generelle Wandel der Volksschule über die Hauptschule zur „Restschule“ ist in jeder Bildungsstatistik offensichtlich, auch wenn dies regional und im Einzelfall nicht ganz zutrifft.21 Wurde sie 1960 noch von 70 Prozent aller Schüler eines Jahrgangs besucht, waren es 1998 nur noch 21 Prozent bei weiter sinkender Tendenz; im gleichen Zeitraum stiegen in gegenläufiger Entwicklung die höheren Bildungsabschlüsse um als das Doppelte an.22 soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziologie der sozialen Ungleichheit, Göttingen 1992, S. 183192. 21 In den verschiedenen Bundesländern werden in jüngerer Zeit vermehrte Anstrengungen sichtbar, so z. B. in Bayern und Hessen, die Hauptschule z. B. durch Abschlussprüfungen aufzuwerten. 22 Vgl. hierzu: Heike Solga/Sandra J. Wagner, Die Bildungsexpansion und ihre Konsequenzen für das soziale Kapital der Hauptschule, in: Stefanie Engler/Beate Krais (Hrsg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus Weinheim und München 2003, S. 99 10 Festzuhalten ist allerdings, dass Hauptschulen sich dann strukturell ähneln, wenn sie zwei Merkmale gemeinsam haben, wenn sie a) in einem Einzugsgebiet mit relativ homogener Unterschicht angesiedelt sind oder einen hohen Ausländeranteil aufweisen. Trotz möglicher weiterer Binnendifferenzierung ist allen Hauptschulen unter diesem Aspekt strukturell ihre Entlastungsfunktion gegenüber höheren Schulformen gemeinsam, indem sie die generell als leistungsschwach eingestuften Schüler aufnehmen. Mit dieser Entmischung der Schülerpopulation geht im Sinne Bourdieus eine Abnahme des „kulturellen Kapitals“ bei den Hauptschülern einher. Denn für sozial benachteiligte deutsche Kinder wie auch für Migrantenkinder mit zusätzlichen Hilfen zur Integration verschlechtern sich mit der sozialen Entmischung die Lernbedingungen. Dies führt zu einem Verlust an Kontakt mit Kindern aus bildungsnäheren Schichten; Schichten, die ihren Kindern in der Regel zu Strategien verhelfen, mit denen sie die Anforderungen des schulischen Lernprozesses erfolgreicher bewältigen. Dagegen befördert Bildungsferne plus soziale und kulturelle Distanz der Migranten zur deutschen Gesellschaft nach wie vor die Segregation ihrer Kinder mit den bekannten Resultaten. Es wird zu zeigen sein, dass dieser Befund trotz zunehmender zeitlicher Distanz vom Einwanderungszeitpunkt auch für die zweite und dritte Generation der Kinder ehemaligen Gastarbeiter seine Gültigkeit behält. Der Bildungsauftrag der Hauptschulen, die gegenseitige kulturelle Bereicherung zu befördern, wird durch die faktische Segregation aufgehoben. Dem steht nicht entgegen, dass es durchaus erfolgreiche Modelle gibt, in denen die schulische Integration von Ausländern durch ein Programm der Mehrsprachigkeit und der gelebten Interkulturalität als Bereicherung erfahren wird, von der alle Schüler profitieren. So ist z. B. der Anteil ausländischer Schüler in sogenannten Internationalen oder Europaschulen, wie sie im letzten Jahrzehnt vermehrt entstanden sind, relativ hoch. Sie bestätigen nachgerade die Tatsache, dass vor allem das hohe soziale und kulturelle Kapital ihrer Schüler bzw. ihres familialen Hintergrunds den Bildungserfolg dieser Schulen garantiert. Diese Schulen sind auch für deutsche Eltern attraktiv, weil die kulturelle und sprachliche Vielfalt als Bereicherung des eigenen kulturellen Selbstverständnisses begriffen wird. In diese Schulen wird von seiten des Staats nicht nur mehr investiert; sie stehen trotz oder gerade auf Grund des großen Ausländeranteils in hohem Ansehen. Es ist vor allem der sozialisierende Effekt des sozial und kulturell differenzierten und anregungsreichen Umfeldes und dessen Wertschätzung von Bildung, das den Bildungserwerbsprozess positiv beeinflusst. Er ist primär abhängig, wie eine Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung schreibt, von 11 „herkunftsstratifizierten schulischen Netzwerkressourcen in Form von peer groups, Klassenkameraden und deren Eltern“. Und sie stellt einen quasi gesetzmäßigen Zusammenhang fest: Je stärker die Relation zwischen sozialer Herkunft und besuchtem Schultyp ist, desto homogener seien diese Netzwerkressourcen. Und sie schlussfolgert: „Je stärker Kinder sozial schwächerer Schichten durch den Schulbesuch von Kindern sozial stärkerer Familien getrennt werden, desto ärmer sind die ihnen zur Verfügung stehenden Netzwerkressourcen in der Schule in bezug auf das Aspirationsniveau, den Anregungsgehalt ihrer Lernumwelt sowie hinsichtlich der Beobachtung anderer Lerneinstellungen und Lebensentwürfe. Dies sind insbesondere für Kinder aus sozial schwachen Familien wichtige Ressourcen. So wie der Schulkontext für Kinder mit vergleichsweise guten familiären Ressourcen eine geringere Rolle spielt, ... ist er für Kinder mit vergleichsweise schlechten eigenen Ressourcen von besonderer Bedeutung“23 Auch sie heben, ebenso wie das oben zitierte „Forum Bildung“, die Bedeutsamkeit des Spracherwerbs hervor, betonen zugleich jedoch die Bedeutung schichtenspezifisch ausgeprägter Lernmotivation und habitualisierter Lerngewohnheiten. Sie erheben auf der Grundlage dieser Einsicht implizit die bildungspolitisch brisante Forderung nach Aufhebung der „herkunftsabhängigen Abschottung“ der Schulen. Über eine so entstehende Verbreiterung des sozialen Herkunftsmilieus würde die kompensatorische Funktion der Schule hervorgehoben. Insofern diese unterbleibt, hat sich vor allem für Unterschicht- und Migrantenkinder, so das abschließende Resümee, „das institutionelle Risiko einer sozialen Ausgrenzung erhöht“.24 4. Einige empirische Befunde Besonders signifikant wird die Marginalisierung der Mehrheit der Migrantenkindern durch ihre Überrepräsentanz in der Haupt- und Sonderschule und bei den Schülern ohne Hauptschulabschluss. Der Nachweis ist leicht geführt: An deutschen Schulen betrug im Schuljahr 2003/04 der Ausländeranteil im Durchschnitt 9,9 Prozent.25 Er hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Ausländische Schüler machen bei steigender Tendenz 18,6 Prozent der Hauptschüler aus; 19,2 Prozent erreichten im Schuljahr 2002/03 überhaupt keinen Schulabschluss bei nur 7,9 Prozent der deutschen Hauptschüler. Dagegen beträgt ihr Anteil an den Realschulen gerade noch 6,6 Prozent, an Gymnasien lediglich 3,9 23 Ebenda, S. 101 Ebenda, S. 112 25 Statistisches Bundesamt, Allgemein bildende Schulen, Ausländische Schüler/innen nach Schularten, aktualisiert am 12. November 2004, zit. nach www.destatis.de. Auch diese Tabellenaussagen sind mit dem Fehler behaftet, dass sie Schüler mit deutscher Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund nicht erfassen. 24 12 Prozent. Das Ergebnis lässt sich fast wie ein Gesetz formulieren: Je niedriger der Schultyp, desto höher der Ausländeranteil und umgekehrt. Über die Ursachen, Hintergründe oder Bildungshemmnisse sagen diese nüchternen Zahlen noch nichts aus. Immerhin zeigt sich, dass wichtige Weichenstellungen für die weitere Bildungsentwicklung nach Abschluss der Grundschule erfolgen. Sie vermag offensichtlich nicht, die vom Umgebungsmilieu her rührenden Bildungsdefizite zu kompensieren. Allgemeinbildende Schulen, Absolventen/Abgänger und Absolventinnen/Abgängerinnen Des Schuljahrs 2002/03 nach Abschlussarten (Stand 15.11.2004) Absolventen/Abgänger Abschlussarten Einheit Insgesam Deutsche t Auslände r Insgesamt Ohne Hauptschulabschluss 1000 84,1 68,7 15,4 Mit Hauptschulabschluss 1000 245,9 212,6 33,3 Mit Realschulabschluss 1000 383,9 360,5 23,3 Mit Fachhochschulreife 1000 11,3 10,3 1,3 Mit allgemeiner Hochschulreife 1000 222,3 215,1 7,1 1000 947,4 867,3 80,1 Insgesamt Abschlussstruktur – Insgesamt (insgesamt = 100) Ohne Hauptschulabschluss % 8,9 7,9 19,2 Mit Hauptschulabschluss % 26,0 24,5 41,6 Mit Realschulabschluss % 40,5 41,6 29,1 Mit Fachhochschulreife % 1,2 1,2 1,2 Mit allgemeiner Hochschulreife % 23,5 24,8 8,9 Insgesamt % 100 100 100 Abbildung 1: AbsolventInnen/AbgängerInnen aus allgemeinbildenden Schulen (nach: Statistisches Bundesamt 2004/www.destatis.de) Sie bestehen vor allem im sprachlichen Bereich. Die frühe Selektion und Verteilung auf die einzelnen Schularten hat langfristig erhebliche Auswirkungen, zumal dann, wenn die sich früh abzeichnenden Bildungsdefizite nicht behoben werden. Sie werden als „Risikogruppe“ eingestuft, weil sie „den Anforderungen der niedrigsten Kompetenzstufe nicht gewachsen sind“, wie es in der Pisa-Studie zusammenfassend heißt.26 Vor allem 26 Deutsches Pisa-Konsortium (Hrsg.), Pisa 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 120 13 ausländische Schüler aus Haupt- und Sonderschulen müsse bei den meisten „mit erheblichen Schwierigkeiten beim Übergang in das Berufsleben“ gerechnet werden, da ihnen das minimale Niveau fehle, „um eine Ausbildung erfolgreich abschließen zu können“.27 Allerdings geben die Zahlen wie die analytischen Befunde keine Hinweise auf eventuell zu geringe Wertschätzung der schulischen Bildung durch ausländische Eltern. Es gibt durchaus Indizien für das Gegenteil: Unter Ausländern werden durchaus verstärkte Bemühungen um Integration durch Bildungsaufstieg registriert, wenn auch erst über den 2. Bildungsweg. Dies zeigt Tabelle 2 sehr deutlich. Danach beträgt der Anteil ausländischer Teilnehmer an Abendhauptschulen immerhin 41,7 Prozent, an Abendrealschulen 28,3 Prozent und noch 15,8 Prozent an Abendgymnasien. Allgemeinbildende Schulen, Ausländische Schüler/innen nach Schularten Ausländeranteile Schuljahr 2001/2 2002/3 2003/4 Grundschulen 12,1 % 12,0 % 11,7 % Hauptschulen 17,7 % 18,2 % 18,6 % Realschulen 6,6 % 6,8 % 7,0 % Gymnasien 3,9 % 3.9 % 4,0 % Integrierte Gesamtschulen 12,2 % 12,5 % 12,8 % Sonderschulen 15,4 % 15,8 % !6,0 % Abendhauptschulen 41,7 % 41,7 % 38,5 % Abendrealschulen 27,1 % 28,3 % 27,6 % Abendgymnasium 15, 4 % 15,8 % 14,3 % 7,4 % 6,5 % 6,0 % 9,7 % 9,8 % 9,9 % Kollegs Insgesamt Abbildung 2: Verteilung ausländischer SchülerInnen nach Schularten (nach: Statistisches Bundesamt 2004/www.destatis.de) In der Sonderschule sind sie mit 15, 4 Prozent deutlich überrepräsentiert. Hierfür wird vor allem die mangelhafte Sprachkompetenz verantwortlich gemacht. Diese Schüler sind 27 Ebenda, S. 117 14 eindeutig in einer Bildungssackgasse angekommen, denn die Sonderschule besitzt nur eine gering ausgeprägte fachdidaktische Kompetenz in der Sprachvermittlung. 28 Sie vermag also kaum die als Ursache der festgestellten Defizite zu beseitigen; weiterführende Bildungsmöglichkeiten bleiben ihnen verschlossen. Die Marginalisierung ausländischer Schüler durch fehlende Bildungsabschlüsse bzw. durch die Sonderschule wird erst deutlich sichtbar beim Übergang in die Berufsausbildung bzw. in das Berufliche Schulsystem. Nicht nur dass mit diesem Übergang ein erheblicher Schwund von Schülern verbunden ist, die zwar prinzipiell berufsschulpflichtig sind, dort aber nicht auftauchen. Sie sind denn auch mit nur 7 Prozent aller Schüler im beruflichen Schulwesen deutlich unterrepräsentiert.29 Auch hier lässt sich feststellen, dass die ausländischen Jugendlichen, wenn überhaupt, nur eine erheblich verringerte Auswahl aus der breiten Palette der Ausbildungsberufe zur Verfügung steht und dass sie, vor allem die Mädchen, nur in die wenig qualifizierenden Ausbildungsberufe des Einzelhandels oder des Friseurhandwerks gelangen, wie die Berufsbildungsberichte der Bundesregierung seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit aufzeigen.30 Diese Jugendlichen mit Ausbildungsvertrag stellen dennoch die positive Auswahl dar, da sie überhaupt in Ausbildung vermittelt werden konnten. Noch deutlicher zeigt sich der Zusammenhang von fehlendem schulischem Abschluss und fehlender Ausbildungschance bei Ausbildungsplatzbewerbern ohne Hauptschulabschluss oder Sonderschülern. Zwar haben auch Jugendliche deutscher Herkunft in dieser Gruppe kaum Aussicht auf Ausbildung, aber ausländische Jugendliche, vor allem Mädchen, sind in der Gruppe der Chancenlosen bei weitem überrepräsentiert.31 Diese Gruppe wird in die sogenannten „Maßnahmen zur Förderung der Berufsreife“ aufgenommen, eine sogenannte „Warteschleife“ der Berufsausbildung gelandet. Eine solche stellt das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) dar. Hier sind ausländische Jugendliche bei weitem überrepräsentiert: Beträgt der Anteil deutscher Schüler im BVJ lediglich 7 Prozent der Gesamtzahl aller Berufsschüler, so sind 22 Prozent aller Schüler im BVJ ausländischer Herkunft. Vom BVJ führt nur selten ein Pfad in die Berufsausbildung, denn die 28 Justin J. W. Powell/Sandra J. Wagner, Zur Entwicklung der Überrepräsentanz von Migrantenjugendlichen an Sonderschulen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1991, in: Gemeinsam leben. Zeitschrift für integrative Erziehung, Jg. 10, H.2/2002, S. 65-70, hier S. 69 29 Die Berechnung erfolgte nach: Statistisches Bundesamt, Zeitreihe zur Fachserie 11, Reihe 2 für das Jahr 1999. Neuere Zahlen sind offensichtlich nicht vorhanden. 30 Dazu z. B.: Berufsbildungsbericht 2003, hrsgg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn 2003, insb. Übersicht 20: Die zehn am häufigsten von ausländischen Auszubildenden gewählten Ausbildungsberufe 2001, S. 90. 31 Vgl. hierzu das Kapitel 2.1.1 des Berufsbildungsberichts 2003 „Schulische Vorbildung und Altersstruktur der Auszubildenden“, S. 80-85 und 2.1.2 „Ausländische Jugendliche“, S. 85-91. 15 Teilnehmer dieser Maßnahme absolvieren hier zugleich den größten Teil ihre Berufsschulpflicht in Kompaktform, d. h. sie erfüllen die bis zum 18. Lebensjahr geltende Berufsschulpflicht in einem vollzeitschulischen Zeitäquivalent. Anschließend stehen sie einem sich neu strukturierenden Arbeitsmarkt zur Verfügung, der diese Geringqualifizierten weniger denn je zu absorbieren vermag. Es ist daher nicht verwunderlich, dass beim Übergang von der allgemeinen Schule in die Berufsschule ein erheblicher „Schwund“ entsteht. Wozu noch Berufsschule, wenn sie nur in einer Sackgasse mündet? Damit ausländischen Jugendlichen der Einstieg in die Berufsausbildung gelingt, sind eine Reihe von Bedingungen zu beachten: Auf der subjektiven Seite wirken Faktoren wie Neigung, Anstrengungsbereitschaft, Flexibilität und Eignung als spezifisches, auf die Erwartungshaltung von Ausbildungsplatzanbietern bezogenes „kulturelles Kapital“, über die natürlich auch Jugendliche mit Migrationshintergrund verfügen können. Auf der Angebotsseite sind die objektiven Rahmenbedingungen der regionalen wirtschaftlichen Lage zu berücksichtigen. Zwischen Person und wirtschaftlich-regionaler Situation dürfte also eine Reihe von wechselseitigen Interaktionseffekten bestehen, so dass die Einmündung in Ausbildungsverhältnisse unterschiedlich definiert wird. Generell gilt, dass Betriebe in Zeiten eines hohen Ausbildungsplatzangebots bei guter Konjunkturlage eher Verhaltensdefizite auf Seiten der Bewerber hinnehmen als in wirtschaftlich schwieriger Lage. Umgekehrt gilt, dass in wirtschaftlich und strukturell schwachen Räumen Bildungsabschlüsse sowie soziale und vor allem ethnische Herkunft als scharfe Selektionsmechnismen wirken. Eine Untersuchung des BIBB/BA von 2002 stellte zur Klärung dieses Zusammenhangs die Frage, „in welchem Ausmaß der Migrationshintergrund Einfluss auf den Erfolg bei der Ausbildungsplatzsuche“ nahm. Dabei wurden folgende Faktoren miteinander kombiniert, nämlich regionale Wirtschaftssituation mit den Parametern allgemeine Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und Schulbildung.32 Das Ergebnis dieser Studie ist ernüchternd. Es zeigt sich, dass sich im Endeffekt die drei Faktoren untereinander nahezu additiv zueinander verhalten: „Wohnen die Bewerber in Regionen mit eher niedriger Arbeitslosenquote, ist die Schulbildung eher hoch und liegt kein Migrantenhintergrund vor, münden 63,9 Prozent in eine Lehre, weitere 6,8 Prozent in eine vollqualifizierte berufsfachschulische Ausbildung oder in ein Studium.“ Interessant ist ferner, dass Schüler 32 Joachim Gerd Ulrich, Jugendliche mit Berufsstartschwierigkeiten: Wer ist das? in: Jugendliche mit Berufsstartschwierigkeiten. Wirksame Unterstützung vor Ort? Dortmunder Forschertage Berufliche Bildung NRW, Dortmund 2003, S. 28-53, hier S.42 16 mit Migrantenhintergrund und hoher Schulbildung immer noch schlechtere Berufsstartchancen haben als deutsche Schüler mit eher niedriger Schulbildung. Ist die Region dagegen eher strukturschwach und durch hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet, sinken die Ausbildungschancen für Jugendliche mit diesem spezifischen Migrantenhintergrund noch einmal deutlich unter die in sozialer Hinsicht vergleichbarer deutscher Jugendlicher. Offensichtlich wird der Mangel an „kulturellem Kapital“ bei diesen Jugendlichen, wenn sie sich um Ausbildungsplätze bewerben. Sie haben in der Regel erheblich größere Anpassungsschwierigkeiten beim der Überschreiten der „ersten Schwelle“. Dieser Mangel benachteiligt sie in der Konkurrenzsituation mit deutschen Jugendlichen vergleichbarer Herkunft. Die fehlende elterliche bzw. Umfeldunterstützung und deren soziale Distanz zur Mehrheitskultur scheint der zentrale Faktor zu sein, der die Integration langfristig auch in der nächsten Generation erschwert. Die fehlende Unterstützungsmöglichkeit der Eltern in der allgemeinen Schule setzt sich fort. Ein Teufelskreis zeichnet sich ab, bestehend aus Unsicherheit und mangelhafter Kenntnis der komplexen Systemstruktur der Berufsausbildung und des beruflichen Schulwesens. Er verstärkt die Unsicherheit über die Zukunftsplanung vieler Migrantenfamilien. Es ist zu vermuten, dass sich ausländische Familien in diesem wichtigen Punkt noch einmal unterscheiden, nämlich in solche mit dem Willen zur Integration und solche, die an - in vielen Fällen einer Illusion - der Rückwanderung in das Herkunftsland noch festhalten. Aus letzterer Gruppe dürfte der größte Anteil der „Ausbildungsverzichter“ stammen. 5. Resümee Am Schluss der eher ernüchternden Bilanz des bildungspolitischen wie auch des berufsbildungspolitischen Versagens gegenüber der Mehrheit der Schüler mit Migrationshintergrund können den Integrationsbemühungen nur mit einiger Ironie positive Aspekte abgewonnen werden: Verglichen mit der äußerst schwierigen Ausgangssituation für die Kinder der Arbeitsmigranten in den 1960er und 1970er Jahren kann man durchaus Verbesserungen der schulischen Aufstiegschancen wie auch des Übergangs in die berufliche Ausbildung konstatieren. Zwar hat die Bildungspolitik diese Gruppe längst als besonders förderungswürdig erkannt, wenn auch nicht ganz selbstlos: Der demographisch bedingte enorme Rückgang der Erwerbsbevölkerung in Deutschland lässt es wichtiger 17 denn je erscheinen, dass junge Menschen zum Bildungserfolg geführt werden. 33 Die Verbesserung ihrer Startchancen ist eine der notwendigen Maßnahmen, das erforderliche Potential an beruflich Qualifizierten für den Produktionsstandort Deutschland im Land selbst hervorzubringen. Die Wirklichkeit hat allerdings die durchaus zu konstatierenden Anstrengungen des Bildungswesens überholt: Am quantitativen Aufstieg ins höhere Bildungswesen sind die Kinder der Arbeitsmigranten deutlich unterrepräsentiert, und zwar deutlich geringer als vergleichbare soziale Schichten der deutschen Bevölkerung. Für sie hat sich mit der Entwicklung der Hauptschule zur „Restschule“ diese zum Sammelbecken von Schülern mit in einem weiten Sinne Lernschwierigkeiten entwickelt. Hierdurch fand eine Homogenisierung der Lernbedingungen nach sozialen Schichten statt. Die angemessene Ausstattung von Hauptschülern und insbesondere von Migrantenkindern mit „kulturellem Kapital“ im Sinne Pierre Bourdieus misslingt in zu vielen Fällen. Der wechselseitige Annäherungsprozess, Voraussetzung für das Gelingen des multikulturellen Projekts, wird von beiden Seiten nur zögerlich vorangetrieben. An der mangelhaften Beherrschung der deutschen Sprache wird dieser schwierige Prozess kultureller Auseinandersetzung zwischen Selbstbehauptung und Anpassung paradigmatisch deutlich. Der schulische Misserfolg der ausländischen Kinder durch fehlenden Spracherwerb ist ein wichtiger Indikator wechselseitiger Befremdung. Diesen Punkt sieht auch das deutsche Pisa-Konsortium, auch wenn behauptet wird: „Für Benachteiligungen in der Bildungsbeteiligung von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien sind primär weder die soziale Lage noch die kulturelle Distanz der Familie als solche verantwortlich; von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem dem jeweiligen Bildungsgang angemessenen Niveau.“34 Der letztere Teil der Aussage mag durchaus zutreffen; in ihrem Ursachenzusammenhang ist sie jedoch alles andere als klar, verweist die Studie doch selbst darauf, dass in den Fällen, in denen beide Elternteile zugewandert sind, die Kinder zu 50 Prozent die elementare Kompetenzstufe I im Lesen nicht erreichen, dass 20 Prozent der Schüler sogar „extrem schwache Leser“ seien. Mir scheint die Feststellung der Pisa-Verfasser, die Kategorie „kulturelle Distanz“ sei als Ursache für die mangelhafte Lesekompetenz unerheblich, zumindest fragwürdig. Fragwürdig scheint bereits die empirische Basis, wonach die viel breitere Kategorie „Beherrschung der deutschen Sprache“ mit „Lesekompetenz“ gleichgesetzt werden könne. 33 Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis zum Jahr 2050. Ergebnisse der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden Juli 2000. 34 Ebenda, Kap. 8.5: Jugendliche aus Migrationsfamilien, S. 372-379, hier S. 379 18 Vielmehr hätte vorab geklärt werden müssen, in welcher Beziehung beide Kategorien stehen, denn Lesekompetenz deckt ja nur einen Teilbereich allgemeiner Sprachbeherrschung ab. Es könnte durchaus sein, dass sich ausländische Schüler mit ihren deutschen Mitschülern verbal angemessen verständigen können und auch über einen altersgemäßen Wortschatz verfügen. Dennoch können sie Leseschwierigkeiten in der anders gearteten Schriftsprache und im ihnen künstlich erscheinenden Raum Schule aufweisen. Könnte man nicht doch mangelhafte Lesekompetenz plausibler aus jener „kulturellen Distanz“ zu erklären versuchen, die die Bildungsforscher nicht wahrgenommen haben? Und präzisierte man empirisch die recht weitschweifige Kategorie „soziale Lage“ von ausländischen Familien, in denen beide Elternteile zugewandert sind, stieße man nicht auf ghettoähnliche Wohn- und Arbeitsbedingungen, auf „kulturelle Distanz“? Immerhin leben gerade neu Eingewanderte weitgehend isoliert von der deutschen Umgebungskultur bzw. haben sie ihre Kontakte weitgehend auf ein relativ homogenes Milieu mit ihren Landsleuten eingestellt. Damit halten sie die Distanz zum deutschen Umfeld sprachlich und kulturell bewusst aufrecht mit allen Nachteilen für ihre Kinder. Für diese Familien sind die Anforderungen der Schule an die Lesekompetenz so hoch, dass sie aus einem ebenso isolierten wie bildungsfernen Milieu heraus nicht bewältigt werden können. Dieser mangelnde Unterstützung ist erheblich und wirkt sich insgesamt negativ auf den Bildungserfolg aus, wie die Pisa-Studie andererseits richtig feststellt: „Nach den Befunden scheinen sich sprachliche Defizite kumulativ in Sachfächern auszuwirken, so dass Personen mit unzureichendem Leseverständnis in allen akademischen Bereichen in ihrem Kompetenzerwerb beeinträchtigt sind.“35 Den Verantwortlichen in der Bildungspolitik ist vorzuhalten, dass sie solche zentralen Einsichten der Bildungsforschung zwar, wie eingangs zitiert, teilen, sie aber nicht als Herausforderung begreifen, dass am Schulversagen von Migrantenkinder ein strukturelles Defizit des Bildungssystems erkennbar wird, ein Defizit, das in Zeiten eines schnellen strukturellen Wandels der Arbeitswelt und damit des Ausbildungssystems kaum mehr aufzuholen ist. Die Hoffnung der 1980iger Jahre, es gäbe nach dem Anwerbestop von 1973 eine wie vor Hundert Jahren bei der Polenwanderung sich naturwüchsig und gewissermaßen von allein vollziehende Integration, die das Problem mangelhafter Bildungschancen und unzureichender Ausbildungsbeteiligung mittelfristig zum Verschwinden bringe, erweist sich heute wie vor dreißig Jahren als Wunschdenken. 35 Ebenda 19 Einige Beispiele zum Problem Kulturelle Distanz Wir haben gesehen, dass die Chance zur weiteren Teilhabe am Bildungs- und Ausbildungsangebot der Dominanzgesellschaft erheblich vom Bildungserfolg der vorherigen Stufen abhängig ist. Dies gilt zwar allgemein, aber insbesondere für die nachwachsende Generation mit Migrationshintergrund. Schule und soziales Umfeld tragen hier erhebliche Verantwortung. Dass hier vieles im Argen liegt, zeigen die jüngsten Vorfälle in einer Berliner Schule und anderswo. Die Versäumnisse in Sachen Integration liegen weit zurück. Spätestens mit dem Anwerbestop von 1973 hätte phantasievoll im Bereich der Bildungspolitik und der Schuladministration mit der Einbürgerung der zweiten Generation, mit den Kindern der Arbeitsemigranten, begonnen werden müssen. Stattdessen hielt die Kultusministerkonferenz an der paradoxen Doppelzielsetzung der partiellen Integration in das deutsche Schulwesen bei gleichzeitiger Reintegration in die des Herkunftslandes fest. Man vertrat die Position, die einen gingen wieder zurück, die anderen würden naturwüchsig integriert analog der Polenwanderung ins Ruhrgebiet. Diese Hoffnung auf die billige Lösung des Problems wurde noch gepflegt, als sich längst Parallelgesellschaften abzuzeichnen begannen. In ihnen vollzog sich keine naturwüchsige intergenerative Integration in die „Leitkultur“. Stattdessen wiederholte sich bei einigen Ethnien das Seiteneinsteigerphänomen in das Bildungssystem, wie es kennzeichnend für die 70er Jahre war. Während sich kulturnähere Nationalitäten wie Spanier, Italiener, Griechen in höherem Maße über das Bildungssystem integrierten, spalteten sich die türkischen Zuwanderer, aber auch Zuwanderer aus nordafrikanischen Staaten oder Bürgerkriegsflüchtlinge aus Persien, Pakistan oder Afghanistan an der Frage der Integration, begleitet von Abwehrkampagnen auf Seiten konservativer Politiker sowohl in Deutschland als auch in der Herkunftsländern. Im nach vagen „clash of civilisations“ (S. Huntington) der 90er Jahre wurde eine Spaltung sichtbar, die latent längst vorhanden war: Die Religionszugehörigkeit wurde zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal. Dem Kampf um das Kopftuch folgte der Streit um das Kreuz im Klassenzimmer. Er wurde scheinbar salomonisch gelöst: Kopftuch für Schülerinnen ja, nicht aber für muslimische Lehrerinnen. Scheinbar deshalb, weil kürzlich zwei muslimische Schülerinnen in Ganzkörperverhüllung vom Unterricht einer Bonner Schule ausgeschlossen wurden. Man darf auf die Signalwirkung dieser Auseinandersetzung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ebenso gespannt sein, wie auf die gerichtliche Auseinandersetzung, in der es 20 um eine praktikable Auslegung des abstrakten Verfassungsprinzips der garantierten Religionsfreiheit und damit um Rechtssicherheit in der Schule gehen wird. Im Schulalltag sind es nicht spektakuläre Situationen der genannten Art, die auch engagierte Lehrer zermürben. Die folgenden Beispiele sollen die Aufmerksamkeit auf das neben der Schichtenzugehörigkeit wohl wichtigste in der Schule wirksam werdende Unterscheidungsmerkmal lenken, nämlich auf die durch islamische Traditionen hervorgerufene kulturelle Distanz. Man muss nicht auf so heikle Themen wie Sexualkunde verweisen. Sie können auch bei christlichen Familien Protesthaltungen auslösen und zu Misstrauen gegen die „Staatsschule“ führen. Nehmen wir einen einfacheren Fall. Die gelebte islamische Tradition weicht hauptsächlich auf folgenden Ebenen von der Dominanzkultur ab: Da sind zunächst die religiösen Zeremonien und Rituale und die damit verbundenen Feiertage sowie die daraus folgenden Speisevorschriften; ferner existieren erhebliche Unterschiede in allgemeingesellschaftlichen Wertorientierungen, z. B. die im Verhältnis von Männern und Frauen Ausdruck finden, die relevant werden in unterschiedlichen Einstellungen zur liberalen Gesellschaft westlicher Prägung mit all ihren (für Muslime anstößigen) Erscheinungsformen; in unterschiedlichen Erwartungen an die Schule bzw. die Ängste vor der Schule als Ort der Vermittlung entfremdender Wertvorstellungen; in Bezug auf Tradition und Autorität , und zwar die des Vaters, der Vorbeter und Mullahs und schlussendlich auf das Toleranzgebot der Gleichwertigkeit der religiösen Bekenntnisse. Hierbei spielt eine wesentliche Rolle, dass der Koran als die letzte göttliche Offenbarung mit keiner anderen Religion gleichgestellt werden darf. Beispiel 1: Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi machte vor einiger Zeit in einem Artikel der Wochenzeitung Die Zeit auf einen Vorfall aufmerksam, der sich bei einer interreligiösen Begegnung zwischen dem Bischof von Münster und einem hohen islamischen Würdenträger ereignete: Der Mullah überreichte dem Bischof eine wertvolle Ausgabe des Koran. Der nahm sie an, bedankte sich freundlich und wollte sich zum Dank mit einer feinen Ausgabe der Bibel revanchieren. Das Geschenk wurde erschrocken abgewehrt; nicht einmal berühren wollte der Mullah das Dargebotene. 21 Beispiel 2: Die Rektorin einer Frankfurter Gesamtschule mit hohem Anteil an muslimischen Schülern, befragt zum Religionsunterricht, berichtet, dass islamische Schüler lediglich Ersatzunterricht erhalten, thematisch an Sozialkunde angelehnt. Ihre Religiöse Unterweisung erhielten sie an Wochenenden bzw. in den Ferien an Koranschulen. Darüber wollten die Schüler allerdings nur ungern reden. Beispiel 3: Ein türkischer Schüler besucht das obligatorische Zusatzangebot für LeseRechtschreibschwache. Vor den Osterferien befragt ihn die Lehrerin nach seinen Lesegewohnheiten und seinem Bestand an Jugendliteratur. Der Junge druckst herum und verweist schließlich darauf, dass er lediglich ein Buch in deutscher Sprache besitze. Daraufhin empfiehlt sie ihm für die Ferien einige spannende Jugendbücher aus der Schulbücherei in der Absicht, so zur Verbesserung seiner Lesekompetenz beizutragen. Nach den Ferien gesteht der 14-Jährige, dass er in den Ferien lediglich in seinem eigenen Buch gelesen habe. Befragt, gesteht er, es sei eine deutschsprachige Ausgabe des Korans.