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EUROPÄISCHE KOMMISSION
José Manuel Durão Barroso
Präsident der Europäischen Kommission
Rede zur Lage der Union
Plenartagung des Europäischen Parlaments/Straßburg
Mittwoch, 11. September 2013
REDE/13/684
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrter Herr Minister,
verehrte Mitglieder des Parlaments
meine Damen und Herren,
in acht Monaten werden die Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa an den Urnen ihr
Urteil über unsere Arbeit der letzten fünf Jahre abgeben.
In dieser Legislaturperiode war Europa in unserem Alltag präsenter denn je. Überall in
der Union, ob in Cafés, Kneipen oder Talkshows, wurde viel über Europa gesprochen.
Heute nun möchte ich den Blick darauf richten, was wir bereits gemeinsam erreicht
haben und was noch angegangen werden muss. Zudem möchte ich die wichtigsten
Themen umreißen, über die meiner Meinung nach bis zu den Wahlen im kommenden
Jahr eine wirklich europäische politische Debatte geführt werden muss.
Meine Damen und Herren,
vor genau fünf Jahren übernahm die US-amerikanische Regierung nicht nur die Kontrolle
über die Finanzinstitute Fannie Mae und Freddie Mac, sondern sie gewährte auch
staatliche finanzielle Hilfe zur Rettung der Versicherungsgesellschaft AIG; in die gleiche
Zeit fiel auch der Insolvenzantrag der Lehman Brothers.
Diese Ereignisse lösten eine weltweite Finanzkrise aus, die sich zu einer beispiellosen
Wirtschaftskrise entwickelte und eine soziale Krise mit dramatischen Folgen für viele
unserer Bürgerinnen und Bürger nach sich zog. Diese Ereignisse haben das
Schuldenproblem, das unsere Regierungen nach wie vor enorm belastet, weiter
verschärft. Sie haben aber auch zu einem alarmierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit,
insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit, geführt. Und unseren Staatshaushalten und
Unternehmen machen sie nach wie vor das Leben schwer.
Aber Europa hat nicht tatenlos zugeschaut. Wir haben uns in diesen letzten fünf Jahren
den Problemen entschlossen gestellt. Wir haben die Krise gemeinsam durchgestanden.
Wir wussten, dass wir der Krise nur mit vereinten Kräften Herr werden können. Wir sind
die Probleme gemeinsam angegangen – und daran wird sich auch jetzt nichts ändern.
Rückblickend kann ich sagen, dass wir es vor fünf Jahren sicherlich niemals für möglich
gehalten hätten, dass wir es gemeinsam schaffen könnten, Europa vereint durch die
Krise zu führen.
Wir reformieren zurzeit von Grund auf den Finanzsektor, damit die Ersparnisse unserer
Bürgerinnen und Bürger sicher sind.
Wir haben die Art und Weise, wie unsere Regierungen zusammenarbeiten, ihre
Haushalte konsolidieren und ihre Volkswirtschaften modernisieren, verbessert.
Wir haben über 700 Mrd. EUR mobilisiert und dadurch krisengebeutelte Staaten vor dem
Abgrund bewahrt. Noch nie haben die Länder in einem solchen Ausmaß zur
Stabilisierung der betroffenen Länder beigetragen.
Ich erinnere mich noch ganz genau an ein Treffen im letzten Jahr mit den Chefökonomen
vieler großer Banken. Die meisten gingen davon aus, dass Griechenland den EuroWährungsraum verlassen würde. Alle warnten vor einem Auseinanderbrechen des EuroWährungsraums. Heute können wir diese Befürchtungen mit einer klaren Antwort
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entkräften: Kein Land hat oder musste den Euro-Währungsraum verlassen. In diesem
Jahr nahm die Europäische Union das 28. Mitglied in ihre Runde auf, und im nächsten
Jahr wird sich der Euro-Währungsraum von 17 auf 18 Mitglieder erweitern.
Jetzt stellt sich allerdings die Frage, wie wir mit diesem Fortschritt umgehen. Rühmen
wir uns unserer Errungenschaften oder spielen wir sie herunter? Macht uns dieser
Fortschritt Mut, unsere bisherigen Bemühungen fortzusetzen, oder relativieren wir die
Ergebnisse unserer Arbeit?
Meine Damen und Herren,
ich komme gerade vom G20-Gipfel in St. Petersburg zurück und kann Ihnen versichern,
dass wir Europäer uns in diesem Jahr – im Gegensatz zu den letzten Jahren – keine
Belehrungen von anderen darüber anhören mussten, wie die Krise anzugehen sei.
Vielmehr haben wir Anerkennung und Unterstützung für unsere Arbeit erfahren.
Aber nicht, weil die Krise überwunden wäre, denn die Krise ist noch nicht vorbei. Die
Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union wird weiter auf die Probe gestellt. Aber
durch unser Handeln haben wir das Vertrauen geschaffen, dass wir die Krise überwinden
werden – wenn wir uns nicht zurücklehnen.
Wir gehen die Probleme gemeinsam an,
– und wir haben auch gar keine andere Wahl.
In einer Welt, in der sich grundlegende geowirtschaftliche und geopolitische
Veränderungen vollziehen, können wir meiner Überzeugung nach nur gemeinsam, d. h.
als Europäische Union, sicherstellen, dass sich die Erwartungen unserer Bürgerinnen und
Bürger erfüllen: dass unsere Werte, unsere Interessen und unser Wohlstand im Zeitalter
der Globalisierung geschützt und befördert werden.
Jetzt ist es an der Zeit, dass wir rein nationale Belange und Partikularinteressen hinter
uns lassen und Europa spürbar voranbringen. Wir sollten eine echte europäische
Perspektive in die Debatte mit den nationalen Wählerschaften einbringen.
Die Zeit ist reif, dass all jene, denen Europa am Herzen liegt, die Stimme erheben und
sich für Europa stark machen – unabhängig von politischer oder ideologischer
Überzeugung oder Herkunftsort.
Wenn wir selbst dies nicht tun, dann können wir es auch nicht von anderen erwarten.
Meine Damen und Herren,
wir haben seit Beginn der Krise viel geschafft und geleistet.
Vor einem Jahr noch habe ich in meiner Rede zur Lage der Union erklärt, dass es uns
„trotz aller Anstrengungen (...) noch nicht gelungen ist, die Bürger, die Märkte und
unsere internationalen Partner zu überzeugen“.
Heute darf ich feststellen, dass die Fakten für uns sprechen: Sie zeigen, dass unsere
Anstrengungen erste Früchte tragen und zu überzeugen beginnen. Insgesamt gesehen
verringern sich die Spreads und die am stärksten gefährdeten Länder bezahlen weniger
für ihre Kredite. Die Industrieproduktion steigt. Das Vertrauen in die Märkte kehrt
zurück. Die Aktienmärkte zeigen gute Ergebnisse. Das Geschäftsklima verbessert sich
kontinuierlich und das Vertrauen der Verbraucher wächst zusehends.
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Die am stärksten von der Krise betroffenen Länder, die die weitreichendsten
volkswirtschaftlichen Reformen vollziehen müssen, verzeichnen jetzt erste positive
Ergebnisse.
So werden in Spanien mittlerweile 33 % des BIP mit der Ausfuhr von Waren und
Dienstleistungen erwirtschaftet – ein Rekord seit Einführung des Euro sowie ein positives
Ergebnis der umfassenden Reformen des Landes und ein Zeichen für seine
Wettbewerbsfähigkeit. Irland kann seit dem Sommer 2012 wieder Kapital auf den
Kapitalmärkten aufnehmen. Für die irische Wirtschaft wird 2013 zum dritten Mal in Folge
ein Wachstum erwartet, und die Unternehmen der verarbeitenden Industrie stellen
wieder Personal ein.
Für Portugal wird damit gerechnet, dass das bislang strukturell negative
Leistungsbilanzdefizit im Wesentlichen ausgeglichen sein wird. Nach vielen Quartalen
roter Zahlen kommt die Konjunktur nun wieder in Schwung. Griechenland hat in nur
drei Jahren eine wirklich beeindruckende Haushaltskonsolidierung vorgenommen; die
Wettbewerbsfähigkeit steigt und zum ersten Mal seit Jahrzehnten verzeichnet das Land
einen Primärüberschuss. Auch in Zypern, wo das Reformprogramm erst später
eingeleitet wurde, verläuft die Umsetzung wie vorgesehen – eine wichtige Voraussetzung
für die Rückkehr zu Wirtschaftswachstum.
Für Europa ist die wirtschaftliche Erholung in Sichtweite.
Aber selbstverständlich ist weiterhin Wachsamkeit geboten. Wie heißt es doch so schön?
„Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer ....“. Wir sollten bei der Analyse realistisch
bleiben. Wir sollten unsere Errungenschaften nicht überschätzen, aber unser Licht auch
nicht unter den Scheffel stellen. Und selbst ein gutes Quartal bedeutet nicht, dass wir die
schwere See schon hinter uns haben. Aber es ist ein Beweis dafür, dass wir uns auf dem
richtigen Kurs befinden. Die aktuellen Zahlen und jüngsten Entwicklungen stimmen
durchaus zuversichtlich.
Dies sollte uns ein Ansporn sein, unsere Anstrengungen mit unverminderter Kraft
fortzusetzen. Dies sind wir all jenen schuldig, für die der Konjunkturaufschwung noch
nicht in greifbarer Nähe ist, und all jenen, bei denen die positiven Entwicklungen noch
nicht angekommen sind. Dies schulden wir auch den 26 Millionen Bürgerinnen und
Bürgern, die zurzeit ohne Arbeit sind. Insbesondere den jungen Menschen, die auf eine
bessere Zukunft hoffen. Denn Hoffnung und Vertrauen sind ebenfalls Teil unserer
wirtschaftlichen Gleichung.
Meine Damen und Herren,
wo wir heute stehen, verdanken wir allein der Tatsache, dass wir fest entschlossen
waren, aus der Krise zu lernen und sowohl unsere Politik als auch unsere Strategien
entsprechend anzupassen.
Und wenn ich „wir“ sage, so meine ich auch: „wir“. Denn wir haben alle an einem Strang
gezogen.
In jeder Phase dieser Wahlperiode, die sich durch eine äußerst beachtliche
gesetzgeberische Bilanz auszeichnet, haben Sie, das Europäische Parlament, eine
entscheidende Rolle gespielt. Ich glaube, dass dies den Bürgerinnen und Bürgern nicht
hinreichend bekannt ist und die Arbeit des Parlaments stärker gewürdigt und anerkannt
werden muss.
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Lassen Sie uns deshalb unsere Zusammenarbeit fortsetzen, um durch die
Modernisierung unserer Volkswirtschaften Wachstum und Beschäftigung zu fördern und
um unsere institutionelle Architektur anzupassen. Nur dann können wir auch diese Phase
der Krise erfolgreich hinter uns lassen.
Es gibt jedoch noch vieles, was wir in dieser Mandatszeit des Parlaments und der
Kommission gemeinsam auf europäischer Ebene erreichen können.
Ganz konkret: Wir können und müssen zunächst die Bankenunion auf den Weg bringen.
Sie ist der erste und dringendste Schritt auf dem Weg zur Vertiefung unserer
Wirtschafts- und Währungsunion, wie dem im letzten Herbst vorgelegten Konzept der
Kommission zu entnehmen ist.
Das Legislativverfahren zum Einheitlichen Aufsichtsmechanismus ist fast abgeschlossen.
Der nächste Schritt ist die unabhängige Bewertung der Vermögenswerte der Banken
durch die EZB, bevor sie ihre Arbeit als Bankenaufsicht aufnimmt.
Wir
müssen
unsere
Aufmerksamkeit
nun
dringend
dem
Einheitlichen
Abwicklungsmechanismus zuwenden. Der Vorschlag der Kommission liegt seit Juli vor,
und zusammen müssen wir alles daran setzen, damit der Vorschlag noch in dieser
Legislaturperiode angenommen wird.
Er wird sicherstellen, dass es nicht länger in erster Linie die Steuerzahler sind, die für
Bankenausfälle geradestehen müssen. Er wird für Fortschritte auf dem Weg zur
Entkopplung von Banken- und Staatsrisiken sorgen.
Er wird gegen eine der alarmierendsten und eindeutig inakzeptablen Folgen der Krise
Abhilfe schaffen: die erhöhte Fragmentierung des Finanzsektors und der Kreditmärkte
Europas bis hin zur impliziten Renationalisierung.
Er wird auch dazu beitragen, eine normale Kreditvergabe an die Wirtschaft,
insbesondere an KMU, wiederherzustellen. Denn trotz der akkommodierenden Geldpolitik
fließen im Euro-Währungsgebiet noch nicht genügend Kredite in die Wirtschaft. Dieser
Missstand muss zielstrebig in Angriff genommen werden.
Letztendlich geht es hier um Wachstum, das notwendig ist, um das heute drängendste
Problem anzugehen: die Arbeitslosigkeit. Die aktuellen Arbeitslosenzahlen sind
wirtschaftlich nicht tragbar, politisch unhaltbar und sozial inakzeptabel. Deshalb bemüht
sich die ganze Kommission – und ich freue mich, dass alle Kommissarinnen und
Kommissare heute hier sind – um eine intensive Zusammenarbeit mit Ihnen und den
Mitgliedstaaten, damit wir unsere Wachstumsagenda so weit wie möglich umsetzen
können. Wir mobilisieren hierfür sämtliche Instrumente, aber offen gestanden stehen
uns auf europäischer Ebene natürlich nur bestimmte Instrumente zur Verfügung, die
anderen müssen von den Mitgliedstaaten eingesetzt werden. Ich möchte das
Hauptaugenmerk auf die Umsetzung von Beschlüssen zur Jugendarbeitslosigkeit und zur
Finanzierung der Realwirtschaft lenken. Wir müssen einen Aufschwung ohne
Beschäftigungszunahme vermeiden.
Daher muss Europa die Strukturreformen beschleunigen. In unseren länderspezifischen
Empfehlungen wurde erläutert, was genau die Aufgaben der Mitgliedstaaten hierbei sind.
Manche Dinge können auf nationaler Ebene, und manche auf europäischer Ebene
angegangen werden. Auf EU-Ebene sollten wir uns auf die wesentliche Herausforderung
der Realwirtschaft konzentrieren und der vollen Ausschöpfung des Potenzials des
Binnenmarkts Priorität einräumen.
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Wir haben einen gut funktionierenden Binnenmarkt für Waren und sehen dessen
wirtschaftliche Vorteile. Wir müssen dieselbe Formel auf andere Bereiche übertragen –
unter anderem auf Mobilität, Kommunikation, Energie, Finanzen und elektronischen
Handel. Es gilt, die Hindernisse zu beseitigen, die dynamischen Unternehmen und
Menschen entgegenstehen. Wir müssen die Vernetzung Europas abschließen.
Ich würde gerne bekannt geben, dass wir heute einen Vorschlag formell annehmen, der
die weitere Entwicklung eines Binnenmarkts für Telekommunikationsdienste vorantreibt.
Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass Europa ihre Roaming-Kosten radikal gesenkt
hat. Unser Vorschlag wird den Verbrauchern besseren Schutz und niedrigere Preise
bieten und den Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnen. Wir wissen, dass der Handel
in Zukunft zunehmend elektronisch abgewickelt werden wird. Ist es da nicht paradox,
dass wir einen Binnenmarkt für Waren haben, aber 28 nationale digitale Märkte? Wenn
wir keinen digitalen Binnenmarkt schaffen – wie können wir dann all die künftigen
Möglichkeiten nutzen, die die digitale Wirtschaft uns eröffnet?
Dasselbe gilt für die umfassendere Digitale Agenda: Sie löst reale Probleme und
erleichtert den Bürgerinnen und Bürgern das Leben. Die Stärke der künftigen
Industriebasis Europas hängt davon ab, wie gut Menschen und Unternehmen vernetzt
sind. Durch eine sachgemäße Verknüpfung der Digitalen Agenda mit dem Datenschutz
und dem Schutz der Privatsphäre wird unser europäisches Modell das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger stärken. Die Europäische Kommission misst der Annahme der
vorgeschlagenen Rechtsvorschriften zum Datenschutz vor dem Hintergrund der internen
und externen Entwicklungen größte Bedeutung bei.
Der Binnenmarkt ist ein zentraler Hebel für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Mit
der Annahme aller verbleibenden Vorschläge im Rahmen der Binnenmarktakte I und II
und der Umsetzung der Fazilität Connecting Europe in den nächsten Monaten schaffen
wir die Grundlage für künftigen Wohlstand.
Darüber hinaus passen wir uns einem weltweiten dynamischen Wandel an und müssen
daher eine innovative Dynamik auf europäischer Ebene fördern. Aus diesem Grund
müssen wir auch stärker in Innovation, Technologie und Wissenschaft investieren. Was
die Lösung von Problemen anbelangt, setze ich großes Vertrauen in die Wissenschaft,
den menschlichen Geist und eine kreative Gesellschaft. Die Welt erlebt einen
grundlegenden Wandel. Und ich bin der Überzeugung, dass uns in Europa und anderswo
neue wissenschaftliche Forschungsergebnisse und neue Technologien künftig zahlreiche
Lösungen bieten werden. Ich möchte, dass Europa hierbei weltweit die Führung
übernimmt. Deshalb haben wir, das Parlament und die Kommission, „Horizont 2020“ in
den Verhandlungen über den EU-Haushalt Priorität eingeräumt.
Wir nutzen daher EU-Haushaltsmittel, um in Kompetenzen, Bildung und Ausbildung zu
investieren und dadurch Talente zu mobilisieren und zu fördern. So haben wir uns
entschieden für Erasmus Plus engagiert.
Und aus diesem Grund werden wir Ende Herbst weitere Vorschläge für eine
Industriepolitik für das 21. Jahrhundert vorlegen. Wir mobilisieren Mittel zur
Unterstützung von KMU, denn wir glauben, dass eine starke, dynamische Industriebasis
für eine starke europäische Wirtschaft unerlässlich ist.
Und mit den 20-20-20-Zielen wird nicht nur der Klimawandel bekämpft, wir konnten
dadurch auch unsere Wirtschaft auf einen Pfad zu grünem Wachstum und
Ressourceneffizienz führen, Kosten verringern und Arbeitsplätze schaffen.
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Bis Jahresende werden wir konkrete Vorschläge für unseren energie- und
klimapolitischen Rahmen bis 2030 vorlegen. Wir werden außerdem weiter die
internationale Agenda gestalten, indem wir mit unseren Partnern ein umfassendes,
rechtlich bindendes globales Klimaabkommen bis 2015 ausarbeiten. Europa kann den
Klimawandel nicht allein aufhalten. Die anderen müssen mitziehen. Gleichzeitig werden
wir uns weiter damit befassen, wie sich die Energiepreise auf die Wettbewerbsfähigkeit
und den sozialen Zusammenhalt auswirken.
All diese Wachstumshebel sind Teil unserer Agenda „Europa 2020“, deren vollständige
und rasche Umsetzung dringender denn je ist. Und in manchen Fällen müssen wir über
die Agenda hinaus gehen.
Dies bedeutet, dass wir außerdem aktiv und selbstbewusst unsere handelspolitische
Agenda verfolgen müssen. Hierbei geht es darum, engere Verbindungen zu wachsenden
Drittstaatsmärkten aufzubauen und uns einen Platz in der globalen Lieferkette zu
sichern. Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung der meisten Bürgerinnen und Bürger,
dass wir im Welthandel auf der Verliererseite stehen, erwirtschaften wir mit Gütern,
Dienstleistungen
und
landwirtschaftlichen
Erzeugnissen
einen
bedeutenden
Handelsbilanzüberschuss von über 300 Mrd. EUR pro Jahr – Tendenz steigend. Darauf
müssen wir aufbauen. Auch dies wird in den nächsten Monaten unsere volle
Aufmerksamkeit erfordern, insbesondere vor dem Hintergrund der Transatlantischen
Handels- und Investitionspartnerschaft mit den USA und der Verhandlungen mit Kanada
und Japan.
Und nicht zuletzt müssen wir die Umsetzung des Mehrjährigen Finanzrahmens, des
europäischen Haushalts, stärker vorantreiben. Der EU-Haushalt ist unser konkretestes
Werkzeug zur Förderung von Investitionen. In einigen Regionen ist der Haushalt der
Europäischen Union die einzige Möglichkeit, Investitionen der öffentlichen Hand zu
mobilisieren, da auf nationaler Ebene keine Mittel erschlossen werden können.
Sowohl das Europäische Parlament als auch die Kommission haben mehr Mittel
gefordert. Wir haben zusammen dafür gekämpft. Doch selbst so hat der EU-Haushalt für
ein einziges Jahr – in heutigen Preisen – ein größeres Volumen als der gesamte
Marschallplan! Lassen Sie uns nun sicherstellen, dass die Programme am 1. Januar 2014
anlaufen können, dass sie vor Ort Früchte tragen und dass wir innovative
Finanzierungsmöglichkeiten nutzen – von bereits bestehenden Instrumenten über Mittel
der EIB bis hin zu Projektanleihen.
Wir müssen die Verpflichtung einhalten, die wir im Juli eingegangen sind. Von
Kommissionsseite aus wird dies geschehen. Wir werden beispielsweise noch diesen
Monat den zweiten Berichtigungshaushaltsplan für 2013 vorlegen. Es ist keine Zeit zu
verlieren, deshalb warne ich davor, die Arbeiten zu verzögern. Insbesondere fordere ich
die Mitgliedstaaten dringend auf, die Verhandlungen nicht in die Länge zu ziehen.
Ich betone nochmals ausdrücklich: Die Bürgerinnen und Bürger lassen sich nicht durch
reine Rhetorik und Versprechungen überzeugen, sondern nur durch konkrete
gemeinsame Erfolge. Wir müssen zeigen, dass Europa in vielen Bereichen Probleme
gelöst hat. Europa ist nicht die Ursache des Problems, Europa ist Teil der Lösung.
Im heutigen Schreiben des Präsidenten an das Europäische Parlament, das Sie bereits
erhalten haben, gehe ich ausführlicher auf unsere künftigen Aufgaben ein. Ich werde das
Programm für nächstes Jahr jetzt nicht näher erläutern.
Doch eines steht fest: Vor den Wahlen bleibt für uns nach wie vor viel zu tun. Dies ist
nicht der Moment, um die Flinte ins Korn zu werfen, sondern um die Ärmel
hochzukrempeln.
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Meine Damen und Herren,
nichts von alldem ist einfach. Wir stehen derzeit vor großen Herausforderungen, die eine
echte Belastungsprobe für die EU bedeuten. Den Weg kontinuierlicher grundlegender
Reformen zu beschreiten, ist beschwerlich, aber unvermeidbar. Machen wir uns nichts
vor: Es gibt kein Zurück mehr. Einige denken, wenn die Krise vorüber ist, wird alles
wieder sein wie zuvor. Doch sie täuschen sich, diese Krise ist anders. Sie ist nicht
konjunkturell, sondern strukturell bedingt. Wir können nicht zur gewohnten Normalität
zurückkehren, sondern wir müssen eine neue Normalität schaffen. Wir befinden uns in
einem historisch bedeutenden Übergang. Das müssen wir auch begreifen und nicht nur
dahinsagen. Und wir müssen alle Konsequenzen daraus ziehen, d. h. wir müssen auch
unsere Geisteshaltung ändern und die Art und Weise, wie wir mit Problemen umgehen.
An den ersten Ergebnissen sehen wir, dass dies möglich ist.
Und aus Erfahrung wissen wir, dass es nötig ist.
Das größte Risiko, das ich für die noch schwächelnde Konjunktur derzeit sehe, ist
politischer Natur: mangelnde Stabilität und mangelnde Entschlossenheit. In den letzten
Jahren haben wir gelernt, dass sofort negative Konsequenzen drohen, wenn Zweifel am
Reformwillen der Regierungen aufkommen. Umgekehrt jedoch haben starke und
überzeugende Entscheidungen auch unmittelbar positive Auswirkungen.
In der gegenwärtigen Phase der Krise besteht die Aufgabe der Staaten darin, für die
Gewissheit und Vorsehbarkeit zu sorgen, die den Märkten noch fehlt.
Sicherlich kennen Sie alle Justus Lipsius, nach dem das Ratsgebäude in Brüssel benannt
wurde. Dieser sehr einflussreiche Humanist des 16. Jahrhunderts hat ein wichtiges Werk
mit dem Titel De Constantia verfasst.
Darin heißt es: „Standhaftigkeit“, „ist die einsichtige und unerschütterliche Kraft, die sich
von Äußerlichem oder Zufälligem weder übermütig machen noch niederdrücken lässt“.
Nur „Geistesstärke“, so schreibt Lipsius weiter, gestützt auf „Urteilsvermögen und
gesunden Verstand“, könne in verwirrenden und beängstigenden Zeiten helfen.
Ich hoffe, dass in den jetzigen schwierigen Zeiten wir alle, auch die Regierungsvertreter,
die im Justus-Lipsius-Gebäude zusammenkommen, eine solche Entschlossenheit und
Beharrlichkeit zeigen werden, wenn es um die Umsetzung der gefassten Beschlüsse
geht. Denn ein entscheidender Punkt ist, dass wir konsequent sind. Wir können nicht nur
Beschlüsse fassen, wir müssen auch in der Lage sein, sie tatsächlich umzusetzen.
Meine Damen und Herren,
es war in den letzten Jahren nicht zu vermeiden, dass unsere Bemühungen zur
Überwindung der Wirtschaftskrise alles andere überschattet haben.
Doch unsere europäische Idee muss weit über die Wirtschaft hinausgehen. Europa ist
viel mehr als nur ein Markt. Das europäische Ideal beruht auf den Grundfesten der
europäischen Gesellschaft – es geht um Werte und ich unterstreiche dieses Wort: Werte.
Es geht um einen festen Glauben an die politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Standards, die in unserer sozialen Marktwirtschaft verankert sind.
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In der heutigen Welt ist die EU-Ebene unerlässlich, um diese Werte und Standards zu
schützen und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu fördern, vom Verbraucherschutz
bis zu den Arbeitsrechten, von den Frauenrechten bis zur Achtung von Minderheiten, von
Umweltnormen bis zu Datenschutz und Privatsphäre.
Ob es darum geht, unsere Interessen im internationalen Handel zu vertreten, unsere
Energieversorgung zu sichern oder durch die Bekämpfung von Steuerhinterziehung den
Menschen das Gefühl zu geben, dass es gerecht zugeht: Nur wenn wir als Union
handeln, können wir auf der Weltbühne etwas ausrichten.
Ob es darum geht, unsere Entwicklungshilfe und unsere humanitäre Hilfe wirksam zu
gestalten, unsere gemeinsamen Außengrenzen zu verwalten, oder darum, Europa eine
starke Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu geben: Nur durch mehr Integration
können wir unsere Ziele tatsächlich erreichen.
Es gibt keinen Zweifel: Unser innerer Zusammenhalt und unser Einfluss in der Welt sind
untrennbar miteinander verbunden. Unsere wirtschaftliche Attraktivität und unsere
politische Zugkraft hängen eng miteinander zusammen.
Glaubt jemand ernsthaft daran, dass wir oder die Mitgliedstaaten nach einem
Zusammenbruch des Euro-Währungsraums international noch glaubwürdig wären?
Ist eigentlich jedem bewusst, wie erfolgreich die Erweiterung bei der Heilung der tiefen
Wunden der Geschichte war oder beim Aufbau von Demokratien, obwohl dies niemand
für möglich gehalten hätte? Sind sich alle im Klaren darüber, dass die
Nachbarschaftspolitik nach wie vor der beste Weg ist, für Sicherheit und Wohlstand in
Regionen zu sorgen, die für Europa von zentraler Bedeutung sind? Wo würden wir ohne
all dies stehen?
Länder wie die Ukraine, denen unser Wirtschafts- und Sozialmodell erstrebenswert
erscheint, bemühen sich heute mehr denn je um engere Beziehungen zur Europäischen
Union. Wir dürfen ihnen nicht den Rücken kehren. Wir können Versuche, in ihre
souveränen Entscheidungen einzugreifen, nicht akzeptieren. Ihre Willens- und
Entscheidungsfreiheit muss geachtet werden. Dies sind auch die Grundprinzipien, auf
denen unsere Östliche Partnerschaft beruht, die wir auf dem Gipfeltreffen in Vilnius
weiter vorantreiben wollen.
Ist uns allen klar, wie sehr Europa im letzten Jahrhundert unter den Kriegen gelitten hat,
und dass die europäische Integration die richtige Antwort darauf war?
Nächstes Jahr jährt sich zum 100. Mal der Beginn des ersten Weltkriegs, nach dem
Europa von Sarajewo bis zur Somme tief zerrissen war. Niemals dürfen wir Frieden als
selbstverständlich betrachten. Wir müssen uns wieder ins Gedächtnis rufen, dass dank
der EU ehemalige Feinde nun an einem Tisch sitzen und zusammenarbeiten. Dass selbst
Serbien und das Kosovo jetzt durch Vermittlung der EU zu einer Einigung gelangt sind,
ist nur auf die europäische Perspektive zurückzuführen, die ihnen angeboten wurde.
Der letztjährige Friedensnobelpreis hat uns an diese historische Errungenschaft erinnert:
Europa ist ein Friedensprojekt.
Dies sollten wir uns selbst stärker bewusst machen. Manchmal denke ich, wir sollten
unseren Stolz darauf nicht verhehlen. Wir sollten nicht überheblich sein, aber durchaus
stolz. Wir sollten den Blick stets in die Zukunft richten, aber dabei auch unsere
Vergangenheit nicht außer Acht lassen.
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Ich möchte all denjenigen, die angesichts der Schwierigkeiten Europas frohlocken,
unsere Integration gerne rückgängig machen und sich zurück in die Isolation begeben
wollen, eines sagen: Das Europa aus der Zeit vor der Integration, das Europa der
Spaltungen, des Kriegs und der Schützengräben ist nicht, was die Menschen wollen oder
verdient haben. Noch nie zuvor in der Geschichte hat auf dem europäischen Kontinent so
lange Frieden geherrscht wie seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Es ist
unsere Pflicht, diesen Frieden zu erhalten und zu festigen.
Meine Damen und Herren,
mit unseren europäischen Werten begegnen wir auch der unhaltbaren Situation in
Syrien, die in den letzten Monaten das internationale Gewissen so hart auf den Prüfstand
gestellt hat. Die Europäische Union hat eine Führungsrolle bei den internationalen
Bemühungen um Unterstützung der Bevölkerung übernommen, indem sie Hilfsgelder
von fast 1,5 Mrd. EUR bereitgestellt hat – davon 850 Mio. EUR direkt aus dem EUHaushalt. Die Kommission wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um der Bevölkerung in
Syrien und den Flüchtlingen in den Nachbarländern zu helfen.
Wir sind kürzlich Zeuge von Praktiken geworden, die wir für längst ausgemerzt hielten.
Der Einsatz chemischer Waffen ist ein abscheulicher Akt, der klar zu verurteilen ist und
einer entschiedenen Reaktion bedarf. Die internationale Gemeinschaft mit den Vereinten
Nationen im Mittelpunkt trägt eine kollektive Verantwortung dafür, diese Praktiken zu
sanktionieren und den Konflikt zu beenden. Der Vorschlag, die syrischen Chemiewaffen
zu vernichten, könnte auf eine positive Entwicklung hindeuten. Das syrische Regime
muss dieses Vorhaben nun aber auch unverzüglich in die Tat umsetzen. Wir in Europa
glauben, dass letztlich nur eine politische Lösung den dauerhaften Frieden bringen kann,
den das syrische Volk verdient.
Meine Damen und Herren,
manche behaupten, dass ein schwächeres Europa ihr eigenes Land stärker werden ließe,
dass Europa eine Last sei und dass es ihnen ohne Europa besser ginge.
Darauf habe ich eine klare Antwort: Wir alle brauchen ein geeintes, starkes und offenes
Europa!
Die aktuelle europaweite Debatte dreht sich im Grunde um eine Frage: Wollen wir
Europa verbessern oder geben wir es auf?
Meine Antwort ist klar: Engagieren wir uns!
Und wenn euch Europa, so wie es ist, nicht gefällt: Verbessert es!
Findet Wege, wie man Europa sowohl im Innern als auch auf der internationalen Bühne
stärker machen kann, und ich werde euch nach Kräften unterstützen! Findet Wege, die
Diversität ermöglichen, ohne zu diskriminieren, und ich bin dabei!
Nur lasst Europa auf keinen Fall im Stich!
Natürlich ist die EU – wie alles Menschenwerk – nicht perfekt.
Beispielsweise werden die Meinungsverschiedenheiten über die Arbeitsteilung zwischen
Mitgliedstaaten und EU nie ganz ausgeräumt werden können.
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Ich messe der Subsidiarität große Bedeutung bei. Subsidiarität ist für mich kein
technischer
Begriff,
sondern
ein
fundamentaler
demokratischer
Grundsatz.
Voraussetzung für eine noch engere Union der Bürger Europas ist, dass Entscheidungen
so transparent und so bürgernah wie möglich getroffen werden.
Nicht alles muss auf europäischer Ebene gelöst werden. Europa muss sich auf die
Bereiche konzentrieren, in denen es den größten Zusatznutzen bewirken kann. In
Bereiche, in denen dies nicht möglich ist, sollte sich Europa besser nicht einmischen. Die
EU sollte sich in großen Fragen stark engagieren und in kleineren Fragen zurückhalten –
eine Devise, die wir in der Vergangenheit vielleicht das eine oder andere Mal
vernachlässigt haben. Die EU muss zeigen, dass sie sowohl positive als auch negative
Prioritäten setzen kann. Wie jede Regierung müssen wir besonderes Augenmerk auf
Umfang und Qualität unserer Rechtsvorschriften legen, denn wie Montesquieu schon
sagte: „Nutzlose Gesetze entkräften nur die notwendigen.“
Davon abgesehen, meine Damen und Herren, gibt es wichtige Bereiche, in denen Europa
mehr Gemeinsamkeit und mehr Einigkeit an den Tag legen muss, d. h. in denen nur ein
starkes Europa wirklich etwas bewirken kann.
Wie ich bereits in meiner letztjährigen Rede zur Lage der Union unterstrichen habe, bin
ich der Auffassung, dass unser politisches Ziel die Schaffung einer politischen Union sein
sollte. Dabei handelt es sich keinesfalls nur um die Forderung eines leidenschaftlichen
EU-Befürworters: Nur so können wir wirklich Fortschritte erzielen und die Zukunft
Europas sichern. Letztendlich hängt nämlich die Stabilität unserer Politik und damit der
Wirtschafts- und Währungsunion von der Glaubwürdigkeit des ihr zugrunde liegenden
politischen und institutionellen Gerüsts ab.
Deshalb haben wir in dem von der Kommission ausgearbeiteten „Konzept für eine
vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion“ neben den wirtschaftlichen und
währungspolitischen Aspekten auch die Erfordernisse, die Möglichkeiten und die Grenzen
einer mittel- und langfristigen Stärkung unseres institutionellen Gefüges angesprochen.
Die Kommission wird weiter darauf hinarbeiten, dass dieses Konzept schrittweise – d.h.
in mehreren Phasen – umgesetzt wird.
Auch möchte ich nochmals bekräftigen, dass wir, wie bereits im letzten Jahr
angekündigt, die Absicht haben, noch vor den Europa-Wahlen weitere Vorschläge zu
unterbreiten, wie die Zukunft der Union gestaltet und wie der gemeinsame Ansatz und
das gemeinsame Vorgehen am besten konsolidiert und langfristig vertieft werden
könnten. Auf diese Weise können die Vorschläge wirklich europaweit diskutiert werden.
Es wird sich dabei um Grundsätze und Leitlinien handeln, die notwendig für die
Schaffung einer echten politischen Union sind.
Meine Damen und Herren,
Wir können die Herausforderungen unserer Zeit nur bewältigen, wenn es uns gelingt,
den Konsens über fundamentale Ziele zu stärken.
Was die politische Ebene anbelangt, dürfen wir uns durch die Unterschiede zwischen den
Mitgliedern des Euro-Währungsgebietes und den Nichtmitgliedern, zwischen dem
Zentrum und der Peripherie, zwischen dem Norden und dem Süden und zwischen Ost
und West nicht spalten lassen. Die Europäische Union muss ein gemeinsames
Unterfangen aller Mitgliedstaaten bleiben, eine Gemeinschaft von Gleichen.
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Wirtschaftlich hat Europa schon immer erfolgreich dazu beigetragen, dass Länder,
Regionen und Menschen einander näherkommen. Das muss auch so bleiben. Aber wir
können den Mitgliedstaaten nicht ihre Arbeit abnehmen. Dies liegt allein in ihrer
Verantwortung.
Wir
können
und
müssen
sie
jedoch
dabei
mit
einem
verantwortungsvollen und solidarischen Vorgehen auf europäischer Ebene begleiten.
Aus diesem Grund wird es in den kommenden Monaten vorrangig darum gehen,
gemeinsam mit unseren gesellschaftlichen Partnern die soziale Dimension zu stärken.
Dazu wird die Kommission am 2. Oktober eine Mitteilung über die soziale Dimension der
Wirtschafts- und Währungsunion vorlegen. Solidarität ist ein wesentlicher Bestandteil
dessen, was Europa ausmacht, und etwas, auf das man stolz sein darf.
Die Wahrung europäischer Werte wie der Rechtstaatlichkeit ist seit jeher das Ziel der
Europäischen Union gewesen, seit ihrer Gründung bis in die laufenden
Beitrittsverhandlungen.
In meiner letztjährigen Rede zur Lage der Union habe ich vor dem Hintergrund der
damaligen Rechtsstaatlichkeitsprobleme in EU-Mitgliedstaaten darauf verwiesen, dass
wir einen Mittelweg zwischen der Kombination aus politischer Überzeugungskunst und
gezielten Vertragsverletzungsverfahren einerseits und der in Artikel 7 des Vertrags
vorgesehenen „radikalen“ Option der Aussetzung der Rechte eines Mitgliedstaats
andererseits brauchen.
Die Erfahrung hat gezeigt, wie wichtig die Rolle der Kommission als unabhängiger und
neutraler Schlichterin ist. Wir sollten auf dieser Erfahrung aufbauen und einen
allgemeineren Rahmen dafür schaffen. Dieser sollte sich auf den Grundsatz stützen, dass
alle Mitgliedstaaten einander gleichgestellt sind, und nur herangezogen werden, wenn
eine große, systembedingte Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit eintritt und vorab
festgelegte Benchmarks dies nahelegen.
Die Kommission wird zu diesem Thema eine Mitteilung vorlegen. Diese Debatte ist
meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung für unsere Vorstellung von Europa.
Dies bedeutet keineswegs, dass künftig Einschränkungen der mitgliedstaatlichen
Souveränität oder der Demokratie möglich sein sollen. Wir brauchen aber ein flexibles
Verfahren auf EU-Ebene, mit dem wir Einfluss nehmen können, wenn grundlegende
gemeinsame Prinzipien gefährdet sind.
Es gibt bestimmte nicht verhandelbare Werte, für die die EU und ihre Mitgliedstaaten seit
jeher und auch in Zukunft einstehen müssen.
Meine Damen und Herren,
die Polarisierung, die die Krise bewirkt hat, ist eine Gefahr für uns alle und für das
europäische Projekt.
Wir, die rechtmäßigen politischen Vertreter der Europäischen Union, können dem
entgegentreten. Sie als direkt gewählte, demokratische Vertreter Europas werden den
größten Einfluss auf die politische Debatte nehmen können. Meine Frage ist, welches Bild
von Europa soll den Wählern vermittelt werden? Ein realistisches oder ein verzerrtes
Bild? Fakten oder Vorurteile? Die ehrliche, vernunftbetonte Version oder die
extremistische, populistische Version? Das ist ein wichtiger Unterschied.
Ich weiß, einige werden sagen, Europa ist schuld an der Krise und an der Not der
Bürger.
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Es ist an uns, daran zu erinnern, dass Europa die Krise nicht verursacht hat. Die Krise ist
vielmehr auf eine schlechte Verwaltung der öffentlichen Finanzen durch die nationalen
Regierungen und auf unverantwortliches Verhalten auf den Finanzmärkten
zurückzuführen.
Wir können erklären, was Europa getan hat, um Abhilfe zu schaffen. Was wir eingebüßt
hätten, wenn es uns nicht gelungen wäre, den Binnenmarkt zu erhalten – denn er war in
der Tat in Gefahr – und die gemeinsame Währung zu schützen, deren letztes Stündlein
einige schon gekommen sahen. Was, wenn wir unsere Anstrengungen zur Belebung der
Wirtschaft und unsere Beschäftigungsinitiativen nicht untereinander abgestimmt hätten?
Einige werden sagen, dass Europa die Staaten zu Ausgabenkürzungen zwingt.
Wir können die Wähler daran erinnern, dass die Staatsschulden schon vor der Krise aus
dem Ruder gelaufen sind, und zwar nicht wegen Europa, sondern trotz Europa. Und wir
können hinzufügen, dass die Schwächsten in unserer Gesellschaft und unsere Kinder die
Zeche zahlen müssen, wenn wir jetzt nicht an unserem Kurs festhalten. Wahr ist, dass
sich Länder innerhalb und außerhalb des Euroraums, innerhalb und außerhalb Europas
darum bemühen, ihre stark belasteten öffentlichen Finanzen in den Griff zu bekommen.
Einige werden im Wahlkampf sagen, dass wir den Krisenländern zu viel Geld gegeben
haben. Andere werden sagen, dass es zu wenig war.
Jeder von uns kann erklären, was wir getan haben und warum: Es besteht ein direkter
Zusammenhang zwischen den Krediten, die ein Land aufnimmt, und den Banken eines
anderen Landes, zwischen den Investitionen, die ein Land tätigt, und den Unternehmen
eines anderen Landes, zwischen den Arbeitnehmern eines Landes und den Unternehmen
eines anderen Landes. Diese Art von Interdependenz bedeutet, dass nur europäische
Lösungen funktionieren.
Was ich den Leuten sage, ist: Wenn alle im selben Boot sitzen, kann keiner sagen: „Es
ist dein Boot, das untergeht.“ Es ist unser aller Boot und wir sitzen gemeinsam darin –
bei ruhiger wie bei rauer See.
Einige werden im Wahlkampf vielleicht sagen: Europa hat zu viel Macht an sich gezogen.
Andere werden behaupten, dass Europa immer zu wenig tut und zu spät handelt.
Interessant ist, dass es mitunter dieselben sind, die meinen, dass Europa nicht genug
tut, und gleichzeitig Europa die zusätzlichen Mittel verweigern, die dafür notwendig
wären.
Wir können dem entgegenhalten, dass Europa seine Aufgaben und Kompetenzen von
den Mitgliedstaaten erhalten hat. Die Europäische Union ist schließlich keine fremde
Macht. Sie ist das Ergebnis demokratischer Entscheidungen der europäischen
Institutionen und der Mitgliedstaaten.
Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass es der EU in einigen Bereichen immer noch an
Befugnissen fehlt, um das tun zu können, was von ihr verlangt wird. Etwas, das jene
allzu leicht vergessen – und von denen gibt es viele da draußen – die Erfolge immer
gerne auf dem nationalen Konto verbuchen und Misserfolge Europa anlasten. Das, was
wir haben oder nicht haben, ist letzten Endes das Ergebnis eines demokratischen
Entscheidungsprozesses. Und wir sollten, wie ich meine, die Bürger und Bürgerinnen
daran erinnern.
Meine Damen und Herren,
Herr Präsident,
verehrte Mitglieder des Parlaments,
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ich hoffe, dass sich das Europäische Parlament dieser Herausforderung voller Idealismus
und mit so viel Realismus und Entschlossenheit, wie es in diesen Zeiten von uns verlangt
wird, stellen wird.
An Argumenten fehlt es nicht.
Die Fakten liegen auf dem Tisch.
Der Kurs ist abgesteckt.
In acht Monaten werden die Wähler entscheiden.
Jetzt ist es an uns, für Europa einzutreten.
Und zwar, indem wir die kommenden acht Monate nutzen, um so viel zu erledigen, wie
wir nur können. Es bleibt noch viel zu tun.
Den EU-Haushalt, den Mehrjährigen Finanzrahmen verabschieden und umsetzen. Dies ist
für regionale Investitionen in ganz Europa entscheidend und unabdingbar für unsere
oberste Priorität – die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und insbesondere der
Jugendarbeitslosigkeit.
Die Bankenunion voranbringen und umsetzen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die
Finanzierungsprobleme großer wie kleiner Unternehmen zu lösen.
Unsere Prioritäten sind klar: Beschäftigung und Wachstum.
Unsere Arbeit ist noch nicht getan. Wir befinden uns jetzt in der entscheidenden Phase.
Denn – meine verehrten Damen und Herren – bei den Wahlen geht es nicht nur um das
Europäische Parlament, die Europäische Kommission oder den Rat oder diese oder jene
Person.
Bei den Wahlen geht es um Europa.
Wir stehen zusammen auf dem Prüfstand.
Also lassen Sie uns zusammenarbeiten – für Europa.
Mit Leidenschaft und mit Entschlossenheit.
Erinnern wir uns: Vor hundert Jahren – 1914 – taumelte Europa blind in die Katastrophe
des Ersten Weltkriegs.
Nächstes Jahr – also 2014 – wird, wie ich hoffe, ein Jahr sein, in dem Europa die
gegenwärtige Krise hinter sich lässt und wir auf ein geeintes, starkes und offenes Europa
blicken können.
Vielen Dank.
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