2. Das Glasperlenspiel und sein Kontext

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Universiteit Utrecht
Bachelorarbeit
Korrektorin: Dr. J. Enklaar-Lagendijk
Block 1, 2010
Zweiter Korrektor: Prof. Dr. A.B.M. Naaijkens
Polaritätsvereinigung in
Hermann Hesses
Glasperlenspiel.
Versuch einer Analyse.
Vorgelegt von:
Abgabedatum: 15.10.2010
Frederike Scholten
Studentennummer: 3253104
Studiengang: Germanistik
Quellen der Bilder auf dem Titelblatt:
Hermann Hesse in jungen Jahren - beim Malen im Tessin. (Bild: Museum Hermann Hesse)
Auf der Webseite von Swissinfo: URL:
http://www.swissinfo.ch/ger/Home/Archiv/Hermann_Hesse:_Zeitlose_Faszination.html?cid=
142890 (Stand: 07.10.2010)
Das Yin und Yang Symbol: URL: http://mor.phe.us/writings/Yin-Yang.html (Stand:
07.10.2010)
2
Inhaltsangabe
1.
Einleitung ......................................................................................................................................... 4
2.
Das Glasperlenspiel und sein Kontext ............................................................................................. 5
2.1 Der zweite Weltkrieg ..................................................................................................................... 5
2.2 Begriffsdefinition: Gegenpol und Einheit ..................................................................................... 7
2.2.1 Die asiatischen Einflüsse......................................................................................................... 9
2.2.2 Die romantischen Einflüsse .................................................................................................. 11
3
Einheitsformung in Das Glasperlenspiel ........................................................................................ 15
3.1 Kastalien und das weltliche Leben .............................................................................................. 15
3.2
Die Musik als vereinigendes Element.................................................................................... 19
3.3
Die drei Lebensstufen Josef Knechts und seine Mitmenschen ............................................. 23
3.3.1 Berufung: der Musikmeister und Plinio Designori ............................................................... 23
3.3.2 Erwachen: der ältere Bruder und Pater Jakobus.................................................................. 27
3.3.3 Abschied: Tegularius, Plinio und sein Sohn Tito ................................................................... 30
3
Fazit ............................................................................................................................................... 35
4
Anhang .......................................................................................................................................... 38
5
Bibliographie.................................................................................................................................. 39
3
1. Einleitung
Ein zentrales Thema in Hermann Hesses Werk ist der Versuch, eine Harmonie zwischen den
verschiedenen Gegenpolen die es im Leben gibt, zu kreieren. Es handelt sich dabei vor allem
um die Vervollkommnung seines Selbst, denn der Mensch sucht nach einer inneren Harmonie
und muss zu diesem Zwecke verschiedene mehr oder weniger gegensätzliche
Charaktereigenschaften ins Gleichgewicht bringen.
Das Glasperlenspiel ist Hesses letzter Roman und kann als Gipfel seines Werks
bezeichnet werden. Die Themen, die er in seiner früheren Lyrik und Prosa immer wieder
behandelt hat, werden im Glasperlenspiel zu einem Ganzen zusammengefügt und auf
verschiedene Art und Weise wiederholt. Hesse hat im Roman das Wesentliche des Lebens
darzustellen versucht. Es ist die Suche nach einer allumfassenden Harmonie und der Einheit
der Gegenpole.
Deswegen ist die zentrale Fragestellung dieser Arbeit „Auf welche Weise kreiert
Hermann Hesse im Glasperlenspiel die Einheit verschiedener Gegenpole und wie wird diese
Harmonie dargestellt?“ Das Ziel ist also, die Gegensätze im Roman aufzudecken und zu
beschreiben, wie eine Harmonie aus ihnen entsteht.
Weil für das Verständnis des Romans seinen Kontext eine wichtige Rolle spielt,
werden als Einführung die Begriffe ‚Einheit‘ und ‚Gegenpol‘ ausführlich definiert. Zuerst im
allgemeinen Sprachgebrauch, danach wird aber auch berücksichtigt, dass Hesse stark von
verschiedenen Kulturen und ihren Gedankenwelten beeinflusst wurde. Vor allem die
Einheitssuche der Asiaten und der deutschen Romantik sind eine wichtige Grundlage für das
Werk Hesses und werden deswegen näher erläutert.
Einen weiteren Hintergrund formt der zweite Weltkrieg. Dies ist wichtig, weil Das
Glasperlenspiel 1943 als Reaktion auf das Zeitgeschehen veröffentlicht wurde. Hesse sah die
Gefahren der nationalsozialistischen Massenbewegung und hat die Menschen davor zu
warnen versucht.
Anschließend wird versucht, die Einheitssuche in Das Glasperlenspiel zu analysieren.
Weil im Roman die folgenden Themen wie ein roter Faden durch die Handlung ziehen, findet
man sie im Aufbau der Kapitel wieder; sie formen den Rahmen der Untersuchung: ‚Kastalien
und das weltliche Leben‘, ‚Die Musik als vereinigendes Element‘ und ‚Die drei Lebensstufen
Josef Knechts und seine Mitmenschen‘. Zum Schluss gibt es das Fazit, in dem die wichtigsten
Resultate der Analyse zusammengefasst werden.
4
2. Das Glasperlenspiel und sein Kontext
In diesem ersten Teil der Untersuchung werden einige Kontextthemen behandelt, die für das
Verständnis des Glasperlenspiels wichtig sind. Zuerst wird die Entstehungszeit, vor und
während des zweiten Weltkriegs, erläutert. Danach wird näher auf die Begriffe ‚Gegenpol‘
und ‚Einheit‘ eingegangen. Auch Hesses Interessengebiete, namentlich die asiatischen- und
romantischen Einflüsse, die in Das Glasperlenspiel eine besondere Rolle spielen.
2.1 Der zweite Weltkrieg
Wie schon in der Einleitung erwähnt wurde, erschien Das Glasperlenspiel 1943 im zweiten
Weltkrieg. Der Schaffensprozess des Romans fängt schon 1931 an, aber durch die
schwierigen Umstände, die durch die immer mächtiger werdenden Nationalsozialisten
entstehen, erscheint das Buch erst zwölf Jahre später. Schon vor 1933, als Hitler zum
Reichskanzler ernannt wird, versucht der seit 1912 in der Schweiz lebende Hesse die
Menschen vor den Gefahren dieser Massenbewegung zu warnen. Außerdem hilft er vielen
Flüchtlingen und Häftlingen der Nazis.
Hesse befindet sich während dieser Zeit in einer schwierigen Lage, weil er einerseits
immer weniger von den Nazis geduldet wird, sodass seine Bücher zensiert werden und nur
noch teilweise erscheinen können. Einerseits sind seine zeitkritischen Rezensionen in
Zeitungen ihnen ein Stein des Anstoßes. Andererseits kritisiert die Emigrantenpresse Hesse
wegen seiner in ihren Augen zu wenig eindeutigen Haltung Hitler-Deutschland gegenüber.1
Außerdem steckt Hesse in jener Zeit auch in Geldnot.
Der Aufstieg der Nationalsozialisten ist aber nicht aufzuhalten und nach dem
‚Anschluss‘ Österreichs bricht der Krieg aus. Hesse verabscheut „die Tendenz zur Totalität“2,
die er als Kennzeichen des Krieges betrachtet. Er sieht, dass alle Menschen durch Regeln und
Gesetze ins faschistische System hineingezwungen werden und, dass sie sich auf diese Weise
benutzen lassen, „die Persönlichkeit zu Gunsten der konformen Masse auszurotten.“3 Hesse
hingegen betont gerade die Individualität und den Eigensinn des Menschen. Weil es aber an
diesem kritischen Blick in der Gesellschaft fehlt, erwartet er, dass vor allem dadurch den
Nationalsozialisten die Machtergreifung gelingen wird. Hesse schreibt 1955 in einem Brief an
Rudolf Pannwitz über den Einfluss dieses Zeitgeschehens auf Das Glasperlenspiel:
1
Vgl. Clauss, Elke-Maria. Erläuterungen und Dokumente; Hermann Hesse; Das Glasperlenspiel. Stuttgart:
Reclam. 2007: S.96
2
Prinz, Alois. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“; Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse.
Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2000.: S.321
3
Hesse: Zit. Nach Prinz: S.322
5
Die Luft war wieder giftig, das Leben war wieder in Frage gestellt. [Wie im ersten Weltkrieg. FS.] […]
Ich mußte, der grinsenden Gegenwart zum Trotz, das Reich des Geistes und der Seele als existent und
unüberwindlich sichtbar machen, so wurde meine Dichtung zur Utopie […] 4.
Hesse hat mit dem Roman deutlich versucht, eine Gegenwelt zu schaffen, um die
Schreckensherrschaft zu kritisieren.
In der Einführung zum Roman wird die Geschichte des geistigen Ordens Kastalien
beschrieben. Diese Provinz ist auf den Trümmern des ‚feuilletonistischen Zeitalters‘
entstanden, womit die damalige Zeit um die Weltkriege gemeint ist. Die Menschen lebten
damals „inmitten politischer, wirtschaftlicher und moralischer Gärungen und Erdbeben[…]
und ihre kleinen Bildungsspiele […] entsprachen einem tiefen Bedürfnis, die Augen zu
schließen und sich vor ungelösten Problemen und angstvollen Untergangsahnungen in eine
möglichst harmlose Scheinwelt zu flüchten.“5 Dieses Verhalten hatte eine Leerheit des
Lebens zur Folge: „Man plaudert über tausend Gegenstände und sammelt bruchstückhaft
Wissen, ohne je den tieferen Sinn verstanden zu haben.“6 Diese Entwicklung förderte die
‚grauenhafte Entwertung des Wortes‘7, was in diesem Zusammenhang auch auf die
Propaganda der Nationalsozialisten hindeutet. Die Leben der Menschen wurden leer und
dadurch verloren die Kunstformen ihren Wert. In dieser Zeit wurden der Geist des
Individuums und die intellektuellen Instanzen politisiert.8
Diese Kritik an die Gesellschaft ist in der Endfassung des Romans stark
verallgemeinert und dadurch auch heute noch aktuell. Interessanterweise weist Hesse in den
drei früheren Fassungen konkreter auf das nazistische System hin. Er hat diese kritischen
Textstellen aber neutralisiert, weil er hoffte, das Buch in Deutschland veröffentlichen zu
können. Dies gelang aber nicht und Das Glasperlenspiel musste in der Schweiz gedruckt
werden. Erst im Dezember 1946, als Hesse der Goethepreis der Stadt Frankfurt und der
Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, wurde die erste Ausgabe in Deutschland
veröffentlicht.9
4
Michels, Volker. [Hrsg.] Hermann Hesse; Sämtliche Werke; Die politischen Schriften. Frankfurt am Main:
Suhrkamp. [Band 15.] 2004: S.776
5
Hesse, Hermann. Das Glasperlenspiel; Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht
[o.J.].: S.20
6
Malischke, Andreas. Ideal und Wirklichkeit in Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“. Diplomica Verlag.
2008: S.11
7
Vgl. Hesse: S.21
8
Vgl. Ebd.: S.365
9
Vgl. Michels, Volker im Nachwort von Das Glasperlenspiel in „Hermann Hesse: Sämtliche Werke.“ Frankfurt
am Main: Suhrkamp. [Band 5.] 2001.: S.725.
6
2.2 Begriffsdefinition: Gegenpol und Einheit
Für diese Arbeit ist es wichtig zu wissen, was genau man unter ‚Einheit‘ und ‚Gegenpole‘
verstehen soll. Deswegen werden diese Begriffe in diesem Kapitel unter verschiedenen
Blickwinkeln analysiert.
Wahrigs Deutsches Wörterbuch definiert ‚Einheit‘ folgendermaßen: „1. etwas
Zusammengehöriges, Untrennbares, ein Ganzes 2. Maß, Maßzahl, durch Vereinbarung
festgelegte, meist physikalisch technische Größe zum Vergleich gleichartiger Größen od.
Mengen […]“10. Die Definition von ‚Gegenpol‘ lautet: „entgegengesetzter Pol, z.B.
Magnetpol; Sy Antipol“11.
Diese allgemeine Beschreibung der Termini löst einige Fragen aus, denn auf den
ersten Blick würde man meinen, dass diese beiden Begriffe sich gegenseitig ausschließen.
Man zieht automatisch den Schluss, dass ein Gegenpol nicht mit seinem Gegenstück zu
vereinigen ist. Einheit dagegen ist etwas Zusammengehöriges und Untrennbares: Man
gebraucht das Wort zum Vergleich gleichartiger Größen. Daraus kann gefolgert werden, dass
man aus Größen, die nicht miteinander zu vereinen sind, doch eine Einheit machen kann.
Dies wird durch die Definition im etymologischen Wörterbuch bestätigt, denn das
Wort Pol stammt vom lateinischen ‚polus‘ und dieses vom griechischen ‚polos‘, was
‚Drehpunkt‘ oder ‚Achse‘ bedeutet und dem griechischen Verb ‚pélesthai‘ verwandt ist, das
‚sich bewegen‘12 bedeutet. Das Wort ‚Einheit‘ ist von ‚ein‘ abgeleitet und dies stammt vom
lateinischen ‚unus‘ und dem griechischen ‚oinos‘.13 Man bezeichnet etwas
Zusammengehöriges damit. Wenn man diese Tatsachen miteinander verknüpft, sind die Pole
untrennbar und formen eine gewisse Einheit, weil sie nicht ohne einander existieren können.
Durch die Bewegung des griechischen ‚pélesthai‘ bewegen sie sich aufeinander zu.
Es muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass im etymologischen
Wörterbuch zu finden ist, dass das Substantiv „Polarität“ im 18./19. Jahrhundert zum ersten
Mal dokumentiert ist. Wichtig ist, „dass die abendländischen Ursprünge von Hesses
Polaritätskonzept bei Goethe und in der Romantik zu finden sind, die ihrerseits eine
10
Wahrig-Burfeind, Renate [Hrsg.] Wahrig Deutsches Wörterbuch. München: Wissen Media Verlag GmbH.
2006: S.421
11
Ebd.: S.585
12
Vgl. Drosdowski, Günther [Hrsg.]. Duden Etymologie; Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache.
Mannheim: Dudenverlag. [Band 7.] 1989: S.539 und Seebold, Elmar. [Hrsg.] Kluge; Etymologisches
Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: De Gruyter. 2002: S.711
13
Vgl. Duden: S.148 und Kluge: S.233
7
zeitparallele Entwicklung mit der Entstehung des Polaritätsbegriffs durchliefen, mehr noch,
das Konzept als solches erst mitgeprägt haben.“14
Auch Hesse muss gewusst haben, „daß hinter allen Erscheinungsformen des Lebens
eine Einheit steht, und er weiß auch, daß das Leiden in der Welt nur daraus resultiert, daß sich
der Mensch nicht mehr als unlösbarer Teil dieser Einheit empfindet. Wie aber eine Synthese
im Leben gefunden werden kann, darum kreisen seine Gedanken und literarischen
Bemühungen.“15
Er versucht diese Einheit in seinen Werken zu kreieren und wird darin von
verschiedenen kulturellen Strömungen beeinflusst. Die zwei wichtigsten Vorbilder sind die
Leitgedanken der asiatischen Kulturen und der deutschen Romantiker. Hesse hat diese Motive
aber keineswegs kopiert. Er hat seine Ideen in drei Kulturen gesucht und gefunden: in den
abendländischen, südasiatischen und ostasiatischen Kulten16. Es gibt aber bestimmte
Ähnlichkeiten und Überlappungen zwischen den Kulturen. Hesse ist sich dessen sehr
bewusst; so schreibt er in seiner Erinnerung an Indien unter anderem:
[…] Noch schöner und mir unendlich wichtiger aber war die je und je in aller Sinnlichkeit und Frische
wiederholte Erfahrung, daß nicht nur der Osten und der Westen, nicht nur Europa und Asien Einheiten
sind, sondern es darüber hinaus eine Zugehörigkeit und Gemeinschaft gibt, die Menschheit. 17
Aus dieser Textstelle geht klar hervor, dass Hesse die verschiedenen Kulturen der Welt als
Variationen einer zusammengehörigen Einheit betrachtet. Jede einzelne Gruppe hat ihre
bestimmten Merkmale als die eigene Interpretation oder Darstellung des universellen
Grundgedankens. Aufbauend auf diesem Grundsatz benutzt Hesse in seinen Werken die
unterschiedlichen kulturellen Werte, um seine eigene Weltauslegung einer allgemeingültigen
Harmonie unterzuordnen.
Im Anschluss daran wäre es erwähnenswert, dass Hesse die 1932 herausgegebene
Erzählung Die Morgenlandfahrt als unabdingbare Voraussetzung für das Glasperlenspiel
betrachtete. Mit seiner Widmung des Romans „Den Morgenlandfahrern“ betont Hesse die
Bedeutung der Erzählung für Das Glasperlenspiel.18 Die Mitglieder dieses imaginären
Bundes stammen aus verschiedenen Epochen und Kulturen, wie zum Beispiel den asiatischen
und den europäischen. Es sind Maler, Philosophen, Schriftsteller und die Hauptpersonen ihrer
Romane und viele andere. Dieser Bund entsteht, wie Kastalien, als Widerstand gegen das
14
Gommen, Dorothée. Polaritätsstrukturen im Werk Hermann Hesses; Lyrik, Epik, Drama. Meidenbauer
Martin. 2006: S.30
15
Pfeifer, Martin. Hesse Kommentar zu sämtlichen Werken. Frankfurt am Main: Suhrkamp. [1980] 1990: S.37
16
Vgl. Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China; Darstellung, Materialien und Interpretation. Frankfurt am
Main: Suhrkamp. 2002: S.16
17
Hesse in seiner 1918 veröffentlichten „Erinnerung an Indien“. Zit. Nach Hsia: S.17
18
Vgl. Clauss: S.114f.
8
feuilletonistische Zeitalter. Sie sind alle auf einer gemeinsamen Reise, suchen aber auch ihren
individuellen Lebenstraum zu verwirklichen. Das gemeinsame Ziel der Fahrer ist symbolisch
als das heimwärts Streben im Sinne von Novalis aufzufassen. Er sucht auch nach dem
allumfassenden Ursein, das er in sich selbst als das Göttliche im Menschen zu finden glaubt19.
Wie Novalis, glauben auch die Morgenlandfahrer, dass das Göttliche „ im geistig – seelischen
Bereich [liegt] und die säkularisierte Religion dieser Bewegung [der Morgenlandfahrer ] ist
das Streben nach der die ganze Geschichte durchziehenden Grundidee.20 Es ist ein geheimes
Deutschland der Poesie, unterwegs zu den romantischen Sehnsuchtszielen, es ist das Inbild
der romantischen Suche.21
Die Morgenlandfahrt als Schlüssel zum Glasperlenspiel enthüllt, wie Hesse das Leben
sah. Der Mensch ist Teil einer allumfassenden Einheit, in der Ort, Geschichte und Kultur
keine Rolle mehr spielen. Man muss versuchen, die Harmonie dieser Einheit im eigenen
Leben zu gestalten. Dazu muss man sich weiterentwickeln und in diesem Prozess ist die
Harmonisierung verschiedener Gegenpole sehr wichtig.
2.2.1 Die asiatischen Einflüsse
Im vorigen Kapitel wurde klar, wie Hesses Welt- und Lebensanschauung sich auf der
harmonischen Einheit verschiedener Kulturen und ihrer Weisheit basiert, wobei der Einfluss
einiger asiatischer Strömungen von Bedeutung ist. Seine Eltern waren beide als
Missionsgehilfen in Indien; dieser Einfluss gab es für Hesse also schon von klein auf. Aus
seinen Briefen und Werken ist zu ersehen, dass Hesse sich sein ganzes Leben sehr für die
Chinesen, Inder und Japaner interessiert hat und auch seine Asienreise weist darauf hin.
Deswegen werden in diesem Teil der Arbeit kurz die taoistischen Grundlagen, die Meditation,
das I Ging und die Lehre des Konfuzius behandelt.
Wie schon angedeutet wurde, liegt einem Teil der alten orientalischen Lehren und
Religionen ein Einheitsgedanke zugrunde. Die Vielgestaltigkeit der Welt, das reiche, bunte
Spiel des Lebens wird auf das göttliche Eine, den Ursprung des Spiels, zurückgeführt. Alle
Gestalten unserer Erscheinungswelt werden nicht als Individuen und unersetzbar empfunden,
sondern als Spiel von rasch vergänglichen Bildungen, die mit Gottes Atem aus und ein
strömend das Ganze der Welt zu bilden scheinen, während doch jede dieser Gestalten, nur
19
Vgl. Safranski, Rüdiger. Romantik; Eine deutsche Affäre. Frankfurt am Main: Fischer. 2009: S.134f.
Vgl. Malischke: S.27
21
Vgl. Safranski: S.338
20
9
augenblickliche Erscheinungen, nur flüchtig inkarnierte Teile des uranfänglichen Einen sind
und stets in dasselbe zurückkehren müssen.22
Wenn man die Einheitsgedanken aus taoistischen Grundlagen erklären will, sollte man
Lao Tses Äußerungen in seinem Werk Tao Te King23 mit einbeziehen. Darin heißt es, dass die
Wahrheit, das Sein an sich, unaussprechbar sei.
[…] Im chinesischen Denken wird das Natur, Mensch und Kosmos umfassende Symbol der Einheit als
Tao bezeichnet. Die Erscheinungen der Welt werden als konkrete Gegensätze gesehen, die auf die
Urpolarität von Schöpferischem und Empfangendem, vom Licht und Schatten, Positivem und
Negativem, dem Männlichen und Weiblichen, von Yin und Yang zurückgeführt werden. 24
Tao kann mit „Sinn“ oder „Weg“ übersetzt werden und es entspricht dem Geist der Musik.
Der Sinn entspricht dem Ursein, das alles Seiende, „Te“, das „Leben“, erzeugt. Te ist den
Gesetzmäßigkeiten des Tao unterworfen und dadurch werden die ganze Natur und auch die
Leben der Menschen von dieser Polarität bestimmt.25 Das bedeutet, dass Tao in der Existenz
des Menschen, die sich fortwährend wie die Musik ändert, die immer feste, bestimmende
Kraft ist. Für diese Arbeit ist vor allem dieses dynamische Spiel zu berücksichtigen. Auch
während der Romantik ist es ein wichtiges Thema und Hesse greift es in seinen Werken auf.
Deswegen streben die Taoisten nach einem Leben, das mit der Natur, oder anders gesagt, mit
dem Instinkt harmonisch ist. Aus diesem Grunde soll man denn auch nicht gegen die Natur
handeln.
Diese innere Passivität, das Handeln in Harmonie mit der Natur also, und das Sich
dem Inneren Őffnen lässt sich mittels Meditation erreichen. Wenn man meditiert, muss man
sich vor allen Sinnes- und Geistesaktivitäten abschließen, um ein höheres, überindividuelles
Selbst zu erkennen. Der Mensch muss immer nur nach dieser Harmonie, das heißt, nach Tao
streben. Man kann dieses Wissen nicht lernen oder unterrichten, es lässt sich nur leben. Dem
Vollendeten ist es gelungen, diese Einheit der Erscheinungen mit Tao zu verbinden.26 Nach
Lao Tse ist die Aufgabe des Menschen nicht die Beglückung der ganzen Menschheit, sondern
die Selbstvervollkommnung. Keine Gesellschaftslehre kann ihm dabei helfen; das Ausüben
eines Berufes und das damit zusammenhängende Sammeln von Besitz werden als Unfreiheit
betrachtet.27
22
Vgl. Hsia: S.40 f.
Das Werk ist 1923 von Richard Wilhelm übersetzt worden: Lao Tse, Tao Te King; Das Buch des Alten vom
Sinn und Leben.
24
Malischke: S.20f.
25
Vgl. Ebd.: S.21
26
Vgl. Ebd.: S.22
27
Vgl. Ebd.: S.38
23
10
Lao Tse beruft sich in seinen Gedanken auf das I Ging, das Buch der Wandlungen. Er betont
vor allem seinen Weisheits- und meditativen Gehalt und die Symbolik.28 Die Grundlage für
das Orakelbuch ist die Urpolarität von Yin und Yang. Das Tao wird darin durch das Tai Gi,
den durch eine S – Linie geteilten Kreis, in dem die beiden gegensätzlichen Urpolaritäten
vereint werden, symbolisiert. Wie gesagt: Tao ist die Urkraft, die die Vielfalt der
Erscheinungen bewirkt und bestimmt.
Das in Tao wurzelnde I Ging zeigt das ewige, von den raumzeitlichen Dimensionen unabhängige
Gesetz von Yin und Yang, welches alles ständig wandelt. […] Das I Ging umfasst immer beide Pole,
d.h. im Leben sowohl den Geist als auch die Sinnlichkeit. 29
Es sind also die Gegensätze, die in einem Symbol zusammengefügt werden und sich durch
ihren ständigen Wandel ergänzen können.
Auch Konfuzius beruft sich auf das I Ging. Diese Strömung betont aber den ethischen
Gehalt und besteht aus einer sozialpolitischen Ethik und einer persönlichen Tugendlehre. Es
entsteht darin ein „Beamtengeist“30, der eine zwischenmenschliche Beziehung vom Oberen
und Niederen regelt, in dem aber mit Hilfe der Tugendlehre nach Selbstvervollkommnung
gestrebt wird. Man muss also nach Selbstvervollkommnung streben, gleichzeitig aber ein
tugendhaftes Leben führen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Leben aus verschiedenen Polen besteht,
die zu einer Einheit geführt werden müssen. Das Leben entspricht dem Ursein und es wandelt
sich wie das Wesen der Musik. Der Mensch sollte im Einklang mit diesen Gesetzen leben.
2.2.2 Die romantischen Einflüsse
Nicht nur die asiatischen Kulturen haben Hesse in seinem Werk beeinflusst. Für ihn waren
auch viele westliche Grundgedanken von großer Bedeutung. So taucht in der Forschung
immer wieder die Frage auf, ob Hesse zu den Romantikern zu rechnen sei, vor allem weil in
seinem Werk die Suche nach der Einheit und dem Ewigen eine zentrale Rolle spielt. Weil es
eins der Hauptthemen Hesses ist, werden diese und andere romantische Ideen, die für diese
Arbeit von Bedeutung sind, behandelt.
Es ist eins der Hauptthemen im Glasperlenspiel, in der kastalischen Gemeinschaft eine
Gegenwelt zum Leben zu kreieren, die die geistigen Werte beschützen muss. Ihre höchste
Kunst ist das Glasperlenspiel, dessen Regeln eine Art Geheimsprache darstellen, an der
mehrere Wissenschaften und Künste teilhaben und durch die man im Spiel die ganze
28
Vgl. Malischke: S.29
Ebd.: S.29f.
30
Hsia: S.297
29
11
Wissenschaft und Kunst ausdrücken und alles zu allem in Beziehung setzen kann.31
Namentlich die Musik spielt darin eine wichtige Rolle.
Wie im Glasperlenspiel entsteht während der Romantik durch die historischen
Ereignisse eine Entzauberung der Welt, vor der man flüchten möchte. Durch die
Französische Revolution und die großen, industriellen Fortschritte ändern sich die Leben der
Menschen und ist es eine unruhige Zeit. Es ist die Kunst, die bei der Flucht helfen kann und
es entwickelt sich die Idee eines Gesamtkunstwerks, in dem die verschiedenen Kunstformen
vereinigt und zu einem integralen Effekt harmonisch aufeinander abgestimmt sind.32
„Besonders Friedrich Schlegel und Novalis praktizieren […] einen Universalismus,
der alles zu ergreifen sucht, was für die eigene Bildung – nicht Ausbildung – interessant zu
sein verspricht.“33 Sie sind von der Idee eines enzyklopädischen Buches fasziniert,34 in dem
alles erfasst wird - und nichts sich an Gattungsgrenzen halten muss. Der daraus entstehende
Schreibstil kann man als Kunstspiel bezeichnen: Schlegel sagt dazu folgendes: „Alle heiligen
Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem
ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.“35 Die romantische Dichtung kann und will keine
Ewigkeit anstreben, die fest begrenzt und in ihrer Begrenzung vollkommen sei; sie will nur
Durchgang zum Unendlichen, will nur Spiel und Traum sein, nicht Werk und Tat.36
Diese Anschauung hängt eng mit dem Glasperlenspiel und der Rolle des
Glasperlenspielmeisters zusammen. Der Glasperlenspielmeister, das höchste Amt in
Kastalien, wird ‚homo ludens‘ genannt, was Spielmeister bedeutet. Schiller hat diesen
Terminus auch im Zusammenhang mit dem Spiel des Lebens benutzt. Seine These lautet: „der
Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt.“37 Geht man bei der Auslegungen von Hesses Roman von dieser
romantischen Sicht aus, so erweitert sich das geistige Blickfeld.
Die Romantiker glauben wie die Asiaten, dass die Menschheit Teil einer alles
umfassenden Geschichte ist. Es ist ein neuer Gedanke, auch die Naturgeschichte als
Entwicklungsgeschichte zu betrachten. Sie durchläuft verschiedene Stufen, die mineralische,
vegetative und animalische, die alle Vorstufen der Menschheit sind. Der Mensch zeichnet sich
dadurch aus, dass er die Natur aufgrund seiner Intelligenz und Sprache beeinflussen muss,
31
Vgl. Hesse: S.12
Vgl. Schmitz-Emans, Monika. Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft. 2004: S.45
33
Safranski: S.60
34
Vgl. Schmitz-Emans: S.53
35
Safranski.: S.61
36
Vgl. Hsia: S.43
37
Safranski: S.43
32
12
weil er instinktarm und daher ungeschützt ist.38 Auch im Menschen widerspiegelt sich also
die Natur und deswegen sind seine schöpferischen Leistungen gleichsam Abdruck des großen
Ganzen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass Hesse als gemeinsames
Prinzip aller Religionen die nur stufenweise mögliche Selbstvervollkommnung sieht. Er
findet im Taoismus, Buddhismus und Christentum einen gemeinsamen Weg, der wie die
Natur auch aus drei Stufen der Menschwerdung zusammengesetzt ist:
[…] zunächst lebt der Mensch im Stadium der naiv – unbewussten Unschuld, welche er verliert. Er
versucht die Schuld durch Erkenntnisse oder Werke zu überwinden, was aber in die Verzweiflung führt.
Die Überwindung des Leidens erlebt der Einzelne als psychologische Notwendigkeit, um sich zu
verändern und die dritte Stufe der Erlösung und Selbstvervollkommnung zu erlangen. Der Erwachte,
der seiner inneren Stimme als Stimme des Ich – Selbst gefolgt ist, hat den Zustand der Einheit mit dem
Urprinzip Tao, Brahman, oder Gott erfahren. 39
Diese stufenweise Entwicklung des Individuums ist sehr wichtig im Glasperlenspiel. Im
Kapitel über Josef Knechts Leben wird dieser Gedanke ausgearbeitet.
Auch was die Musik angeht, stimmt das Hessesche Werk mit der romantischen
Musikauffassung überein, in der es sich um den ‚Mythos Musik‘ handelt, der ausgehend von
einer universalen Harmonie auf der Ansicht beruht, dass Stimmungen übertragbar sind: Die
Musik wird meistens zur höchsten Kunst erhoben, weil sie einerseits in einer unmittelbaren
Beziehung zum menschlichen Inneren, andererseits zur äußeren Welt steht, und in dieser
Weise die ideale Mittlerin zwischen Natur und Geist und einer absolut wirksamen Kunst zu
sein scheint.40 Diese Anschauung ähnelt der Sichtweise der Asiaten.
Auffällig ist, dass Goethes Werk sich als Referenzpunkt leitmotivisch durch Hesses
Arbeit zieht. Gerade bezüglich der Polaritätsthematik bietet dessen Werk viele Anhaltspunkte.
Die Polaritäten, die durch ihre Gegensätzlichkeit in einem Spannungsverhältnis stehen,
streben auch bei Hesse nicht nach ihrer Leugnung oder Aufhebung durch Vermischung,
sondern danach, in einer höheren Einheit aufzugehen, so wie sie Hesse in Teilen von Goethes
Werk erkannte.41
Auch wird im Glasperlenspiel die kastalische Welt mit Goethes pädagogischer
Provinz verglichen. Nach Malischke muss man aber berücksichtigen, dass das Buch kein
Erziehungsroman wie Goethes Wilhelm Meister ist, sondern ein Entwicklungsroman über den
38
Vgl. Safranski: S.23
Malischke: S.73
40
Vgl. Lubkoll, Christine. Mythos Musik; Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800.
Freiburg. 1995. Nach Schmitz-Emans: S.48
41
Vgl. Gommen: S.4
39
13
inneren Wandel Josef Knechts.42 Diese Feststellung stimmt aber nicht, denn beide sind
Entwicklungs- und Erziehungsromane. Auf ihre eigene Weise werden die Hauptpersonen der
beiden Bücher erzogen, und gerade deswegen entwickeln sich ihre Charaktere. Es gibt aber
wohl einen Unterschied im Ziel der Entwicklung. Im Wilhelm Meister ist die ästhetische
Erziehung eine Vorbedingung gesellschaftlicher Tätigkeit43, für Josef Knecht aber ist es die
Suche nach dem allumfassenden Ganzen.
Auch Hsia glaubt, dass es einen Unterschied zwischen Hesse und Goethe gibt. Er
schreibt, dass Goethe sich als Grenzfigur zwischen Klassik und Romantik gegen Indien
sträubt. Die Romantiker entdeckten dagegen die natürlichen Inder als Gegenpol zu den
Griechen, die während der Klassik verehrt wurden.44 Die Romantiker waren der Meinung,
dass die griechischen Einflüsse die Kunst unnatürlich und zu perfektioniert gemacht hätten.
Hsia vergisst aber, dass auch Goethe sich sehr für den Orient interessiert hat.
Hegel und Schopenhauer haben Hesse und somit Das Glasperlenspiel auch
beeinflusst. Hegel unterscheidet zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist.
„Während der objektive Geist in der Welt beheimatet ist und sein Werk nur im
geschichtlichen Werdegang verrichtet, ist der davon unterschiedene absolute Geist als Idee,
als Überwelt oder Überwirklichkeit zu verstehen.“45 Diese zwei Geister stellen zwei
selbständige Elemente dar; sie formen zusammen gleichsam das menschliche Dasein.
Hegel und Schopenhauer unterscheiden sich in diesem Punkte, denn obwohl
Schopenhauer auch den absoluten Geist von der Alltagswelt loslöst, sieht er die Geschichte
als Traum oder Scheinwirklichkeit. „Kunst, Religion und Philosophie dienen als Kraftquelle,
damit sich der Mensch von dem Wahn der Wirklichkeit zurückziehen kann.“46 Dies entspricht
der Lebensweise der Kastalier, die nur noch mit dem Glasperlenspiel leben und sich vom
weltlichen Leben losgelöst haben. Hesse ist aber kein Hegelianer, denn „Hegel betrachtet die
Welt und das Werden unter dem Aspekt des Fortschritts, während Hesse eher an die Vielzahl
der Erscheinungen erzeugende, polare Grundeinheit von Yin und Yang glaubt.“47
Man sieht, dass die romantischen Einheitsgedanken ziemlich genau mit denen der
Asiaten übereinstimmen. Der Mensch ist ein Teil der Geschichte und soll das Leben als Spiel
betrachten. Die Kunst und vor allem die Musik widerspiegelt das alles umfassende Ganze und
42
Vgl. Malischke: S.8
Vgl. Beutin, Wolfgang e.A. [Hrsg.]. Deutsche Literaturgeschichte; Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Stuttgart: J.B. Metzler. 2001: S.200
44
Vgl. Hsia: S.45
45
Malischke: S.30
46
Ebd.: S.31
47
Ebd.: S.31
43
14
spielt eine wichtige Rolle, nicht nur während der Romantik, sondern sicherlich auch im Werk
des „Spätromantikers“ Hermann Hesse.
3 Einheitsformung in Das Glasperlenspiel
Aus den Hintergründen wird klar, dass Hesse durch die verschiedenen kulturellen Einflüsse
davon überzeugt war, dass es hinter den Gegenpolen im Leben eine umfassende Einheit gibt.
Diese Gedanken hat er auf verschiedene Weisen in seinen Werken verarbeitet. Auch im
Glasperlenspiel wird anhand Josef Knechts fiktiver Biographie die stufenweise vor sich
gehende Entwicklung zu einem harmonischen Menschen dargestellt.
Knecht hat keine Eltern und wird als junger Knabe zur kastalischen Schule zugelassen.
Er ist ein guter Schüler und auch als Mensch wird er sehr geschätzt. Er entwickelt sich
innerlich wie äußerlich Schritt um Schritt zu einem ganzen Menschen. Diese Entwicklung ist
mit seiner Reaktion auf die Wesen seiner Mitmenschen verbunden, die als seine Gegenpole zu
betrachten sind.
Das Ziel dieser Arbeit ist, anhand der Kapitel ‚Kastalien und das weltliche Leben‘,
‚Musik‘ und ‚Josef Knecht und seine Mitmenschen‘ Knechts mehrstufige Entwicklung zu
einem vollkommenen Menschen darzustellen. Diese zentralen Themen des Romans sind alle
Versuche der Vereinigung verschiedener Gegenpole. Knecht ist aber die Hauptperson und
deswegen sind Kastalien, seine Mitmenschen und die Musik Gehilfen, die seine Entwicklung
begleiten, sodass er alles Gegensätzliche überwindet und auf diese Weise seine
Vervollkommnung anstrebt.
3.1 Kastalien und das weltliche Leben
Wie schon im Kontextkapitel über den zweiten Weltkrieg besprochen wurde, ist Kastalien
eine utopische Gegenwelt zum ‚weltlichen‘ Leben. Sie ist auf den Trümmern des
feuilletonistischen Zeitalters entstanden, einer Zeit geistiger Entwertung. „Der Tiefpunkt des
intellektuellen Lebens erzeugt also nach antithetischem Muster den Gegenstrom einer
hochintellektuellen Elite, aus der sich mit der Zeit das Glasperlenspiel und Kastalien
entwickelt.“48 Diese neue intellektuelle Provinz formt im antithetischen Muster einen
Gegenpol zur geistig entwerteten Welt.
48
Herforth, Maria-Felicitas. Königs Erläuterungen und Materialien; Hermann Hesse; Das Glasperlenspiel.
Hollfeld: Bange Verlag. 2006: S.37
15
Gegen „die öde Mechanisierung des Lebens, das tiefe Sinken der Moral, die
Glaubenslosigkeit der Völker, die Unechtheit der Kunst […] und die dilettantische
Überproduktion in allen Künsten […]“49 wird für die kastalischen Studenten nach dem
feuilletonistischen Zeitalter einen „steilen Weg“ gesetzt; Sie „mußten an der Mathematik und
an aristotelisch-scholastischen Übungen ihr Denkvermögen reinigen und steigern und mußten
außerdem auf alle die Güter vollkommen verzichten lernen, welche vorher einer Reihe von
Gelehrtengenerationen erstrebenswert gegolten hatten […]“50 Damit werden zum Beispiel ein
Luxusleben und viel Applaus und Auszeichnungen für geistig leere Vorträge gemeint.
In der kastalischen Welt ist das Auslöschen des Individuellen, das Einordnen der
Einzelperson in die Hierarchie der Erziehungsbehörde und der Wissenschaften eins der
obersten Prinzipien.51 Deswegen wird auch auf das Hervorbringen von Kunst verzichtet. Es
sind alles Gegensätze zur Leerheit des feuilletonistischen Zeitalters. Die Abwendung von
dieser kriegerischen Epoche bezweckt, eine Einheit mit dem weltlichen Leben zu formen.
Kastalien soll die geistigen Werte beschützen und sie mittels der Lehrer des Ordens der Welt
weitergeben. Das Ziel ist also: Die Zusammenfügung der beiden gegensätzlichen Welten,
damit sie im Gleichgewicht nebeneinander existieren.
Die höchste, geistige ‚Äußerung‘ Kastaliens ist das Glasperlenspiel. Es ist eine Art
Universalsprache, in der mit allen geistigen und kulturellen Werten gespielt wird. Man kann
sie zueinander in Beziehung setzen und versuchen, aus ihnen eine Einheit zu kreieren. Vor
allem die Musik ist sehr wichtig in diesem Spiel, was im nächsten Kapitel behandelt wird.
Bemerkenswert ist, dass die Lust am Spiel uns stark an die Romantik erinnert. Es wird
auch im Buch thematisiert, als Knecht in einem Benediktiner Kloster ein Gespräch mit Pater
Jakobus darüber führt:
‚Es ist der enzyklopädische Gedanke, mit dem das ganze achtzehnte Jahrhundert gespielt hat‘, rief der
Pater. ‚Er ist es‘, meinte Josef, ‚aber Bengel [evangelischer Theologe (1687-1752), Schöpfer der
neutestamentlichen Bibelkritik, FS52] hat nicht bloß ein Nebeneinander der Wissens- und
Forschungsgebiete angestrebt, sondern ein Ineinander, eine organische Ordnung, er war unterwegs auf
der Suche nach dem Generalnenner. Und das ist einer der elementaren Gedanken des Glasperlenspiels. 53
In solchen Äußerungen stößt man deutlich auf die Überlappung der Kulturen. Die Romantiker
haben versucht, die Universalgedanken in die enzyklopädische Idee umzusetzen, aber auch
der Theologe Johann Albrecht Bengel wird hier mit einbezogen. Das Enzyklopädische findet
man im Aufbau des Romans wieder, denn Hesse spielt wie die Romantiker mit der
49
Hesse: S.22
Ebd.: S.32
51
Vgl. Ebd.: S.9
52
Vgl. Pfeifer: S.291f.
53
Hesse: S.165
50
16
Vermischung verschiedener Textgattungen, wie Prosa und Lyrik. Wenn man den Westen
verlässt, findet man in den asiatischen Kulturen, die auf den ersten Blick ein Gegenpol des
Westens zu sein scheinen, die gleiche Universalsuche. Sie finden in dem Glasperlenspiel alle
ihren Platz.
In diesem Zusammenhang muss ein wichtiges asiatisches Element hervorgehoben
werden, denn die Meditation ist ein obligatorischer Teil des Glasperlenspiels. Sie soll die
Kastalier davor behüten, dass sie die Hieroglyphen des Spiels - wie im feuilletonistischen
Zeitalter - zu bloßen Buchstaben entarten lassen.54 „Die Meditation über das Zeichen, seinen
Gehalt, seine Herkunft und seinen Sinn ist eine buddhistische Praktik aus Indien.“55 Im
Kapitel 2.2.1 wurde behandelt, dass man durch die Meditation das überindividuelle Selbst
erkennen kann. Die Versenkung ist für das Glasperlenspiel auch notwendig, weil es der Weg
aus der Vielfalt zur Einheit, zu Tao, der Urquelle alles Seins und Werdens ist.56 Der Mensch
sucht also nach der Harmonie und im Glasperlenspiel wird symbolisch die Suche nach Einheit
Form gegeben. Durch Meditieren soll den Spielern gezeigt werden, dass das Spiel ernst zu
nehmen und nicht irgendwie ein Spaß sei, sondern dass es die Vereinigung geistiger Werte
vor Augen führt. Wie Knecht entdeckt, braucht man für die wirkliche Harmonie einen
Gegenpol im Spiel, nämlich die Realität des weltlichen Lebens.
Die Meditation formt also das eine Element des Spiels, das andere ist der geistige Teil;
das ist die Zeichensprache, die aus den bestehenden kulturellen Werten entsteht. Im Spielen
des Glasperlenspiels findet man die Vereinigung dieser beiden Hälften. Dies wird noch
deutlicher in der Beschreibung zweier Spielvarianten: die formale- und die psychologische
oder pädagogische.
Das formale Spiel strebt nach einer vollkommenen Harmonie in der Ordnung und
Verbindung der geistigen Werte. Das psychologische sucht diese Einheit nicht so sehr in der
Anordnung der Inhalte, sondern in der jeder Etappe des Spiels folgenden Meditation. Es bietet
von außen her keinen Anblick des Vollkommenen, leitet den Spieler jedoch durch die Folge
seiner Meditationen auf dem Wege zum Erlebnis des Vollkommenen und Göttlichen. Er hat
danach das Gefühl, eine harmonische Welt aus den zufälligen und wirren Erscheinungen
gelöst und in sich aufgenommen zu haben.57 Für Josef Knecht ist dies das beste Spiel und es
fasst die Idee der Vereinigung der scheinbaren, wirren Gegenpole in Worte.
54
Vgl. Hesse: S.37
Malischke: S.24
56
Vgl. Hsia: S.280
57
Vgl. Hesse: S.197
55
17
Wie schon erwähnt wurde, kann das Glasperlenspiel sich keiner wirklichen allumfassenden
Harmonie annähern, weil sie sich nur auf die geistigen Werte bezieht. Trotzdem gibt es ein
ideales Spiel im Roman; es ist das Einzige das beschrieben wird, das die absolute Harmonie
zwischen Himmel, Erde und Menschen und auch zwischen dem Volks- und Mandarinengeist
darstellt.58 Es ist das ‚Chinesenhausspiel‘, das Knecht sich als Magister Ludi für das
Jahresspiel ausgedacht hat. Als erwachter Mensch hat er auf diese Weise sogar die
Möglichkeit, das kastalische Leben mit dem weltlichen zu verbinden.
Es leuchtet Josef Knecht im Laufe seines Lebens ein, dass das Ideal der Vereinigung
der zwei Welten nicht zu verwirklichen sei. Auffällig ist, dass diese Erkenntnis durch die
Begegnung mit Menschen, die seine Gegenpole sind, entsteht. Wie im Kapitel über Knechts
Leben besprochen wird, spielen darin zwei Weltmenschen eine sehr wichtige Rolle. Es sind
sein Mitschüler Plinio und Pater Jakobus, die ihm allmählich durch ihre Diskussionen die
Augen öffnen. Knecht sieht, dass die Kastalier das Glasperlenspiel zu sehr als geistigen Spaß
betrachten, somit die Bindung zur Welt verlieren und vergessen, dass sie abhängig von ihr
sind. Pater Jakobus des Benediktiner Ordens hat ihm am stärksten darauf hingewiesen, dass in
Kastalien keine Geschichte studiert wird, obwohl der Orden Teil davon ist. Knecht lernt durch
den Pater „die Historie, lernte die Gesetzlichkeiten und Widersprüchlichkeiten des
Geschichtsstudiums kennen und lernte in den folgenden Jahren darüber hinaus die Gegenwart
und das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit sehen.“59
Anhand dieses Zitats lässt sich feststellen, dass in der Geschichte auf verschiedene
Weisen aus Gegenpolen eine Einheit kreiert wird. Als Individuum ist man Teil des
Weltgeschehens, aber umgekehrt kann man mit seinem eigenen Handeln die Geschichte
beeinflussen. Hinzu kommt, dass die historischen Ereignisse schon passiert sind, ihre
Wirkung aber weder in der Gegenwart noch in der Zukunft verlieren. Die Vergangenheit
muss man deswegen nicht Außerachtlassen, denn sie beeinflusst das heutige Leben noch
immer. Aus diesem Grunde hat man das Leben als ‚geschichtliche Wirklichkeit‘ zu
betrachten, wobei zu bemerken sei, dass die Geschichte sich immer aufs Neue in einer
anderen Form manifestiert. In diesem Zusammenhang ist Knechts Bemerkung über den
Benediktiner Orden wichtig:
Verglichen mit dem Lebensstil Kastaliens schien dieser benediktinische beim ersten Zusehen weniger
geistig, weniger agil und zugespitzt, weniger aktiv, dafür aber gelassener, unbeeinflussbarer, älter,
bewährter, es schien hier ein schon längst wieder zur Natur gewordener Geist und Sinn zu walten. 60
58
Vgl. Hsia: S.315 und Hesse S.246
Hesse: S.166
60
Ebd.: S.155
59
18
Das Kloster ist abgeschnitten von der Welt, das Leben in ihm ein isoliertes. Für Knecht gibt
es dort aber viel mehr Geschichte als in Kastalien. Das Klosterleben ist wieder zur Natur
geworden, was bedeutet, dass es der Harmonie näher steht. Die Benediktiner wissen, dass sie
Teil der Geschichte sind und kennen ihre Rolle darin. Die zwei Orden stimmen zum Teil in
ihrer Abgeschlossenheit überein, ihre Polarität besteht darin, dass die Mönche trotzdem in die
Welt ziehen und ihre Rolle in der Geschichte erfüllen. Dieser Pol fehlt in Kastalien.
Knecht entschließt sich deswegen letztendlich, aus dem Orden auszutreten. Er hat
eingesehen, dass sie Teil der Geschichte ist und deswegen dem ganzen Leben angehört, denn
Kastalien ist auf den Trümmern des feuilletonistischen Zeitalters entstanden. Knecht zieht in
die Welt, damit er die Bindung zu ihr nicht verliert. Als Individuum möchte er aber die
kastalische Behörde vor ihrem Fehler warnen; und so schreibt er in seinem Rundschreiben
folgendes über die Zukunft:
Aber eben diese Rüstung [des feuilletonistischen Zeitalters FS] wird vielleicht in Bälde wieder oberstes
Gebot sein, im Parlament werden die Generäle wieder dominieren, und wenn das Volk vor die Wahl
gestellt wird, Kastalien zu opfern oder sich der Gefahr von Krieg und Untergang auszusetzen, so wissen
wir, wie es stimmen wird. […] Es wird alsdann auch ohne Zweifel sofort eine kriegerische Ideologie in
Schwung kommen […] Die Woge ist schon unterwegs […] 61
Die symbolische Geschichtswoge zeigt, dass das Weltgeschehen sich in einer immer
wiederholenden Wellenbewegung verändert. Wenn man aber nicht alle Pole, die sie
beeinflussen können, berücksichtigt, schlägt diese Woge zu stark ins Extreme aus. Die nur
geistige kastalische Welt berücksichtigt ihren Gegenpol, das weltliche Leben, nicht.
Deswegen warnt Knecht vor der Reaktion auf diese Vernachlässigung, denn das Verhalten,
das kastaliens Gegenpol ist, die Lebensweise des feuilletonistischen Zeitalters also, wird in
der Wellenbewegung wiederkehren. Es ist das Spiel des Lebens, dessen romantische Herkunft
weiter oben behandelt wurde.
3.2Die Musik als vereinigendes Element
Ein wichtiges Element im Glasperlenspiel ist die Musik. Sie spielt im Roman auf
verschiedenen Ebenen eine Rolle. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Spiel als Spiel,
sondern auch für die Menschheit oder das Sein an sich. In diesem Kapitel wird die Bedeutung
dieses Themas für die Einheitssuche behandelt.
Im einführenden Kapitel zur fiktiven Biographie Knechts im Glasperlenspiel wird
beschrieben, dass für Kastalien das China der ‚alten Könige‘ ein ehrwürdiges Vorbild ist,
61
Hesse: S.363
19
soweit es die Musikkultur betrifft. In diesem Zusammenhang wird aus Frühling und Herbst
das Musikkapitel des Lü Bu We zitiert:
Die Ursprünge der Musik liegen weit zurück. Sie entsteht aus dem Maß und wurzelt in dem großen
Einen. Das große Eine erzeugt die zwei Pole; die zwei Pole erzeugen die Kraft des Dunkeln und Lichten
[…] Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht
stammt aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt.62
Die Musik entstammt also der allumfassenden Einheit, dem Tao, und sie enthält die
Gegenpole. (Siehe Kapitel 2.2.1) Wenn man zur vollkommenen Musik gelangen möchte,
muss man diese Pole zu einer Harmonie zu vereinigen wissen. Dieses Gleichgewicht geht aus
dem Rechten der Welt, also aus der Harmonie der Welt, hervor. Wenn aber richtig gelebt
wird, das heißt, wenn man nach der Natur lebt, ist dieses Rechte selber aus dem Tao
entstanden. Auf diese Weise ist der Kreis vollständig, denn die vollkommene Musik
widerspiegelt das Leben, und das rechte Leben das Tao, und das Tao ist der Ursprung der
Musik.
Auch Knecht ist mit den Ideen über die Musik als Urquelle aller Ordnung, Sitte,
Schönheit und Gesundheit63 bekannt und sieht, dass sie sich im Leben widerspiegelt. Dies
wird ganz klar, als er das zentrale Gedicht des Romans, Stufen, mit seinem Freund Tegularius
bespricht.64 Es beschreibt die Entwicklung des Lebens als eine Stufen- oder Raumfolge.
Tegularius meint, dass auch eine andere Überschrift für das Gedicht hätte gewählt werden
können, nämlich das ’Wesen der Musik‘:
[Es] ist recht eigentlich eine Betrachtung über das Wesen der Musik, oder meinetwegen ein Lobgesang auf
die Musik, auf ihre stete Gegenwärtigkeit, auf ihre Heiterkeit und Entschlossenheit, auf ihre Beweglichkeit
und rastlose Entschlossenheit und Bereitschaft zum Weitereilen, zum Verlassen des eben erst betretenen
Raumes oder Raumabschnittes. […]65
Tegularius glaubt aber, dass das Gedicht zu lehrhaft ist und, dass es sogar einen Denkfehler
enthält. Denn der Grundgedanke ist, dass die Beweglichkeit der Musiktöne der
Lebensentwicklung des Menschen gleichgestellt werden könne. Für die Beschreibung der
Musik ist es wichtig, dass Knecht gerade dieser Gleichstellung zustimmt.
Man muss im Leben immer bereit sein, etwas Neues anzufangen und neue Räume,
oder Lebensvariationen zu entdecken. Hesse unterscheidet die chinesischen und klassischen
Musikarten, fügt sie aber auch wieder zusammen. „Die chinesische Musik gibt dem
Glasperlenspiel das Wissen um das Eine, und die klassische Musik das unbeirrbare Suchen,
62
Hesse: S.27
Vgl. Ebd.: S.131
64
Im Anhang findet man das vollständige Gedicht.
65
Hesse: S.381f.
63
20
um zu ihm zu gelangen.“66 Ein wichtiger Grundzug der Musik, speziell der ‚klassischen‘, ist
jene heitere Bereitschaft zum Wandel und damit auch zugleich Kennzeichen eines tapferen
Lebens.67 Denn es ist schwierig sich von seinem vertrauten Leben loszulösen und neue Wege
in die Richtung des Ganzen zu gehen. Kurz gesagt: Der Gegensatz von Vertrautem und
Unbekanntem muss überwunden werden. Dann strebt man nach der Harmonie und Einheit,
wie die Musik es uns lehrt.
Wie schon im vorigen Kapitel angedeutet wurde, ist das, was für das Individuum gilt,
auch in der Geschichte eine immer wiederkehrende Variation auf ein Thema:
Vom ältesten China bis zu den Sagen der Griechen spielt der Gedanke von einem Idealen, himmlischen
Leben der Menschen unter der Hegemonie der Musik ihre Rolle. Mit diesem Kultus der Musik („in
ewigen Verwandlungen begrüßt uns des Gesangs geheime Macht hienieden“ – Novalis) hängt denn
auch das Glasperlenspiel auf innigste zusammen. Wenn wir nun auch die Idee des Spiels als eine ewige
und darum längst vor ihrer Verwirklichung vorhandene und sich regende erkennen […] 68
Auch die Leben der Menschen sind Teile, das heißt: es geht um viele unterschiedliche
Gegenpole der ganzen Geschichte. Es ist das Spiel des Lebens, das in den verschiedenen
Epochen und Kulturen auf diese Weise betrachtet wird. Dieses Lebensspiel ist, wie die Musik,
eine Variation über vorhandene Themen. Man findet im Zitat den Gedanken wieder, dass die
gegensätzlichen Kulturen und Epochen sich überlappen und in dieser Überlappung
harmonisch werden.
Wie hier schon öfters erörtert wurde, ist das Glasperlenspiel also als Teil des
menschlichen Lebens selber eine Form der Suche nach dem Ganzen. Der Prozess der
Vereinigung geistiger Werte durch den Glasperlenspieler ähnelt auch dem Wesen der Musik,
wie in der folgenden Textstelle erläutert wird:
[…] dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie
eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre
Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig,
theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren. 69
Die enge Verknüpfung von Spiel und Musik entsteht dadurch, dass das Spiel ein
vollkommenes Instrument ist, das die geistigen Teile, oder Pole, mit einander zu einem
Musikstück verknüpft. Durch die Verbindung der einzelnen Bruchstücke oder Töne entsteht
eine Einheit.
66
Hsia: S.278
Vgl. Maronn, Kristin. Verskundliche Studien zur Lyrik Hermann Hesses; unter Einbeziehung der
musikalischen Bildwahl der Prosa Hamburg: o.V. 1965: S.50
68
Hesse: S.15f.
69
Ebd.: S.13
67
21
Auffällig ist, dass die Musik Knechts Lebensstufen markiert: So spielt der Musikmeister
Klavier, als er Josef zum ersten Mal prüft; als Knecht zum ersten Mal meditieren muss, spielt
der Musikmeister ein Thema, durch das der Beginn der Versenkung angekündigt wird. Und
als Knecht im Benediktiner Kloster ist, wird das Gespräch mit Pater Jakobus erst erfolgreich,
nachdem sie über die Musik gesprochen haben. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel
hervorgehoben in dem die Wirkung der Musik hervorragend zum Ausdruck gebracht wird.
Als Plinio nach vielen Jahren als Erwachsener Knecht zum zweiten Mal besucht,
verabschiedet sich Josef nach ihrem Gespräch mit einem Satz aus einer Sonate von Purcell.
Die Musik wird folgendermaßen beschrieben:
Wie Tropfen goldenen Lichtes fielen die Töne in die Stille […] Sanft und streng, sparsam und süß
begegneten und verschränkten sich die Stimmen der holden Musik, tapfer und heiter schritten sie ihren
innigen Reigen durch das Nichts der Zeit und Vergänglichkeit, machten den Raum und die Nachtstunde
für die kleine Weile ihrer Dauer weit und weltgroß, und als Josef Knecht seinen Gast [Plinio]
verabschiedete, hatte dieser ein verändertes und erhelltes Gesicht, und zugleich Tränen in den Augen. 70
Diese Textstelle ruft das Gefühl der Harmonie hervor, wenn man aber genauer hinschaut,
besteht sie aus vielen Gegensätzen: Die Töne kontrastieren mit der Stille, sind sanft und
gleichzeitig streng und machen den Raum, in dem die Freunde sich befinden, für eine Weile
weltgroß. Weil sich aber die verschiedenen Musikstimmen in ihrer Begegnung verschränken
und immer heiter weiterschreiten, lassen sie durch die Zusammenarbeit eine harmonische
Heiterkeit entstehen. Es ist also die Einheit der Töne oder Variationen, die die Harmonie
erzeugt. Hinzu kommt, dass sie eine überzeitliche und unbegrenzte Sprache sprechen, durch
die man mit dem Ganzen in Berührung gesetzt wird. Diese Berührung zeigt sich aber auch in
Gegensätzen, denn Plinio hat ein erhelltes Gesicht und gleichzeitig Tränen in den Augen.
An dieser Stelle findet man die asiatischen- und romantischen Gedanken über die
Musik wieder, die schon besprochen wurden. Es ist nun gerade die Musik, welche als
Universalsprache zwischen den Gegenpolen des Inneren und Äußeren, oder zwischen Natur
und Geist im Menschen vermittelt.
Es wurde versucht, die wichtigsten Merkmale der Musik zu beschreiben. Sie
entstammt einer Ganzheit und widerspiegelt das Leben, weil beide vom Tao beeinflusst
werden. Die Musik besteht aus verschiedenen und gegensätzlichen Tönen, die in immer sich
ändernden Variationen wiederkehren. Die Heiterkeit dieses Fortschreitens in der
Verwandlung soll man fürs eigene Leben verwerten. Nur dann kann man die Polaritäten
überwinden und selber zur Harmonie gelangen. Man soll aber nicht vergessen, was der
Musikmeister über den Sinn der Musik schreibt: „Ob du nun Lehrer, Gelehrter oder Musikant
70
Hesse: S.323
22
wirst, habe die Ehrfurcht vor dem ‚Sinn‘, aber halte ihn nicht für lehrbar.“71 Man soll diesen
Sinn selber erfahren, weil er sich, wie die Musik, ständig ändert und immer andere Gestalt
annimmt.
3.3Die drei Lebensstufen Josef Knechts und seine Mitmenschen
Wie schon mehrere Male angedeutet wurde, ist die stufenweise Entwicklung der Hauptperson
Josef Knecht ein zentrales Thema im Glasperlenspiel. Er begegnet im Laufe seines Lebens
verschiedenen Menschen, die als seine Gegenpole zu bezeichnen sind. Als symbolische
Verkörperungen der Polarität zwischen Natur und Geist verarbeitet Hesse in seinen Romanen
eine Vielzahl männlicher Doppelfiguren, die als die Repräsentanten unterschiedlicher
Persönlichkeitsaspekte eines Menschen fungieren.72 Im Glasperlenspiel werden die
Entwicklungsstufen in Knechts Leben durch die Auseinandersetzung mit ihnen vorbereitet. Es
zeigt sich deutlich, dass Knecht die eigene Vervollkommnung immer mehr anstrebt. Wir
wollen im Folgenden diese Entwicklung in Phasen einer näheren Untersuchung unterwerfen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass man im Glasperlenspiel Hesses
Ansichten über die dreistufige Entwicklung des Menschen im Aufbau der Kapitel
wiedererkennt. Zuerst lebt man im unschuldigen Stadium der Jugendjahre, das verloren geht,
wenn man seine Naivität verliert. Die daraus entstehende Krise muss überwunden werden,
indem man die innere Notwendigkeit spürt, sich zu ändern. Nach dieser Lebensphase kann
man die Selbstvervollkommnung erreichen.73 Knecht durchläuft in seinem Leben folgende
Stufen: ‚Berufung‘, ‚Erwachen‘ und ‚Abschied‘.
3.3.1 Berufung: der Musikmeister und Plinio Designori
Als kleiner Junge befindet Josef sich noch im Stadium der naiv-unbewussten Unschuld. Diese
Stufe wird mit der Berufung durch den Musikmeister, der ein vollkommener Mensch ist,
abgeschlossen. Der Musikmeister kommt zur Grundschule, wo Knecht bis dahin gelebt hat,
weil er prüfen möchte, ob der Junge für die kastalische Schule geeignet ist.
In dieser Begegnung lässt sich ein Musterbeispiel der Polarität erkennen. Knecht ist
ein Kind, das noch viel lernen muss. Der Musikmeister dagegen ist ein Erwachsener und
vollkommener Mensch. Die beiden sind also Gegenpole. Josef ist von seinem Wesen
71
Hesse: S.120
Vgl. Gommen: S.1
73
Vgl. Malischke: S.73. Im Kontextkapitel über die Romantik wurde diese stufenweise Entwicklung
ausführlicher besprochen.
72
23
‚bezaubert’ und dadurch kann der Meister ihn mittels der Musik erreichen. Sie musizieren
gemeinsam und auf diese Weise fängt Josef eine universelle Harmonie zu ahnen an: „er ahnte
hinter dem vor ihm entstehenden Tonwerk den Geist, die beglückende Harmonie von Gesetz
und Freiheit, von Dienen und Herrschen, er ergab und gelobte sich diesem Geist und diesem
Meister“74.
Diese erste Begegnung mit dem Musikmeister kann als der magische und unbewusste
Teil der Berufung betrachtet werden. Das Wesen des Meisters und die Musik sind die
bindenden Elemente. Wenn sie sich zum zweiten Mal sehen, erzählt der Musikmeister über
das kastalische Leben. Es ist der geistige Teil der Berufung, gemeinsam formen sie die ganze
Berufung. Für Josef entwickelt sie sich aber allmählich, auf die nach Hesse ideale Weise,
indem das Innen und Außen einander harmonisch entgegenarbeiten75. Wenn dies gleichmäßig
geschieht, werden die Gegenpole von Innen und Außen zu einer Einheit. Josef weiß noch
nicht, dass er wirklich zur kastalischen Schule gehen darf, aber unmerklich bereitet er sich
innerlich darauf vor. Als er tatsächlich hört, dass er zugelassen worden ist, ist er nicht mal
überrascht.
Weil der Musikmeister als vollkommener Mensch gilt, der während Josefs ganzer
Entwicklung eine wichtige Rolle spielt, wird er hier näher besprochen. Es ist bemerkenswert,
dass er nur als ‚Musikmeister‘ bezeichnet wird. In diesem Namen werden in gewissem Sinne
zwei Gegenpole vereinigt. Einerseits symbolisiert die Musik die universelle Einheit,
andererseits wird er als Meister mit der Welt verbunden. Diese zwei Pole kann man den
Gegensätzen von Natur und Geist gleichstellen.
Als Knecht sich mit der chinesischen Musik beschäftigt, fällt ihm Folgendes auf:
Überall bei den ältern chinesischen Schriftstellern stieß er auf das Lob der Musik als einer der
Urquellen aller Ordnung, Sitte, Schönheit und Gesundheit, und diese […] Auffassung war ihm ja durch
den Musikmeister, der geradezu für ihre Verkörperung gelten konnte, von jeher vertraut. 76
In diesem Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass das kennzeichnende Merkmal der
Weisheit des Musikmeisters seine Heiterkeit ist.
Man soll in seinem Leben von dieser Heiterkeit Gebrauch machen, damit man alles
Gegensätzliche, überwinden und die Harmonie erreichen kann. Als der Musikmeister alt wird,
zieht er sich immer mehr zurück und wird immer schweigsamer, gleichzeitig fängt er aber
auch zu strahlen an. Knecht besucht ihn kurz vor seinem Sterben und beschreibt, wie sehr er
74
Hesse: S.52
Vgl. Ebd.: S.56
76
Ebd.: S.131
75
24
einer anderen Welt mit anderen Gesetzen angehörig geworden ist, und wie alles, was Knecht
von unserer Welt in die seine hinüber sprechen will, von ihm abläuft:
[…] plötzlich überkam mich das Verständnis für den Alten und für die Wendung, die sein Wesen
genommen hatte, weg von den Menschen und hin zur Stille, weg von den Worten und hin zur Musik,
weg von den Gedanken und hin zur Einheit. Ich begriff, […] dieses Lächeln, dieses Strahlen; es war ein
Heiliger und Vollendeter […]77
Dem Musikmeister ist es gelungen, alle Gegensätze in seinem Leben wie ein Musikstück zu
einer vollkommenen Harmonie zu gestalten. In der Wortwahl findet man diese Pole wieder:
‚Menschen‘ und ‚Stille‘, ‚Worte‘ und ‚Musik‘ und ‚Gedanken‘ und ‚Einheit‘ werden einander
gegenübergestellt. Der Musikmeister ist vollkommen, weil er im menschlichen Leben
symbolisch das chaotische Spiel der Menschen, Worte und Gedanken seiner harmonischen
Heiterkeit entgegensetzt und auf diese Weise überwunden hat. Mit dem Sterben nähert er
sich einer anderen Welt, einer anderen Stufe der universellen Harmonie, die er durch seine
Heiterkeit schon berührt und ausstrahlt. Durch diese Beschreibung wird klar, dass auch der
Tod ein Teil der Vervollkommnung des Menschen ist. Denn man strahlt die Harmonie nicht
nur aus, sondern geht zur Einheit hin und wird in die vollkommene Musik aufgenommen.
Alle Gegensätze sind damit aufgehoben.
Der Musikmeister ist auch ein Vollkommener in seiner Rolle als Meister. Es stellt
sich im Laufe des Romans heraus, dass die Bedeutung des Schulmeisters sehr groß ist. Er ist
bestimmend für die Entwicklung eines jungen Lebens. Der Gegensatz vom Alten und Jungen
kann durch ihn harmonisiert werden, wenn er der nächsten Generation seine Weisheit
weitergibt. Je jünger der Mensch ist, umso besser kann der Lehrer ihn erziehen. Das Schöne
daran ist, dass sich das geistig Erworbene, nachdem es in die neuen Geister eingepflanzt ist,
sich zu ganz neuen Erscheinungsformen und Ausstrahlungen verwandeln kann.78 Dieser
Prozess gleicht dem sich immer ändernden Thema in der Musik und ist daher auch dem
Leitgedanken des zentralen Gedichts Stufen verwandt. Mit Josefs Berufung durch den
Musikmeister fängt dieser Kreislauf an.
Wie Hesse schreibt, ist Knechts Leben mit der Aufnahme in Kastalien auf eine andere
Ebene verpflanzt worden und zugleich ist es der erste und entscheidende Schritt in seiner
Entwicklung79. Die wichtigste und zentrale Lehre, die der Musikmeister Josef schon bald
nach seiner Aufnahme in Kastalien gibt, ist, dass es „unsere Bestimmung ist, die Gegensätze
richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als die Pole einer Einheit. […]
77
Hesse: S.259
Vgl. Ebd.: S.239
79
Vgl. Ebd.: 58
78
25
Jeder von uns ist nur ein Mensch, nur ein Versuch, ein Unterwegs. Er soll aber dorthin
unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die
Peripherie.“80 Etwas weiter heißt es:„Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommener
Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir,
nicht in den Begriffen und Büchern.“81 Es ist auffällig, dass der Musikmeister diese Weisheit
in Worte fasst, aber im selben Gespräch gleichzeitig hinzufügt, dass man sich nicht nach einer
vollkommenen Lehre sehnen kann. Diese Lehren ziehen durch Knechts ganzes Leben.
In diesem Gegensatz werden die romantischen und asiatischen Einflüsse wieder
sichtbar. Der Mensch sucht nach dem Vollkommenen, dem Tao, und muss im Spiel des
Lebens das Göttliche in sich selbst zu finden suchen. Denn als lebendiges Wesen spiegelt sich
das „Ganze“ in ihm, das sich nur leben lässt, nie erlernbar noch lehrbar ist.
In der neuen kastalischen Welt trifft er in seinem Mitschüler Plinio einen anderen
Gegenpol. Plinio ist der Sohn reicher Eltern und nur ein Hospitant, was bedeutet, dass er nie
in die kastalische Gemeinschaft eintreten wird. Er wird dort gebildet, kehrt aber nach seiner
Ausbildung in die Welt zurück. Er ist also ein Weltmensch und Josef ein echter Kastalier.
Zwischen den beiden Knaben entsteht eine Art Anziehungskraft, aber gleichzeitig stoßen sie
sich ab. Die Diskussionen, die aus dieser Beziehung entstehen, widerspiegeln die positiven
und negativen Seiten sowohl von Kastalien als auch von der Welt außerhalb Kastaliens.
Plinio verkörpert darin die natürliche Seite des Lebens und Josef die geistige. Plinio
sagt darüber: „[…] jeder verteidigt das, an dessen Primat er glaubt, du den Geist, ich die
Natur.“82 Durch die Diskussionen wird Knechts Glaube, dass Kastalien die einzige Utopie der
Welt ist, in Frage gestellt. Der Musikmeister spielt in Knechts innerem Streit eine
harmonisierende Rolle:
An ihn gelangte Knecht mit der Bitte um Beistand und Rat, und dieser weise alte Musikant nahm sich
der Sache ernstlich an und hat das Spiel meisterhaft gelenkt […] Die innere Geschichte der FreundFeindschaft zwischen Josef und Plinio, oder dieser Musik über zwei Themata, oder dieses dialektischen
Spieles zwischen zwei Geistern […]83
Hier stößt man wieder auf den Gedanken, den die Asiaten, aber auch die Romantiker, schon
formuliert haben: das Leben als Spiel und Musikstück. Die polaren Töne des Lebensspiels
werden vom Musikmeister gelenkt, damit Knecht sieht, was an Plinios Kritik wahr oder
unwahr ist, um so seine eigenen Gedanken lenken und zu einem Mittelweg harmonisieren zu
können. Weil er die kastalische Provinz verteidigen will, fühlt es sich von diesem Moment an
80
Hesse: S.79
Ebd.: S. 81
82
Ebd.: S.105
83
Ebd.: S.90
81
26
verantwortlich; es betrifft ein Gefühl, das sich während seines Entwicklungsgangs noch
steigern wird.
Diese Zeit formt den Anfang seiner ‚kritischen Jahre‘84 , während denen Knecht auch
seine Gedichte schreibt, trotz der Tatsache dass man in Kastalien keine Kunst produzieren
darf. Sie sind in ‚Josef Knechts hinterlassene Schriften‘ am Ende der fiktiven Biographie
aufgenommen worden. Diese Äußerungen der Verzweiflung stimmen mit Hesses
dreistufigem Lebensaufbau überein. Josef wird noch als unschuldiges Kind in Kastalien
aufgenommen, verliert aber seine Naivität und versucht das damit einhergehende krisenhafte
Gefühl durch Erkenntnisse oder Werke zu überwinden. Die Diskussionen mit Plinio sind in
diesem Falle die Suche nach Erkenntnissen und die Gedichte sind seine Werke. Sie sind noch
Teil der Berufung. Am Ende entschließt er sich, in den kastalischen Orden einzutreten, ist
aber gleichzeitig zur Erkenntnis gelangt, dass die Provinz nicht vollkommen ist. Es gibt also
auch in seinem Entschluss einen Gegensatz.
Knechts Berufung und Aufsteigen in den Orden, mit den dazugehörenden, immer
verantwortungsvolleren Aufgaben sind nur der eine Pol in seinem Leben. Es ist der weibliche
Pol des Bewahrens, Yin, denn im Inneren trägt und verwirklicht Knecht unbewusst die Idee
der Polarität von Geist und Welt. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Musikmeister
spürt Knecht sein Schicksal, nach der Harmonie streben zu müssen. „Das Erwachen als ‚das
Sichtbarwerden und einladende sich Öffnen der idealen Welt‘ bewirkt ‚ die Tendenz […] zum
Vordringen, zum Greifen und Begreifen der Wirklichkeit‘. Dies ist der männliche Pol, Yang
in Knechts Leben.“85
Auffällig ist, dass Plinio auf seine Weise auch nach einem Gleichgewicht zwischen
Geist und Welt sucht. Er entschließt sich aber für die Welt. Als Knecht und er sich als
Erwachsene wieder begegnen, werden die Erfahrungen, die sie durch ihren Entschluss
gemacht haben, zu einem Ganzen zusammengefügt.
3.3.2 Erwachen: der ältere Bruder und Pater Jakobus
Nach Beendung der Schulzeit fangen die Studienjahre an. Die Studenten dürfen während
dieser Periode studieren was sie möchten und sind noch nicht wirklich mit dem Orden
verbunden. Knecht hat deswegen die Möglichkeit, sich nach den intensiven Diskussionen mit
Plinio zurückzuziehen und das Leben zu überdenken. „Gerade für Begabungen von Josef
Knechts Art, welche […] ihrem Wesen nach auf Ganzheit, auf Synthese und Universalität
84
85
Hesse: S.104
Malischke: S.42f.
27
zielen, ist dieser Frühling der Studienfreiheit nicht selten eine Zeit intensiven Glückes […]“86.
Es sind die Musik und die chinesische Kultur. Die einzige Rechenschaft, die die Studenten
ablegen müssen, geschieht in Form des Verfassens eines fiktiven Lebenslaufs. „Der Schüler
hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner
frühern Epoche zurückzuversetzen und sich darin eine ihm entsprechende Existenz
auszudenken; […] es war […] ein Spiel der Imaginationskräfte […]“87. Diese Lebensläufe
sind also nicht verboten und formen deswegen einen Gegensatz zu den verbotenen Gedichten
der Schulzeit. Das Sich-versetzen in eine andere Epoche und Person ist ein Gegenpol zum
Alltag und zeigt, dass man als Mensch ein kleiner Teil des Geschichtskreislaufs ist. Dieses
künstliche Spiel stimmt mit den vorhin besprochenen Gedanken der Romantiker überein. In
der Kunst kann man eine Gegenwelt zum weltlichen Leben kreieren, in der gleichsam die
unendlichen Spiele der Welt nachgebildet werden, um in dieser Weise einen Durchgang zum
Unendlichen zu realisieren.
Weil es im Rahmen dieser Arbeit zu weit führt, in Einzelheiten auf die Lebensläufe
einzugehen, werden hier nur die wichtigsten Themen zur Sprache gebracht. Sie sind in einer
anderen Form eine Wiederholung von Knechts Biographie und bilden die wichtigsten
Grundgedanken des Romans, denn sie verkörpern die Lebensstufen ‚Berufung‘, ‚Erwachen‘
und ‚Abschied‘. Die Hauptpersonen gelangen alle zu Erkenntnissen in Bezug auf das
Universelle und Vollkommene. Weil sie alle in einer anderen Zeit leben, findet man den
Gedanken wieder, dass es das Bedürfnis nach der Suche nach Einheit schon Jahrhunderte lang
in den verschiedensten Kulturen gegeben hat. Wichtig ist die Bedeutung der Lehrer im immer
wiederkehrenden Kreislauf vom Alten und Jungen wie auch das Thema der Polaritäten.
Auch die Stelle der Lebensläufe im Roman ist bedeutsam, denn sie sind während
Knechts Leben verfasst worden und deswegen wirken sie prophezeiend. Weil sie aber nach
der Biographie aufgenommen worden sind, haben sie den Zweck, Knechts Leben im
Nachhinein zu erläutern. Es gibt deswegen einen Gegensatz.
Knecht beschäftigt sich also während seiner Studienzeit vor allem mit der Musik und
den Chinesen und ihrer Sprache. Außerdem fragt er sich, ob das Glasperlenspiel wirklich das
Höchste von Kastalien ist, das es wert sei, sein ganzes Leben daran zu setzen.88 Diese
Gedanken sind „der alte Wettstreit zwischen Ästhetisch und Ethisch“89. Denn es geht ihm
darum, die Harmonie zwischen den gegensätzlichen Gedanken zu finden: Einerseits sieht er,
86
Hesse: S.108
Ebd.: S.111f.
88
Vgl. Ebd.: S.132
89
Ebd.: S.135
87
28
dass das Spiel eine bestimmte Schönheit in ihrer geistigen Vollkommenheit hat, während er
andererseits auch die Gefahr erkennt, dass es zur leeren Spielerei werden kann. Diese Jahre
sind deswegen eine Fortsetzung seiner kritischen Zeit, in der er das eigene Leben genau
untersucht. Durch seine Chinastudien entdeckt er das allesumfassende I Ging. Er wird davon
dermaßen fasziniert, dass er einen Weg suchen möchte, es dem Glasperlenspiel eingliedern zu
können und deswegen sucht er einen Lehrer. Dieses vollkommene Spiel wird schließlich das
‚Chinesenhausspiel‘. Er hört, dass es den so genannten ‚Älteren Bruder‘ gibt, der vor
fünfundzwanzig Jahren der beste Student der chinesischen Abteilung in Kastalien war. Er hat
sich aber in ein Bambusgehölz zurückgezogen und ist selber zum Chinesen geworden.
Knecht fährt hin, entdeckt aber schon bald, dass das
Idyll im Bambusgehölz […] ein nur wenigen möglicher und erlaubter Verzicht auf Universalität, ein
Verzicht auf das Heute und Morgen zugunsten eines Vollkommenen, aber Vergangenen, es war eine
sublime Art von Flucht, und Knecht hatte beizeiten gespürt, dass das sein Weg nicht sei. […] er [wußte]
noch andere Kräfte in sich vorhanden, eine gewisse innere Unabhängigkeit, einen hohen Eigensinn, der
ihm zwar keineswegs das Dienen verbot und erschwerte, der aber von ihm verlangte, daß er nur dem
höchsten Herrn diene.90
In diesem Zitat findet man ganz klar die Bedeutung des Besuchs beim Wahlchinesen. Es
formt eine Stufe in Knechts Erwachen, was auch stimmt, denn er selber hat diese Zeit
mehrmals als das „Beginn des Erwachens“ bezeichnet91. Auch sind es wieder die Gegensätze,
die in den Vordergrund treten: er spürt das Idyllische des zurückgezogenen Lebens, seine
innere Stimme sagt ihm aber gleichzeitig, dass man der Welt nicht entfliehen muss, weil sie
ein Pol des Lebens ist. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das I Ging gerade
die ganze Welt mit allen Gegenpolen symbolisiert. Der ältere Bruder ist ein Meister des I
Ging, der aber in seinem eigenen Leben die Gegenpole nicht zu vereinen wusste. Knecht sieht
es durch seine innere Unabhängigkeit und diese ist es auch, die von ihm verlangt, dem
höchsten Herrn zu dienen. Knecht muss also einen Mittelweg zwischen den Gegensätzen
‚Unabhängigkeit‘ und ‚Dienen‘ finden. Die Überwindung der Pole und die Bedeutung des
‚höchsten Herrn‘ wird am Ende seines Lebens sehr deutlich.
Als Knecht in Kastalien wiederkehrt, wird er endgültig in den Orden aufgenommen
und bekommt schon bald danach die Aufgabe von der Ordensleitung nach dem Benediktiner
Kloster Mariafels zu fahren, um die Brüder das Glasperlenspiel zu lernen. Es stellt sich
heraus, dass dies nicht der wirkliche Zweck ist. Das Ziel ist die Verbesserung des Kontakts
zwischen den beiden Orden und gleichzeitig formt der Besuch einen Pol in Knechts
Erkenntnissen über Kastalien und die Welt.
90
91
Hesse: S.133
Vgl. Ebd. S.130
29
Dieser Pol wird vom Pater Jakobus symbolisiert, der auch das Gegenstück vom ‚älteren
Bruder‘ ist. Er ist der Geschichtsschreiber des Klosters und ist dem weltlichen Leben sehr
verbunden, weil er als eine Art Politiker die Belange seines Ordens vertritt. In diesem
Zusammenhang ist erwähnenswert, dass in der Patergestalt der Kulturgeschichtsschreiber
Jakob Burckhardt gehuldigt wird, der die Geschichte und die Kultur als untrennbare Elemente
betrachtete und in der Geschichte einen sich immer wandelnden Geist als Konstante entdeckt
hat.92 Genau diese Gedanken sind wichtig für Knechts Vervollkommnung: „für Knecht wurde
der Umgang mit dem Historiker und die Schulung durch ihn […] eine neue Stufe auf jenem
Weg des Erwachens“93. Wie im Kapitel über Kastalien und das Weltliche in der Welt
besprochen wurde, wird Knecht die Bedeutung der Geschichte klar vor Augen geführt. In
Kastalien fehlen die historischen Studien und weil sie ein Pol des Lebens sind, verliert man
unter anderem dadurch die Bindung zur Realität. Das darf nicht sein, weil man selber Produkt
und Bindeglied dieses Prozesses ist.
Diese Erkenntnis hat aber in einem anderen Ereignis ihr Gegenstück. Denn als Knecht
für einige Zeit in Kastalien Urlaub hat, bemerkt er während einer Selbstbetrachtung, dass er
auf unbegreifliche Weise in die Hierarchie hineingewachsen und ihr untergeordnet ist: „es
war die Verantwortung, das Umfangensein vom Allgemeinen und Höheren […] das einen
stützte und zugleich der Freiheit beraubte […]“94. Er hat gelernt, dass der Orden sich zu sehr
von der Welt abschließt, aber trotz dieser Kritik ist er ihr sehr verbunden. Diese
Verbundenheit zeigt sich auch in Gegensätzen, denn sie stützt einen, aber beraubt ihn auch
seiner Freiheit.
Knecht kehrt noch einmal ins Kloster zurück, mit dem Ziel, die verbesserte Beziehung
der beiden Orden endgültig sicher zu stellen. Das wichtigste Ergebnis seines Aufenthalts ist
aber sein Wissen um das sich immer wandelnde Leben und die damit zusammenhängende
Suche nach dem Gleichgewicht der Pole. Nach seiner Rückkehr in Kastalien tritt er schon
sehr bald in das Amt des Magister Ludi ein. Äußerlich scheint dieses Ereignis eine festere
Beziehung zur Provinz zu bedeuten, innerlich hat Knecht durch seine Erkenntnisse und
eigensinnigen Blick sich von dieser Welt längst verabschiedet.
3.3.3 Abschied: Tegularius, Plinio und sein Sohn Tito
In dem Moment, als Knecht Magister Ludi wird, zieht der Musikmeister sich im hohen Alter
aus dem Orden zurück. Knecht ist dann in gewissem Sinne sein Nachfolger und auf diese
92
Vgl. Malischke: S.50
Hesse: S.166
94
Ebd.: S.178
93
30
Weise wird der immer wiederkehrende Kreislauf von Meister und Schüler vollendet. Der
Musikmeister sagt ihm auch tatsächlich: „Es ist schön, daß du in dem Augenblick, wo ich
abtrete, in die Lücke trittst, es ist, als hätte ich einen Sohn, der künftig statt meiner seinen
Mann stellen wird“95. Dieses Thema spielt während Knechts Erwachenszeit in den fiktiven
Lebensläufen eine sehr wichtige Rolle, sie vertieft sich aber von dem Moment an, als er
Glasperlenspielmeister ist.
Schon früher hat Knecht in seinem Freund Tegularius einen Gegenpol erkannt. Als er
als Glasperlenspielmeister öfter in Kastalien ist, sieht er ihn fast jeden Tag und wird dies
bestätigt. Durch diese Person werden Knechts negative Erkenntnisse über Kastalien
unterstützt. Tegularius ist auf intellektuellem Gebiet sehr fleißig und sogar genial. Als
Mensch und Teil der kastalischen Hierarchie und Moral spielt er aber eine schlechte Rolle.
Knecht sieht in ihm eine ‚Vorläufergestalt‘, denn er ist gleichzeitig „die Verkörperung
höchster kastalischer Fähigkeiten und das mahnende Vorzeichen für deren Demoralisierung
und Untergang.“96 In Tegularius’ Wesen sieht er also, wie die Kastalier werden, wenn sie sich
nicht davon bewusst werden, dass sie ein Teil der Welt sind und sich nur in ihr geistiges
Leben zurückziehen. Sie streben nicht mehr nach der Harmonie, sondern sind nihilistische,
leidende, unberechenbare Einzelgänger, die sich der kastalischen Hierarchie nicht einordnen
können und die Meditation vernachlässigen.97 Tegularius zeigt Knecht also als
„Gegenpolgestalt, wie die Verneinung der Realität sich entwickeln wird und welche Gefahr
sie für die kastalische Zukunft formt.
Durch seine Menschenkenntnisse kann Knecht Tegularius beeinflussen und seine
schlechten Eigenschaften eindämmen. Wie der Musikmeister ist Knecht kein Erzieher, der
eine vollkommene Lehre anbietet, sondern er erreicht die Menschen durch sein Wesen. In der
Beziehung zu Tegularius wird dieses Lehren näher definiert. Das Mittel ist schließlich „des
Freundes Bewunderung und Liebe, diese Schwärmerei für Knechts starke und harmonische
Persönlichkeit.“98 Wie der Musikmeister ist Knecht durch seine Erkenntnisse zu einem
harmonischen Menschen geworden und hat deswegen eine angenehm-kräftige Ausstrahlung,
mit der er seine Schüler erreichen kann. In seiner Vollkommenheit kann er also unbemerkt die
Unvollkommenen erziehen.
Knecht erkennt auch deswegen immer mehr die Wichtigkeit des Erziehens und als
dessen Folge die Rolle des Schulmeisters. Er hat die Gegensätze im höchsten Amt der
95
Hesse Zit. Nach Hsia: S.307
Hesse: S.274
97
Vgl. Ebd.: S.272f.
98
Ebd.: S.276
96
31
kastalischen Welt und die des Erziehers nie getrennt und „dabei fand er, je jünger und
unwissender seine Schüler waren, desto mehr Freude am Lehren. […] Je älter er wurde, desto
mehr zog die Jugend ihn an.“99 Auch hier findet man die Gegenpole ‚Alt‘ und ‚Jung‘ wieder,
die es schon bei Josefs Prüfung durch den Musikmeister gab. Knecht kommt zur Erkenntnis,
dass:
dieser sinnvoll-sinnlose Rundlauf von Meister und Schüler, dieses Werben der Weisheit um die Jugend,
der Jugend um die Weisheit, dieses endlose, beschwingte Spiel war das Symbol Kastaliens, ja war das
Spiel des Lebens überhaupt, das in alt und jung, in Tag und Nacht, in Yang und Yin gespalten, ohne
Ende strömt.100
Während seiner Amtszeit vertiefen sich Knechts Lebenserkenntnisse, die ihm durch sein
Erwachen ins Bewusstsein getreten sind. Der Lehrer-Schülerkreislauf ist eine kleinere
Variante des historischen Kreislaufs. Beide widerspiegeln das ganze Lebensspiel, das aus sich
wandelnden Gegenpolen besteht. Es bedeutet, dass man im kleinen Kreislauf die jungen
Menschen auf das Leben vorbereiten muss, damit sie Teil des großen Kreislaufs werden
können und dies auch erkennen.
In diesem Zusammenhang ist es bedeutungsvoll, dass der ‚homo ludens‘ in Kastalien
das höchste Amt ist, aber ursprünglich Schulmeister bedeutet. Wie im Kapitel 2.2.2 über die
Romantik besprochen wurde, hat Schiller diesen Terminus benutzt um den Menschen im
Lebensspiel anzudeuten. Wenn man Schillers Gedanken mit dem Namen ‚Knecht‘ verknüpft,
kann man daraus schließen, dass Josef zwar im höchsten Amt Kastaliens ist, aber im
Gegensatz dazu auch ein Knecht ist. Er ist Knecht des Amtes, aber auch des Lebens. Die
Erkenntnisse seines Erwachens zwingen ihn schließlich dazu, die ursprüngliche Bedeutung
des ‚homo ludens‘ zu erkennen und ihr zu folgen, das heißt: Knecht des Lebensspiels zu
werden, indem er als Meister in die Alltagswelt zieht.
Knecht beendet die Stufe des Erwachens des Hesseschen dreistufigen Lebensschemas.
Der Erwachte muss seiner inneren Stimme folgen, damit er ein Vollendeter wird. Im Roman
wird das folgendermaßen beschrieben: Er ist an die Stelle gelangt, an welcher große Naturen
den Weg der Tradition verlassen und im Vertrauen auf obere, nicht zu bezeichnende Mächte,
das Neue, noch nicht Vorgezeichnete suchen und verantworten müssen.101 Diese innere
Stimme braucht aber einen Impuls von außen und dieser erscheint in der Gestalt Plinios. Er ist
Knechts Gegenpol, der ihm die Stufe des Erwachens zu vollenden hilft.
Nach vielen Jahren sehen die zwei Pole sich wieder. Plinio hat die unangenehmen
Seiten des Weltlebens erfahren, leidet daher an der Trauer um die Welt und ist nicht glücklich
99
Hesse: S.240
Ebd.: S.221
101
Vgl. Ebd.: S.289
100
32
geworden. Sie sprechen mit einander und Knecht kann Plinio durch sein Wesen erreichen. Es
wird klar, dass Plinio Kastaliens gute Bräuche, wie die Meditation, vernachlässigt hat und
dadurch Probleme mit seinem Sohn Tito hat. Knecht erkennt darin „eine wie starke Macht der
Konflikt zwischen Vätern und Söhnen ist, dieser Haß, diese in Haß umgeschlagene Liebe.“102
In der Harmonisierung der Gegenpole von Liebe und Hass sieht Knecht den Anlass, Kastalien
zu verlassen und das Gute beider Welten in einem jungen Leben zu vereinigen.
Als Lehrer erkennt er, dass Tito „gute Rasse und gute Gaben von beiden Eltern her
[hat], es fehlt nur die Harmonie dieser Kräfte.“103 Auch hier ist das Problem der Vereinigung
gegensätzlicher Pole wieder erkennbar; in diesem Falle geht es um die Kräfte der Mutter und
des Vaters in einem Menschen. Die alten Freunde entschließen sich, dass Knecht Kastalien
verlässt und Tito erziehen wird. Auf diese Weise verabschiedet Knecht sich von Kastalien
und bewegt sich auf einer Zwischenstufe der Vollendung zu.
In seinem Rundschreiben an die Ordensleitung, in dem Knecht seinen Entschluss
mitteilt, beschreibt er, was er über Kastalien und die menschliche Existenz gelernt hat. Die
Leitung versteht es nicht wirklich, muss es jedoch akzeptieren. Das Individuum, das nach der
Wahrheit sucht, ist stärker als diese ganze Gelehrtengruppe. Knecht fährt in die Berge zur
Hütte, wo er die erste Zeit mit Tito leben wird.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufgeht, macht Tito einen Freudentanz am Rande
des Bergsees und begrüßt den neuen Tag und das ganze Leben. Er vergisst sogar, dass Knecht
ihm zuschaut. Darin zeigt sich die Polarität der Beiden, denn Knecht ist ein ruhiger und
harmonischer Mensch. Als Tito sich plötzlich an Knechts Anwesenheit erinnert, schämt er
sich ein wenig, springt in den See und fordert Knecht zu einem Wettschwimmen auf. Knecht
springt trotz seiner Bedenken ins eiskalte Wasser und ertrinkt. Er hat sich symbolisch als
Knecht des Lebens geopfert und hat auf diese Weise dem ‚höchsten Herrn‘ gedient. Er hat die
Gegenpole seines Lebens erkannt und überwunden, indem er nach der Wahrheit gesucht hat.
Er ist Teil des immer wiederkehrenden Lebenskreislaufs geworden, weil er Tito durch seine
Wesensart erreicht hat, wie es im folgenden Zitat beschrieben wird:
Und erst jetzt, wo kein Stolz zu wahren und kein Widerstand mehr zu leisten war, spürte er [Tito FS] im
Weh seines erschrockenen Herzens, wie lieb er diesen Mann schon gehabt hatte. […] ihn [überkam] mit
heiligem Schauer die Ahnung, daß diese Schuld ihn selbst und sein Leben umgestalten und viel
Größeres von ihm fordern werde, als er bisher je von sich verlangt hatte.104
102
Hesse: S.345
Ebd.: S.343
104
Ebd.: S.436
103
33
Tito hat, wie der junge Knecht, seine Unschuld verloren und ihn überkommt die Ahnung des
großen Ganzen. Die Geschichte, die im Wesentlichen eine Suche nach Wahrheit, nach der
Vereinigung der Gegenpole ist, wird sich in ihm auf eine andere Weise wiederholen. Die
symbolische Bedeutung von Knechts Sterben liegt in der Beschreibung des Bergsees. Er
befindet sich zur Hälfte im Licht und im Schatten. Dieses Bild gleicht dem Yin und Yang
Zeichen, dem Symbol der Einheit.105 Mit seinem Ertrinken ist auch Knecht, wie der
Musikmeister, zur allumfassenden Harmonie eingegangen.
105
Vgl. Hsia: S.317
34
3 Fazit
Aus der Analyse geht deutlich hervor, dass Hesse in Das Glasperlenspiel danach strebt, der
Vereinigung verschiedener Gegenpole auf die Spur zu kommen. Auffällig ist, dass man diese
Suche nicht nur in der Handlung der fiktiven Biographie antrifft, sondern dass sie von Hesse
auch theoretisch als Lehre vorgestellt wird, indem er zum Beispiel die Lehren im Tao Te King
bespricht. In dieser Weise wird eine alte Lehre durch das Handeln der Protagonisten in die
Praxis umgesetzt, was zur Folge hat, dass Hesses Ansichten durchaus konkretisiert werden.
Die Hauptperson Josef Knecht entwickelt sich in seinem Leben nach Hesses
Dreistufenschema von einem naiven Kind zu einem vollkommenen Menschen. Nachdem er
die kindliche Unschuld verloren und die daraus entstehende innere Krise überwunden hat,
erkennt er die alles umfassende Harmonie, die aus verschiedenen Gegenpolen besteht. Diese
stufenweise Entwicklung besteht aber nicht nur aus den drei Stufen, ‚Berufung‘, ‚Erwachen‘
und ‚Abschied‘. Es gibt dazwischen auch viele kleinere Schritte auf dem Wege zur
Vollkommenheit.
Den Hintergrund zu dieser individuellen Entwicklung bildet die kastalische Welt. Sie
ist als Gegenpol zum feuilletonistischen Zeitalter entstanden, womit die Zeit um den zweiten
Weltkrieg gemeint ist. Hesses Ziel war es, die geistige Leerheit dieser Epoche nie
wiederkehren zu lassen. Deswegen sollte Kastaliens geistiges Leben mit der Welt vereinigt
werden, damit eine Harmonie zwischen den beiden ersichtlich wurde. Knecht erkennt durch
seine eigene Entwicklung immer mehr, dass es ihm nicht gelingt, dieses Ziel zu erreichen,
weil die Kastalier keine Geschichte studieren und ihre höchste geistige Schöpfung, das
Glasperlenspiel, als bloße Spielerei betrachten. Wichtig ist, dass das Glasperlenspiel selber
eine Form der Suche nach dem universellen Ganzen ist, indem es alle kulturellen und
geistigen Werte der Welt im Prinzip in sich trägt. Weil sich das Spiel aber nur auf die
Gegenwart der Erscheinungen und die geistigen Werte richtet und die Geschichte außer
Betracht gelassen wird, fehlt der Realitätsbezug. Wenn man aber die Polaritäten verbinden
will, sei gerade die Bindung zur Wirklichkeit nicht zu verlieren.
Knechts Entwicklungsprozess und seine Suche nach Harmonie sind von Personen aus
seiner Umgebung abhängig, die als Gegenpole seines Wesens zu betrachten sind. Als größter
Gegenpol erscheint Plinio, der ihn schon als Junge zum Nachdenken über die Gegenpole des
kastalischen- und weltlichen Lebens angeregt hat. Meditation und Selbstreflexion führen
schließlich zu Knechts eigenen, eigensinnigen Entschlüssen und nicht an letzter Stelle zu der
von ihm gefundenen Lebenshaltung. Der Gipfel seines Eigensinns liegt darin, dass er die
35
kastalische Provinz verlässt, um Tito zu erziehen und somit den Anschluss an die Welt zu
erreichen.
In der Einheitssuche im Glasperlenspiel findet man die Einflüsse der Romantiker und
Asiaten wieder. Es handelt um ein allumfassendes Ganzes, das vom Leben hervorgebracht
und zugleich beeinflusst wird. Diese Ganzheit ist als vollkommene Harmonie unsichtbar und
mit dem Wesen der Musik verwandt. Die gegensätzlichen Töne, oder Pole, werden in ihrer
Verknüpfung zu einer harmonischen Einheit. Alles Leben stammt aus dieser ‚Urquelle‘. Die
Gegenpole, denen das Individuum in seiner Entwicklung begegnet, müssen mit der Heiterkeit
der Musik zur Harmonie gebracht werden.
Was für den einzelnen Menschen gilt, ist auch von Bedeutung für größere Gruppen
und schließlich für die ganze Geschichte der Menschheit. Der Lehrer-Schüler- Kreislauf ist in
dem Kontext beispielhaft. Das Junge lernt als Gegenpol des Alten und Weisen und wird durch
das Erwachsenwerden an die Stelle des Alten treten. Im Roman sind es Knecht und der
Musikmeister und am Schluss Knecht und Tito, die diesen Kreislauf verkörpern.
Diese Entwicklung kehrt in der ganzen Geschichte als eine Variation auf ein sich
änderndes-, aber immer wiederkehrendes Thema wieder. Der Mensch ist ein kleiner Pol im
Weltgeschehen und kann diese Wellenbewegung ein wenig beeinflussen. Es ist das Spiel des
Lebens, wie Schiller es bezeichnet hat. Der Name ‚Knecht‘ bedeutet, dass er dem Ganzen
diente, weil er als Teil der Welt nach dieser Harmonie gestrebt hat. Die Ahnung, dass es eine
solche Harmonie gibt, hat er weitergegeben und deswegen ist der Kreislauf vollkommen. In
diesem Zusammenhang sind Knechts hinterlassene Schriften zu berücksichtigen, denn sie
wiederholen sein Leben in anderen Epochen und Kulturen, dazu auch noch in einer fiktiven
Form.
Wie auch Thomas Mann 1945 in einem Brief an Hesse schon angedeutet hat, ist Das
Glasperlenspiel ein in sich ruhendes, kugelrundes Meisterwerk. Es hat selbst sehr viel von
einem Glasperlenspiel, denn sämtliche Inhalte und Werte unserer Kultur, befinden sich auf
der Entwicklungsstufe des Spiels, wo die Fähigkeit zur Universalität, das Schweben über den
Fakultäten erreicht ist.106
Diese Gedanken bestätigen die vorliegende Analyse, die jedoch oberflächlich bleiben
muss, weil es im Roman noch viele, nicht erwähnte Beispiele der Polarität und Einheitssuche
gibt. Wenn man im Sinne Hesses handeln möchte, bräuchte man dazu eine größere Arbeit,
106
Vgl. Mann, Erika [Hrsg.] Mann, Thomas; Briefe 1937-1947. Frankfurt am Main: Fischer. [Band 2] 1963:
S.424 f. Thomas Mann in einem Brief an Hermann Hesse, vom 8. April 1945.
36
denn „Man soll auf alles achten, denn man kann alles deuten.“107 Seine wichtigste Lehre ist
aber klar geworden: man soll sich als Teil des Ganzen immer mehr zur Ganzheit entwickeln.
Die schwierigen Gegenpole, denen man dabei als Lebensstufen begegnet, muss man heiter
harmonisieren, nur so kann man ein vollkommener Mensch werden.
107
Hesse: S.78
37
4 Anhang
Das zentrale Gedicht des Glasperlenspiels.
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensstufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch in einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!108
108
Hesse: S.450
38
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