Universiteit Utrecht Bachelorarbeit Korrektorin: Dr. J. Enklaar-Lagendijk Block 1, 2010 Zweiter Korrektor: Prof. Dr. A.B.M. Naaijkens Polaritätsvereinigung in Hermann Hesses Glasperlenspiel. Versuch einer Analyse. Vorgelegt von: Abgabedatum: 15.10.2010 Frederike Scholten Studentennummer: 3253104 Studiengang: Germanistik Quellen der Bilder auf dem Titelblatt: Hermann Hesse in jungen Jahren - beim Malen im Tessin. (Bild: Museum Hermann Hesse) Auf der Webseite von Swissinfo: URL: http://www.swissinfo.ch/ger/Home/Archiv/Hermann_Hesse:_Zeitlose_Faszination.html?cid= 142890 (Stand: 07.10.2010) Das Yin und Yang Symbol: URL: http://mor.phe.us/writings/Yin-Yang.html (Stand: 07.10.2010) 2 Inhaltsangabe 1. Einleitung ......................................................................................................................................... 4 2. Das Glasperlenspiel und sein Kontext ............................................................................................. 5 2.1 Der zweite Weltkrieg ..................................................................................................................... 5 2.2 Begriffsdefinition: Gegenpol und Einheit ..................................................................................... 7 2.2.1 Die asiatischen Einflüsse......................................................................................................... 9 2.2.2 Die romantischen Einflüsse .................................................................................................. 11 3 Einheitsformung in Das Glasperlenspiel ........................................................................................ 15 3.1 Kastalien und das weltliche Leben .............................................................................................. 15 3.2 Die Musik als vereinigendes Element.................................................................................... 19 3.3 Die drei Lebensstufen Josef Knechts und seine Mitmenschen ............................................. 23 3.3.1 Berufung: der Musikmeister und Plinio Designori ............................................................... 23 3.3.2 Erwachen: der ältere Bruder und Pater Jakobus.................................................................. 27 3.3.3 Abschied: Tegularius, Plinio und sein Sohn Tito ................................................................... 30 3 Fazit ............................................................................................................................................... 35 4 Anhang .......................................................................................................................................... 38 5 Bibliographie.................................................................................................................................. 39 3 1. Einleitung Ein zentrales Thema in Hermann Hesses Werk ist der Versuch, eine Harmonie zwischen den verschiedenen Gegenpolen die es im Leben gibt, zu kreieren. Es handelt sich dabei vor allem um die Vervollkommnung seines Selbst, denn der Mensch sucht nach einer inneren Harmonie und muss zu diesem Zwecke verschiedene mehr oder weniger gegensätzliche Charaktereigenschaften ins Gleichgewicht bringen. Das Glasperlenspiel ist Hesses letzter Roman und kann als Gipfel seines Werks bezeichnet werden. Die Themen, die er in seiner früheren Lyrik und Prosa immer wieder behandelt hat, werden im Glasperlenspiel zu einem Ganzen zusammengefügt und auf verschiedene Art und Weise wiederholt. Hesse hat im Roman das Wesentliche des Lebens darzustellen versucht. Es ist die Suche nach einer allumfassenden Harmonie und der Einheit der Gegenpole. Deswegen ist die zentrale Fragestellung dieser Arbeit „Auf welche Weise kreiert Hermann Hesse im Glasperlenspiel die Einheit verschiedener Gegenpole und wie wird diese Harmonie dargestellt?“ Das Ziel ist also, die Gegensätze im Roman aufzudecken und zu beschreiben, wie eine Harmonie aus ihnen entsteht. Weil für das Verständnis des Romans seinen Kontext eine wichtige Rolle spielt, werden als Einführung die Begriffe ‚Einheit‘ und ‚Gegenpol‘ ausführlich definiert. Zuerst im allgemeinen Sprachgebrauch, danach wird aber auch berücksichtigt, dass Hesse stark von verschiedenen Kulturen und ihren Gedankenwelten beeinflusst wurde. Vor allem die Einheitssuche der Asiaten und der deutschen Romantik sind eine wichtige Grundlage für das Werk Hesses und werden deswegen näher erläutert. Einen weiteren Hintergrund formt der zweite Weltkrieg. Dies ist wichtig, weil Das Glasperlenspiel 1943 als Reaktion auf das Zeitgeschehen veröffentlicht wurde. Hesse sah die Gefahren der nationalsozialistischen Massenbewegung und hat die Menschen davor zu warnen versucht. Anschließend wird versucht, die Einheitssuche in Das Glasperlenspiel zu analysieren. Weil im Roman die folgenden Themen wie ein roter Faden durch die Handlung ziehen, findet man sie im Aufbau der Kapitel wieder; sie formen den Rahmen der Untersuchung: ‚Kastalien und das weltliche Leben‘, ‚Die Musik als vereinigendes Element‘ und ‚Die drei Lebensstufen Josef Knechts und seine Mitmenschen‘. Zum Schluss gibt es das Fazit, in dem die wichtigsten Resultate der Analyse zusammengefasst werden. 4 2. Das Glasperlenspiel und sein Kontext In diesem ersten Teil der Untersuchung werden einige Kontextthemen behandelt, die für das Verständnis des Glasperlenspiels wichtig sind. Zuerst wird die Entstehungszeit, vor und während des zweiten Weltkriegs, erläutert. Danach wird näher auf die Begriffe ‚Gegenpol‘ und ‚Einheit‘ eingegangen. Auch Hesses Interessengebiete, namentlich die asiatischen- und romantischen Einflüsse, die in Das Glasperlenspiel eine besondere Rolle spielen. 2.1 Der zweite Weltkrieg Wie schon in der Einleitung erwähnt wurde, erschien Das Glasperlenspiel 1943 im zweiten Weltkrieg. Der Schaffensprozess des Romans fängt schon 1931 an, aber durch die schwierigen Umstände, die durch die immer mächtiger werdenden Nationalsozialisten entstehen, erscheint das Buch erst zwölf Jahre später. Schon vor 1933, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wird, versucht der seit 1912 in der Schweiz lebende Hesse die Menschen vor den Gefahren dieser Massenbewegung zu warnen. Außerdem hilft er vielen Flüchtlingen und Häftlingen der Nazis. Hesse befindet sich während dieser Zeit in einer schwierigen Lage, weil er einerseits immer weniger von den Nazis geduldet wird, sodass seine Bücher zensiert werden und nur noch teilweise erscheinen können. Einerseits sind seine zeitkritischen Rezensionen in Zeitungen ihnen ein Stein des Anstoßes. Andererseits kritisiert die Emigrantenpresse Hesse wegen seiner in ihren Augen zu wenig eindeutigen Haltung Hitler-Deutschland gegenüber.1 Außerdem steckt Hesse in jener Zeit auch in Geldnot. Der Aufstieg der Nationalsozialisten ist aber nicht aufzuhalten und nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs bricht der Krieg aus. Hesse verabscheut „die Tendenz zur Totalität“2, die er als Kennzeichen des Krieges betrachtet. Er sieht, dass alle Menschen durch Regeln und Gesetze ins faschistische System hineingezwungen werden und, dass sie sich auf diese Weise benutzen lassen, „die Persönlichkeit zu Gunsten der konformen Masse auszurotten.“3 Hesse hingegen betont gerade die Individualität und den Eigensinn des Menschen. Weil es aber an diesem kritischen Blick in der Gesellschaft fehlt, erwartet er, dass vor allem dadurch den Nationalsozialisten die Machtergreifung gelingen wird. Hesse schreibt 1955 in einem Brief an Rudolf Pannwitz über den Einfluss dieses Zeitgeschehens auf Das Glasperlenspiel: 1 Vgl. Clauss, Elke-Maria. Erläuterungen und Dokumente; Hermann Hesse; Das Glasperlenspiel. Stuttgart: Reclam. 2007: S.96 2 Prinz, Alois. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“; Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2000.: S.321 3 Hesse: Zit. Nach Prinz: S.322 5 Die Luft war wieder giftig, das Leben war wieder in Frage gestellt. [Wie im ersten Weltkrieg. FS.] […] Ich mußte, der grinsenden Gegenwart zum Trotz, das Reich des Geistes und der Seele als existent und unüberwindlich sichtbar machen, so wurde meine Dichtung zur Utopie […] 4. Hesse hat mit dem Roman deutlich versucht, eine Gegenwelt zu schaffen, um die Schreckensherrschaft zu kritisieren. In der Einführung zum Roman wird die Geschichte des geistigen Ordens Kastalien beschrieben. Diese Provinz ist auf den Trümmern des ‚feuilletonistischen Zeitalters‘ entstanden, womit die damalige Zeit um die Weltkriege gemeint ist. Die Menschen lebten damals „inmitten politischer, wirtschaftlicher und moralischer Gärungen und Erdbeben[…] und ihre kleinen Bildungsspiele […] entsprachen einem tiefen Bedürfnis, die Augen zu schließen und sich vor ungelösten Problemen und angstvollen Untergangsahnungen in eine möglichst harmlose Scheinwelt zu flüchten.“5 Dieses Verhalten hatte eine Leerheit des Lebens zur Folge: „Man plaudert über tausend Gegenstände und sammelt bruchstückhaft Wissen, ohne je den tieferen Sinn verstanden zu haben.“6 Diese Entwicklung förderte die ‚grauenhafte Entwertung des Wortes‘7, was in diesem Zusammenhang auch auf die Propaganda der Nationalsozialisten hindeutet. Die Leben der Menschen wurden leer und dadurch verloren die Kunstformen ihren Wert. In dieser Zeit wurden der Geist des Individuums und die intellektuellen Instanzen politisiert.8 Diese Kritik an die Gesellschaft ist in der Endfassung des Romans stark verallgemeinert und dadurch auch heute noch aktuell. Interessanterweise weist Hesse in den drei früheren Fassungen konkreter auf das nazistische System hin. Er hat diese kritischen Textstellen aber neutralisiert, weil er hoffte, das Buch in Deutschland veröffentlichen zu können. Dies gelang aber nicht und Das Glasperlenspiel musste in der Schweiz gedruckt werden. Erst im Dezember 1946, als Hesse der Goethepreis der Stadt Frankfurt und der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, wurde die erste Ausgabe in Deutschland veröffentlicht.9 4 Michels, Volker. [Hrsg.] Hermann Hesse; Sämtliche Werke; Die politischen Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. [Band 15.] 2004: S.776 5 Hesse, Hermann. Das Glasperlenspiel; Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht [o.J.].: S.20 6 Malischke, Andreas. Ideal und Wirklichkeit in Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“. Diplomica Verlag. 2008: S.11 7 Vgl. Hesse: S.21 8 Vgl. Ebd.: S.365 9 Vgl. Michels, Volker im Nachwort von Das Glasperlenspiel in „Hermann Hesse: Sämtliche Werke.“ Frankfurt am Main: Suhrkamp. [Band 5.] 2001.: S.725. 6 2.2 Begriffsdefinition: Gegenpol und Einheit Für diese Arbeit ist es wichtig zu wissen, was genau man unter ‚Einheit‘ und ‚Gegenpole‘ verstehen soll. Deswegen werden diese Begriffe in diesem Kapitel unter verschiedenen Blickwinkeln analysiert. Wahrigs Deutsches Wörterbuch definiert ‚Einheit‘ folgendermaßen: „1. etwas Zusammengehöriges, Untrennbares, ein Ganzes 2. Maß, Maßzahl, durch Vereinbarung festgelegte, meist physikalisch technische Größe zum Vergleich gleichartiger Größen od. Mengen […]“10. Die Definition von ‚Gegenpol‘ lautet: „entgegengesetzter Pol, z.B. Magnetpol; Sy Antipol“11. Diese allgemeine Beschreibung der Termini löst einige Fragen aus, denn auf den ersten Blick würde man meinen, dass diese beiden Begriffe sich gegenseitig ausschließen. Man zieht automatisch den Schluss, dass ein Gegenpol nicht mit seinem Gegenstück zu vereinigen ist. Einheit dagegen ist etwas Zusammengehöriges und Untrennbares: Man gebraucht das Wort zum Vergleich gleichartiger Größen. Daraus kann gefolgert werden, dass man aus Größen, die nicht miteinander zu vereinen sind, doch eine Einheit machen kann. Dies wird durch die Definition im etymologischen Wörterbuch bestätigt, denn das Wort Pol stammt vom lateinischen ‚polus‘ und dieses vom griechischen ‚polos‘, was ‚Drehpunkt‘ oder ‚Achse‘ bedeutet und dem griechischen Verb ‚pélesthai‘ verwandt ist, das ‚sich bewegen‘12 bedeutet. Das Wort ‚Einheit‘ ist von ‚ein‘ abgeleitet und dies stammt vom lateinischen ‚unus‘ und dem griechischen ‚oinos‘.13 Man bezeichnet etwas Zusammengehöriges damit. Wenn man diese Tatsachen miteinander verknüpft, sind die Pole untrennbar und formen eine gewisse Einheit, weil sie nicht ohne einander existieren können. Durch die Bewegung des griechischen ‚pélesthai‘ bewegen sie sich aufeinander zu. Es muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass im etymologischen Wörterbuch zu finden ist, dass das Substantiv „Polarität“ im 18./19. Jahrhundert zum ersten Mal dokumentiert ist. Wichtig ist, „dass die abendländischen Ursprünge von Hesses Polaritätskonzept bei Goethe und in der Romantik zu finden sind, die ihrerseits eine 10 Wahrig-Burfeind, Renate [Hrsg.] Wahrig Deutsches Wörterbuch. München: Wissen Media Verlag GmbH. 2006: S.421 11 Ebd.: S.585 12 Vgl. Drosdowski, Günther [Hrsg.]. Duden Etymologie; Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag. [Band 7.] 1989: S.539 und Seebold, Elmar. [Hrsg.] Kluge; Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: De Gruyter. 2002: S.711 13 Vgl. Duden: S.148 und Kluge: S.233 7 zeitparallele Entwicklung mit der Entstehung des Polaritätsbegriffs durchliefen, mehr noch, das Konzept als solches erst mitgeprägt haben.“14 Auch Hesse muss gewusst haben, „daß hinter allen Erscheinungsformen des Lebens eine Einheit steht, und er weiß auch, daß das Leiden in der Welt nur daraus resultiert, daß sich der Mensch nicht mehr als unlösbarer Teil dieser Einheit empfindet. Wie aber eine Synthese im Leben gefunden werden kann, darum kreisen seine Gedanken und literarischen Bemühungen.“15 Er versucht diese Einheit in seinen Werken zu kreieren und wird darin von verschiedenen kulturellen Strömungen beeinflusst. Die zwei wichtigsten Vorbilder sind die Leitgedanken der asiatischen Kulturen und der deutschen Romantiker. Hesse hat diese Motive aber keineswegs kopiert. Er hat seine Ideen in drei Kulturen gesucht und gefunden: in den abendländischen, südasiatischen und ostasiatischen Kulten16. Es gibt aber bestimmte Ähnlichkeiten und Überlappungen zwischen den Kulturen. Hesse ist sich dessen sehr bewusst; so schreibt er in seiner Erinnerung an Indien unter anderem: […] Noch schöner und mir unendlich wichtiger aber war die je und je in aller Sinnlichkeit und Frische wiederholte Erfahrung, daß nicht nur der Osten und der Westen, nicht nur Europa und Asien Einheiten sind, sondern es darüber hinaus eine Zugehörigkeit und Gemeinschaft gibt, die Menschheit. 17 Aus dieser Textstelle geht klar hervor, dass Hesse die verschiedenen Kulturen der Welt als Variationen einer zusammengehörigen Einheit betrachtet. Jede einzelne Gruppe hat ihre bestimmten Merkmale als die eigene Interpretation oder Darstellung des universellen Grundgedankens. Aufbauend auf diesem Grundsatz benutzt Hesse in seinen Werken die unterschiedlichen kulturellen Werte, um seine eigene Weltauslegung einer allgemeingültigen Harmonie unterzuordnen. Im Anschluss daran wäre es erwähnenswert, dass Hesse die 1932 herausgegebene Erzählung Die Morgenlandfahrt als unabdingbare Voraussetzung für das Glasperlenspiel betrachtete. Mit seiner Widmung des Romans „Den Morgenlandfahrern“ betont Hesse die Bedeutung der Erzählung für Das Glasperlenspiel.18 Die Mitglieder dieses imaginären Bundes stammen aus verschiedenen Epochen und Kulturen, wie zum Beispiel den asiatischen und den europäischen. Es sind Maler, Philosophen, Schriftsteller und die Hauptpersonen ihrer Romane und viele andere. Dieser Bund entsteht, wie Kastalien, als Widerstand gegen das 14 Gommen, Dorothée. Polaritätsstrukturen im Werk Hermann Hesses; Lyrik, Epik, Drama. Meidenbauer Martin. 2006: S.30 15 Pfeifer, Martin. Hesse Kommentar zu sämtlichen Werken. Frankfurt am Main: Suhrkamp. [1980] 1990: S.37 16 Vgl. Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China; Darstellung, Materialien und Interpretation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2002: S.16 17 Hesse in seiner 1918 veröffentlichten „Erinnerung an Indien“. Zit. Nach Hsia: S.17 18 Vgl. Clauss: S.114f. 8 feuilletonistische Zeitalter. Sie sind alle auf einer gemeinsamen Reise, suchen aber auch ihren individuellen Lebenstraum zu verwirklichen. Das gemeinsame Ziel der Fahrer ist symbolisch als das heimwärts Streben im Sinne von Novalis aufzufassen. Er sucht auch nach dem allumfassenden Ursein, das er in sich selbst als das Göttliche im Menschen zu finden glaubt19. Wie Novalis, glauben auch die Morgenlandfahrer, dass das Göttliche „ im geistig – seelischen Bereich [liegt] und die säkularisierte Religion dieser Bewegung [der Morgenlandfahrer ] ist das Streben nach der die ganze Geschichte durchziehenden Grundidee.20 Es ist ein geheimes Deutschland der Poesie, unterwegs zu den romantischen Sehnsuchtszielen, es ist das Inbild der romantischen Suche.21 Die Morgenlandfahrt als Schlüssel zum Glasperlenspiel enthüllt, wie Hesse das Leben sah. Der Mensch ist Teil einer allumfassenden Einheit, in der Ort, Geschichte und Kultur keine Rolle mehr spielen. Man muss versuchen, die Harmonie dieser Einheit im eigenen Leben zu gestalten. Dazu muss man sich weiterentwickeln und in diesem Prozess ist die Harmonisierung verschiedener Gegenpole sehr wichtig. 2.2.1 Die asiatischen Einflüsse Im vorigen Kapitel wurde klar, wie Hesses Welt- und Lebensanschauung sich auf der harmonischen Einheit verschiedener Kulturen und ihrer Weisheit basiert, wobei der Einfluss einiger asiatischer Strömungen von Bedeutung ist. Seine Eltern waren beide als Missionsgehilfen in Indien; dieser Einfluss gab es für Hesse also schon von klein auf. Aus seinen Briefen und Werken ist zu ersehen, dass Hesse sich sein ganzes Leben sehr für die Chinesen, Inder und Japaner interessiert hat und auch seine Asienreise weist darauf hin. Deswegen werden in diesem Teil der Arbeit kurz die taoistischen Grundlagen, die Meditation, das I Ging und die Lehre des Konfuzius behandelt. Wie schon angedeutet wurde, liegt einem Teil der alten orientalischen Lehren und Religionen ein Einheitsgedanke zugrunde. Die Vielgestaltigkeit der Welt, das reiche, bunte Spiel des Lebens wird auf das göttliche Eine, den Ursprung des Spiels, zurückgeführt. Alle Gestalten unserer Erscheinungswelt werden nicht als Individuen und unersetzbar empfunden, sondern als Spiel von rasch vergänglichen Bildungen, die mit Gottes Atem aus und ein strömend das Ganze der Welt zu bilden scheinen, während doch jede dieser Gestalten, nur 19 Vgl. Safranski, Rüdiger. Romantik; Eine deutsche Affäre. Frankfurt am Main: Fischer. 2009: S.134f. Vgl. Malischke: S.27 21 Vgl. Safranski: S.338 20 9 augenblickliche Erscheinungen, nur flüchtig inkarnierte Teile des uranfänglichen Einen sind und stets in dasselbe zurückkehren müssen.22 Wenn man die Einheitsgedanken aus taoistischen Grundlagen erklären will, sollte man Lao Tses Äußerungen in seinem Werk Tao Te King23 mit einbeziehen. Darin heißt es, dass die Wahrheit, das Sein an sich, unaussprechbar sei. […] Im chinesischen Denken wird das Natur, Mensch und Kosmos umfassende Symbol der Einheit als Tao bezeichnet. Die Erscheinungen der Welt werden als konkrete Gegensätze gesehen, die auf die Urpolarität von Schöpferischem und Empfangendem, vom Licht und Schatten, Positivem und Negativem, dem Männlichen und Weiblichen, von Yin und Yang zurückgeführt werden. 24 Tao kann mit „Sinn“ oder „Weg“ übersetzt werden und es entspricht dem Geist der Musik. Der Sinn entspricht dem Ursein, das alles Seiende, „Te“, das „Leben“, erzeugt. Te ist den Gesetzmäßigkeiten des Tao unterworfen und dadurch werden die ganze Natur und auch die Leben der Menschen von dieser Polarität bestimmt.25 Das bedeutet, dass Tao in der Existenz des Menschen, die sich fortwährend wie die Musik ändert, die immer feste, bestimmende Kraft ist. Für diese Arbeit ist vor allem dieses dynamische Spiel zu berücksichtigen. Auch während der Romantik ist es ein wichtiges Thema und Hesse greift es in seinen Werken auf. Deswegen streben die Taoisten nach einem Leben, das mit der Natur, oder anders gesagt, mit dem Instinkt harmonisch ist. Aus diesem Grunde soll man denn auch nicht gegen die Natur handeln. Diese innere Passivität, das Handeln in Harmonie mit der Natur also, und das Sich dem Inneren Őffnen lässt sich mittels Meditation erreichen. Wenn man meditiert, muss man sich vor allen Sinnes- und Geistesaktivitäten abschließen, um ein höheres, überindividuelles Selbst zu erkennen. Der Mensch muss immer nur nach dieser Harmonie, das heißt, nach Tao streben. Man kann dieses Wissen nicht lernen oder unterrichten, es lässt sich nur leben. Dem Vollendeten ist es gelungen, diese Einheit der Erscheinungen mit Tao zu verbinden.26 Nach Lao Tse ist die Aufgabe des Menschen nicht die Beglückung der ganzen Menschheit, sondern die Selbstvervollkommnung. Keine Gesellschaftslehre kann ihm dabei helfen; das Ausüben eines Berufes und das damit zusammenhängende Sammeln von Besitz werden als Unfreiheit betrachtet.27 22 Vgl. Hsia: S.40 f. Das Werk ist 1923 von Richard Wilhelm übersetzt worden: Lao Tse, Tao Te King; Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. 24 Malischke: S.20f. 25 Vgl. Ebd.: S.21 26 Vgl. Ebd.: S.22 27 Vgl. Ebd.: S.38 23 10 Lao Tse beruft sich in seinen Gedanken auf das I Ging, das Buch der Wandlungen. Er betont vor allem seinen Weisheits- und meditativen Gehalt und die Symbolik.28 Die Grundlage für das Orakelbuch ist die Urpolarität von Yin und Yang. Das Tao wird darin durch das Tai Gi, den durch eine S – Linie geteilten Kreis, in dem die beiden gegensätzlichen Urpolaritäten vereint werden, symbolisiert. Wie gesagt: Tao ist die Urkraft, die die Vielfalt der Erscheinungen bewirkt und bestimmt. Das in Tao wurzelnde I Ging zeigt das ewige, von den raumzeitlichen Dimensionen unabhängige Gesetz von Yin und Yang, welches alles ständig wandelt. […] Das I Ging umfasst immer beide Pole, d.h. im Leben sowohl den Geist als auch die Sinnlichkeit. 29 Es sind also die Gegensätze, die in einem Symbol zusammengefügt werden und sich durch ihren ständigen Wandel ergänzen können. Auch Konfuzius beruft sich auf das I Ging. Diese Strömung betont aber den ethischen Gehalt und besteht aus einer sozialpolitischen Ethik und einer persönlichen Tugendlehre. Es entsteht darin ein „Beamtengeist“30, der eine zwischenmenschliche Beziehung vom Oberen und Niederen regelt, in dem aber mit Hilfe der Tugendlehre nach Selbstvervollkommnung gestrebt wird. Man muss also nach Selbstvervollkommnung streben, gleichzeitig aber ein tugendhaftes Leben führen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Leben aus verschiedenen Polen besteht, die zu einer Einheit geführt werden müssen. Das Leben entspricht dem Ursein und es wandelt sich wie das Wesen der Musik. Der Mensch sollte im Einklang mit diesen Gesetzen leben. 2.2.2 Die romantischen Einflüsse Nicht nur die asiatischen Kulturen haben Hesse in seinem Werk beeinflusst. Für ihn waren auch viele westliche Grundgedanken von großer Bedeutung. So taucht in der Forschung immer wieder die Frage auf, ob Hesse zu den Romantikern zu rechnen sei, vor allem weil in seinem Werk die Suche nach der Einheit und dem Ewigen eine zentrale Rolle spielt. Weil es eins der Hauptthemen Hesses ist, werden diese und andere romantische Ideen, die für diese Arbeit von Bedeutung sind, behandelt. Es ist eins der Hauptthemen im Glasperlenspiel, in der kastalischen Gemeinschaft eine Gegenwelt zum Leben zu kreieren, die die geistigen Werte beschützen muss. Ihre höchste Kunst ist das Glasperlenspiel, dessen Regeln eine Art Geheimsprache darstellen, an der mehrere Wissenschaften und Künste teilhaben und durch die man im Spiel die ganze 28 Vgl. Malischke: S.29 Ebd.: S.29f. 30 Hsia: S.297 29 11 Wissenschaft und Kunst ausdrücken und alles zu allem in Beziehung setzen kann.31 Namentlich die Musik spielt darin eine wichtige Rolle. Wie im Glasperlenspiel entsteht während der Romantik durch die historischen Ereignisse eine Entzauberung der Welt, vor der man flüchten möchte. Durch die Französische Revolution und die großen, industriellen Fortschritte ändern sich die Leben der Menschen und ist es eine unruhige Zeit. Es ist die Kunst, die bei der Flucht helfen kann und es entwickelt sich die Idee eines Gesamtkunstwerks, in dem die verschiedenen Kunstformen vereinigt und zu einem integralen Effekt harmonisch aufeinander abgestimmt sind.32 „Besonders Friedrich Schlegel und Novalis praktizieren […] einen Universalismus, der alles zu ergreifen sucht, was für die eigene Bildung – nicht Ausbildung – interessant zu sein verspricht.“33 Sie sind von der Idee eines enzyklopädischen Buches fasziniert,34 in dem alles erfasst wird - und nichts sich an Gattungsgrenzen halten muss. Der daraus entstehende Schreibstil kann man als Kunstspiel bezeichnen: Schlegel sagt dazu folgendes: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.“35 Die romantische Dichtung kann und will keine Ewigkeit anstreben, die fest begrenzt und in ihrer Begrenzung vollkommen sei; sie will nur Durchgang zum Unendlichen, will nur Spiel und Traum sein, nicht Werk und Tat.36 Diese Anschauung hängt eng mit dem Glasperlenspiel und der Rolle des Glasperlenspielmeisters zusammen. Der Glasperlenspielmeister, das höchste Amt in Kastalien, wird ‚homo ludens‘ genannt, was Spielmeister bedeutet. Schiller hat diesen Terminus auch im Zusammenhang mit dem Spiel des Lebens benutzt. Seine These lautet: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“37 Geht man bei der Auslegungen von Hesses Roman von dieser romantischen Sicht aus, so erweitert sich das geistige Blickfeld. Die Romantiker glauben wie die Asiaten, dass die Menschheit Teil einer alles umfassenden Geschichte ist. Es ist ein neuer Gedanke, auch die Naturgeschichte als Entwicklungsgeschichte zu betrachten. Sie durchläuft verschiedene Stufen, die mineralische, vegetative und animalische, die alle Vorstufen der Menschheit sind. Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er die Natur aufgrund seiner Intelligenz und Sprache beeinflussen muss, 31 Vgl. Hesse: S.12 Vgl. Schmitz-Emans, Monika. Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2004: S.45 33 Safranski: S.60 34 Vgl. Schmitz-Emans: S.53 35 Safranski.: S.61 36 Vgl. Hsia: S.43 37 Safranski: S.43 32 12 weil er instinktarm und daher ungeschützt ist.38 Auch im Menschen widerspiegelt sich also die Natur und deswegen sind seine schöpferischen Leistungen gleichsam Abdruck des großen Ganzen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass Hesse als gemeinsames Prinzip aller Religionen die nur stufenweise mögliche Selbstvervollkommnung sieht. Er findet im Taoismus, Buddhismus und Christentum einen gemeinsamen Weg, der wie die Natur auch aus drei Stufen der Menschwerdung zusammengesetzt ist: […] zunächst lebt der Mensch im Stadium der naiv – unbewussten Unschuld, welche er verliert. Er versucht die Schuld durch Erkenntnisse oder Werke zu überwinden, was aber in die Verzweiflung führt. Die Überwindung des Leidens erlebt der Einzelne als psychologische Notwendigkeit, um sich zu verändern und die dritte Stufe der Erlösung und Selbstvervollkommnung zu erlangen. Der Erwachte, der seiner inneren Stimme als Stimme des Ich – Selbst gefolgt ist, hat den Zustand der Einheit mit dem Urprinzip Tao, Brahman, oder Gott erfahren. 39 Diese stufenweise Entwicklung des Individuums ist sehr wichtig im Glasperlenspiel. Im Kapitel über Josef Knechts Leben wird dieser Gedanke ausgearbeitet. Auch was die Musik angeht, stimmt das Hessesche Werk mit der romantischen Musikauffassung überein, in der es sich um den ‚Mythos Musik‘ handelt, der ausgehend von einer universalen Harmonie auf der Ansicht beruht, dass Stimmungen übertragbar sind: Die Musik wird meistens zur höchsten Kunst erhoben, weil sie einerseits in einer unmittelbaren Beziehung zum menschlichen Inneren, andererseits zur äußeren Welt steht, und in dieser Weise die ideale Mittlerin zwischen Natur und Geist und einer absolut wirksamen Kunst zu sein scheint.40 Diese Anschauung ähnelt der Sichtweise der Asiaten. Auffällig ist, dass Goethes Werk sich als Referenzpunkt leitmotivisch durch Hesses Arbeit zieht. Gerade bezüglich der Polaritätsthematik bietet dessen Werk viele Anhaltspunkte. Die Polaritäten, die durch ihre Gegensätzlichkeit in einem Spannungsverhältnis stehen, streben auch bei Hesse nicht nach ihrer Leugnung oder Aufhebung durch Vermischung, sondern danach, in einer höheren Einheit aufzugehen, so wie sie Hesse in Teilen von Goethes Werk erkannte.41 Auch wird im Glasperlenspiel die kastalische Welt mit Goethes pädagogischer Provinz verglichen. Nach Malischke muss man aber berücksichtigen, dass das Buch kein Erziehungsroman wie Goethes Wilhelm Meister ist, sondern ein Entwicklungsroman über den 38 Vgl. Safranski: S.23 Malischke: S.73 40 Vgl. Lubkoll, Christine. Mythos Musik; Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg. 1995. Nach Schmitz-Emans: S.48 41 Vgl. Gommen: S.4 39 13 inneren Wandel Josef Knechts.42 Diese Feststellung stimmt aber nicht, denn beide sind Entwicklungs- und Erziehungsromane. Auf ihre eigene Weise werden die Hauptpersonen der beiden Bücher erzogen, und gerade deswegen entwickeln sich ihre Charaktere. Es gibt aber wohl einen Unterschied im Ziel der Entwicklung. Im Wilhelm Meister ist die ästhetische Erziehung eine Vorbedingung gesellschaftlicher Tätigkeit43, für Josef Knecht aber ist es die Suche nach dem allumfassenden Ganzen. Auch Hsia glaubt, dass es einen Unterschied zwischen Hesse und Goethe gibt. Er schreibt, dass Goethe sich als Grenzfigur zwischen Klassik und Romantik gegen Indien sträubt. Die Romantiker entdeckten dagegen die natürlichen Inder als Gegenpol zu den Griechen, die während der Klassik verehrt wurden.44 Die Romantiker waren der Meinung, dass die griechischen Einflüsse die Kunst unnatürlich und zu perfektioniert gemacht hätten. Hsia vergisst aber, dass auch Goethe sich sehr für den Orient interessiert hat. Hegel und Schopenhauer haben Hesse und somit Das Glasperlenspiel auch beeinflusst. Hegel unterscheidet zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist. „Während der objektive Geist in der Welt beheimatet ist und sein Werk nur im geschichtlichen Werdegang verrichtet, ist der davon unterschiedene absolute Geist als Idee, als Überwelt oder Überwirklichkeit zu verstehen.“45 Diese zwei Geister stellen zwei selbständige Elemente dar; sie formen zusammen gleichsam das menschliche Dasein. Hegel und Schopenhauer unterscheiden sich in diesem Punkte, denn obwohl Schopenhauer auch den absoluten Geist von der Alltagswelt loslöst, sieht er die Geschichte als Traum oder Scheinwirklichkeit. „Kunst, Religion und Philosophie dienen als Kraftquelle, damit sich der Mensch von dem Wahn der Wirklichkeit zurückziehen kann.“46 Dies entspricht der Lebensweise der Kastalier, die nur noch mit dem Glasperlenspiel leben und sich vom weltlichen Leben losgelöst haben. Hesse ist aber kein Hegelianer, denn „Hegel betrachtet die Welt und das Werden unter dem Aspekt des Fortschritts, während Hesse eher an die Vielzahl der Erscheinungen erzeugende, polare Grundeinheit von Yin und Yang glaubt.“47 Man sieht, dass die romantischen Einheitsgedanken ziemlich genau mit denen der Asiaten übereinstimmen. Der Mensch ist ein Teil der Geschichte und soll das Leben als Spiel betrachten. Die Kunst und vor allem die Musik widerspiegelt das alles umfassende Ganze und 42 Vgl. Malischke: S.8 Vgl. Beutin, Wolfgang e.A. [Hrsg.]. Deutsche Literaturgeschichte; Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler. 2001: S.200 44 Vgl. Hsia: S.45 45 Malischke: S.30 46 Ebd.: S.31 47 Ebd.: S.31 43 14 spielt eine wichtige Rolle, nicht nur während der Romantik, sondern sicherlich auch im Werk des „Spätromantikers“ Hermann Hesse. 3 Einheitsformung in Das Glasperlenspiel Aus den Hintergründen wird klar, dass Hesse durch die verschiedenen kulturellen Einflüsse davon überzeugt war, dass es hinter den Gegenpolen im Leben eine umfassende Einheit gibt. Diese Gedanken hat er auf verschiedene Weisen in seinen Werken verarbeitet. Auch im Glasperlenspiel wird anhand Josef Knechts fiktiver Biographie die stufenweise vor sich gehende Entwicklung zu einem harmonischen Menschen dargestellt. Knecht hat keine Eltern und wird als junger Knabe zur kastalischen Schule zugelassen. Er ist ein guter Schüler und auch als Mensch wird er sehr geschätzt. Er entwickelt sich innerlich wie äußerlich Schritt um Schritt zu einem ganzen Menschen. Diese Entwicklung ist mit seiner Reaktion auf die Wesen seiner Mitmenschen verbunden, die als seine Gegenpole zu betrachten sind. Das Ziel dieser Arbeit ist, anhand der Kapitel ‚Kastalien und das weltliche Leben‘, ‚Musik‘ und ‚Josef Knecht und seine Mitmenschen‘ Knechts mehrstufige Entwicklung zu einem vollkommenen Menschen darzustellen. Diese zentralen Themen des Romans sind alle Versuche der Vereinigung verschiedener Gegenpole. Knecht ist aber die Hauptperson und deswegen sind Kastalien, seine Mitmenschen und die Musik Gehilfen, die seine Entwicklung begleiten, sodass er alles Gegensätzliche überwindet und auf diese Weise seine Vervollkommnung anstrebt. 3.1 Kastalien und das weltliche Leben Wie schon im Kontextkapitel über den zweiten Weltkrieg besprochen wurde, ist Kastalien eine utopische Gegenwelt zum ‚weltlichen‘ Leben. Sie ist auf den Trümmern des feuilletonistischen Zeitalters entstanden, einer Zeit geistiger Entwertung. „Der Tiefpunkt des intellektuellen Lebens erzeugt also nach antithetischem Muster den Gegenstrom einer hochintellektuellen Elite, aus der sich mit der Zeit das Glasperlenspiel und Kastalien entwickelt.“48 Diese neue intellektuelle Provinz formt im antithetischen Muster einen Gegenpol zur geistig entwerteten Welt. 48 Herforth, Maria-Felicitas. Königs Erläuterungen und Materialien; Hermann Hesse; Das Glasperlenspiel. Hollfeld: Bange Verlag. 2006: S.37 15 Gegen „die öde Mechanisierung des Lebens, das tiefe Sinken der Moral, die Glaubenslosigkeit der Völker, die Unechtheit der Kunst […] und die dilettantische Überproduktion in allen Künsten […]“49 wird für die kastalischen Studenten nach dem feuilletonistischen Zeitalter einen „steilen Weg“ gesetzt; Sie „mußten an der Mathematik und an aristotelisch-scholastischen Übungen ihr Denkvermögen reinigen und steigern und mußten außerdem auf alle die Güter vollkommen verzichten lernen, welche vorher einer Reihe von Gelehrtengenerationen erstrebenswert gegolten hatten […]“50 Damit werden zum Beispiel ein Luxusleben und viel Applaus und Auszeichnungen für geistig leere Vorträge gemeint. In der kastalischen Welt ist das Auslöschen des Individuellen, das Einordnen der Einzelperson in die Hierarchie der Erziehungsbehörde und der Wissenschaften eins der obersten Prinzipien.51 Deswegen wird auch auf das Hervorbringen von Kunst verzichtet. Es sind alles Gegensätze zur Leerheit des feuilletonistischen Zeitalters. Die Abwendung von dieser kriegerischen Epoche bezweckt, eine Einheit mit dem weltlichen Leben zu formen. Kastalien soll die geistigen Werte beschützen und sie mittels der Lehrer des Ordens der Welt weitergeben. Das Ziel ist also: Die Zusammenfügung der beiden gegensätzlichen Welten, damit sie im Gleichgewicht nebeneinander existieren. Die höchste, geistige ‚Äußerung‘ Kastaliens ist das Glasperlenspiel. Es ist eine Art Universalsprache, in der mit allen geistigen und kulturellen Werten gespielt wird. Man kann sie zueinander in Beziehung setzen und versuchen, aus ihnen eine Einheit zu kreieren. Vor allem die Musik ist sehr wichtig in diesem Spiel, was im nächsten Kapitel behandelt wird. Bemerkenswert ist, dass die Lust am Spiel uns stark an die Romantik erinnert. Es wird auch im Buch thematisiert, als Knecht in einem Benediktiner Kloster ein Gespräch mit Pater Jakobus darüber führt: ‚Es ist der enzyklopädische Gedanke, mit dem das ganze achtzehnte Jahrhundert gespielt hat‘, rief der Pater. ‚Er ist es‘, meinte Josef, ‚aber Bengel [evangelischer Theologe (1687-1752), Schöpfer der neutestamentlichen Bibelkritik, FS52] hat nicht bloß ein Nebeneinander der Wissens- und Forschungsgebiete angestrebt, sondern ein Ineinander, eine organische Ordnung, er war unterwegs auf der Suche nach dem Generalnenner. Und das ist einer der elementaren Gedanken des Glasperlenspiels. 53 In solchen Äußerungen stößt man deutlich auf die Überlappung der Kulturen. Die Romantiker haben versucht, die Universalgedanken in die enzyklopädische Idee umzusetzen, aber auch der Theologe Johann Albrecht Bengel wird hier mit einbezogen. Das Enzyklopädische findet man im Aufbau des Romans wieder, denn Hesse spielt wie die Romantiker mit der 49 Hesse: S.22 Ebd.: S.32 51 Vgl. Ebd.: S.9 52 Vgl. Pfeifer: S.291f. 53 Hesse: S.165 50 16 Vermischung verschiedener Textgattungen, wie Prosa und Lyrik. Wenn man den Westen verlässt, findet man in den asiatischen Kulturen, die auf den ersten Blick ein Gegenpol des Westens zu sein scheinen, die gleiche Universalsuche. Sie finden in dem Glasperlenspiel alle ihren Platz. In diesem Zusammenhang muss ein wichtiges asiatisches Element hervorgehoben werden, denn die Meditation ist ein obligatorischer Teil des Glasperlenspiels. Sie soll die Kastalier davor behüten, dass sie die Hieroglyphen des Spiels - wie im feuilletonistischen Zeitalter - zu bloßen Buchstaben entarten lassen.54 „Die Meditation über das Zeichen, seinen Gehalt, seine Herkunft und seinen Sinn ist eine buddhistische Praktik aus Indien.“55 Im Kapitel 2.2.1 wurde behandelt, dass man durch die Meditation das überindividuelle Selbst erkennen kann. Die Versenkung ist für das Glasperlenspiel auch notwendig, weil es der Weg aus der Vielfalt zur Einheit, zu Tao, der Urquelle alles Seins und Werdens ist.56 Der Mensch sucht also nach der Harmonie und im Glasperlenspiel wird symbolisch die Suche nach Einheit Form gegeben. Durch Meditieren soll den Spielern gezeigt werden, dass das Spiel ernst zu nehmen und nicht irgendwie ein Spaß sei, sondern dass es die Vereinigung geistiger Werte vor Augen führt. Wie Knecht entdeckt, braucht man für die wirkliche Harmonie einen Gegenpol im Spiel, nämlich die Realität des weltlichen Lebens. Die Meditation formt also das eine Element des Spiels, das andere ist der geistige Teil; das ist die Zeichensprache, die aus den bestehenden kulturellen Werten entsteht. Im Spielen des Glasperlenspiels findet man die Vereinigung dieser beiden Hälften. Dies wird noch deutlicher in der Beschreibung zweier Spielvarianten: die formale- und die psychologische oder pädagogische. Das formale Spiel strebt nach einer vollkommenen Harmonie in der Ordnung und Verbindung der geistigen Werte. Das psychologische sucht diese Einheit nicht so sehr in der Anordnung der Inhalte, sondern in der jeder Etappe des Spiels folgenden Meditation. Es bietet von außen her keinen Anblick des Vollkommenen, leitet den Spieler jedoch durch die Folge seiner Meditationen auf dem Wege zum Erlebnis des Vollkommenen und Göttlichen. Er hat danach das Gefühl, eine harmonische Welt aus den zufälligen und wirren Erscheinungen gelöst und in sich aufgenommen zu haben.57 Für Josef Knecht ist dies das beste Spiel und es fasst die Idee der Vereinigung der scheinbaren, wirren Gegenpole in Worte. 54 Vgl. Hesse: S.37 Malischke: S.24 56 Vgl. Hsia: S.280 57 Vgl. Hesse: S.197 55 17 Wie schon erwähnt wurde, kann das Glasperlenspiel sich keiner wirklichen allumfassenden Harmonie annähern, weil sie sich nur auf die geistigen Werte bezieht. Trotzdem gibt es ein ideales Spiel im Roman; es ist das Einzige das beschrieben wird, das die absolute Harmonie zwischen Himmel, Erde und Menschen und auch zwischen dem Volks- und Mandarinengeist darstellt.58 Es ist das ‚Chinesenhausspiel‘, das Knecht sich als Magister Ludi für das Jahresspiel ausgedacht hat. Als erwachter Mensch hat er auf diese Weise sogar die Möglichkeit, das kastalische Leben mit dem weltlichen zu verbinden. Es leuchtet Josef Knecht im Laufe seines Lebens ein, dass das Ideal der Vereinigung der zwei Welten nicht zu verwirklichen sei. Auffällig ist, dass diese Erkenntnis durch die Begegnung mit Menschen, die seine Gegenpole sind, entsteht. Wie im Kapitel über Knechts Leben besprochen wird, spielen darin zwei Weltmenschen eine sehr wichtige Rolle. Es sind sein Mitschüler Plinio und Pater Jakobus, die ihm allmählich durch ihre Diskussionen die Augen öffnen. Knecht sieht, dass die Kastalier das Glasperlenspiel zu sehr als geistigen Spaß betrachten, somit die Bindung zur Welt verlieren und vergessen, dass sie abhängig von ihr sind. Pater Jakobus des Benediktiner Ordens hat ihm am stärksten darauf hingewiesen, dass in Kastalien keine Geschichte studiert wird, obwohl der Orden Teil davon ist. Knecht lernt durch den Pater „die Historie, lernte die Gesetzlichkeiten und Widersprüchlichkeiten des Geschichtsstudiums kennen und lernte in den folgenden Jahren darüber hinaus die Gegenwart und das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit sehen.“59 Anhand dieses Zitats lässt sich feststellen, dass in der Geschichte auf verschiedene Weisen aus Gegenpolen eine Einheit kreiert wird. Als Individuum ist man Teil des Weltgeschehens, aber umgekehrt kann man mit seinem eigenen Handeln die Geschichte beeinflussen. Hinzu kommt, dass die historischen Ereignisse schon passiert sind, ihre Wirkung aber weder in der Gegenwart noch in der Zukunft verlieren. Die Vergangenheit muss man deswegen nicht Außerachtlassen, denn sie beeinflusst das heutige Leben noch immer. Aus diesem Grunde hat man das Leben als ‚geschichtliche Wirklichkeit‘ zu betrachten, wobei zu bemerken sei, dass die Geschichte sich immer aufs Neue in einer anderen Form manifestiert. In diesem Zusammenhang ist Knechts Bemerkung über den Benediktiner Orden wichtig: Verglichen mit dem Lebensstil Kastaliens schien dieser benediktinische beim ersten Zusehen weniger geistig, weniger agil und zugespitzt, weniger aktiv, dafür aber gelassener, unbeeinflussbarer, älter, bewährter, es schien hier ein schon längst wieder zur Natur gewordener Geist und Sinn zu walten. 60 58 Vgl. Hsia: S.315 und Hesse S.246 Hesse: S.166 60 Ebd.: S.155 59 18 Das Kloster ist abgeschnitten von der Welt, das Leben in ihm ein isoliertes. Für Knecht gibt es dort aber viel mehr Geschichte als in Kastalien. Das Klosterleben ist wieder zur Natur geworden, was bedeutet, dass es der Harmonie näher steht. Die Benediktiner wissen, dass sie Teil der Geschichte sind und kennen ihre Rolle darin. Die zwei Orden stimmen zum Teil in ihrer Abgeschlossenheit überein, ihre Polarität besteht darin, dass die Mönche trotzdem in die Welt ziehen und ihre Rolle in der Geschichte erfüllen. Dieser Pol fehlt in Kastalien. Knecht entschließt sich deswegen letztendlich, aus dem Orden auszutreten. Er hat eingesehen, dass sie Teil der Geschichte ist und deswegen dem ganzen Leben angehört, denn Kastalien ist auf den Trümmern des feuilletonistischen Zeitalters entstanden. Knecht zieht in die Welt, damit er die Bindung zu ihr nicht verliert. Als Individuum möchte er aber die kastalische Behörde vor ihrem Fehler warnen; und so schreibt er in seinem Rundschreiben folgendes über die Zukunft: Aber eben diese Rüstung [des feuilletonistischen Zeitalters FS] wird vielleicht in Bälde wieder oberstes Gebot sein, im Parlament werden die Generäle wieder dominieren, und wenn das Volk vor die Wahl gestellt wird, Kastalien zu opfern oder sich der Gefahr von Krieg und Untergang auszusetzen, so wissen wir, wie es stimmen wird. […] Es wird alsdann auch ohne Zweifel sofort eine kriegerische Ideologie in Schwung kommen […] Die Woge ist schon unterwegs […] 61 Die symbolische Geschichtswoge zeigt, dass das Weltgeschehen sich in einer immer wiederholenden Wellenbewegung verändert. Wenn man aber nicht alle Pole, die sie beeinflussen können, berücksichtigt, schlägt diese Woge zu stark ins Extreme aus. Die nur geistige kastalische Welt berücksichtigt ihren Gegenpol, das weltliche Leben, nicht. Deswegen warnt Knecht vor der Reaktion auf diese Vernachlässigung, denn das Verhalten, das kastaliens Gegenpol ist, die Lebensweise des feuilletonistischen Zeitalters also, wird in der Wellenbewegung wiederkehren. Es ist das Spiel des Lebens, dessen romantische Herkunft weiter oben behandelt wurde. 3.2Die Musik als vereinigendes Element Ein wichtiges Element im Glasperlenspiel ist die Musik. Sie spielt im Roman auf verschiedenen Ebenen eine Rolle. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Spiel als Spiel, sondern auch für die Menschheit oder das Sein an sich. In diesem Kapitel wird die Bedeutung dieses Themas für die Einheitssuche behandelt. Im einführenden Kapitel zur fiktiven Biographie Knechts im Glasperlenspiel wird beschrieben, dass für Kastalien das China der ‚alten Könige‘ ein ehrwürdiges Vorbild ist, 61 Hesse: S.363 19 soweit es die Musikkultur betrifft. In diesem Zusammenhang wird aus Frühling und Herbst das Musikkapitel des Lü Bu We zitiert: Die Ursprünge der Musik liegen weit zurück. Sie entsteht aus dem Maß und wurzelt in dem großen Einen. Das große Eine erzeugt die zwei Pole; die zwei Pole erzeugen die Kraft des Dunkeln und Lichten […] Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht stammt aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt.62 Die Musik entstammt also der allumfassenden Einheit, dem Tao, und sie enthält die Gegenpole. (Siehe Kapitel 2.2.1) Wenn man zur vollkommenen Musik gelangen möchte, muss man diese Pole zu einer Harmonie zu vereinigen wissen. Dieses Gleichgewicht geht aus dem Rechten der Welt, also aus der Harmonie der Welt, hervor. Wenn aber richtig gelebt wird, das heißt, wenn man nach der Natur lebt, ist dieses Rechte selber aus dem Tao entstanden. Auf diese Weise ist der Kreis vollständig, denn die vollkommene Musik widerspiegelt das Leben, und das rechte Leben das Tao, und das Tao ist der Ursprung der Musik. Auch Knecht ist mit den Ideen über die Musik als Urquelle aller Ordnung, Sitte, Schönheit und Gesundheit63 bekannt und sieht, dass sie sich im Leben widerspiegelt. Dies wird ganz klar, als er das zentrale Gedicht des Romans, Stufen, mit seinem Freund Tegularius bespricht.64 Es beschreibt die Entwicklung des Lebens als eine Stufen- oder Raumfolge. Tegularius meint, dass auch eine andere Überschrift für das Gedicht hätte gewählt werden können, nämlich das ’Wesen der Musik‘: [Es] ist recht eigentlich eine Betrachtung über das Wesen der Musik, oder meinetwegen ein Lobgesang auf die Musik, auf ihre stete Gegenwärtigkeit, auf ihre Heiterkeit und Entschlossenheit, auf ihre Beweglichkeit und rastlose Entschlossenheit und Bereitschaft zum Weitereilen, zum Verlassen des eben erst betretenen Raumes oder Raumabschnittes. […]65 Tegularius glaubt aber, dass das Gedicht zu lehrhaft ist und, dass es sogar einen Denkfehler enthält. Denn der Grundgedanke ist, dass die Beweglichkeit der Musiktöne der Lebensentwicklung des Menschen gleichgestellt werden könne. Für die Beschreibung der Musik ist es wichtig, dass Knecht gerade dieser Gleichstellung zustimmt. Man muss im Leben immer bereit sein, etwas Neues anzufangen und neue Räume, oder Lebensvariationen zu entdecken. Hesse unterscheidet die chinesischen und klassischen Musikarten, fügt sie aber auch wieder zusammen. „Die chinesische Musik gibt dem Glasperlenspiel das Wissen um das Eine, und die klassische Musik das unbeirrbare Suchen, 62 Hesse: S.27 Vgl. Ebd.: S.131 64 Im Anhang findet man das vollständige Gedicht. 65 Hesse: S.381f. 63 20 um zu ihm zu gelangen.“66 Ein wichtiger Grundzug der Musik, speziell der ‚klassischen‘, ist jene heitere Bereitschaft zum Wandel und damit auch zugleich Kennzeichen eines tapferen Lebens.67 Denn es ist schwierig sich von seinem vertrauten Leben loszulösen und neue Wege in die Richtung des Ganzen zu gehen. Kurz gesagt: Der Gegensatz von Vertrautem und Unbekanntem muss überwunden werden. Dann strebt man nach der Harmonie und Einheit, wie die Musik es uns lehrt. Wie schon im vorigen Kapitel angedeutet wurde, ist das, was für das Individuum gilt, auch in der Geschichte eine immer wiederkehrende Variation auf ein Thema: Vom ältesten China bis zu den Sagen der Griechen spielt der Gedanke von einem Idealen, himmlischen Leben der Menschen unter der Hegemonie der Musik ihre Rolle. Mit diesem Kultus der Musik („in ewigen Verwandlungen begrüßt uns des Gesangs geheime Macht hienieden“ – Novalis) hängt denn auch das Glasperlenspiel auf innigste zusammen. Wenn wir nun auch die Idee des Spiels als eine ewige und darum längst vor ihrer Verwirklichung vorhandene und sich regende erkennen […] 68 Auch die Leben der Menschen sind Teile, das heißt: es geht um viele unterschiedliche Gegenpole der ganzen Geschichte. Es ist das Spiel des Lebens, das in den verschiedenen Epochen und Kulturen auf diese Weise betrachtet wird. Dieses Lebensspiel ist, wie die Musik, eine Variation über vorhandene Themen. Man findet im Zitat den Gedanken wieder, dass die gegensätzlichen Kulturen und Epochen sich überlappen und in dieser Überlappung harmonisch werden. Wie hier schon öfters erörtert wurde, ist das Glasperlenspiel also als Teil des menschlichen Lebens selber eine Form der Suche nach dem Ganzen. Der Prozess der Vereinigung geistiger Werte durch den Glasperlenspieler ähnelt auch dem Wesen der Musik, wie in der folgenden Textstelle erläutert wird: […] dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren. 69 Die enge Verknüpfung von Spiel und Musik entsteht dadurch, dass das Spiel ein vollkommenes Instrument ist, das die geistigen Teile, oder Pole, mit einander zu einem Musikstück verknüpft. Durch die Verbindung der einzelnen Bruchstücke oder Töne entsteht eine Einheit. 66 Hsia: S.278 Vgl. Maronn, Kristin. Verskundliche Studien zur Lyrik Hermann Hesses; unter Einbeziehung der musikalischen Bildwahl der Prosa Hamburg: o.V. 1965: S.50 68 Hesse: S.15f. 69 Ebd.: S.13 67 21 Auffällig ist, dass die Musik Knechts Lebensstufen markiert: So spielt der Musikmeister Klavier, als er Josef zum ersten Mal prüft; als Knecht zum ersten Mal meditieren muss, spielt der Musikmeister ein Thema, durch das der Beginn der Versenkung angekündigt wird. Und als Knecht im Benediktiner Kloster ist, wird das Gespräch mit Pater Jakobus erst erfolgreich, nachdem sie über die Musik gesprochen haben. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel hervorgehoben in dem die Wirkung der Musik hervorragend zum Ausdruck gebracht wird. Als Plinio nach vielen Jahren als Erwachsener Knecht zum zweiten Mal besucht, verabschiedet sich Josef nach ihrem Gespräch mit einem Satz aus einer Sonate von Purcell. Die Musik wird folgendermaßen beschrieben: Wie Tropfen goldenen Lichtes fielen die Töne in die Stille […] Sanft und streng, sparsam und süß begegneten und verschränkten sich die Stimmen der holden Musik, tapfer und heiter schritten sie ihren innigen Reigen durch das Nichts der Zeit und Vergänglichkeit, machten den Raum und die Nachtstunde für die kleine Weile ihrer Dauer weit und weltgroß, und als Josef Knecht seinen Gast [Plinio] verabschiedete, hatte dieser ein verändertes und erhelltes Gesicht, und zugleich Tränen in den Augen. 70 Diese Textstelle ruft das Gefühl der Harmonie hervor, wenn man aber genauer hinschaut, besteht sie aus vielen Gegensätzen: Die Töne kontrastieren mit der Stille, sind sanft und gleichzeitig streng und machen den Raum, in dem die Freunde sich befinden, für eine Weile weltgroß. Weil sich aber die verschiedenen Musikstimmen in ihrer Begegnung verschränken und immer heiter weiterschreiten, lassen sie durch die Zusammenarbeit eine harmonische Heiterkeit entstehen. Es ist also die Einheit der Töne oder Variationen, die die Harmonie erzeugt. Hinzu kommt, dass sie eine überzeitliche und unbegrenzte Sprache sprechen, durch die man mit dem Ganzen in Berührung gesetzt wird. Diese Berührung zeigt sich aber auch in Gegensätzen, denn Plinio hat ein erhelltes Gesicht und gleichzeitig Tränen in den Augen. An dieser Stelle findet man die asiatischen- und romantischen Gedanken über die Musik wieder, die schon besprochen wurden. Es ist nun gerade die Musik, welche als Universalsprache zwischen den Gegenpolen des Inneren und Äußeren, oder zwischen Natur und Geist im Menschen vermittelt. Es wurde versucht, die wichtigsten Merkmale der Musik zu beschreiben. Sie entstammt einer Ganzheit und widerspiegelt das Leben, weil beide vom Tao beeinflusst werden. Die Musik besteht aus verschiedenen und gegensätzlichen Tönen, die in immer sich ändernden Variationen wiederkehren. Die Heiterkeit dieses Fortschreitens in der Verwandlung soll man fürs eigene Leben verwerten. Nur dann kann man die Polaritäten überwinden und selber zur Harmonie gelangen. Man soll aber nicht vergessen, was der Musikmeister über den Sinn der Musik schreibt: „Ob du nun Lehrer, Gelehrter oder Musikant 70 Hesse: S.323 22 wirst, habe die Ehrfurcht vor dem ‚Sinn‘, aber halte ihn nicht für lehrbar.“71 Man soll diesen Sinn selber erfahren, weil er sich, wie die Musik, ständig ändert und immer andere Gestalt annimmt. 3.3Die drei Lebensstufen Josef Knechts und seine Mitmenschen Wie schon mehrere Male angedeutet wurde, ist die stufenweise Entwicklung der Hauptperson Josef Knecht ein zentrales Thema im Glasperlenspiel. Er begegnet im Laufe seines Lebens verschiedenen Menschen, die als seine Gegenpole zu bezeichnen sind. Als symbolische Verkörperungen der Polarität zwischen Natur und Geist verarbeitet Hesse in seinen Romanen eine Vielzahl männlicher Doppelfiguren, die als die Repräsentanten unterschiedlicher Persönlichkeitsaspekte eines Menschen fungieren.72 Im Glasperlenspiel werden die Entwicklungsstufen in Knechts Leben durch die Auseinandersetzung mit ihnen vorbereitet. Es zeigt sich deutlich, dass Knecht die eigene Vervollkommnung immer mehr anstrebt. Wir wollen im Folgenden diese Entwicklung in Phasen einer näheren Untersuchung unterwerfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass man im Glasperlenspiel Hesses Ansichten über die dreistufige Entwicklung des Menschen im Aufbau der Kapitel wiedererkennt. Zuerst lebt man im unschuldigen Stadium der Jugendjahre, das verloren geht, wenn man seine Naivität verliert. Die daraus entstehende Krise muss überwunden werden, indem man die innere Notwendigkeit spürt, sich zu ändern. Nach dieser Lebensphase kann man die Selbstvervollkommnung erreichen.73 Knecht durchläuft in seinem Leben folgende Stufen: ‚Berufung‘, ‚Erwachen‘ und ‚Abschied‘. 3.3.1 Berufung: der Musikmeister und Plinio Designori Als kleiner Junge befindet Josef sich noch im Stadium der naiv-unbewussten Unschuld. Diese Stufe wird mit der Berufung durch den Musikmeister, der ein vollkommener Mensch ist, abgeschlossen. Der Musikmeister kommt zur Grundschule, wo Knecht bis dahin gelebt hat, weil er prüfen möchte, ob der Junge für die kastalische Schule geeignet ist. In dieser Begegnung lässt sich ein Musterbeispiel der Polarität erkennen. Knecht ist ein Kind, das noch viel lernen muss. Der Musikmeister dagegen ist ein Erwachsener und vollkommener Mensch. Die beiden sind also Gegenpole. Josef ist von seinem Wesen 71 Hesse: S.120 Vgl. Gommen: S.1 73 Vgl. Malischke: S.73. Im Kontextkapitel über die Romantik wurde diese stufenweise Entwicklung ausführlicher besprochen. 72 23 ‚bezaubert’ und dadurch kann der Meister ihn mittels der Musik erreichen. Sie musizieren gemeinsam und auf diese Weise fängt Josef eine universelle Harmonie zu ahnen an: „er ahnte hinter dem vor ihm entstehenden Tonwerk den Geist, die beglückende Harmonie von Gesetz und Freiheit, von Dienen und Herrschen, er ergab und gelobte sich diesem Geist und diesem Meister“74. Diese erste Begegnung mit dem Musikmeister kann als der magische und unbewusste Teil der Berufung betrachtet werden. Das Wesen des Meisters und die Musik sind die bindenden Elemente. Wenn sie sich zum zweiten Mal sehen, erzählt der Musikmeister über das kastalische Leben. Es ist der geistige Teil der Berufung, gemeinsam formen sie die ganze Berufung. Für Josef entwickelt sie sich aber allmählich, auf die nach Hesse ideale Weise, indem das Innen und Außen einander harmonisch entgegenarbeiten75. Wenn dies gleichmäßig geschieht, werden die Gegenpole von Innen und Außen zu einer Einheit. Josef weiß noch nicht, dass er wirklich zur kastalischen Schule gehen darf, aber unmerklich bereitet er sich innerlich darauf vor. Als er tatsächlich hört, dass er zugelassen worden ist, ist er nicht mal überrascht. Weil der Musikmeister als vollkommener Mensch gilt, der während Josefs ganzer Entwicklung eine wichtige Rolle spielt, wird er hier näher besprochen. Es ist bemerkenswert, dass er nur als ‚Musikmeister‘ bezeichnet wird. In diesem Namen werden in gewissem Sinne zwei Gegenpole vereinigt. Einerseits symbolisiert die Musik die universelle Einheit, andererseits wird er als Meister mit der Welt verbunden. Diese zwei Pole kann man den Gegensätzen von Natur und Geist gleichstellen. Als Knecht sich mit der chinesischen Musik beschäftigt, fällt ihm Folgendes auf: Überall bei den ältern chinesischen Schriftstellern stieß er auf das Lob der Musik als einer der Urquellen aller Ordnung, Sitte, Schönheit und Gesundheit, und diese […] Auffassung war ihm ja durch den Musikmeister, der geradezu für ihre Verkörperung gelten konnte, von jeher vertraut. 76 In diesem Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass das kennzeichnende Merkmal der Weisheit des Musikmeisters seine Heiterkeit ist. Man soll in seinem Leben von dieser Heiterkeit Gebrauch machen, damit man alles Gegensätzliche, überwinden und die Harmonie erreichen kann. Als der Musikmeister alt wird, zieht er sich immer mehr zurück und wird immer schweigsamer, gleichzeitig fängt er aber auch zu strahlen an. Knecht besucht ihn kurz vor seinem Sterben und beschreibt, wie sehr er 74 Hesse: S.52 Vgl. Ebd.: S.56 76 Ebd.: S.131 75 24 einer anderen Welt mit anderen Gesetzen angehörig geworden ist, und wie alles, was Knecht von unserer Welt in die seine hinüber sprechen will, von ihm abläuft: […] plötzlich überkam mich das Verständnis für den Alten und für die Wendung, die sein Wesen genommen hatte, weg von den Menschen und hin zur Stille, weg von den Worten und hin zur Musik, weg von den Gedanken und hin zur Einheit. Ich begriff, […] dieses Lächeln, dieses Strahlen; es war ein Heiliger und Vollendeter […]77 Dem Musikmeister ist es gelungen, alle Gegensätze in seinem Leben wie ein Musikstück zu einer vollkommenen Harmonie zu gestalten. In der Wortwahl findet man diese Pole wieder: ‚Menschen‘ und ‚Stille‘, ‚Worte‘ und ‚Musik‘ und ‚Gedanken‘ und ‚Einheit‘ werden einander gegenübergestellt. Der Musikmeister ist vollkommen, weil er im menschlichen Leben symbolisch das chaotische Spiel der Menschen, Worte und Gedanken seiner harmonischen Heiterkeit entgegensetzt und auf diese Weise überwunden hat. Mit dem Sterben nähert er sich einer anderen Welt, einer anderen Stufe der universellen Harmonie, die er durch seine Heiterkeit schon berührt und ausstrahlt. Durch diese Beschreibung wird klar, dass auch der Tod ein Teil der Vervollkommnung des Menschen ist. Denn man strahlt die Harmonie nicht nur aus, sondern geht zur Einheit hin und wird in die vollkommene Musik aufgenommen. Alle Gegensätze sind damit aufgehoben. Der Musikmeister ist auch ein Vollkommener in seiner Rolle als Meister. Es stellt sich im Laufe des Romans heraus, dass die Bedeutung des Schulmeisters sehr groß ist. Er ist bestimmend für die Entwicklung eines jungen Lebens. Der Gegensatz vom Alten und Jungen kann durch ihn harmonisiert werden, wenn er der nächsten Generation seine Weisheit weitergibt. Je jünger der Mensch ist, umso besser kann der Lehrer ihn erziehen. Das Schöne daran ist, dass sich das geistig Erworbene, nachdem es in die neuen Geister eingepflanzt ist, sich zu ganz neuen Erscheinungsformen und Ausstrahlungen verwandeln kann.78 Dieser Prozess gleicht dem sich immer ändernden Thema in der Musik und ist daher auch dem Leitgedanken des zentralen Gedichts Stufen verwandt. Mit Josefs Berufung durch den Musikmeister fängt dieser Kreislauf an. Wie Hesse schreibt, ist Knechts Leben mit der Aufnahme in Kastalien auf eine andere Ebene verpflanzt worden und zugleich ist es der erste und entscheidende Schritt in seiner Entwicklung79. Die wichtigste und zentrale Lehre, die der Musikmeister Josef schon bald nach seiner Aufnahme in Kastalien gibt, ist, dass es „unsere Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als die Pole einer Einheit. […] 77 Hesse: S.259 Vgl. Ebd.: S.239 79 Vgl. Ebd.: 58 78 25 Jeder von uns ist nur ein Mensch, nur ein Versuch, ein Unterwegs. Er soll aber dorthin unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die Peripherie.“80 Etwas weiter heißt es:„Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommener Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern.“81 Es ist auffällig, dass der Musikmeister diese Weisheit in Worte fasst, aber im selben Gespräch gleichzeitig hinzufügt, dass man sich nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen kann. Diese Lehren ziehen durch Knechts ganzes Leben. In diesem Gegensatz werden die romantischen und asiatischen Einflüsse wieder sichtbar. Der Mensch sucht nach dem Vollkommenen, dem Tao, und muss im Spiel des Lebens das Göttliche in sich selbst zu finden suchen. Denn als lebendiges Wesen spiegelt sich das „Ganze“ in ihm, das sich nur leben lässt, nie erlernbar noch lehrbar ist. In der neuen kastalischen Welt trifft er in seinem Mitschüler Plinio einen anderen Gegenpol. Plinio ist der Sohn reicher Eltern und nur ein Hospitant, was bedeutet, dass er nie in die kastalische Gemeinschaft eintreten wird. Er wird dort gebildet, kehrt aber nach seiner Ausbildung in die Welt zurück. Er ist also ein Weltmensch und Josef ein echter Kastalier. Zwischen den beiden Knaben entsteht eine Art Anziehungskraft, aber gleichzeitig stoßen sie sich ab. Die Diskussionen, die aus dieser Beziehung entstehen, widerspiegeln die positiven und negativen Seiten sowohl von Kastalien als auch von der Welt außerhalb Kastaliens. Plinio verkörpert darin die natürliche Seite des Lebens und Josef die geistige. Plinio sagt darüber: „[…] jeder verteidigt das, an dessen Primat er glaubt, du den Geist, ich die Natur.“82 Durch die Diskussionen wird Knechts Glaube, dass Kastalien die einzige Utopie der Welt ist, in Frage gestellt. Der Musikmeister spielt in Knechts innerem Streit eine harmonisierende Rolle: An ihn gelangte Knecht mit der Bitte um Beistand und Rat, und dieser weise alte Musikant nahm sich der Sache ernstlich an und hat das Spiel meisterhaft gelenkt […] Die innere Geschichte der FreundFeindschaft zwischen Josef und Plinio, oder dieser Musik über zwei Themata, oder dieses dialektischen Spieles zwischen zwei Geistern […]83 Hier stößt man wieder auf den Gedanken, den die Asiaten, aber auch die Romantiker, schon formuliert haben: das Leben als Spiel und Musikstück. Die polaren Töne des Lebensspiels werden vom Musikmeister gelenkt, damit Knecht sieht, was an Plinios Kritik wahr oder unwahr ist, um so seine eigenen Gedanken lenken und zu einem Mittelweg harmonisieren zu können. Weil er die kastalische Provinz verteidigen will, fühlt es sich von diesem Moment an 80 Hesse: S.79 Ebd.: S. 81 82 Ebd.: S.105 83 Ebd.: S.90 81 26 verantwortlich; es betrifft ein Gefühl, das sich während seines Entwicklungsgangs noch steigern wird. Diese Zeit formt den Anfang seiner ‚kritischen Jahre‘84 , während denen Knecht auch seine Gedichte schreibt, trotz der Tatsache dass man in Kastalien keine Kunst produzieren darf. Sie sind in ‚Josef Knechts hinterlassene Schriften‘ am Ende der fiktiven Biographie aufgenommen worden. Diese Äußerungen der Verzweiflung stimmen mit Hesses dreistufigem Lebensaufbau überein. Josef wird noch als unschuldiges Kind in Kastalien aufgenommen, verliert aber seine Naivität und versucht das damit einhergehende krisenhafte Gefühl durch Erkenntnisse oder Werke zu überwinden. Die Diskussionen mit Plinio sind in diesem Falle die Suche nach Erkenntnissen und die Gedichte sind seine Werke. Sie sind noch Teil der Berufung. Am Ende entschließt er sich, in den kastalischen Orden einzutreten, ist aber gleichzeitig zur Erkenntnis gelangt, dass die Provinz nicht vollkommen ist. Es gibt also auch in seinem Entschluss einen Gegensatz. Knechts Berufung und Aufsteigen in den Orden, mit den dazugehörenden, immer verantwortungsvolleren Aufgaben sind nur der eine Pol in seinem Leben. Es ist der weibliche Pol des Bewahrens, Yin, denn im Inneren trägt und verwirklicht Knecht unbewusst die Idee der Polarität von Geist und Welt. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Musikmeister spürt Knecht sein Schicksal, nach der Harmonie streben zu müssen. „Das Erwachen als ‚das Sichtbarwerden und einladende sich Öffnen der idealen Welt‘ bewirkt ‚ die Tendenz […] zum Vordringen, zum Greifen und Begreifen der Wirklichkeit‘. Dies ist der männliche Pol, Yang in Knechts Leben.“85 Auffällig ist, dass Plinio auf seine Weise auch nach einem Gleichgewicht zwischen Geist und Welt sucht. Er entschließt sich aber für die Welt. Als Knecht und er sich als Erwachsene wieder begegnen, werden die Erfahrungen, die sie durch ihren Entschluss gemacht haben, zu einem Ganzen zusammengefügt. 3.3.2 Erwachen: der ältere Bruder und Pater Jakobus Nach Beendung der Schulzeit fangen die Studienjahre an. Die Studenten dürfen während dieser Periode studieren was sie möchten und sind noch nicht wirklich mit dem Orden verbunden. Knecht hat deswegen die Möglichkeit, sich nach den intensiven Diskussionen mit Plinio zurückzuziehen und das Leben zu überdenken. „Gerade für Begabungen von Josef Knechts Art, welche […] ihrem Wesen nach auf Ganzheit, auf Synthese und Universalität 84 85 Hesse: S.104 Malischke: S.42f. 27 zielen, ist dieser Frühling der Studienfreiheit nicht selten eine Zeit intensiven Glückes […]“86. Es sind die Musik und die chinesische Kultur. Die einzige Rechenschaft, die die Studenten ablegen müssen, geschieht in Form des Verfassens eines fiktiven Lebenslaufs. „Der Schüler hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner frühern Epoche zurückzuversetzen und sich darin eine ihm entsprechende Existenz auszudenken; […] es war […] ein Spiel der Imaginationskräfte […]“87. Diese Lebensläufe sind also nicht verboten und formen deswegen einen Gegensatz zu den verbotenen Gedichten der Schulzeit. Das Sich-versetzen in eine andere Epoche und Person ist ein Gegenpol zum Alltag und zeigt, dass man als Mensch ein kleiner Teil des Geschichtskreislaufs ist. Dieses künstliche Spiel stimmt mit den vorhin besprochenen Gedanken der Romantiker überein. In der Kunst kann man eine Gegenwelt zum weltlichen Leben kreieren, in der gleichsam die unendlichen Spiele der Welt nachgebildet werden, um in dieser Weise einen Durchgang zum Unendlichen zu realisieren. Weil es im Rahmen dieser Arbeit zu weit führt, in Einzelheiten auf die Lebensläufe einzugehen, werden hier nur die wichtigsten Themen zur Sprache gebracht. Sie sind in einer anderen Form eine Wiederholung von Knechts Biographie und bilden die wichtigsten Grundgedanken des Romans, denn sie verkörpern die Lebensstufen ‚Berufung‘, ‚Erwachen‘ und ‚Abschied‘. Die Hauptpersonen gelangen alle zu Erkenntnissen in Bezug auf das Universelle und Vollkommene. Weil sie alle in einer anderen Zeit leben, findet man den Gedanken wieder, dass es das Bedürfnis nach der Suche nach Einheit schon Jahrhunderte lang in den verschiedensten Kulturen gegeben hat. Wichtig ist die Bedeutung der Lehrer im immer wiederkehrenden Kreislauf vom Alten und Jungen wie auch das Thema der Polaritäten. Auch die Stelle der Lebensläufe im Roman ist bedeutsam, denn sie sind während Knechts Leben verfasst worden und deswegen wirken sie prophezeiend. Weil sie aber nach der Biographie aufgenommen worden sind, haben sie den Zweck, Knechts Leben im Nachhinein zu erläutern. Es gibt deswegen einen Gegensatz. Knecht beschäftigt sich also während seiner Studienzeit vor allem mit der Musik und den Chinesen und ihrer Sprache. Außerdem fragt er sich, ob das Glasperlenspiel wirklich das Höchste von Kastalien ist, das es wert sei, sein ganzes Leben daran zu setzen.88 Diese Gedanken sind „der alte Wettstreit zwischen Ästhetisch und Ethisch“89. Denn es geht ihm darum, die Harmonie zwischen den gegensätzlichen Gedanken zu finden: Einerseits sieht er, 86 Hesse: S.108 Ebd.: S.111f. 88 Vgl. Ebd.: S.132 89 Ebd.: S.135 87 28 dass das Spiel eine bestimmte Schönheit in ihrer geistigen Vollkommenheit hat, während er andererseits auch die Gefahr erkennt, dass es zur leeren Spielerei werden kann. Diese Jahre sind deswegen eine Fortsetzung seiner kritischen Zeit, in der er das eigene Leben genau untersucht. Durch seine Chinastudien entdeckt er das allesumfassende I Ging. Er wird davon dermaßen fasziniert, dass er einen Weg suchen möchte, es dem Glasperlenspiel eingliedern zu können und deswegen sucht er einen Lehrer. Dieses vollkommene Spiel wird schließlich das ‚Chinesenhausspiel‘. Er hört, dass es den so genannten ‚Älteren Bruder‘ gibt, der vor fünfundzwanzig Jahren der beste Student der chinesischen Abteilung in Kastalien war. Er hat sich aber in ein Bambusgehölz zurückgezogen und ist selber zum Chinesen geworden. Knecht fährt hin, entdeckt aber schon bald, dass das Idyll im Bambusgehölz […] ein nur wenigen möglicher und erlaubter Verzicht auf Universalität, ein Verzicht auf das Heute und Morgen zugunsten eines Vollkommenen, aber Vergangenen, es war eine sublime Art von Flucht, und Knecht hatte beizeiten gespürt, dass das sein Weg nicht sei. […] er [wußte] noch andere Kräfte in sich vorhanden, eine gewisse innere Unabhängigkeit, einen hohen Eigensinn, der ihm zwar keineswegs das Dienen verbot und erschwerte, der aber von ihm verlangte, daß er nur dem höchsten Herrn diene.90 In diesem Zitat findet man ganz klar die Bedeutung des Besuchs beim Wahlchinesen. Es formt eine Stufe in Knechts Erwachen, was auch stimmt, denn er selber hat diese Zeit mehrmals als das „Beginn des Erwachens“ bezeichnet91. Auch sind es wieder die Gegensätze, die in den Vordergrund treten: er spürt das Idyllische des zurückgezogenen Lebens, seine innere Stimme sagt ihm aber gleichzeitig, dass man der Welt nicht entfliehen muss, weil sie ein Pol des Lebens ist. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das I Ging gerade die ganze Welt mit allen Gegenpolen symbolisiert. Der ältere Bruder ist ein Meister des I Ging, der aber in seinem eigenen Leben die Gegenpole nicht zu vereinen wusste. Knecht sieht es durch seine innere Unabhängigkeit und diese ist es auch, die von ihm verlangt, dem höchsten Herrn zu dienen. Knecht muss also einen Mittelweg zwischen den Gegensätzen ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Dienen‘ finden. Die Überwindung der Pole und die Bedeutung des ‚höchsten Herrn‘ wird am Ende seines Lebens sehr deutlich. Als Knecht in Kastalien wiederkehrt, wird er endgültig in den Orden aufgenommen und bekommt schon bald danach die Aufgabe von der Ordensleitung nach dem Benediktiner Kloster Mariafels zu fahren, um die Brüder das Glasperlenspiel zu lernen. Es stellt sich heraus, dass dies nicht der wirkliche Zweck ist. Das Ziel ist die Verbesserung des Kontakts zwischen den beiden Orden und gleichzeitig formt der Besuch einen Pol in Knechts Erkenntnissen über Kastalien und die Welt. 90 91 Hesse: S.133 Vgl. Ebd. S.130 29 Dieser Pol wird vom Pater Jakobus symbolisiert, der auch das Gegenstück vom ‚älteren Bruder‘ ist. Er ist der Geschichtsschreiber des Klosters und ist dem weltlichen Leben sehr verbunden, weil er als eine Art Politiker die Belange seines Ordens vertritt. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass in der Patergestalt der Kulturgeschichtsschreiber Jakob Burckhardt gehuldigt wird, der die Geschichte und die Kultur als untrennbare Elemente betrachtete und in der Geschichte einen sich immer wandelnden Geist als Konstante entdeckt hat.92 Genau diese Gedanken sind wichtig für Knechts Vervollkommnung: „für Knecht wurde der Umgang mit dem Historiker und die Schulung durch ihn […] eine neue Stufe auf jenem Weg des Erwachens“93. Wie im Kapitel über Kastalien und das Weltliche in der Welt besprochen wurde, wird Knecht die Bedeutung der Geschichte klar vor Augen geführt. In Kastalien fehlen die historischen Studien und weil sie ein Pol des Lebens sind, verliert man unter anderem dadurch die Bindung zur Realität. Das darf nicht sein, weil man selber Produkt und Bindeglied dieses Prozesses ist. Diese Erkenntnis hat aber in einem anderen Ereignis ihr Gegenstück. Denn als Knecht für einige Zeit in Kastalien Urlaub hat, bemerkt er während einer Selbstbetrachtung, dass er auf unbegreifliche Weise in die Hierarchie hineingewachsen und ihr untergeordnet ist: „es war die Verantwortung, das Umfangensein vom Allgemeinen und Höheren […] das einen stützte und zugleich der Freiheit beraubte […]“94. Er hat gelernt, dass der Orden sich zu sehr von der Welt abschließt, aber trotz dieser Kritik ist er ihr sehr verbunden. Diese Verbundenheit zeigt sich auch in Gegensätzen, denn sie stützt einen, aber beraubt ihn auch seiner Freiheit. Knecht kehrt noch einmal ins Kloster zurück, mit dem Ziel, die verbesserte Beziehung der beiden Orden endgültig sicher zu stellen. Das wichtigste Ergebnis seines Aufenthalts ist aber sein Wissen um das sich immer wandelnde Leben und die damit zusammenhängende Suche nach dem Gleichgewicht der Pole. Nach seiner Rückkehr in Kastalien tritt er schon sehr bald in das Amt des Magister Ludi ein. Äußerlich scheint dieses Ereignis eine festere Beziehung zur Provinz zu bedeuten, innerlich hat Knecht durch seine Erkenntnisse und eigensinnigen Blick sich von dieser Welt längst verabschiedet. 3.3.3 Abschied: Tegularius, Plinio und sein Sohn Tito In dem Moment, als Knecht Magister Ludi wird, zieht der Musikmeister sich im hohen Alter aus dem Orden zurück. Knecht ist dann in gewissem Sinne sein Nachfolger und auf diese 92 Vgl. Malischke: S.50 Hesse: S.166 94 Ebd.: S.178 93 30 Weise wird der immer wiederkehrende Kreislauf von Meister und Schüler vollendet. Der Musikmeister sagt ihm auch tatsächlich: „Es ist schön, daß du in dem Augenblick, wo ich abtrete, in die Lücke trittst, es ist, als hätte ich einen Sohn, der künftig statt meiner seinen Mann stellen wird“95. Dieses Thema spielt während Knechts Erwachenszeit in den fiktiven Lebensläufen eine sehr wichtige Rolle, sie vertieft sich aber von dem Moment an, als er Glasperlenspielmeister ist. Schon früher hat Knecht in seinem Freund Tegularius einen Gegenpol erkannt. Als er als Glasperlenspielmeister öfter in Kastalien ist, sieht er ihn fast jeden Tag und wird dies bestätigt. Durch diese Person werden Knechts negative Erkenntnisse über Kastalien unterstützt. Tegularius ist auf intellektuellem Gebiet sehr fleißig und sogar genial. Als Mensch und Teil der kastalischen Hierarchie und Moral spielt er aber eine schlechte Rolle. Knecht sieht in ihm eine ‚Vorläufergestalt‘, denn er ist gleichzeitig „die Verkörperung höchster kastalischer Fähigkeiten und das mahnende Vorzeichen für deren Demoralisierung und Untergang.“96 In Tegularius’ Wesen sieht er also, wie die Kastalier werden, wenn sie sich nicht davon bewusst werden, dass sie ein Teil der Welt sind und sich nur in ihr geistiges Leben zurückziehen. Sie streben nicht mehr nach der Harmonie, sondern sind nihilistische, leidende, unberechenbare Einzelgänger, die sich der kastalischen Hierarchie nicht einordnen können und die Meditation vernachlässigen.97 Tegularius zeigt Knecht also als „Gegenpolgestalt, wie die Verneinung der Realität sich entwickeln wird und welche Gefahr sie für die kastalische Zukunft formt. Durch seine Menschenkenntnisse kann Knecht Tegularius beeinflussen und seine schlechten Eigenschaften eindämmen. Wie der Musikmeister ist Knecht kein Erzieher, der eine vollkommene Lehre anbietet, sondern er erreicht die Menschen durch sein Wesen. In der Beziehung zu Tegularius wird dieses Lehren näher definiert. Das Mittel ist schließlich „des Freundes Bewunderung und Liebe, diese Schwärmerei für Knechts starke und harmonische Persönlichkeit.“98 Wie der Musikmeister ist Knecht durch seine Erkenntnisse zu einem harmonischen Menschen geworden und hat deswegen eine angenehm-kräftige Ausstrahlung, mit der er seine Schüler erreichen kann. In seiner Vollkommenheit kann er also unbemerkt die Unvollkommenen erziehen. Knecht erkennt auch deswegen immer mehr die Wichtigkeit des Erziehens und als dessen Folge die Rolle des Schulmeisters. Er hat die Gegensätze im höchsten Amt der 95 Hesse Zit. Nach Hsia: S.307 Hesse: S.274 97 Vgl. Ebd.: S.272f. 98 Ebd.: S.276 96 31 kastalischen Welt und die des Erziehers nie getrennt und „dabei fand er, je jünger und unwissender seine Schüler waren, desto mehr Freude am Lehren. […] Je älter er wurde, desto mehr zog die Jugend ihn an.“99 Auch hier findet man die Gegenpole ‚Alt‘ und ‚Jung‘ wieder, die es schon bei Josefs Prüfung durch den Musikmeister gab. Knecht kommt zur Erkenntnis, dass: dieser sinnvoll-sinnlose Rundlauf von Meister und Schüler, dieses Werben der Weisheit um die Jugend, der Jugend um die Weisheit, dieses endlose, beschwingte Spiel war das Symbol Kastaliens, ja war das Spiel des Lebens überhaupt, das in alt und jung, in Tag und Nacht, in Yang und Yin gespalten, ohne Ende strömt.100 Während seiner Amtszeit vertiefen sich Knechts Lebenserkenntnisse, die ihm durch sein Erwachen ins Bewusstsein getreten sind. Der Lehrer-Schülerkreislauf ist eine kleinere Variante des historischen Kreislaufs. Beide widerspiegeln das ganze Lebensspiel, das aus sich wandelnden Gegenpolen besteht. Es bedeutet, dass man im kleinen Kreislauf die jungen Menschen auf das Leben vorbereiten muss, damit sie Teil des großen Kreislaufs werden können und dies auch erkennen. In diesem Zusammenhang ist es bedeutungsvoll, dass der ‚homo ludens‘ in Kastalien das höchste Amt ist, aber ursprünglich Schulmeister bedeutet. Wie im Kapitel 2.2.2 über die Romantik besprochen wurde, hat Schiller diesen Terminus benutzt um den Menschen im Lebensspiel anzudeuten. Wenn man Schillers Gedanken mit dem Namen ‚Knecht‘ verknüpft, kann man daraus schließen, dass Josef zwar im höchsten Amt Kastaliens ist, aber im Gegensatz dazu auch ein Knecht ist. Er ist Knecht des Amtes, aber auch des Lebens. Die Erkenntnisse seines Erwachens zwingen ihn schließlich dazu, die ursprüngliche Bedeutung des ‚homo ludens‘ zu erkennen und ihr zu folgen, das heißt: Knecht des Lebensspiels zu werden, indem er als Meister in die Alltagswelt zieht. Knecht beendet die Stufe des Erwachens des Hesseschen dreistufigen Lebensschemas. Der Erwachte muss seiner inneren Stimme folgen, damit er ein Vollendeter wird. Im Roman wird das folgendermaßen beschrieben: Er ist an die Stelle gelangt, an welcher große Naturen den Weg der Tradition verlassen und im Vertrauen auf obere, nicht zu bezeichnende Mächte, das Neue, noch nicht Vorgezeichnete suchen und verantworten müssen.101 Diese innere Stimme braucht aber einen Impuls von außen und dieser erscheint in der Gestalt Plinios. Er ist Knechts Gegenpol, der ihm die Stufe des Erwachens zu vollenden hilft. Nach vielen Jahren sehen die zwei Pole sich wieder. Plinio hat die unangenehmen Seiten des Weltlebens erfahren, leidet daher an der Trauer um die Welt und ist nicht glücklich 99 Hesse: S.240 Ebd.: S.221 101 Vgl. Ebd.: S.289 100 32 geworden. Sie sprechen mit einander und Knecht kann Plinio durch sein Wesen erreichen. Es wird klar, dass Plinio Kastaliens gute Bräuche, wie die Meditation, vernachlässigt hat und dadurch Probleme mit seinem Sohn Tito hat. Knecht erkennt darin „eine wie starke Macht der Konflikt zwischen Vätern und Söhnen ist, dieser Haß, diese in Haß umgeschlagene Liebe.“102 In der Harmonisierung der Gegenpole von Liebe und Hass sieht Knecht den Anlass, Kastalien zu verlassen und das Gute beider Welten in einem jungen Leben zu vereinigen. Als Lehrer erkennt er, dass Tito „gute Rasse und gute Gaben von beiden Eltern her [hat], es fehlt nur die Harmonie dieser Kräfte.“103 Auch hier ist das Problem der Vereinigung gegensätzlicher Pole wieder erkennbar; in diesem Falle geht es um die Kräfte der Mutter und des Vaters in einem Menschen. Die alten Freunde entschließen sich, dass Knecht Kastalien verlässt und Tito erziehen wird. Auf diese Weise verabschiedet Knecht sich von Kastalien und bewegt sich auf einer Zwischenstufe der Vollendung zu. In seinem Rundschreiben an die Ordensleitung, in dem Knecht seinen Entschluss mitteilt, beschreibt er, was er über Kastalien und die menschliche Existenz gelernt hat. Die Leitung versteht es nicht wirklich, muss es jedoch akzeptieren. Das Individuum, das nach der Wahrheit sucht, ist stärker als diese ganze Gelehrtengruppe. Knecht fährt in die Berge zur Hütte, wo er die erste Zeit mit Tito leben wird. Als die Sonne am nächsten Morgen aufgeht, macht Tito einen Freudentanz am Rande des Bergsees und begrüßt den neuen Tag und das ganze Leben. Er vergisst sogar, dass Knecht ihm zuschaut. Darin zeigt sich die Polarität der Beiden, denn Knecht ist ein ruhiger und harmonischer Mensch. Als Tito sich plötzlich an Knechts Anwesenheit erinnert, schämt er sich ein wenig, springt in den See und fordert Knecht zu einem Wettschwimmen auf. Knecht springt trotz seiner Bedenken ins eiskalte Wasser und ertrinkt. Er hat sich symbolisch als Knecht des Lebens geopfert und hat auf diese Weise dem ‚höchsten Herrn‘ gedient. Er hat die Gegenpole seines Lebens erkannt und überwunden, indem er nach der Wahrheit gesucht hat. Er ist Teil des immer wiederkehrenden Lebenskreislaufs geworden, weil er Tito durch seine Wesensart erreicht hat, wie es im folgenden Zitat beschrieben wird: Und erst jetzt, wo kein Stolz zu wahren und kein Widerstand mehr zu leisten war, spürte er [Tito FS] im Weh seines erschrockenen Herzens, wie lieb er diesen Mann schon gehabt hatte. […] ihn [überkam] mit heiligem Schauer die Ahnung, daß diese Schuld ihn selbst und sein Leben umgestalten und viel Größeres von ihm fordern werde, als er bisher je von sich verlangt hatte.104 102 Hesse: S.345 Ebd.: S.343 104 Ebd.: S.436 103 33 Tito hat, wie der junge Knecht, seine Unschuld verloren und ihn überkommt die Ahnung des großen Ganzen. Die Geschichte, die im Wesentlichen eine Suche nach Wahrheit, nach der Vereinigung der Gegenpole ist, wird sich in ihm auf eine andere Weise wiederholen. Die symbolische Bedeutung von Knechts Sterben liegt in der Beschreibung des Bergsees. Er befindet sich zur Hälfte im Licht und im Schatten. Dieses Bild gleicht dem Yin und Yang Zeichen, dem Symbol der Einheit.105 Mit seinem Ertrinken ist auch Knecht, wie der Musikmeister, zur allumfassenden Harmonie eingegangen. 105 Vgl. Hsia: S.317 34 3 Fazit Aus der Analyse geht deutlich hervor, dass Hesse in Das Glasperlenspiel danach strebt, der Vereinigung verschiedener Gegenpole auf die Spur zu kommen. Auffällig ist, dass man diese Suche nicht nur in der Handlung der fiktiven Biographie antrifft, sondern dass sie von Hesse auch theoretisch als Lehre vorgestellt wird, indem er zum Beispiel die Lehren im Tao Te King bespricht. In dieser Weise wird eine alte Lehre durch das Handeln der Protagonisten in die Praxis umgesetzt, was zur Folge hat, dass Hesses Ansichten durchaus konkretisiert werden. Die Hauptperson Josef Knecht entwickelt sich in seinem Leben nach Hesses Dreistufenschema von einem naiven Kind zu einem vollkommenen Menschen. Nachdem er die kindliche Unschuld verloren und die daraus entstehende innere Krise überwunden hat, erkennt er die alles umfassende Harmonie, die aus verschiedenen Gegenpolen besteht. Diese stufenweise Entwicklung besteht aber nicht nur aus den drei Stufen, ‚Berufung‘, ‚Erwachen‘ und ‚Abschied‘. Es gibt dazwischen auch viele kleinere Schritte auf dem Wege zur Vollkommenheit. Den Hintergrund zu dieser individuellen Entwicklung bildet die kastalische Welt. Sie ist als Gegenpol zum feuilletonistischen Zeitalter entstanden, womit die Zeit um den zweiten Weltkrieg gemeint ist. Hesses Ziel war es, die geistige Leerheit dieser Epoche nie wiederkehren zu lassen. Deswegen sollte Kastaliens geistiges Leben mit der Welt vereinigt werden, damit eine Harmonie zwischen den beiden ersichtlich wurde. Knecht erkennt durch seine eigene Entwicklung immer mehr, dass es ihm nicht gelingt, dieses Ziel zu erreichen, weil die Kastalier keine Geschichte studieren und ihre höchste geistige Schöpfung, das Glasperlenspiel, als bloße Spielerei betrachten. Wichtig ist, dass das Glasperlenspiel selber eine Form der Suche nach dem universellen Ganzen ist, indem es alle kulturellen und geistigen Werte der Welt im Prinzip in sich trägt. Weil sich das Spiel aber nur auf die Gegenwart der Erscheinungen und die geistigen Werte richtet und die Geschichte außer Betracht gelassen wird, fehlt der Realitätsbezug. Wenn man aber die Polaritäten verbinden will, sei gerade die Bindung zur Wirklichkeit nicht zu verlieren. Knechts Entwicklungsprozess und seine Suche nach Harmonie sind von Personen aus seiner Umgebung abhängig, die als Gegenpole seines Wesens zu betrachten sind. Als größter Gegenpol erscheint Plinio, der ihn schon als Junge zum Nachdenken über die Gegenpole des kastalischen- und weltlichen Lebens angeregt hat. Meditation und Selbstreflexion führen schließlich zu Knechts eigenen, eigensinnigen Entschlüssen und nicht an letzter Stelle zu der von ihm gefundenen Lebenshaltung. Der Gipfel seines Eigensinns liegt darin, dass er die 35 kastalische Provinz verlässt, um Tito zu erziehen und somit den Anschluss an die Welt zu erreichen. In der Einheitssuche im Glasperlenspiel findet man die Einflüsse der Romantiker und Asiaten wieder. Es handelt um ein allumfassendes Ganzes, das vom Leben hervorgebracht und zugleich beeinflusst wird. Diese Ganzheit ist als vollkommene Harmonie unsichtbar und mit dem Wesen der Musik verwandt. Die gegensätzlichen Töne, oder Pole, werden in ihrer Verknüpfung zu einer harmonischen Einheit. Alles Leben stammt aus dieser ‚Urquelle‘. Die Gegenpole, denen das Individuum in seiner Entwicklung begegnet, müssen mit der Heiterkeit der Musik zur Harmonie gebracht werden. Was für den einzelnen Menschen gilt, ist auch von Bedeutung für größere Gruppen und schließlich für die ganze Geschichte der Menschheit. Der Lehrer-Schüler- Kreislauf ist in dem Kontext beispielhaft. Das Junge lernt als Gegenpol des Alten und Weisen und wird durch das Erwachsenwerden an die Stelle des Alten treten. Im Roman sind es Knecht und der Musikmeister und am Schluss Knecht und Tito, die diesen Kreislauf verkörpern. Diese Entwicklung kehrt in der ganzen Geschichte als eine Variation auf ein sich änderndes-, aber immer wiederkehrendes Thema wieder. Der Mensch ist ein kleiner Pol im Weltgeschehen und kann diese Wellenbewegung ein wenig beeinflussen. Es ist das Spiel des Lebens, wie Schiller es bezeichnet hat. Der Name ‚Knecht‘ bedeutet, dass er dem Ganzen diente, weil er als Teil der Welt nach dieser Harmonie gestrebt hat. Die Ahnung, dass es eine solche Harmonie gibt, hat er weitergegeben und deswegen ist der Kreislauf vollkommen. In diesem Zusammenhang sind Knechts hinterlassene Schriften zu berücksichtigen, denn sie wiederholen sein Leben in anderen Epochen und Kulturen, dazu auch noch in einer fiktiven Form. Wie auch Thomas Mann 1945 in einem Brief an Hesse schon angedeutet hat, ist Das Glasperlenspiel ein in sich ruhendes, kugelrundes Meisterwerk. Es hat selbst sehr viel von einem Glasperlenspiel, denn sämtliche Inhalte und Werte unserer Kultur, befinden sich auf der Entwicklungsstufe des Spiels, wo die Fähigkeit zur Universalität, das Schweben über den Fakultäten erreicht ist.106 Diese Gedanken bestätigen die vorliegende Analyse, die jedoch oberflächlich bleiben muss, weil es im Roman noch viele, nicht erwähnte Beispiele der Polarität und Einheitssuche gibt. Wenn man im Sinne Hesses handeln möchte, bräuchte man dazu eine größere Arbeit, 106 Vgl. Mann, Erika [Hrsg.] Mann, Thomas; Briefe 1937-1947. Frankfurt am Main: Fischer. [Band 2] 1963: S.424 f. Thomas Mann in einem Brief an Hermann Hesse, vom 8. April 1945. 36 denn „Man soll auf alles achten, denn man kann alles deuten.“107 Seine wichtigste Lehre ist aber klar geworden: man soll sich als Teil des Ganzen immer mehr zur Ganzheit entwickeln. Die schwierigen Gegenpole, denen man dabei als Lebensstufen begegnet, muss man heiter harmonisieren, nur so kann man ein vollkommener Mensch werden. 107 Hesse: S.78 37 4 Anhang Das zentrale Gedicht des Glasperlenspiels. Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensstufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch in einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegensenden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden… Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!108 108 Hesse: S.450 38 5 Bibliographie Arnold, Heinz Ludwig. Text+ Kritik; Hermann Hesse. München: Johannesdruck Hans Pribil KG. [Heft 10/11]. 1977. Beutin, Wolfgang u.A. [Hrsg.]. Deutsche Literaturgeschichte; Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler. 2001. Clauss, Elke-Maria. Erläuterungen und Dokumente; Hermann Hesse; Das Glasperlenspiel. Stuttgart: Reclam. 2007. Drosdowski, Günther [Hrsg.]. Duden Etymologie; Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 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