Bertold Brecht (Рыбалко Мария, Ярмош Максим)

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Peter Bichsel (Хомышина Оксана, Мухина Диана)
Der Tisch ist ein Tisch
Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein
Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd,
um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder
nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum
etwas unterscheidet ihn von andern. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen,
einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat
einen
dünnen
Hals,
dessen
Haut
trocken und runzelig ist, die weißen
Hemdkragen sind ihm viel zu weit.
Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er
verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer andern
Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die
Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum
der Großmutter.
In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett
und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen
alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und
ein Bild.
Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags
einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends
saß er an seinem Tisch.
Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann
am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.
Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne nicht
zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit
Kindern,
die
spielten – und das Besondere war, dass das alles dem
Mann plötzlich gefiel.
Er lächelte.
Вельмякина Анна, Васенцева Татьяна
Brüder Grimm
Der süße Brei
Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter
allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald,
und begegnete ihm da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte
ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: „Töpfchen, koche“, so kochte es guten
süßen Hirsenbrei, und wenn es sagte: „Töpfchen, steh“, so hörte es wieder auf zu
kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie
ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten. Auf
eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: „Töpfchen, koche“,
da kocht es, und sie ißt sich satt; nun will sie, daß das Töpfchen wieder aufhören
soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den
Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll, und das
zweite Haus und dann die Straße, als wollt’s die ganze Welt satt machen, und ist
die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein
einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: „Töpfchen,
steh“, da steht es und hört auf zu kochen; und wer wieder in die Stadt wollte, der
mußte sich durchessen.
Димитриева Маргарита, Веселова Ксения
Peter Bichsel
DER MILCHMANN
Der Milchmann schrieb auf einen Zettel: „Heute keine Butter mehr, leider.“’
Frau Blum las den Zettel und rechnete zusammen, schüttelte den Kopf und
rechnete noch einmal, dann schrieb sie: „Zwei Liter, 100 Gramm Butter. Sie
hatten gestern keine Butter und berechneten Sie mir gleichwohl.“
Am andern Tag schrieb der Milchmann: „Entschuldigung.“ Der Milchmann
kommt morgens um vier, Frau Blum kennt ihn nicht, man sollte ihn kennen, denkt
sie oft, man sollte einmal um vier aufstehen, um ihn kennen zu lernen.
Frau Blum fürchtet. Der Milchmann könnte ihr böse sein, der Milchmann
könnte schlecht denken von ihr, ihr Topf ist verbeult.
Der Milchmann kennt den verbeulten Topf, es ist der von Frau Blum, sie
nimmt meistens 2 Liter und 100 Gramm Butter. Der Milchmann kennt Frau Blum.
Würde man ihn nach ihr fragen, würde er sagen: „Frau Blum nimmt 2 Liter und
100 Gramm, sie hat einen verbeugten Topf und eine gut lesbare Schrift.“ Der
Milchmann macht sich keine Gedanken. Frau Blum macht keine Schulden. Und
wenn es vorkommt – es kann ja vorkommen – dass 10 Rappen zu wenig daliegen,
dann schreibt er auf einen Zettel: „Zehn Rappen zu wenig.“ Am andern Tag hat er
die 10 Rappen anstandslos und auf dem Zettel steht: „Entschuldigung.“ ‚Nicht der
Rede wert’ oder ‚keine Ursache’, denkt dann der Milchmann und würde er es auf
den Zettel schreiben. Dann wäre das schon ein Briefwechsel. Er schreibt es nicht.
Den Milchmann interessiert es nicht, in welchem Stock Frau Blum wohnt,
der Topf steht unten an der Treppe. Er sich keine Gedanken, wenn er nicht dort
steht. In der ersten Mannschaft spielte einmal ein Blum, den kannte der
Milchmann, und der hatte abstehende Ohren. Vielleicht hat Frau Blum abstehende
Ohren.
Milchmänner haben unappetitlich saubere Hände, rosig, plump und
verwaschen. Frau Blum denkt daran, wenn sie seine Zettel sieht. Hoffentlich hat
er die 10 Rappen gefunden. Frau Blum möchte nicht, dass der Milchmann schlecht
von ihr denkt, auch möchte sie nicht, dass er mit der Nachbarin ins Gespräch käme.
Aber niemand kennt den Milchmann, in unserem Quartier niemand. Bei uns
kommt er morgens um vier. Der Milchmann ist einer von denen, die ihre Pflicht
tun. Wer morgens um vier die Milch bringt, tut seine Pflicht, täglich, sonntags und
werktags. Wahrscheinlich sind Milchmänner nicht gut bezahlt und wahrscheinlich
fehlt ihnen oft Geld bei der Abrechnung. Die Milchmänner haben keine Schuld
daran, dass die Milch teurer wird.
Und eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen.
Der Milchmann kennt Frau Blum, sie nimmt 2 Liter und 100 Gramm und hat
einen verbeulten Topf.
Климов Игорь, Девятовский Роман
Brüder Grimm
Die drei Brüder
Es war ein Mann, der hatte drei Söhne und weiter nichts im Vermögen als das Haus,
worin er wohnte. Nun hätte jeder gerne nach seinem Tode das Haus gehabt, dem Vater
war aber einer so lieb als der andere, da wußte er nicht, wie ers anfangen sollte, daß er
keinem zu nahe tät; verkaufen wollte er das Haus auch nicht, weils von seinen Voreltern
war, sonst hätte er das Geld unter sie geteilt. Da fiel ihm endlich ein Rat ein, und er
sprach zu seinen Söhnen 'geht in die Welt und versucht euch, und lerne jeder sein
Handwerk, wenn ihr dann wiederkommt, wer das beste Meisterstück macht, der soll das
Haus haben.'
Das waren die Söhne zufrieden, und der älteste wollte ein Hufschmied, der zweite ein
Barbier, der dritte aber ein Fechtmeister werden. Darauf bestimmten sie eine Zeit, wo sie
wieder nach Haus zusammenkommen wollten, und zogen fort. Es traf sich auch, daß
jeder einen tüchtigen Meister fand, wo er was Rechtschaffenes lernte. Der Schmied
mußte des Königs Pferde beschlagen und dachte 'nun kann dirs nicht fehlen, du kriegst
das Haus.' Der Barbier rasierte lauter vornehme Herren und meinte auch, das Haus wäre
schon sein. Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biß aber die Zähne zusammen und
ließ sichs nicht verdrießen, denn er dachte bei sich 'fürchtest du dich vor einem Hieb, so
kriegst du das Haus nimmermehr.' Als nun die gesetzte Zeit herum war, kamen sie bei
ihrem Vater wieder zusammen: sie wußten aber nicht, wie sie die beste Gelegenheit
finden sollten, ihre Kunst zu zeigen, saßen beisammen und ratschlagten. Wie sie so
saßen, kam auf einmal ein Hase übers Feld dahergelaufen. 'Ei,' sagte der Barbier, 'der
kommt wie gerufen,' nahm Becken und Seife, schäumte so lange, bis der Hase in die
Nähe kam, dann seifte er ihn in vollem Laufe ein, und rasierte ihm auch in vollem Laufe
ein Stutzbärtchen, und dabei schnitt er ihn nicht und tat ihm an keinem Haare weh. 'Das
gefällt mir,' sagte der Vater, 'wenn sich die andern nicht gewaltig angreifen, so ist das
Haus dein.' Es währte nicht lang, so kam ein Herr in einem Wagen dahergerennt in
vollem Tagen 'Nun sollt Ihr sehen, Vater, was ich kann,' sprach der Hufschmied, sprang
dem Wagen nach, riß dem Pferd, das in einem fortjagte, die vier Hufeisen ab und schlug
ihm auch im Jagen vier neue wieder an. 'Du bist ein ganzer Kerl,' sprach der Vater, 'du
machst deine Sachen so gut wie dein Bruder; ich weiß nicht, wem ich das Haus geben
soll.' Da sprach der dritte 'Vater, laßt mich auch einmal gewähren,' und weil es anfing zu
regnen, zog er seinen Degen und schwenkte ihn in Kreuzhieben über seinen Kopf, daß
kein Tropfen auf ihn fiel: und als der Regen stärker ward, und endlich so stark, als ob
man mit Mulden vom Himmel gösse, schwang er den Degen immer schneller und blieb
so trocken, als säß er unter Dach und Fach. Wie der Vater das sah, erstaunte er und
sprach 'du hast das beste Meisterstück gemacht, das Haus ist dein.'
Die beiden andern Brüder waren damit zufrieden, wie sie vorher gelobt hatten, und weil
sie sich einander so lieb hatten, blieben sie alle drei zusammen im Haus und trieben ihr
Handwerk; und da sie so gut ausgelernt hatten und so geschickt waren, verdienten sie viel
Geld. So lebten sie vergnügt bis in ihr Alter zusammen, und als der eine krank ward und
starb, grämten sich die zwei andern so sehr darüber, daß sie auch krank wurden und bald
starben. Da wurden sie, weil sie so geschickt gewesen waren und sich so lieb gehabt
hatten, alle drei zusammen in ein Grab gelegt.
DIE KATZE WAR IM SCHNEE ERFROREN
Wolfgang Borchert (Крюкова Анастасия, Дудыкин Артур)
Männer gingen nachts auf der Straße. Sie summten. Hinter ihnen war
ein roter Fleck in der Nacht. Es war ein häßlicher roter Fleck. Denn
der Fleck war ein Dorf. Und das Dorf, das brannte. Die Männer hatten
es angesteckt. Denn die Männer waren Soldaten. Denn es war Krieg.
Und der Schnee schrie unter ihren benagelten Schuhen. Schrie
häßlich, der Schnee. Die Leute standen um ihre Häuser herum. Und
die brannten. Sie hatten Töpfe und Kinder und Decken unter die Arme
geklemmt. Katzen schrien im blutigen Schnee. Und der war vom
Feuer so rot. Und er schwieg. Denn die Leute standen stumm um die
knisternden seufzenden Häuser herum. Und darum konnte der Schnee
nicht schrein. Einige hatten auch hölzerne Bilder bei sich. Kleine, in
gold und Silber und blau. Da war ein Mann drauf zu sehen mit einem
ovalen Gesicht und einem braunen Bart. Die Leute starrten dem sehr
schönen Mann wild in die Augen. Aber die Häuser, die brannten und
brannten und brannten doch.
Bei diesem Dorf lag noch ein anderes Dorf. Da standen sie in dieser
Nacht an den Fenstern. Und manchmal wurde der Schnee, der
mondhelle Schnee, sogar etwas rosa von drüben. Und die Leute sahen
sich an. Die Tiere bumsten gegen die Stallwand. Und die Leute
nickten im Dunkeln vielleicht vor sich hin. Kahlköpfige Männer
standen am Tisch. Vor zwei Stunden hatte der eine mit einem Rotstift
eine Linie gezogen. Auf eine Karte. Auf dieser Karte war ein Punkt.
Der war das Dorf. Und dann hatte einer telefoniert. Und dann hatten
die Soldaten den Fleck in die Nacht reingemacht: das blutig brennende
Dorf. Mit den frierenden schreienden Katzen im rosanen Schnee. Und
bei den kahlköpfigen Männern war wieder leise Musik. Ein Mädchen
sang irgendwas. Und es donnerte manchmal dazu. Ganz weit ab.
Männer gingen abends auf der Straße. Sie summten. Und sie rochen
die Birnbäume. Es war kein Krieg. Und die Männer waren keine
Soldaten. Aber dann war am Himmel ein blutroter Fleck. Da summten
die Männer nicht mehr. Und einer sagte: Kuck mal, die Sonne. Und
dann gingen sie wieder. Doch sie summten nicht mehr. Denn unter
den blühenden Birnen schrie rosaner Schnee. Und sie wurden den
rosanen Schnee nie wieder los. In einem halben Dorf spielen Kinder
mit verkohltem Holz. Und dann, dann war da ein weißes Stück Holz.
Das war ein Knochen. Und die Kinder, die klopften mit dem Knochen
gegen die Stallwand. Es hörte sich an, als ob jemand auf eine
Trommel schlug. Tock, machte der Knochen, tock und tock und tock.
Es hörte sich an, als ob jemand auf eine Trommel schlug. Und sie
freuten sich. Er war so hübsch hell. Von einer Katze war er, der
Knochen.
Peter Bichsel. Pfingstrosen
Рымаренко Георгий, Егорова Алиса
In den Briefkasten einer alten Frau hat jemand einen Strauss Blumen gesteckt,
Blumen aus einem gut gedüngten Garten, fette Pfingstrosen. Eine alte Frau hat
einer alten Frau Blumen gebracht, eingewickelt in den Inseratenteil einer Zeitung,
fett wie Blumenkohl und brauchbar.
Sie hat sie mühsam in die Stadt getragen, in schwarzem Mantel, Hut mit Schleier,
Wollstrümpfen. „Adele wird sich freuen, Adele hat Blumen gern“, hat sie gesagt,
und „Wir haben so viele in unserem Garten, wir wissen nicht, wohin damit“. Und
„Adele wohnt fünf Treppen hoch, ich stecke die Blumen in den Briefkasten, Adele
wird sie sicher finden, Adele wird sich freuen.“
Adele war immer allein und hatte Läuse als sie zur Schule ging. Adele ist
zweiundsiebzig. Adele scherzt mit dem Milchmann und zählt das Herausgeld nach,
die Milch wird teurer. Adele bekam nie Rosen geschenkt. Rosen kosten viel und
verwelken schnell. Sie hat Erfahrungen mit Geranien, sie zerkleinert Eierschalen
und bewahrt sie lange in Wasser auf, in Regenwasser. Kleine Bäumchen sind die
Geranien geworden, man muss von ihnen sprechen, wenn man zu Adele kommt.
Sie erzählt allen, wie man sie pflegt, und sie sagt, dass ihre Mutter die schönsten
im Dorfe hatte.
Adele wird sich freuen. Sie machen sich gut, die Pfingstrosen, auf dem weissen
Tischtuch mit Spitzenbesatz. Prächtig sind sie geraten dieses Jahr, fleischig wie
Krautstengel. Adele wird eine Zeitung unter die Vase legen, die Zeitung mit en
Todesanzeigen.
Adele ist eine alte Frau. Die Nachbarin ist letzte Woche gestorben, sie war
dreiundsiebzig, Jahrgang neunundachtzig, 1889. Alterskrebs, das weiss Adele. Sie
fragte den Arzt.
Adele hat auch einen Franken gegeben, an den Kranz für die Nachbarin. „Die gute
Seele“, hat sie gesagt, „sie hätte für mich auch einen Franken gegeben.“
Zu Adeles Beerdigung wird der Neffe aus Aarau kommen. Ihr Neffe ist
Bankbeamter in Aarau.
Und Adele ist zweiundsiebzig, Jahrgang 1890.
1900 war sie in der vierten Klasse, bei Lehrer Widmer, er hatte den Roten gern.
Adele war gut im mündlich Rechnen. Von den Klassekameraden sind viele
gestorben, kürzlich die Veronika. Die andern sieht man selten. Eine kommt hie und
da in die Stadt und bringt Bohnen oder einen Blumenkohl.
Die Küchenuhr
Wolfgang Borchert (Сторчак Мария, Жукова Катерина)
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er
ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und
dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.
Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. Ja,
ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und
tupfte mit dem Finger die blau gemalten Zahlen ab.
Sie hat weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht besonders schön.
Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die
Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht
fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.
Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der telleruhr entlang. Und er sagte leise:
Und sie ist übrig geblieben.
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau sah in ihren
Kinderwagen. Dann sagte jemand: Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder hoch, als
ob die anderen sie noch nicht kannten.
Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau.
Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer: weiß und
blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja
noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei
Stehengeblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken Sie mal.
Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe vor. Das
habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck.
Er sah seine Uhr an und schütellte den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. das hat mit den Bomben
nichts zu tun. Sie müssen nicht imer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war etwas ganz anderes, das
wissen Sie nur nicht. Das ist nämlch der Witz, dass sie gerade um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht um
Viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast
immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz.
Er sah die anderen an, aber sie hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er seiner
Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche. Da war es dann fast
immer halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat
hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das Licht an.
Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuß. Und dabei unsere Küche
gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon
geschlafen. Es war ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot
warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren.
Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller
wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens
immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das
Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät
wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich.
das alles war doch immer so gewesen.
Einen Atemzug lang war es still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber er fand
sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das
richtige Paradies. Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, sie meinen meine Eltern? ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen
Sie sich vor. Alles weg.
Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an. Da hob er wieder die Uhr hoch und
lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehen
geblieben ist. Ausgerechnet um halb drei.
Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine
Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies...
Wolfgang Borchert. Die Kirschen (Красильникова Юлия, Кондратова
Валентина)
Nebenan klirrte ein Glas. Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind, dachte
er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit
sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber.
Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die
Tür, dass sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft.
Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll Kirschen. Dabei sollte ich sie
essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze Hand voll Kirschsaft. Die waren
sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt für das Fieber. Und er
isst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand
davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand.
Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand doch extra vorm
Fenster. Für das Fieber.
Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf.
Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du musst sofort zu Bett.
Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand.
Alles voll Kirschen. Du musst sofort zu Bett, Junge. Der Vater versuchte
aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand.
Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen. Waren sie kalt?
Fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schön kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors
Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind.
Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er lächelte etwas. Ich komme nicht
wieder hoch, lächelte er und verzog das Gesicht. Das ist doch zu dumm, ich komme
buchstäblich nicht wieder hoch.
Der Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von
seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? Flüsterte er, ja?
Ich bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck.
Ich bin ganz lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder.
Dann bring ich dich zu Bett. Du musst ganz schnell zu Bett.
Der Kranke sah auf die Hand. Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur ein
kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der Vater ab.
Er sah hoch und verzog das Gesicht. Hoffentlich schimpft sie nicht. Sie mochte
gerade diese Tasse so gern. Jetzt hab ich sie kaputt gemacht. Ausgerechnet diese
Tasse, die sie so gern mochte. Ich wollte sie ausspülen, da bin ich ausgerutscht. Ich
wollte sie nur ein bisschen kalt ausspülen und deine Kirschen da hinein tun. Aus dem
Glas trinkt es sich so schlecht im Bett. Das weiß ich noch. Daraus trinkt es sich ganz
schlecht im Bett.
Der Kranke sah auf die Hand. Die Kirschen, flüsterte er, meine Kirschen?
Der Vater versuchte noch einmal, hochzukommen. Die bring, ich dir gleich,
sagte er. Gleich, Junge. Geh schnell zu Bett mit deinem Fieber. Ich bring sie dir
gleich. Sie stehen noch vorm Fenster, damit sie schön kalt sind. Ich bring sie dir
sofort.
Der Kranke schob sich an der Wand zurück zu seinem Bett. Als der Vater mit
den Kirschen kam, hatte er den Kopf tief unter die Decke gesteckt.
Фираго Ася, Лаврова Елена
Kurt Marti
Neapel sehen
Er hatte eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus
seinem häuslichen Blickkreis. Er haßte die Fabrik. Er haßte seine Arbeit in der
Fabrik. Er haßte die Maschine, an der er arbeitete. Er haßte das Tempo der
Maschine, das er selbst beschleunigte. Er haßte die Hetze nach Akkordprämien,
durch welche er sich zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen gebracht hatte.
Er haßte seine Frau, so oft sie ihm sagte, heut nacht hast du wieder gezuckt. Er
haßte sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf,
zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. Er haßte den Arzt, der ihm sagte, Sie
müssen sich schonen, Akkord ist nichts mehr für Sie. Er haßte den Meister, der
ihm sagte, ich gebe dir eine andere Arbeit, Akkord ist nichts mehr für dich. Er
haßte so viele verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen
kleineren Zahltag, denn immer war das die Hinterseite von so viel Rücksicht, ein
kleinerer Zahltag. Dann wurde er krank, nach vierzig Jahren Arbeit und Haß zum
ersten Mal krank. Er lag im Bett und blickte zum Fenster hinaus. Er sah sein
Gärtchen. Er sah den Abschluß des Gärtchens, die Bretterwand. Weiter sah er
nicht. Die Fabrik sah er nicht, nur den Frühling im Gärtchen und eine Wand aus
gebeizten Brettern. Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau<...>Er glaubte ihr
nicht. Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das kommt schon wieder. Er glaubte
ihm nicht. Es ist ein Elend, sagte er nach drei Wochen zu seiner Frau, ich sehe
immer das Gärtchen, sonst nichts, nur das Gärtchen, das ist mir zu langweilig,
immer dasselbe Gärtchen, nehmt doch einmal zwei Bretter aus der verdammten
Wand, damit ich was anderes sehe. Die Frau erschrak. Sie lief zum Nachbarn. Der
Nachbar kam und löste zwei Bretter aus der Wand. Der Kranke sah durch die
Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. Nach einer Woche beklagte er sich, ich
sehe immer das gleiche Stück Fabrik, das lenkt mich zu wenig ab. Der Nachbar
kam und legte die Bretterwand zu Hälfte nieder. Zärtlich ruhte der Blick des
Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte das Spiel des Rauches über dem Schlot, das
Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am Morgen, das Aus
am Abend. Nach vierzehn Tagen befahl er, die stehengebliebene Hälfte der Wand
zu entfernen. Ich sehe unsere Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er
sich. Der Nachbar kam und tat, wie er wünschte. Als er die Büros sah, die Kantine
und so das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des Kranken. Er
starb nach einigen Tagen.
Наумчик Светлана, Семенова Тамара
Anna Seghers
Zwei Denkmäler
In der Emigration begann ich eine Erzählung, die der Krieg unterbrochen hat.
Ihr Anfang ist mir noch in Erinnerung. Nicht Wort für Wort, aber dem Sinn nach.
Was mich damals erregt hat, geht mir auch heute noch nicht aus dem Kopf. Ich
erinnere mich an eine Erinnerung.
In meiner Heimat, in Mainz am Rhein, gab es zwei Denkmäler, die ich niemals
vergessen konnte, in Freude und Angst auf Schiffen, in fernen Städten. Eins ist der
Dom. – Wie ich als Schulkind zu meinem Erstaunen sah, ist er auf Pfeilern gebaut,
die tief in die Erde hineingehen – damals kam es mir vor, beinahe so tief, wie der
Dom hochragt. Ihre Risse sind auszementiert worden, sagt man, in vergangener
Zeit, da, wo das Grundwasser Unheil stiftete. Ich weiβ nicht, ob es stimmt, was uns
ein Lehrer erzählte: Die romanischen und gotischen Pfeiler seien haltbarer als die
jüngeren.
Dieser Dom über der Rheinebene wäre mir in all seiner Macht und Gröβe im
Gedächtnis geblieben, wenn ich ihn auch nie wiedergesehen hätte. Aber
ebensowenig kann ich ein anderes Denkmal in meiner Heimatstadt vergessen. Es
bestand nur aus einem einzigen flachen Stein, den man in das Pflaster einer Straβe
gesetzt hat. Hieβ die Straβe Bonifatiusstraβe? Hieβ sie Frauenlobstraβe? Das weiβ
ich nicht mehr. Ich weiβ nur, dass der Stein zum Gedächtnis einer Frau eingefügt
wurde, die im Ersten Weltkrieg durch Bombensplitter umkam, als sie Milch für ihr
Kind holen wollte. Wenn ich mich recht erinnere, war sie die Frau des jüdischen
Weinhändlers Eppstein. – Menschenfresserisch, grausam war der Erste Weltkrieg,
man begann aber erst an seinem Ende mit Luftangriffen auf Städte und Menschen.
Darum hat man zum Gedächtnis der Frau den Stein gesetzt, flach wie das Pflaster,
und ihren Namen eingraviert. –
Der Dom hat die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs irgendwie überstanden,
wie auch die Stadt zerstört worden ist. Er ragt über Fluβ und Ebene. Ob der kleine
flache Gedenkstein noch da ist, das weiβ ich nicht. Bei meinen Besuchen hab ich
ihn nicht mehr gefunden.
In der Erzählung, die ich vor dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben begann und
im Krieg verlor, ist die Rede von dem Kind, dem die Mutter Milch holen wollte,
aber nicht heimbringen konnte. Ich hatte die Absicht, in dem Buch zu erzählen,
was aus diesem Mädchen geworden ist.
Нестеренко Дарья, Суздальцева Тамара
Reiner Kunze, Fünfzehn
Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon ein
einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppelschleppe: lässig
um den Hals geworfen, fällt er in ganzer Breite über Schienbein und Wade. (Am
liebsten hätte sie einen Schal, an dem mindestens drei Großmütter zweieinhalb
Jahre gestrickt haben - eine Art Niagara-Fall aus Wolle. Ich glaube, von einem
solchen Schal würde sie behaupten, daß er genau ihrem Lebensgefühl entspricht.
Doch wer hat vor zweieinhalb Jahren wissen können, daß solche Schals heute
Mode sein würden.) Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen jeder ihrer
Freunde und jede ihrer Freundinnen unterschrieben haben. Sie ist fünfzehn Jahre
alt und gibt nichts auf die Meinung uralter Leute - das sind alle Leute über dreißig.
Könnte einer von ihnen sie verstehen, selbst wenn er sich bemühen würde?
Ich bin über dreißig.
Wenn sie Musik hört, vibrieren noch im übernächsten Zimmer die
Türfüllungen. Ich weiß, diese Lautstärke bedeutet für sie Lustgewinn.
Teilbefriedigung ihres Bedürfnisses nach Protest. Überschallverdrängung
unangenehmer logischer Schlüsse. Trance. Dennoch ertappe ich mich immer
wieder bei einer Kurzschlußreaktion: Ich spüre plötzlich den Drang in mir, sie zu
bitten, das Radio leiser zu stellen. Wie also könnte ich sie verstehen - bei diesem
Nervensystem? (…)
Auf den Möbeln ihres Zimmers flockt der Staub. Unter ihrem Bett wallt er.
Dazwischen liegen Haarklemmen, ein Taschenspiegel, Knautschlacklederreste,
Schnellhefter, Apfelstiele, ein Plastikbeutel mit der Aufschrift „Der Duft der
großen weiten Welt“, angelesene und übereinandergestülpte Bücher (Hesse, Karl
May, Hölderlin), Jeans mit in sich gekehrten Hosenbeinen, halb- und dreiviertel
gewendete Pullover, Strumpfhosen, Nylon und benutzte Taschentücher. (Die
Ausläufer dieser Hügellandschaft erstrecken sich bis ins Bad und in die Küche.)
Ich weiß: Sie will sich nicht den Nichtigkeiten des Lebens ausliefern. Sie fürchtet
die Einengung des Blicks, des Geistes. Sie fürchtet die Abstumpfung der Seele
durch Wiederholung! Außerdem wägt sie die Tätigkeiten gegeneinander ab nach
dem Maß an Unlustgefühlen, das mit ihnen verbunden sein könnte, und betrachtet
es als Ausdruck persönlicher Freiheit, die unlustintensiveren zu ignorieren (…).
Юркевич Виолетта, Трубникова Виктория
Kurt Marti
Happy End
Sie umarmen sich, und alles ist wieder gut. Das Wort ENDE flimmert über
ihrem Kuss. Das Kino ist aus. Zornig schiebt er sich zum Ausgang, sein Weib
bleibt im Gedrängel hilflos stecken, weit hinter ihm. Er tritt auf die Straße und
bleibt nicht stehen, er geht, ohne zu warten, er geht voll Zorn, und die Nacht ist
dunkel. Atemlos, mit kleinen, verzweifelten Schritten holt sie ihn ein, holt ihn
schließlich ein und keucht zum Erbarmen. Eine Schande, sagt er im Gehen, eine
Affenschande, wie du geheult hast. Sie keucht. Mich nimmt nur wunder warum,
sagt er. Sie keucht. Ich hasse diese Heulerei, sagt er, ich hasse das. Sie keucht noch
immer. Schweigend geht er und voll Wut, so eine Gans, denkt er, so eine blöde,
blöde Gans, und wie sie keucht in ihrem Fett. Ich kann doch nichts dafür, sagt sie
endlich, ich kann doch wirklich nichts dafür, es war so schön, und wenn es schön
ist, muss ich einfach heulen. Schön, sagt er, dieser Mist, dieses Liebesgewinsel,
das nennst du also schön, dir ist ja wirklich nicht zu helfen. Sie schweigt und geht
und keucht und denkt, was für ein Klotz von Mann, was für ein Klotz.
Hans Joachim Schädlich: Am frühen Abend (Фомичева Елизавета, Шапранова
Ксения)
Am frühen Abend des achtundzwanzigsten Februar betrat der junge Handelsreisende
Saller die kleine Halle des Bahnhofs von Schwäbisch Hall, einem Ort in der Nähe
Stuttgarts.
Die Luft ist um diese Zeit kalt, sodass Saller die Helle und Wärme der kleinen Halle
willkommen war. Er sah, dass auf dem steinernen Fußboden vor dem Ofen ein Mann lag.
Saller <...> betrachtete den Fahrplan, suchte die Abfahrtszeit des Zuges, mit welchem er
in das nahe Stuttgart fahren wollte, sah auf die Uhr über der Tür und warf einen schnellen
Blick auf den Mann <...>
Saller setzte sich. Zu seiner Linken hatte er den halbwachen Mann im Auge.
Bis zur Einfahrt seines Zuges waren es noch sieben, bis zur Abfahrt acht Minuten. Saller
rechnete zwei Minuten für den Weg zum Bahnsteig. Sechs Minuten kann ich ausruhen,
sagte er.
Der Mann sagte nichts.
Saller sah das strähnige, wirre Haar des Mannes, die schmutzigbraune Haut des Gesichts,
den schütteren Vollbart, die fleckige Joppe, deren Knöpfe fehlten, die schmutzigschwarzbraune Haut der Hände, die schmierige Hose, die nassen Halbschuhe.
Saller sagte auf gut Glück, Es ist zu kalt auf dem Steinfußboden.
Der Mann öffnete die Augen, sagte, Ich wollte am Ofen stehen, aber die Beine, die
verdammten, tragen mich nicht mehr. Ich bin zusammengesackt. Ich habe Beine, ganz
kaputt. Wund. Die Wunden groß wie meine Hand.
Auf der Bank wäre es besser für Sie, sagte Saller und zeigte auf den Platz neben sich.
Aber wie hinkommen, sagte der Mann.
Ich könnte Ihnen helfen, sagte Saller.
Aber Sie können mich nicht tragen, sagte der Mann.
Nein, sagte Saller.
Ich hab mir was gebettelt in Schwäbisch Hall, sagte der Mann. Aber nicht viel. Leute,
fromm und geizig.
Wo wollen Sie hin, sagte Saller.
Wo will ich hin, sagte der Mann. Wohin soll ich wollen. Ich bin hier.
Hier können Sie nicht bleiben, sagte Saller.
Wie soll ich weg? Allein schaff ich es nicht. Mir hilft kein Gott und kein Bulle. Und
wenn ich drei Mal schrei, Herzlieber Jesu mein.
Sie brauchen einen Arzt, sagte Saller.
Du redest, wie du's verstehst. Wie klein Moritz, sagte der Mann. Bezahlst du den Arzt?
Nein, sagte Saller. Einen Notarzt.
Hatte ich schon, sagte der Mann. Hat leise gesagt zu mir, Dreckskerl elender.
Sie müssen in ein Krankenhaus, sagte Saller.
Und wo?, sagte der Mann.
In Stuttgart, sagte Saller.
Bravo!, sagte der Mann. <...> Ich schaff's nicht bis zu deiner Bank, der Doktor fasst mich
nicht an, die Bullen rollen mich aus'm Bahnhof und der liebe Gott selig pfeift auf mich.
Nee, Märchen glaub ich nur noch meine eigenen.
Saller schwieg.
Der Zug nach Stuttgart fuhr ein, Saller stand auf, sagte, Auf Wiedersehen! und ging auf
den Bahnsteig.
Der Mann sagte, Er hilft mir auch nicht.
Bertold Brecht (Рыбалко Мария, Ярмош Максим)
Wenn die Haifische Menschen wären
"Wenn die Haifische Menschen wären", fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner
Wirtin, "wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?" "Sicher", sagte er. "Wenn die
Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen
bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden
sorgen, daß die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt
allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse
verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen
nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und
zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe
natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein
lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel
Geographie brauchen, damit die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, sie finden
könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie
würden unterrichtet werden, daß es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich
freudig aufopfert, und daß sie alle an die Haifische glauben müßten, vor allem, wenn sie
sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen,
daß diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen,
materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müßten sich die Fischlein
hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen
verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander
Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fische zu erobern. Die Kriege würden
sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, daß
zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe.
Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz
verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen. Jedem
Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache
schweigende Fischlein tötete, würden sie einen Orden aus Seetang anheften und den Titel
Held verleihen<...>
Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die
Haifische Menschen wären."
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