Inklusion (Pädagogik) aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie Wechseln zu: Navigation, Suche Schema der Entwicklungsstufen schulischer Integration Inklusive Pädagogik ist ein pädagogischer Ansatz, dessen wesentliches Prinzip die Wertschätzung der Diversität (Vielfalt) in der Bildung und Erziehung ist. Der Begriff leitet sich ab vom lateinischen Verb includere: beinhalten, einschließen, einsperren, umzingeln ab.[1] Befürworter der Inklusion betrachten Heterogenität als ‚normale‘ Gegebenheit,[2] Gegner der Inklusion argumentieren, dass Inklusion keine Methode wäre, sondern ein gesellschaftserziehender Ansatz, in dem das Glück und die Entwicklung des Schulkindes nicht unbedingt im Mittelpunkt stehe, sondern das bzw. die der Gesellschaft und der Politik. Erhebungen in Deutschland zeigen, dass dort z.B. ethnische Heterogenität statistisch Realität ist, weil jedes dritte Grundschul-Kind einen Migrationshintergrund hat.[3] Inklusive Pädagogik soll ein Gegenmodell zur Exklusion sein, die in der Bildung homogener Lerngruppen einen Vorteil sieht. Um die Befürworter der sogenannten Exklusion zu diffamieren, wird sie auch als homodox[4] bezeichnet, und den Organisatoren von Lerngruppen werden u.a. stigmatisierendene[5] und selektierende[6] Absichten vorgeworfen. Mit Thesen wie Es ist normal, verschieden zu sein, Vielfalt macht stark, Jedes Kind ist besonders oder Alle sind behindert geht die sogenannte Inklusion über den in der in diesem Zusammenhang häufig zitierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gebrauchten Begriff der Inklusion hinaus und wird als Aufgabe mit Folgen für die gesamte Gesellschaft gesehen; siehe auch Inklusion (Soziologie). 1 Definition [Bearbeiten] Im „Handlexikon der Behindertenpädagogik“ (2006) definiert Andreas Hinz den Ansatz der Inklusion als „...allgemeinpädagogische[n] Ansatz, der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen will. Für den Bildungsbereich bedeutet dies einen uneingeschränkten Zugang und die unbedingte Zugehörigkeit zu allgemeinen Kindergärten und Schulen des sozialen Umfeldes, die vor der Aufgabe stehen, den individuellen Bedürfnissen aller zu entsprechen - und damit wird dem Verständnis der Inklusion entsprechend jeder Mensch als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft anerkannt.“[7] „... Inklusion beendet das Wechselspiel von Exklusion (= ausgrenzen) und Integration (= wieder hereinholen).“ – BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT, D (HRSG.): Flyer Inklusion - Was bedeutet das?, November 2011 Für die Vertreter des Inklusionskonzeptes gibt es keine zu separierenden und segregierenden Gruppen von Schülern und Schülerinnen, sondern eine Schülergesamtheit, deren Mitglieder unterschiedliche Bedürfnisse haben. Viele Bedürfnisse werden von der Mehrheit geteilt und bilden die gemeinsamen Erziehungs- und Bildungsbedürfnisse. Alle Schüler haben nach dieser Auffassung darüber hinaus individuelle Bedürfnisse, darunter auch solche, für deren Befriedigung die Bereitstellung spezieller Mittel und Methoden notwendig bzw. sinnvoll sein kann. Die Vertreter der Inklusionspädagogik halten den Besuch einer wohnortnahen allgemeinen Schule und die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse aller für Menschenrechte und fordern, dass die Schule den Bedürfnissen ihrer Schülergesamtheit gewachsen sein soll. Es soll nach ihrer Auffassung eine Schule für alle konzipiert werden, aus der kein Kind mehr ausgeschlossen wird, weil es den jeweiligen Anforderungen nicht entsprechen kann.[8] Abgrenzung von der Integrationspädagogik [Bearbeiten] Gemeinsamkeiten [Bearbeiten] Sowohl die Integrationspädagogik als auch die Inklusionspädagogik gehen davon aus, dass in vielen Ländern, auch in solchen ohne gegliedertes Schulsystem, Schüler mit Behinderungen vom Besuch allgemeiner Schulen ausgeschlossen würden. Erst recht geschehe dies in Ländern wie Deutschland, in denen in einem gegliederten Schulsystem ab der Sekundarstufe auch Schüler ohne Behinderungen verschiedenen Schulen zugewiesen würden. Nur eine gemeinsame Schule für alle Kinder und Jugendlichen könne diesen Verhältnissen entgegenwirken. Sowohl Anhänger der Integration als auch solche der Inklusion treten für das Recht aller Schüler ein, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen sowie ihrer ethnischen, kulturellen oder sozialen Herkunft gemeinsam unterrichtet zu werden. Unterschiede [Bearbeiten] „... Das Leitbild der Inklusion zielt - im Gegensatz zur Integration - auf alle Menschen und setzt damit das Ziel, Schule für alle Schüler (und auch für alle Lehrer) zu einem anregendem und angenehmen, fördernden und herausforderndem Ort des Lernens zumachen. Die ganze Schule gewinnt.“ – W ILFRIED W. STEINERT: In: mittendrin e.V. (Hrsg.): Eine Schule für Alle - Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe, Verlag an der Ruhr 2012, ISBN 978-3-8346-0891-8, S. 344: Inklusion als Motor der Schulentwicklung Trotz der Gemeinsamkeiten und obwohl die inklusive Pädagogik als eine Weiterentwicklung der integrativen Pädagogik verstanden werden kann, weisen Integrations- und Inklusionspädagogik begriffliche und konzeptionelle Unterschiede auf: Für Susanne Abram „unterscheidet sich der Begriff der Integration vom Begriff der Inklusion insofern, als dass es bei der Integration von Menschen immer noch darum geht, Unterschiede wahrzunehmen und zuerst Getrenntes wieder zu vereinen. Inklusion hingegen versteht sich in Bezug auf Schule als ein Konzept, das davon ausgeht, dass alle Schüler mit ihrer Vielfalt an Kompetenzen und Niveaus aktiv am Unterricht teilnehmen. Alle Schüler erleben und nehmen Gemeinschaft wahr, in der jeder/jede Einzelne seinen/ihren sicheren Platz hat und somit eine Teilnahme für alle Schüler am Unterricht möglich ist.“[9] 2 Walter Krög weist auch auf den Unterschied zwischen beiden Konzepten hin und betont, dass die Inklusion darüber hinausgeht: „Ist mit Integration die Eingliederung von bisher ausgesonderten Personen gemeint, so will Inklusion die Verschiedenheit im Gemeinsamen anerkennen, d.h., der Individualität und den Bedürfnissen aller Menschen Rechnung tragen. Die Menschen werden in diesem Konzept nicht mehr in Gruppen (z.B. hochbegabt, behindert, anderssprachig...) eingeteilt. Während im Begriff Integration noch ein vorausgegangener gesellschaftlicher Ausschluss mitschwingt, bedeutet Inklusion Mitbestimmung und Mitgestaltung für alle Menschen ohne Ausnahme. Inklusion beinhaltet die Vision einer Gesellschaft, in der alle Mitglieder in allen Bereichen selbstverständlich teilnehmen können und die Bedürfnisse aller Mitglieder ebenso selbstverständlich berücksichtigt werden. Inklusion bedeutet davon auszugehen, dass alle Menschen unterschiedlich sind und dass jede Person mitgestalten und mitbestimmen darf. Es soll nicht darum gehen, bestimmte Gruppen an die Gesellschaft anzupassen.“[10] Begriffsgeschichte [Bearbeiten] Obwohl die Inklusionspädagogik sich erst Anfang der 1990er Jahre etablierte, spielte der Inklusionsbegriff schon früher eine Rolle. Sein Gebrauch war zunächst nur sporadisch. So heißt es z. B. 1946: „It is clear that the judicial trend is toward supporting the inclusion of children with handicaps in the school. (dt. Es ist klar, dass der gesetzgeberische Trend zukünftig den Einschluss von Kindern mit Beeinträchtigungen in die Schule unterstützt.)“[11] Zumeist ging es bei den frühen Verwendungen um die Inklusion von bestimmten Lehrinhalten in die Curricula und die Inklusion von Eltern in schulische Prozesse. Außerdem findet sich der Begriff class inclusion (engl., dt. Klasseneinschluss; siehe mathematisch: Inklusionsabbildung ), den der Schweizer Psychologe Jean Piaget eingeführt hatte und bei dem es darum geht, ob es psychische Unterschiede zwischen Kindern gibt, denen das Lesen leicht fällt und solchen, denen das Lesen schwer fällt. Ab Ende der 1960er Jahre bekam der Begriff Inklusion konzeptionelle Bedeutung im Zusammenhang mit der Entwicklung der so genannten gemeinsamen Schule.[12][13] Entwicklung [Bearbeiten] „Die unterschiedlichen sonderpädagogischen Fachrichtungen und mit ihnen die Sonderschultypen konstituierten sich aus verschiedenen philosophischen, sozialpolitischen und philanthropischen Impulsen heraus Ende des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts, wobei dieser Konstitutionsprozess von Möckel (1988, 25) in seiner ´Geschichte der Heilpädagogik´ als einen Vorgang der „öffentlichen Anerkennung der behinderten Kinder“ beschrieben wird. Diese Anerkennung beinhaltet auch, dass pädagogische Konzepte entwickelt wurden und dass für diese Schüler schulische Bildung überhaupt erstmals als denkbar angesehen wurde (Schwager 1993). Eine Ausnahme stellt die Hilfsschule bzw. die spätere Schule für Lernbehinderte dar, weil es ihr um Schüler ging, die bereits Schüler der allgemeinen Schule waren. Im Unterschied zu den anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen bzw. zu den anderen Sonderschulen wurde hier das schulische Bildungsangebot also nicht auf vorher nicht beschulte Schülergruppen ausgedehnt, sondern es fand eine Ausdifferenzierung des Schulwesens und damit der Schülerschaft statt, die ursprünglich pädagogisch begründet wurde.“ – MICHAEL SCHWAGER: Gesamtschule Holweide, Köln: Anerkennung von Heterogenität als Bedingung der inklusiven Schule. In:http://www.igs-holweide.de (20. Juni 2012).[14] 19. und 20. Jahrhundert [Bearbeiten] Siehe auch: Sonderpädagogik im Nationalsozialismus 1880 wurde in Deutschland die erste Hilfsschule für Kinder mit einer Lernbehinderung eingerichtet; dieses System war anfänglich nur Kindern höherer sozialer Schichten zugänglich.[15] „Aufgrund einer Initiative des 1919 gegründeten „Selbsthilfebundes der Körperbehinderten“ führte das Landesjugendamt Berlin im September 1929 eine Untersuchung mit Hilfe von Fragebögen an allen Volks- und Hilfsschulen Berlins durch. Es wurde festgestellt, dass von 830 Körperbehinderten Kindern 768 Volksschulen besuchten, der Rest Sonderschulen. ... dass nämlich das Bildungsniveau der integrierten Kinder und Jugendlichen aufgrund verschiedenster Problemlagen gering war, in den Sonderschulen aber noch niedriger: „Aus den Fragebogen war festzustellen, daß die Kinder, die aus der Kinderheilstätte Buch [Heimsonderschule, V.S.] entlassen worden waren, um mehrere Jahre im Schulwissen gegen ihre Altersgenossen zurückstehen. […]““ 3 – HILDE W ULFF: schulentwicklung.at: Volker Schönwiese: Warum auf schulische Integration/Inklusion nicht verzichtet werden kann[16] Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in der Bundesrepublik Deutschland keine Neuordnung des Schulwesens wie in den skandinavischen Ländern, sondern der Wiederaufbau geschah restaurativ: Die noch bestehenden allgemeinen Schulen und Sonderschulen setzten ihre Arbeit fort: Dies, obwohl im Dritten Reich der Besuch einer Hilfsschule ein Todesurteil gewesen sein konnte. Bis 1960 stand der Ausbau des allgemeinen und beruflichen Schulwesens im Mittelpunkt bildungspolitischer Tätigkeiten und Verlautbarungen. Es gab keine flächendeckende Versorgung mit Sonderschulen und manches Kind mit einer Behinderung „wurde wie selbstverständlich in die allgemeine Schule aufgenommen und mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet. Im Zusammenhang mit der Entlastung der allgemeinen Schule von behinderten Kindern setzten negative schulische Selektionsprozesse ein.“[17][18] 1960 befürwortete die Ständige Konferenz der Kultusminister in ihrem Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens die Separation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen als Rehabilitations- und Integrationshilfe: Von nun an erfolgte der massive Ausbau von Sonderschulen auch zur Entlastung der Regelschulen: Zwischen 1960 und 1973 verdoppelte sich so die Zahl der Sonderschulen, die Zahl der sie besuchenden Schüler verdreifachte sich beinahe[19], die Zahl der an Sonderschulen Unterrichtenden vervierfachte sich.[20][18] Nachdem im „Strukturplan für das Bildungswesen“ von 1970 das Sonderschulwesen bewusst ausgeklammert worden war, berief die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (DB) noch 1970 einen Fachausschuss Sonderpädagogik[21]; darauf hin wurde in den 1970er-Jahren der „Gemeinsame Unterricht“ behinderter und nicht behinderter Kinder und Jugendlicher in Deutschland infolge eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz von 1972 (Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens) sowie einer Empfehlung des Deutschen Bildungsrates von 1973 (Empfehlungen der Bildungskommission: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher) in Schulversuchen getestet. Im Bundesland Nordrhein-Westfalen wurden entsprechende Versuche in zwei Abschnitten durchgeführt: 1981 bis 1989 sowie von 1989 bis 1993 (siehe auch: Schulversuch Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I). Hierbei wurden Kinder aller Behinderungsarten gemeinsam mit so genannten „nicht behinderten“ Kindern unterrichtet. Die Versuche wurden von allen Beteiligten durchweg positiv beurteilt.[22] Den integrativen Montessori Bildungseinrichtungen der Münchener Aktion Sonnenschein und des Kinderhaus Friedenau e.V. werden eine Schlüsselfunktion für die Ausbreitung gemeinsamer Erziehung im Elementarbereich und in der Schule zugewiesen. Mit der Praxis der Münchener Integrativen Montessori-Grundschule (1970) und der Berliner Fläming-Grundschule, die 1976 die erste Integrationsklasse an einer staatlichen Schule in Deutschland errichtete, wird die bis dato in den bildungspolitischen Empfehlungen geltende Forderung „so viel Integration wie möglich und so wenig Segregation wie notwendig“ durch das „Gleichheitsrecht auf den Besuch der allgemeinen Schule“[23] und die Prämisse Integration ist unteilbar ersetzt: „Der originelle Beitrag der Integrationsprojekte in der Geschichte der Pädagogik ist, dass sie bewiesen haben, dass es möglich ist, alle SchülerInnen in der ganzen Bandbreite menschlicher Vielfalt von den Schwerstbehinderten bis hin zu den Hochbegabten gemeinsam zu unterrichten.“ – ANNEDORE PRENGEL: inklusion-online.net[18][23] „Bis Mitte der 1980er-Jahre lassen sich bundesweit 19 Integrationsschulen, in denen Kinder mit verschiedenen Behinderungen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen unterrichtet werden, ... anführen.“[18] Salamanca-Erklärung [Bearbeiten] Die Salamanca-Erklärung[24] mit der Nennung der Inklusion[25] als wichtigstes Ziel der internationalen Bildungspolitik und in der Folge ein erster internationaler Rahmen für deren Umsetzung war das Hauptergebnis der UNESCO-Konferenz Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität, welche vom 7. bis 10. Juni 1994 in Salamanca (ESP) stattfand: „Das Leitprinzip, das diesem Rahmen zugrunde liegt, besagt, dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten.“ Schon hier wird im englischen Originaltext wiederholt der Begriff inclusive verwendet, in der deutschen Version ist dies jeweils mit integrativ o. ä. wiedergegeben. Das englische Wort participate 4 wird mit Teilhabe übersetzt, kann ebenso gut jedoch das eher Aktivität beschreibende Teilnahme bedeuten. [26][27] UN-Behindertenrechtskonvention [Bearbeiten] In der 2006 beschlossenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten ein inclusive education system (engl., dt. inklusives Bildungssystem) zu errichten, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist. Deutschland, Liechtenstein, Österreich und die Schweiz hatten fast ohne die Beteiligung von Betroffenen und deren Verbänden eine deutsche Übersetzung der Konvention abgestimmt. Alle Bemühungen entsprechender Organisationen in diesen Staaten zur Beseitigung von erkannten groben Fehlern scheiterten. So wurde z. B. der im Original der Konvention verwendete englische Begriff Inclusion irreführend mit Integration übersetzt. Dies führte zu einer so genannten Schattenübersetzung unter Einbeziehung der Betroffenen, die der Originalfassung näher kommt als die offizielle deutsche Übersetzung.[28][29] 1. Weltbericht zur Behinderung [Bearbeiten] Im Juni 2011 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Weltbank den 1. weltumfassenden Bericht zur Behinderung, World report on disability.[30] Eine seiner zentralen Forderungen ist es, Inklusion vor allem im Bereich der Bildung in nachhaltige Konzepte einzubetten.[31] „Bildung sei auch der Schlüssel zum ersten Arbeitsmarkt, so der Bericht weiter, der für Menschen mit Behinderung durch Vorurteile und Ignoranz, mangelnde Bereitstellung von Dienstleistungen sowie berufliche Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten jedoch weitgehend verschlossen bliebe.“ – aktion-mensch.de[32] Die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in allgemeinen Schulen ist in vielen Ländern verbreitet und gesetzlich reguliert; sie setzt sich auch in Deutschland zunehmend durch. Die Umsetzung inklusiver Ideen und Praktiken ist nicht nur für die Sonderpädagogik, sondern auch für die Allgemeine (Schul-)Pädagogik mit erheblichen Herausforderungen verbunden.[33] Häufig wird sie als ein weiteres Modell für die Integration von Schülern mit Behinderungen in den gemeinsamen Unterricht betrachtet. Das deutsche Bildungssystem ist im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass Schüler nach Klasse 4 oder Klasse 6 verschiedenen Schulen zugewiesen werden. Schüler werden nach der Grundschule beurteilt und wurden früher eingeteilt in Haupt-, Realschule und Gymnasium. In vielen Ländern Deutschlands gibt es allerdings die Hauptschule als eigenständige Schulform nicht (mehr), und vielerorts besteht die Möglichkeit zum Besuch einer Gesamtschule, wodurch der Selektionsdruck bereits teilweise gemindert wurde. Schüler, die den Anforderungen der Grundschule bzw. der Hauptschule nicht entsprechen können, werden auch heute noch (je nach Art ihrer „Behinderung“) in eine Sonderschule bzw. Förderschule verwiesen. Vertreter der inklusiven Pädagogik kritisieren diese Praxis. Sie fordern, dass kein Schüler mehr als „andersartig“ angesehen werden dürfe. Eine Klasse bilde eine Einheit vieler unterschiedlicher Schüler, von denen jeder in irgendeinem Bereich förderbedürftig sei. Jeder Schüler sei ein besonderer Fall, und deshalb würden Sonderschulen eigentlich überflüssig. Die Sonderpädagogik müsse der „normalen“ Pädagogik gleichgestellt werden: beide Wissenschaften bildeten eine Einheit. „Eine Schule für alle“ müsse flächendeckend das gegliederte Schulwesen ersetzen; sie müsse jeden individuell fördern und seine Interessen beachten. Die erforderliche Infrastruktur müsse bereitgestellt werden. Dies soll zu mehr Chancengleichheit, Gleichberechtigung und vor allem zu einem hohen Bildungsstandard führen.[34] Ein Rechtsgutachten des Völkerrechtlers Eibe Riedel kommt Anfang 2010 zu dem Schluss, dass Kinder mit Behinderungen nur in Ausnahmefällen vom Besuch einer Regelschule abgehalten werden dürfen und gesteht ihnen ein Recht auf den Besuch einer allgemeinen wohnortnahen Schule zu.[35] Nach Auffassung des Deutschen Instituts für Menschenrechte ist durch die Unterschrift der Bundesrepublik Deutschland unter die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit von Staatsorganen, sich auf einen „Ressourcenvorbehalt“ zu berufen, hinfällig geworden: Das Argument, für die Umsetzung des Inklusionsprinzips stehe nicht genug Geld zur Verfügung, dürfe also nicht mehr gegen Antragsteller ins Feld geführt werden.[36] Auch Gymnasien seien verpflichtet, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen aufzunehmen.[37] Demgegenüber verweist Hans Wocken auf die (von ihm abgelehnte) Möglichkeit, dass Schulträger dem Recht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen auf den Besuch einer „allgemeinen 5 Schule“ durchaus dadurch nachkommen könnten, dass sie diesen den Besuch einer Hauptschule ermöglichen, was zu einer Fusion von Haupt- und Förderschulen zu einer „Restschule der Nation“ führe.[38] Gesellschaftliche Rezeption [Bearbeiten] Das Ziel, Homogenität in den zu unterrichtenden Klassen zu erreichen, gilt Verfechtern der Inklusion als unerreichbar, als Chancengleichheit verhindernd und pädagogisch wenig effizient.[39] Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kam im September 2009 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland lediglich 20 % der Kinder mit besonderem Förderbedarf einen gemeinsamen Unterricht besuchen.[40] In Ländern wie Italien, Norwegen oder Dänemark gibt es dagegen seit Jahren nur noch wenige Spezialschulen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Fast 100 Prozent der Kinder mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen gehen in diesen Ländern in eine gemeinsame Schule mit anderen Kindern (wenngleich auch nicht immer in dieselbe Klasse). Neuere Projekte in Deutschland verfolgen ebenfalls sowohl jahrgangsübergreifende wie auch inklusive (im Sinne von Interessenverbänden von und für Menschen mit Behinderungen) Ansätze[41][42]; dazu gehört vor allem die neue Schulform Gemeinschaftsschule. In einer Umfrage zur „Gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland“ des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bezeichneten im Mai 2011 51 % der Befragten die Verwirklichung der gemeinsamen Erziehung und Bildung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher in Deutschland mit weniger bzw. gar nicht gut.[43] Praktische Umsetzung [Bearbeiten] Nach Auffassung der Inklusionsbefürworter kann jeder Schüler jederzeit (ständig oder auch nur vorübergehend) und aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten beim Lernen haben; es sei allerdings Aufgabe der Schule und des Lehrpersonals, die entsprechenden Hilfen und Mittel zum Ausgleich bereitzustellen.[44]. In vielen Fällen könne die Intervention von Sonderpädagogen oder anderer Spezialisten in der direkten Arbeit mit den so genannten normalen Schülern oder als Beratung für die Lehrkräfte für den Regelschulunterricht sinnvoll sein. Aber auch diese Hilfeleistungen zur Befriedigung besonderer Bedürfnisse müssten ohne jegliche Aussonderung stattfinden. Eine Grundidee der Inklusion ist, dass herkömmliche Pädagogen im Prinzip alle Kinder unterrichten können. Das Schulsystem wird aufgefordert, die Mittel, die es in die „Exklusion“ investiert, für die Inklusion zur Verfügung zu stellen; dies sollte auch Fortbildungsmaßnahmen für die Pädagogen einschließen. Die Verwirklichung umfassender Inklusion bedeutet zunächst eine tief greifende Reform des Schulsystem: sie setzt nicht nur die Akzeptanz des Anderseins als moralisches Prinzip voraus, sondern auch die mutige Abschaffung der im gegenwärtigen System allgemein vorhandenen Barrieren, welche eine Inklusion erschweren oder unmöglich machen, darunter auch mangelnde, nicht vorhandene oder nicht optimal eingesetzte Ressourcen. Ein mögliches Modell, das in vielen Ländern erfolgreich funktioniert, ist dabei die Gründung von so genannten Ressourcen-Zentren für die Vielfalt. Es handelt sich hierbei um Teams von speziell ausgebildeten Pädagogen, Psychologen, Ergotherapeuten, Logopäden, Heilpädagogen usw., aber auch um spezielle didaktische Materialien, Hilfsmittel, Literatur usw., die als Unterstützung für die Inklusion bereichsweise als zusätzliche Ressourcen für die Schulen zur Verfügung gestellt werden. Dabei gilt aber das Prinzip, dass die Experten zu allen Kindern in ihrer normalen schulischen Umgebung kommen, mit dem Ziel, die Pädagogik zur Bewältigung der (sowieso) vorhandenen Heterogenität zu unterstützen. Bei einer solchen Organisation des Lehrplans müssen sich die Schüler den Stoff selbst aneignen und mehr eigene Verantwortung für ihre Lernerfolge übernehmen, wofür ihnen eine Vielzahl von Medien zur Verfügung gestellt wird. Der Lehrer lehrt dabei nicht mehr vor allem selbst: er muss Verantwortung abgeben und gibt dem Schüler eher Hilfestellung sowie steht für Beratung und Planung zur Verfügung; diese Hilfestellungen sind jeweils an die individuellen Bedürfnisse der Schüler angepasst; da die Schüler das so genannte selbst erschließende Lernen möglichst frühzeitig erlernen müssen, werden in den Ländern, in welchen die inklusive Pädagogik bereits umgesetzt ist, die besten und fähigsten Pädagogen vorzugsweise in den Vor- und Grundschulen eingesetzt. Der Unterricht wird handlungsorientierter und offener. Mit Hilfe ausführlicher Fragenkataloge können Kindertageseinrichtungen[45] sowie Schulen[46], außerdem Kommunen[47] ihren Stand auf dem Weg zur Inklusion bewerten sowie vielfältige Impulse gewinnen. 6 Im deutschen Bundesland Baden-Württemberg werden ab dem Schuljahr 2012/ 2013 ca. 40 so genannte Starterschulen als modellhafte Gemeinschaftsschulen mit inklusivem Bildungsangebot eingerichtet.[48] Voraussetzungen [Bearbeiten] „In einer Schule, die sich der Inklusion verpflichtet sieht, werden Lehrer und Fachpersonal größten Wert darauf legen, jeden Schüler als Persönlichkeit zu sehen.“ – mittendrin e.V. (Hrsg.): Eine Schule für Alle - Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe.[49] Inklusion ist ein Thema für alle Schulformen; sie ist nicht auf einzelne, unter Umständen bereits belastete oder auch wegbrechende Schulen wie Hauptschulen zu konzentrieren oder zu beschränken.[50][51] Viele Methoden und Konzepte der modernen Pädagogik, wie die Organisation der Schule in altersgemischten Gruppen anstelle der Bildung herkömmlicher Klassen, die Gruppenarbeit an fächerübergreifenden Themen oder neuartige räumliche Gestaltungsmöglichkeiten dienen der Umsetzung des Grundgedankens der Inklusion viel besser als traditionelle didaktische Methoden; althergebrachte institutionelle Vorgaben wie Selektion anhand von Leistungsorientierung und bewertung stehen mehr oder weniger im Gegensatz zu den Zielen der Inklusion, der Orientierung an Möglichkeiten.[51] Eine mögliche Form der Umsetzung wäre beispielsweise die Einrichtung eines „Matheraumes“, eines „Geografieraumes“, eines „Informationsraumes“. In diesen Räumen kann es wiederum verschiedene Bereiche geben: eine „Bücherecke“, eine „Computerecke“, eine „Lese- und Schreibecke“ usw. Die Schüler können ihren Aufenthalt in den Räumen weitgehend selbst planen und bestimmen. Ein fragend-entwickelnder Frontalunterricht, wie er an deutschen Schulen bislang weitgehend üblich ist, findet hier keine Anwendung. Die Umsetzung von Inklusion setzt einen gezielten und gewollten Umgang mit der Vielfalt voraus, legt dabei großen Wert auf die Unterschiedlichkeit in der Bildung und verzichtet auf das Prinzip der Homogenität. Deswegen erfordert die inklusive Schule keine bestimmten einzelnen Methoden oder Konzepte für ihre Umsetzung: vielmehr benötigt die Inklusion eine weitgehend flexible, zieldifferenzierte Anwendung unterschiedlicher Unterrichtsmethoden und organisatorischer Vorschläge, um die Bedürfnisse aller Schüler befriedigen zu können. Nach Rolf Werning sind wichtige Fragestellungen für eine erfolgreiche Umsetzung inklusiver Pädagogik[50] die Formulierung genauer gemeinsamer Ziele in Lehrerkollegien[52] die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses von Inklusion und das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe der betroffenen und ausführenden Pädagogen die Schaffung sich gegenseitig unterstützender Strukturen im Sinne von Lehrgruppenunterricht („Teamteaching“) die Schaffung einer Atmosphäre, in der sich alle Schüler willkommen fühlen besondere, individuelle Förderung als etwas grundsätzlich Normales im Regelunterricht zu begreifen ein besonderes Augenmerk auf das soziale Miteinander in (und auch außerhalb) von Unterrichtsgruppen Ganz allgemein wird vor Allem eine entsprechende Anpassung der Lehrerausbildung als entscheidend für die Erlangung positiver Ergebnisse angesehen. Darüber hinaus wird die Steuerung durch Politik und Verwaltung anstelle eines freien Spiels der Kräfte vor Ort als notwendig erachtet ebenso wie umfassende Unterstützungsleistungen; zur bestmöglichen Förderung aller Schüler ist eine substantielle Umorientierung notwendig: Klemm und Preuss-Lausitz empfehlen, „wenn sie „auf dem Weg zu Inklusion“ als Teil einer Implementationsstrategie eine systematische Überprüfung aller Verordnungen unter Inklusionsgesichtspunkten empfehlen: Die derzeit noch unterschiedlichen Unterrichtsvorgaben für zielgleich und zieldifferent lernende Schülerinnen und Schüler sollten für den Gemeinsamen Unterricht so zusammengeführt werden, „dass einerseits die allgemeinen (Mindest-) Lernziele, andererseits die davon abweichenden individuellen Lernziele“ ermöglicht werden. Sie empfehlen, die undifferenzierte, starre Leistungsbewertung mit sechs Ziffernzensuren durch eine kompetenzorientierte Bewertung in Verbindung mit der Information über die individuelle Lernentwicklung zu ersetzen. Portfolios sollten als Grundlage für Entwicklungsgespräche und Förderpläne dienen und Selbstbewertungen ermöglichen. Als unvereinbar mit dem Ziel der Inklusion sind aus ihrer Sicht Rückstellungen, Klassenwiederholungen und Abschulungen.“ 7 – KLAUS KLEMM, ULF PREUSS-LAUSITZ: [51][53] Vorteile [Bearbeiten] Laut der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben Staaten mit einem inklusiven Schulsystem eine durchschnittlich 20 bis 30 % höhere Leseleistung als solche mit exklusiven Schulsystemen.[54] Effizienz, Nachhaltigkeit [Bearbeiten] Ausgliederung versus (Wieder)eingliederung [Bearbeiten] Während Kinder (bisher) mit beträchtlichem Aufwand für ihre Schulbildung segregiert wurden, um eine vermeintlich möglichst optimale Förderung zu erzielen, wird anschließend ein ebenfalls hoher Aufwand betrieben, um sie wieder in Gesellschaft und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einzugliedern, allerdings mit zweifelhaftem Erfolg.[55] Bildungskosten [Bearbeiten] Die Bertelsmann Stiftung geht in einer Studie allgemein davon aus, dass sich für Deutschland bis zum Jahr 2090 bei unzureichenden Bildungsreformen Folgekosten in Billionenhöhe ergeben.[56] „In Deutschland werden 400.000 Schülerinnen und Schüler an Förderschulen unterrichtet. Dafür geben die Bundesländer Jahr für Jahr 2,6 Milliarden Euro zusätzlich ... aus. ... auf den ersten Blick scheint dies wenig aufsehenerregend: Kinder und Jugendliche bekommen in Förderschulen eigens auf ihren Bedarf zugeschnittenen Unterricht. ... – das klingt nach sinnvollen Investitionen. ... dass internationale und nationale Studien zumindest für den Förderschwerpunkt Lernen das Gegenteil belegen: Die Leistungen von Förderschülerinnen und -schülern entwickeln sich demnach ungünstiger, je länger sie auf der Förderschule sind. In Deutschland schafft nur ein Bruchteil der Förderschülerinnen und -schüler den Sprung zurück auf eine allgemeine Schule. Im Ergebnis machen am Ende der Pflichtschulzeit 77,2 Prozent von ihnen keinen Hauptschulabschluss. Kinder mit besonderem Förderbedarf, die im Gegensatz dazu im Gemeinsamen Unterricht mit Kindern ohne Förderbedarf lernen und leben, machen im Vergleich deutlich bessere Lern- und Entwicklungsfortschritte. Zudem profitieren auch die Kinder ohne Förderbedarf vom Gemeinsamen Unterricht, indem sie höhere soziale Kompetenzen entwickeln, während sich ihre fachbezogenen Schulleistungen nicht von den Leistungen der Schülerinnen und Schüler in anderen Klassen unterscheiden. ... Klar ist: Im internationalen Vergleich beschreitet Deutschland mit seinem hoch differenzierten Förderschulsystem einen Sonderweg. ... Die Ergebnisse nationaler wie internationaler Studien stehen im deutlichen Widerspruch zu dieser pädagogischen Praxis.“ – KLAUS KLEMM: Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven - Eine Studie zu den Ausgaben und zur Wirksamkeit von Förderschulen in Deutschland[57] Die inklusive Bildung gehörloser und manchmal auch schwerhöriger Kinder kann sehr aufwändig sein, da sie auf visuelle Kommunikation via Gebärdensprache angewiesen sind und wegen verzögerter Sprachentwicklung unter Umständen Bildungsdefizite aufweisen und sonderpädagogische Hilfe benötigen. Wenn ein gehörloses Kind in einer Klasse einzeln beschult wird, benötigt es mindestens zwei Gebärdensprache-Dolmetscher und einen Zweitlehrer, der ebenfalls gebärdensprachkompetent ist und die Kenntnisrückstände sonderpädagogisch ausgleichen kann. Ökonomischer wäre es, gleichzeitig mehrere gehörlose Kinder in einem Klassenverband zu beschulen. Eine Studie in Kanada wies nach, dass „der Ausschluss von behinderten Menschen vom Arbeitsmarkt das potentielle Bruttoinlandsprodukt um 7,7 % (...) mindert. ... Die Abbildung zeigt die durchschnittlich entgangene Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Die Graphik zeigt, dass geschätzte 35,8 % der weltweit wegen Exklusion von behinderten Menschen entstehenden verringerten Wirtschaftsleistung Europa und Zentralasien betreffen, gefolgt von Nordamerika mit 29,1 % und Ostasien und dem pazifischen Raum mit 15,6 %. Auf die anderen Weltregionen entfallen jeweils weniger als 10 % der weltweiten Verringerung der Wirtschaftsleistung.“ – R. Hals, R. C. Ficke. 1991. Digest of Data on Persons with Disabilities, Washington, DC, US Department of Education, National Institute on Disability; C. Ficke. 1992. Digest of Data on Persons with Disabilities, Washington: US Department of Education, National Institute on Disability and Rehabilitation Research.[58] Berufsbildung [Bearbeiten] „... Junge Erwachsene mit Sonderklassen-Vergangenheit haben in der Regel nur Zugang zu Berufen mit sehr tiefem Anspruchsniveau oder bleiben häufig arbeitslos. Für vergleichbare junge Erwachsene, die jedoch keine Sonderklasse besucht haben, sieht die Berufsperspektive deutlich 8 besser aus. Selbst drei Jahre nach der Schulzeit hat rund ein Viertel der ehemaligen Sonderklassenschülerinnen und -schüler keinen beruflichen Zugang gefunden. Für junge Erwachsene ohne Sonderklassenvergangenheit, aber mit vergleichbarer Schulschwäche, ist diese Gefahr etwa vier Mal kleiner. Sie haben sogar gewisse Chancen auf einen Ausbildungszugang im mittleren oder höheren Segment. Dies ist für ehemalige Sonderklassenschülerinnen und schüler kaum je der Fall. Während des Übergangs in die Berufsausbildung brechen sie häufig mehrere berufliche Einstiegsversuche ab.“ – URS HAEBERLIN: Sonderklassenvergangenheit erschwert Berufsbildung[59][60] Hirnentwicklung, Intelligenz [Bearbeiten] Gegen eine (vorzeitige) Separierung und Segregation von Lerngruppen spricht auch die Erkenntnis, dass sich der jeweilige Intelligenzquotient (IQ) im Verlauf der Entwicklung von Jugendlichen ändern kann.[61] Der populäre Hirnforscher Gerald Hüther betrachtet auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse über die „soziale Konzentration“ des menschlichen Gehirns soziale Erfahrungen als entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Hirnentwicklung: „Die entscheidenden Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche dazu bringen, ihr Gehirn auf eine bestimmte Weise zu nutzen und damit auch zu strukturieren, sind psychosozialer Natur, also Beziehungserfahrungen.“ – GERALD HÜTHER[62] Prävention [Bearbeiten] Allgemein wird mehr und bessere Bildung präventiv im Bezug auf Gewalt- und Kostenentstehung angesehen.[63][64] „... Du hältst es einfach nicht mehr aus. Darum bringst du 15 Leute um. Du denkst, dein Leben ist vorbei. Das war bei allen Arbeitsplatzmassakern so. Die Leute glaubten, dass ihr Leben zerstört wurde: von ihrem Arbeitsplatz und von der Kultur, die das ermöglicht hat. Bei den Schulkindern ist das genauso. Es ist ja ein Riesenschritt, jemanden umzubringen, selbst wenn du 15 bist und die Hormone spielen verrückt. Bevor man so etwas tut, muss man wirklich an den Abgrund gedrängt worden sein. Oder man ist verrückt. Aber diese Kids und auch die Erwachsenen Amokläufer - die sind nicht verrückt. Der Secret Service und das FBI haben das lange untersucht. Es gibt kein Profil. Es kann jeder sein, der kein Gewinner ist, jeder, der ausgegrenzt wird. ...“ – MARK AMES: Amoklauf als Zeichen der Rebellion[65] Ausgegrenzt zu werden bzw. sich als ausgegrenzt zu erleben, sich ausgegrenzt zu fühlen, birgt großes Aggressions- und Gewaltpotential. Studien zum Zusammenhang zwischen der Ausübung muslimischen Glaubens und dem Auftreten von Gewalt unter Jugendlichen weisen z. Bsp. nach, dass eine erhöhte Gewaltbereitschaft sich hier nicht aus dem praktizierten Glauben, sondern neben der Nachahmung von männlichen Rollenbildern („Macho“) vor allem aus einem Gefühl des Ausgegrenztseins und erlebter Diskriminierung der Menschen mit Migrationshintergrund speist.[66][67][68] In diesem Zusammenhang ist auch die Toleranzerziehung ab dem frühen Kindesalter als Prävention vor (Rechts)extremismus zu nennen.[69] „... Schulische Integrationserfahrungen tragen zu wohlwollenden Einstellungen gegenüber Ausländerinnen und Ausländern bei. Wenn jedoch positive Integrationserlebnisse während der Schulzeit fehlen, ist mit eher ausländerfeindlichen Einstellungen im jungen Erwachsenenalter zu rechnen. ...“ – URS HAEBERLIN: Positive Auswirkungen von Integrationserfahrungen in der Schulzeit[59][60] Damit kann Inklusion auch einen Beitrag zur Verhinderung von Deprivation leisten. Selbstwertgefühl [Bearbeiten] Neueren Erkenntnissen zufolge ist nicht nur der Intellekt, sondern auch ein möglichst positives Selbstwertgefühl entscheidend für einen guten Lernerfolg: beides kann sowohl durch positive, vertiefende Erfahrungen bei der Unterstützung anderer (Vorbildfunktion, Tutorsystem) wie durch gleichberechtigte Partizipation an einer gemischten Gruppe (Peereffekt, Positive Peer Culture) gehoben und gestärkt werden.[50] „… Die Studie zeigt zudem, dass der Selbstwert der jungen Erwachsenen aus Sonderklassen tiefer ist als bei vergleichbar schwachen ehemaligen Regelklassenschülerinnen und -schülern. Sie 9 verfügen über bedeutend kleinere Beziehungsnetze als vergleichbare junge Erwachsene aus Regelklassen. …“ – URS HAEBERLIN: Abgänger aus Sonderklassen beim Berufseintritt benachteiligt[59][60] Kritik [Bearbeiten] In den USA hat sich das Konzept durchgesetzt, dass jedes Kind am individuell geeignetsten Lernort gebildet werden solle und dass dies auch eine Spezialschule oder -klasse sein könne[70]; darüber hinaus beklagten in amerikanischen Studien gehörlose Schüler und Schüler mit oder ohne Lernbehinderungen, dass sie an einer gemeinsamen Schule nicht immer gute Erfahrungen machen würden[71][72]. Die Auswirkungen des Besuchs einer gemeinsamen Schule für die einzelnen Schüler sind nur wenig untersucht worden. Studien haben das Ergebnis, dass der schulische Erfolg von Kindern mit Lernbehinderung in einer Spezialschule etwas besser sei[70], Schüler mit emotionalen Schwierigkeiten in der gemeinsamen Schule eine höhere Abbrecherquote hatten[70] und Kinder mit schweren Lernbehinderungen (severe intellectual disabilities, in Deutschland mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung transkribiert) in der gemeinsamen Schule sich besser sozial entwickelten.[70] Schwerhörige Kinder haben in der gemeinsamen Schule etwas bessere Lernerfolge.[70] Den größten Gewinn des Besuchs einer gemeinsamen Schule hätten demnach Kinder mit so genannten leichten Lernschwierigkeiten.[70] Nach Dederich führt der Besuch einer gemeinsamen Schule zu einer stärkeren Betonung der Unterschiede der zu Inkludierenden und mithin zu einer Ausdifferenzierung eines Sonder- und Subsystems. So entstünden in der gemeinsamen Schule Exklusionsbereiche und es komme letztlich nur zu einer Simulation von Inklusion. Solche Systeme - so seine These - strapazierten die zu Inkludierenden mehr und führten zu einer größeren Exklusionsdrift und Stigmatisierung.[73] In Deutschland stößt die Inklusion auf Widerstand von Seiten derjenigen, die vermuten, dass damit auch die „Schulstrukturfrage“, d. h. die Frage nach dem gegliederten Schulsystem neu gestellt und zugunsten der Gemeinschaftsschule beantwortet werden soll. Die Forderung nach einer Schule für alle wird z. B. von Seiten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Zusammenhang mit der Inklusionsproblematik offen gestellt.[74] Das Deutsche Institut für Menschenrechte betont dagegen, dass die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen für die Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems nicht mit der Einführung eines eingliedrigen Schulsystems gleichgestellt werden sollte.[75] Auch befürchtet man in Deutschland, dass durch die Abschaffung der Förderschule bisherige Möglichkeiten der Förderung aufgegeben werden, ohne dass das Regelschulsystem genug finanzielle und zeitliche Ressourcen bekommt, um behinderten Schülerinnen und Schülern eine angemessene Lernumgebung zu bieten[76]. Gleichzeitig werde dadurch das Recht der Behinderten bzw. ihrer Eltern, eine passende Schule für sich zu wählen, eingeschränkt. Diese Gefahr deutet sich in den Eckpunkten der Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems an. Sie schlagen die „Umwandlung der Förderschulen in Kompetenzzentren hin zu „Schulen ohne Schüler“ vor[77] und sehen darüber hinaus das Elternwahlrecht nicht in Einklang mit dem Gebot der Inklusion, sollte sich herausstellen, dass dieses Wahlrecht „das Sonderschulwesen stärkt“[78] Dagegen setzt sich der Verband der Sonderpädagogik (unterstützt auch von Elternvereinen) unter dem Stichpunkt „sowohl-als auch“ für die Beibehaltung der Sonderschule als zusätzliches Angebot in einem weiterhin gegliederten Schulsystem ein.[79] Nach einer Studie in Nordrhein-Westfalen aus 2011 stehen rund 70 % der Förderschul- sowie 80 % der Regelschullehrer dem gemeinsamen Unterricht sehr skeptisch gegenüber. [80] Problematisch sei zudem der Umstand, dass Inklusion breit eingeführt werden soll, ohne dass eine fundierte Prüfung der Effekte vorgenommen worden sei. Entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen im Rahmen begleiteter Versuche sollten Voraussetzung sein, um die Durchführbarkeit zu prüfen und eventuell Methoden anzupassen oder zu verwerfen.[81] Siehe auch [Bearbeiten] Ableism Alternativschule, Gemeinschaftsschule, Gesamtschule, Förderschule, Spezialschule Barrierefreies Internet Behinderung, Disability Mainstreaming bidok Entdeckendes Lernen 10 Independent living Inklusion (Soziologie) Geistigbehindertenpädagogik, Sonderpädagogik, Sonderpädagogische Fachrichtungen, Sonderpädagogik im Nationalsozialismus UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Veröffentlichungen [Bearbeiten] Hörfunk, Vortrag [Bearbeiten] Wibke Bergemann, Isabel Fannrich: Eine Schule für alle - Neue Wege zur Inklusion in: dradio.de, Deutschlandfunk, Hintergrund, 20. 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