Manuskript: Das Meer weitet Auge und Seele

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Menschen und Landschaften 27.03.2005
,,Das Meer weitet Auge und Seele‘‘
Die Halbinsel Gaspé im Osten Kanadas
Von Miriam Freudig
ATMO
Brise Bise
O-TON Claudine
Quand on a pensé au nom il y a seize ans passés, pour moi,
la brise et la bise, le vent du nord et le vent du sud, et puis
C’est ça le brise-bise et ici on est confrontés souvent aux
éléments de la température, dans une journée il fait chaud, il
peut faire très froid, alors c’est ça le brise-bise, c’est cette
chaleur, ça fait partie des éléments de notre nature ça.
SPRECHERIN 1
Als wir uns vor sechzehn Jahren einen Namen
ausdachten, kamen wir auf Brise Bise, Brise wie der
Wind des Südens, Bise wie der Wind des Nordens oder
auch der Kuss.
Hier ist man oft großen Temperaturschwankungen
ausgesetzt. An einem Tag kann es erst sehr warm und
dann wieder sehr kalt sein, so ist die Natur hier, wie der
Name Brise Bise.
MUSIK
John Cage, Etudes Boréales I ,,Works for Cello''
SPRECHER 2
Am besagten sechzehnten Tag, einem Donnerstag,
wurde der Wind so stark, dass eines unserer Schiffe
seinen Anker verlor. Wir fuhren sieben oder acht Meilen
flussaufwärts in einen sicheren Hafen, den wir mit
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unseren Booten ausgekundschaftet hatten. Wegen des
schlechten Wetters mussten wir dort bis zum 25. Tag
desselben Monats ausharren. In dieser Zeit begegneten
wir einer großen Zahl Wilder, die zu diesem Fluss
gekommen waren, um Makrelen zu fischen.
ERZÄHLERIN
Im Juli 1534 erreichte der Seefahrer Jacques Cartier
die Bucht von Gaspé. Im April war er mit 61 Männern
und zwei Schiffen vom bretonischen Saint Malo
losgefahren. In 20 Tagen überquerte er den Atlantik.
Dann fuhr er an Neufundland und weiter südlich an
Prince Edward Island vorbei bis zur Südküste der
Halbinsel Gaspé. In der Sprache der Ureinwohner, die
Cartier als Wilde bezeichnet hatte, bedeutet Gaspé
„das Ende der Welt‘‘. Die Halbinsel erstreckt sich über
300 Kilometer im Golf des Sankt Lorenz Stroms. In der
Bucht von Gaspé ging Jacques Cartier mit seinen
Leuten an Land, stellte ein Holzkreuz auf und besetzte
Kanada im Namen des französischen Königs. Eine
Kopie des Kreuzes steht heute vor dem Museum an der
Ausfallstraße der Stadt Gaspé.
ATMO
Straße
ERZÄHLERIN
Die Uferpromenade, die vom Museum in den Ort führt,
endet abrupt an einer Brücke. Ein paar Stufen führen
hinauf zur Hauptstraße. Sie ist so gut ausgebaut, als
müsse sie täglich den Verkehr einer
nordamerikanischen Industriestadt verkraften. Wie der
viel zu große Parkplatz, dem der alte Hafen weichen
musste. Ich gehe die Treppe zur Einkaufsstraße hinauf,
ein paar Stufen nur, und höre leise Musik aus dem
Bistro Brise Bise, das seine Inhaberin Claudine nach
dem Wind des Südens und dem Wind des Nordens
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benannt hat.
ATMO
Brise Bise, darüber O-TON
O-TON Claudine
Etant donné qu’on est loin, on est loin des grand centres, on
est une petite population. Parce qu’en plein mois de janvier,
quand il fait une grosse tempête dehors, une grosse tempête
de neige on est toujours heureux d’être une vingtaine dans
le brise - bise, puis d’avoir cette chaleur humaine. Moi je ne
suis pas une créatrice, je suis pas une artiste, je suis pas
quelqu’un qui chante, qui peint, mais j’adore les créateurs.
Je suis vraiment une passionnée de ce que les gens
peuvent faire au niveau de la création, alors de leur
permettre d’avoir un endroit où on peut exposer librement,
où on peut venir chanter où on peut s’exprimer en tant
qu’artiste, je trouve ça terriblement important, dans des
petits milieux d’avoir des endroits comme ça. Et puis le
brise-bise c’est une tribune pour les gens d’ici et d’ailleurs.
SPRECHERIN 1
Wir leben weit entfernt von den großen Städten, und wir
sind eine kleine Gemeinde. Im Januar, wenn draußen
der Schneesturm tobt, sind wir glücklich, wenn im Brise
Bise zwanzig Leute zusammenkommen und diese
menschliche Wärme spüren. Ich bin keine Künstlerin,
ich singe nicht, ich male nicht, aber ich liebe die
Künstler. Ich kann mich sehr für das begeistern, was
Menschen schaffen. Deshalb finde ich es so wichtig, in
einer kleinen Stadt einen Ort zu haben, an dem sie
ausstellen, singen, sich als Künstler ausdrücken
können. Das Brise Bise ist ein solcher Ort, für die
Künstler von hier wie von anderswo.
ATMO
Probe der Moules Marinières
ERZÄHLERIN
Auf der kleinen Bühne im unteren Geschoss des Brise
Bise üben die ,,Moules Marinières‘‘, die Miesmuscheln,
für ihren Auftritt am Abend. Sie singen alte
Seemannslieder, mal auf Englisch, mal auf
Französisch. Bruce O’Connor ist der Gitarrist der Band.
Seit sechs Generationen, erzählt er, leben die
O’Connors in Kanada. Genau so wie die
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Frankokanadier waren auch die irischen Einwanderer
katholisch und meist arm. Das verband beide
Bevölkerungsgruppen.
O-TON Bruce
Un O’Connor a marié une canadienne francaise,
probablement pas très bilingue, probablement francophone
et lui certainement n’était pas très francophone donc ça a fait
des enfants bilingues et de notre côté des O’Connor on peut
retracer des gens bilingues jusqu’à très loin là et encore
aujourd’hui nous on est bilingues, nos frères et sœurs sont
bilingues, leurs enfants, parce que moi j’ai pas d’enfants,
mais leurs aussi vont être bilingues, c‘est une des bonnes
traditions qu’on va garder dans notre famille.
SPRECHER 1
Ein O’Connor hat eine Frankokanadierin geheiratet, die
vermutlich nicht zweisprachig war. Er wiederum konnte
kein Französisch, also wurden die Kinder zweisprachig
erzogen. Bei den O’Connors kann man die
Zweisprachigkeit sehr weit zurückverfolgen. Wir sind
heute noch zweisprachig, meine Geschwister sind es
und ihre Kinder werden es auch sein. Das ist eine gute
Tradition, die wir in unserer Familie bewahren werden.
ERZÄHLERIN
Bruce hat Sozialwissenschaften studiert und arbeitet in
einer physiotherapeutischen Klinik. In seiner Freizeit
macht er Musik. Bruce gefällt es in der Gaspésie. Vor
elf Jahren hat es ihn hierher verschlagen. Beim
Betrachten der Landkarte war sein Blick immer wieder
auf diesem Fleck hängen geblieben, erzählt er. Irgend
etwas hatte ihn angezogen, obwohl er damals fast
nichts über die Gegend und die Menschen wusste.
O-TON Bruce
Je les perçois comme étant des gens assez colorés dans
leur regard sur la vie ici et la vie ailleurs, je pense qu’ils ont
pas peur de prendre des risques, ils ont pas peur d’affronter
des choses plus grosses qu’elles ou des grands défis, c’est
des gens qui ont vu les 56 misères, c’est pas une région qui
est très riche ou très prospère en fait d’économie ou tout ça,
c’est pas une nouveauté ici, c’est un autre fardeau qui se
rajoute au fil des ans, qui va passer, ils sont vite à s’adapter,
ils ont toutes sortes de petits moyens à passer à travers les
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difficultés qu’une économie lente peut présenter, pour de qui
est du restant de leur vie, drôlement ils ne sont pas très
souvent de très bons nageurs pour des gens qui vivent au
bord de la mer là, je pense que c’est peut-être parce que la
mer était source de travail, et pas source de loisir, ça fait pas
longtemps qu’elle est vue comme loisir au lieu de travail.
SPRECHER 1
Die Leute sind nicht festgelegt in der Art und Weise, wie
sie das Leben hier oder woanders betrachten. Sie
fürchten sich nicht davor, ein Risiko einzugehen, sich
auf etwas einzulassen, das größer ist als sie selbst. Sie
haben schlechte Zeiten erlebt. Die Gegend ist nicht
sehr reich. Der Wirtschaft geht es nicht gut, das ist
nichts Neues, für die Menschen hier ist das einfach eine
weitere Bürde. Doch sie können sich schnell anpassen.
Was andere Seiten ihres Lebens betrifft,
komischerweise können sie für Menschen, die am Meer
leben, nicht gut schwimmen. Vielleicht liegt es daran,
dass das Meer immer als Quell der Arbeit und nicht des
Vergnügens betrachtet wurde. Das hat sich erst vor
kurzem geändert.
ATMO
Straße
ERZÄHLERIN
Draußen dämmert es inzwischen. Auf dem großen
Parkplatz leuchtet die gelbe Reklame eines
Schnellrestaurants, auf der anderen Seite der Bucht
sieht man die Lichter der Häuser. Gaspé ist eine eher
hässliche Kleinstadt im Vergleich zu den Orten entlang
der Klippenküste mit ihren weißen, gelben und blauen
Häusern unter roten Dächern und den bunten
Fischerbooten, die träge im Hafen liegen.
MUSIK
Hans Otte ,,Das Buch der Klänge''
ERZÄHLERIN
Eine Brücke verbindet die beiden Ufer der Bucht.
Früher, als der Parkplatz noch ein Hafen war, gab es
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hier nur eine Zugbrücke. Der Verkehr auf der Straße
musste sich nach dem Verkehr auf dem Wasser
richten. Erst einmal verpasse ich Claudines Haus. Ich
habe Mühe in der Dämmerung die Nummern der
Häuser am Hang zu entziffern. Ich fahre zu weit und
wende an einer weißen, schlichten Holzkirche, von
denen es viele in der Gegend gibt. Der Friedhof, direkt
daneben, ist nicht abgegrenzt. Überhaupt gibt es in der
Gaspésie kaum Zäune. Das Land ist so weit, dass
Friedhof und Wiese, Garten und Wald und die
Grundstücke einfach ineinander übergehen.
O-TON Claudine
Comme c’est très grand, c’est très vaste, tu sais que tout est
possible en fait. Quand tu viens d’un pays comme la
Gaspésie - parce que la Gaspésie c’est un pays, c’est 700
Kilomètres de territoire, c’est aussi grand que la Belgique, tu
peux exploser, c’est très vivifiant d’être dans un pays comme
ici. Je suis retournée à Paris l’automne dernier, j’ai passé
une semaine à Paris, parce qu’on se demande toujours est
ce qu’on va vivre en région ou si on retourne à la ville. Pour
nous on pense peut-être à Montréal, dans les grandes villes
intéressantes à vivre et tout ça. L‘automne dernier quand je
suis revenue de Paris, j’ai dis à Christian, je veux pas aller
vivre dans les grandes villes, je veux pas aller vivre à
Montréal non plus, on avait une maison à Montréal qu’on a
vendue cette année. Pour moi mon choix de vie est vraiment
de vivre ici maintenant.
SPRECHERIN 1
Weil es hier so groß und weit ist, weiß man, dass alles
möglich ist. Wenn du aus einem Land wie der Gaspésie
kommst, denn es ist ein Land, so groß wie Belgien,
dann könntest du zerbersten vor Energie.
Ich bin vergangenen Herbst nach Paris gegangen, eine
Woche war ich dort. Wir haben uns immer gefragt, ob
wir auf dem Land leben oder in die Stadt zurückkehren
wollen. Dabei denken wir an Montreal, an eine große
Stadt, in der zu leben interessant ist. Doch als ich aus
Paris zurückkam, sagte ich zu Christian: ich will nicht in
einer Großstadt leben, auch nicht in Montreal. Wir
hatten dort ein Haus, das haben wir verkauft. Ich habe
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beschlossen, hier zu bleiben.
ATMO
Gänse
ERZÄHLERIN
Das Holzhaus von Claudine und Christian ist gelb
angestrichen. Sie begrüßen mich so herzlich, als seien
wir schon lange befreundet. Dabei habe ich Claudine
erst einmal getroffen. Auch Clovis, der siebenjährige
Sohn der beiden, ein aufgeweckter Junge mit blonden
Haaren, scheint Besuch gewöhnt zu sein. Im Haus
duftet es nach frisch gebackenem Kuchen. Auch innen
ist alles aus Holz, die Wände im Wohnzimmer sind in
warmen Gelb-, Rot- und Orangetönen gestrichen.
Das Haus ist 120 Jahre alt, erzählt Claudine. Wie
beinahe alle schönen und alten Häuser auf der
Halbinsel Gaspé gehörte es einmal einem Engländer.
Einem, der vielleicht mit dem Export von Stockfisch viel
Geld verdient hat, wie viele seiner Landsleute.
Das Haus hat eine gute Ausstrahlung, sagt Claudine,
es ist ein gesundes Haus. Es atmet und nimmt den
Wind auf. Claudine reicht Brot mit Ziegenkäse, der auf
einem Hof nur wenige Kilometer entfernt hergestellt
wird. Vom Wohnzimmer aus hat man einen freien Blick
auf die Bucht.
O-TON Claudine
Pour moi la vie c’est grand, c’est très, très ouvert. Mon grand père qui
était pêcheur, parce que je suis une fille du bord de mer, j’ai toujours
l’horizon dans ma face à longueur de journée, mon grand-père m’a
fait comprendre un jour que la mer, quand on est une fille du bord de
mer, que la mer ça allonge le regard, ça élargit l’œil et que ça
agrandit le dedans et puis quand on part avec ça dans la vie je pense
qu’on est très, très large et peu importe ce qu‘on fait, on réalise ses
rêves.
SPRECHERIN 1
Für mich ist das Leben weit und offen. Mein Großvater
war Fischer. Ich komme vom Meer. Ich habe den
ganzen Tag lang den Horizont in meinem Blickfeld.
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Mein Großvater hat mir eines Tages erklärt: wenn man
ein Mädchen vom Meer ist, dann verlängert das Meer
den Blick, weitet das Auge und die Seele. Wenn man
damit ins Leben geht, steht einem alles offen und egal
was man tut, man verwirklicht seinen Traum.
MUSIK
Hans Otte ,,Das Buch der Klänge''
O-TON Claudine
Le choix de vivre ici, c’est qu’on vit beaucoup avec la nature. Je me
lève vers les quatre heures le matin, et puis pour moi, C‘est de voir le
lever du soleil, le calme, d’être très harmonieuse avec notre
environnement, puis aussi de prendre le temps. Souvent j’embarque
des gens sur le stop, souvent je les invite à souper à la maison, ils se
ramassent autour de la table, on ouvre une bouteille de vin, ils
couchent à la maison et ça, je tiens ça de mes parents. Mes parents
qui sont des êtres extraordinaires, c’est des gaspésiens, mon père
qui est bûcheron, ma mère elle a eu sept enfants, alors elle s’est
occupée de nous, nous a nourris, et à chaque fois qu’il y avait
quelqu’un sur le stop devant la maison, ma mère lui criait, heu vient,
vient manger, entre, vient coucher et puis moi j’ai toujours gardé cette
grande liberté de recevoir des humains chez moi.
SPRECHERIN 1
Hier ist man sehr mit der Natur verbunden. Ich stehe
gegen vier Uhr morgens auf. Ich möchte den
Sonnenaufgang sehen und die Ruhe spüren, eins sein
mit der Natur und mir Zeit nehmen. Unterwegs nehme
ich oft Leute mit, die trampen, und lade sie zu uns zum
Essen ein. Wir sitzen am Tisch und trinken eine
Flasche Wein, dann übernachten sie hier. Das habe ich
von meinen Eltern, sie sind außergewöhnliche
Menschen. Sie stammen aus der Gaspésie, mein Vater
war Holzfäller. Wie waren sieben Kinder. Meine Mutter
hat sich um uns gekümmert, uns groß gezogen, und
immer, wenn ein Tramper vor unserem Haus
auftauchte, rief sie: Komm doch herein, komm, iss mit
uns, schlaf hier! Ich habe mir diese Freiheit bewahrt,
einfach Menschen zu mir nach Hause einzuladen.
ERZÄHLERIN
Claudine wäre beinahe in Ottawa hängen geblieben,
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der über 1.000 Kilometer entfernten Hauptstadt
Kanadas. Dort hatte sie Sport studiert und ein anderes
Leben kennen gelernt. Ihren Eltern hatte sie gesagt, sie
würde nicht mehr in die Gaspésie zurückkehren.
O-TON Claudine
J‘ai failli ne pas revenir en Gaspésie, parce que quand t’es
dans une grande ville c’est très stimulant, je ne suis presque
pas revenue en région quand j’étais en ville, parce que je
suis une passionnée, une intense, je faisais beaucoup
d’escalade, j‘étais dans des équipes de compétition de ski
de fond et puis j’enseignais, j’avais développé une autre vie
la bas, et puis j’avais dit à mes parents que je ne reviendrai
pas vivre en Gaspésie mais à la fin de mon université je suis
revenue ici, j’ai pris mon vélo et je suis partie 15 jours à
Forillon, sur les falaises de Forillon, puis je campais et quand
j’ai vu la mer, parce que ça m’avait manqué, de vivre ici,
j’avais mon emploi d’enseignante la bas à Ottawa, j’ai
rappelé puis j’ai dit je pourrais pas commencer à enseigner
en septembre, parce qu’il faut que je reste en Gaspésie et je
suis ici depuis les années 80.
ATMO
Unterhaltung im Haus
ERZÄHLERIN
Doch dann machte sie Ferien in der Gaspésie, setzte
sich aufs Fahrrad, fuhr zwei Wochen immer an den
Klippen entlang und übernachtete im Zelt. Als sie das
Meer sah, erzählt Claudine, habe sie gespürt, wie sehr
es ihr gefehlt hatte. Sie sagte die Stelle in Ottawa ab
und kehrte nach Hause zurück. Claudine ist eine
lebhafte Erzählerin. Sie schaut mich an, fasst mich
immer wieder am Arm, ihre Stimme wechselt zwischen
laut und leise. So, als würde sie sagen wollen, es geht
um den Augenblick, den wir teilen, um diesen Abend,
um das Essen, den Wein, die Gespräche. Claudine hat
ein Essen mit mehreren Gängen zubereitet. Als
Vorspeise Lachsschaum und Spinat, als Hauptgang
Seezunge und Kartoffelbrei mit Oliven und als
Nachtisch Schokoladenkuchen, alles selbst gemacht.
Sie muss den ganzen Tag in der Küche gestanden
haben. Claudine streitet das ab und spricht lieber von
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der Leidenschaft, mit der sie die Dinge anpackt. Wie
das Brise Bise, das sie vor sechzehn Jahren gegründet
hat. Einfach so, weil es in Gaspé keinen Ort gab, an
dem man einen guten Kaffee bekam. Vorher war sie
Krankengymnastin, mit viel Freude an der Arbeit. Doch
dann wollte sie etwas Neues anfangen. Weil die
Banken ihr für das Brise Bise keinen Kredit geben
wollten, borgte sie sich das Geld von Freunden und
Bekannten, die ihr Schuldscheine ausschrieben. Im
ersten Jahr waren es 50.000 kanadische Dollar, im
zweiten Jahr 150.000. Inzwischen hat sie alle Schulden
zurückgezahlt. Manche Geldgeber, erzählt sie, haben
ihre Einlage auch behalten, weil sie damit ihre
Zugehörigkeit zum Brise Bise zeigen wollen.
ATMO
Moules Marinières, Konzert
ERZÄHLERIN
Ich bin zurückgefahren ins Brise Bise, um Bruce und
seine Band auf der Bühne zu sehen. Die Straßen von
Gaspé sind wie leergefegt, das Brise Bise ist zum
Bersten voll. Die Leute stehen, sitzen an Tischen oder
auf Barhockern rund um den Tresen mitten im Raum.
Eine etwa fünfzigjährige Frau stimmt begeistert in jedes
Lied ein, ihr Begleiter, ein Mann mit langem grauem
Bart, trinkt sein Bier, hin und wieder stimmt auch er mit
ein. Später wird Jan, ein Schüler oder vielleicht schon
Student, auf die Bühne gehen und eines der Lieder
mitsingen, er hat heute Geburtstag.
ATMO
Moules Marinières
O-TON Bruce
Ces chants là, les chants marins c’était dans le temps où les
bateaux étaient la façon de se déplacer quand tu voulais
franchir des grandes distances. Il y avait beaucoup de
monde au bord des bateaux, il y avait beaucoup de travail à
faire á bord des bateaux, ça prenait des chansons pour
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accomplir le travail, puis dans le même sens dans les
champs de coton du sud des Etats Unis les noirs avaient
leur chants pour faire passer la travail dans la journée puis
les marins avaient leur chants pour faire passer le travail
dans la journée puis exprimer leur joie, leur peine, j’ai plus
d’argent, ma blonde m’a sacré là pour un autre gars qui au
fond n’est pas marin, nous on a encore pas mal de travail
mais on a beaucoup de fun à explorer tout ça, parce que
c’est tout nouveau pour nous autres c’est un peu comme un
enfant qui va dans magasin de bonbons puis il y a une
passe gratuite pour la journée, mange tous les bonbons que
tu peux, ok c’est bon on y va, c’est comme ça qu’on voie ça.
SPRECHER 1
Die Lieder stammen aus der Zeit, als man größere
Entfernungen noch mit dem Schiff zurücklegte. An Bord
waren viele Menschen und es gab viel zu tun. Man hat
gesungen, um sich die Arbeit zu erleichtern, ähnlich wie
die Schwarzen auf den Baumwollplantagen im Süden
der USA. In den Liedern haben die Seeleute ihre
Freude und ihr Leid ausgedrückt, dass sie kein Geld
mehr haben und ihre Liebste sie wegen eines anderen
sitzen ließ, der nicht einmal Seemann ist. Für uns ist es
ganz schön viel Arbeit, diese Lieder zu finden, aber es
macht Spaß. Wenn wir welche entdecken, ist es ein
bisschen, wie wenn ein Kind in einen Süßwarenladen
geht und einen Tag lang umsonst essen kann. Man
nimmt, soviel man bekommt.
ATMO
Moules Marinières
ERZÄHLERIN
Einmal pro Woche kommt auch Jules Bélanger zu
Christian und Claudine auf eine Tasse Tee. Jules
Bélanger ist ein großer, älterer Herr mit leuchtend
blauen Augen und weißem, leicht zerzaustem Haar. Er
trägt einen blauen Vliespullover über seiner Jeans.
Nichts deutet darauf hin, dass er Priester ist. Er hat viel
über die Geschichte der Gaspésie geschrieben.
O-TON Jules Bélanger
Parce qu’on avait ni la radio, la télévision, et on avait
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pas accès aux salles des spectacles de l’extérieur, surtout
dans les longues soirées d’hiver, alors on s’amusait et on
cultivait les talents musicaux, les talents artistiques pour se
faire une diversion avec le travail très dur, soit de la maison,
ou de la ferme ou de la forêt. Il y a là un facteur qui a
développé la dimension artistique en Gaspésie.
SPRECHER 2
Es gab kein Radio, keinen Fernseher und man kam
nicht zu den weiter weg gelegenen
Veranstaltungssälen, vor allem im Winter. Also pflegte
man die eigene musikalische oder künstlerische
Begabung, um sich nach der harten Arbeit im Haus, auf
dem Feld oder im Wald zu zerstreuen. Das hat die
Kunst in der Gaspésie befördert.
ATMO
Straße von Jules
ERZÄHLERIN
Jules Bélanger wohnt in einer ruhigen Straße von
Gaspé. Sie ist links und rechts von alten Ahornbäumen
gesäumt. Im Herbst leuchten die Blätter gelb,
orangefarben und dunkelrot.
Als er die Tür öffnet, kommt mir ein kleiner, kläffender
Hund entgegengesprungen. Die Haushälterin ist dabei,
die Küche aufzuräumen. Das Arbeitszimmer liegt im
Untergeschoss. Auf dem Schreibtisch stapeln sich
Bücher und Manuskripte.
Jules Bélanger war Claudines Literaturlehrer an der
weiterführenden Schule von Gaspé. Claudine hatte
erzählt, dass sie ihn mochte und immer Julio nannte.
Doch streng sei er gewesen und die meisten Schüler
hätten sich vor ihm gefürchtet.
Über Claudine sagt er, dass sie nicht zu den besten
gehörte, aber eine gute Schülerin war, ein dynamisches
Mädchen, sportlich, fleißig und intelligent.
An der Wand im Arbeitszimmer hängt ein Holzschnitt
von Jules Bruder. Ein Schmied, der auf ein Stück Eisen
schlägt. Der Vater.
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O-TON Jules Bélanger
Nous avons été 18 enfants, mais jamais les 18
ensemble, lorsque les derniers sont arrivés, les plus vieux
étaient déjà partis au travail ou à l’extérieur. Pendant
quelques années, il y a eu dix, douze enfants à la maison.
Comment ça se faisait? La table était très grande, la table
dans la cuisine, la cuisine était très grande, c‘était la pièce
principale de la maison et à table nous pouvions être douze,
dix ou douze personnes à tables, c’était la mère qui servait
avec l’aide des jeunes filles les plus âgées, qui préparaient
les repas et qui les servaient. Les garçons ne servaient pas
à table et ils ne lavaient pas la vaisselle non plus. Mais ils
faisaient les travaux extérieurs, aidaient le père dans la
boutique de forge, faire les travaux sur le terrain et puis mon
père n’étant pas cultivateur il avait cependant pour aider le
fonctionnement de la famille, il gardait une douzaine de
poules et puis deux cochons. A chaque année il y avaient
deux cochons qui étaient tués à l’automne pour faire de la
viande pour l’hiver. Alors il fallait que les petits garçons
s’occupent des poules, des cochons, faire des travaux de
peinture dans la forge pour rendre service á la famille
pendant que les filles faisaient des travaux à table ou à la
cuisine, le ménage, c’était une sorte d’équilibre.
SPRECHER 2
Wir waren achtzehn Kinder, aber niemals alle
zusammen. Als die letzten geboren wurden, gingen die
ältesten schon arbeiten. Ein paar Jahre lang waren wir
zehn, zwölf Kinder zu Hause. Unser Küchentisch war
sehr groß, die Küche auch, es war der größte Raum im
Haus. Die Mutter und die älteren Töchter bereiteten das
Essen zu und brachten es auf den Tisch. Die Söhne
halfen nicht dabei, sie spülten auch kein Geschirr. Aber
sie verrichteten Arbeiten außerhalb des Hauses, sie
halfen dem Vater in der Schmiede.
Mein Vater war kein Landwirt, doch er hatte ein
Dutzend Hühner und zwei Schweine. Die wurden jedes
Jahr im Herbst geschlachtet, damit wir Fleisch für den
Winter hatten. Die kleinen Jungen mussten sich also
um die Hühner und Schweine kümmern und Arbeiten in
der Schmiede verrichten, während die Mädchen im
Haushalt halfen, das war schon eine Art Gleichgewicht.
ERZÄHLERIN
Jules Bélanger ist in einem Dorf an der Südküste der
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Halbinsel Gaspé aufgewachsen. Mit vier Jahren verlor
er die Mutter. Damals waren sie bereits sechs
Geschwister. Der Vater heiratete noch einmal. Seine
zweite Frau bekam zwölf Kinder.
Il y avait beaucoup d’entre aide d’une famille à l’autre,
si une famille était éprouvée par un incendie, il y avait une
corvée. Les citoyens se donnaient le mot et ils venaient tous
travailler pour deux jours pour reconstruire la maison de la
famille éprouvée. Ou si par exemple il y avait une famille
particulièrement pauvre, dans un moment très difficile ou les
enfants pouvaient avoir faim alors les citoyens se disaient
nous allons faire quelque chose et quelque uns faisaient la
tournée pour recueillir de la nourriture, du beurre, du poulet,
un quartier de viande, pour donner un coup de main à la
famille en difficulté, c’était une belle collaboration, ça ne se
fait plus maintenant parce qu’il y a l‘ aide gouvernementale,
si vous êtes pauvres et bien on va vous donner un montant
minimum pour vous aider, à l’époque quand j’étais enfant ça
n’existait pas, pas encore.
O-TON Jules Bélanger
SPRECHER 2
Man half sich hier sehr untereinander. Wenn es bei
einer Familie gebrannt hatte, kamen die Dorfbewohner
zusammen und arbeiteten zwei Tage, um das Haus
wieder aufzubauen. Oder wenn eine Familie sehr arm
war, eine schwierige Zeit hatte und die Kinder
womöglich Hunger litten, gingen die Dorfbewohner
herum und sammelten Essen. Butter, ein Huhn oder ein
Stück Fleisch, um es der Familie zu geben. Heute
macht man das nicht mehr. Wenn man arm ist,
bekommt man Geld vom Staat, das gab es damals
noch nicht.
MUSIK
Hans Otte ,,Das Buch der Klänge''
Dans les années, je pense que c’était en 1940 ou 42,
la route qui contourne la Gaspésie n’était pas ouverte l’hiver,
donc quand arrivait la première tempête de neige en
décembre ou peut-être en janvier, une tempête de neige qui
immobilisait les voitures, eh bien il n’y avait plus de voitures
automobiles sur la route jusqu’au mois d’avril, les transports
se faisaient avec les voitures de cheval, les transports de
bois, les transports de marchandises et tout, ce faisaient
O-TON Jules Bélanger
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avec des chevaux, et quand les gens allaient à l’église, le
dimanche, c‘‘était avec des voitures à chevaux qui avaient
un siège ou deux et mon père fabriquait ces voitures pour
les cultivateurs et lorsque arrivait l’heure de la messe, le
dimanche, on pouvait voir des défilés de voitures à cheval,
vingt, vingt-cinq grandes voitures où il y avaient, le monsieur,
la madame, les enfants emmitouflés qui s‘en allaient à
l’église avec le cheval et puis près de l‘église il y avait une
immense étable où on mettait les chevaux pendant les
offices liturgiques.
SPRECHER 2
Es muss 1940 oder 1942 gewesen sein. Die Straße, die
um die Gaspésie herum führt, war im Winter nicht
befahrbar. Im Dezember oder Januar kam der erste
Schneesturm. Er brachte die Autos zum Stehen. Bis
April sah man keine Autos mehr auf der Straße, das
einzige Fortbewegungsmittel waren Pferdewagen.
Damit hat man Holz und Waren transportiert.
Die Leute fuhren sonntags mit dem Pferdewagen zur
Kirche. Die Wagen hatten einen oder zwei Sitze. Mein
Vater baute sie für die Bauern. Sonntags, bevor der
Gottesdienst begann, war der Andrang groß. Zwanzig
bis fünfundzwanzig Pferdewagen, auf denen Mann und
Frau und die dick eingepackten Kinder saßen. Neben
der Kirche war ein großer Stall, wo man die Pferde
während des Gottesdienstes unterstellte.
ERZÄHLERIN
Jules Bélanger war der älteste Sohn der Familie und
ein guter Schüler. Mit vierzehn durfte er nach Gaspé ins
Internat. Die Stadt war in den vierziger Jahren eine
Tagesreise von seinem Heimatdorf entfernt. Das
Schulgeld betrug 250 kanadische Dollar pro Jahr. Die
Familie bezahlte es vom Einkommen des Vaters und
vom Gehalt der älteren Schwestern.
O-TON Jules Bélanger
Le régime, la discipline, étaient très sévères. Nous
dormions dans des dortoirs, des grandes salles où il y avait
80 ou cent personnes, avec les lits alignés bien sûr. Le lever
le matin 5 heures et quart, le coucher le soir neuf heures.
Bien sûr il y avait des heures de cours, des heures d’études,
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des heures d’études en silence, obligatoires, sous
surveillance, il y en avait 5 par jour, 5 heures par jour. Et
bien sûr il y avait du sport organisé, il y avait des loisirs
comme la musique, la chorale, différents organisations pour
occuper le temps de ces jeunes et la nourriture, la nourriture
c’était très ordinaire, rien d’élaboré, puisque les prêtres qui
nous enseignaient, qui étaient les professeurs qui dirigeaient
le collège, ils le faisaient presque gratuitement, parce que la
population était pauvre, les parents ne pouvaient pas payer
beaucoup, pour vous donner une petite idée.
SPRECHER 2
Es herrschte strenge Disziplin. Wir schliefen zu achtzig
oder hundert in großen Sälen, die Betten standen in
einer Reihe. Morgens viertel nach fünf standen wir auf,
abends mussten wir um neun ins Bett. Zusätzlich zum
Unterricht mussten wir unter Aufsicht fünf Stunden am
Tag schweigend lernen. Es gab natürlich auch
Sportunterricht und Freizeitbeschäftigungen wie
musizieren oder im Chor singen. Das Essen war
bescheiden. Die Priester, die uns unterrichteten,
arbeiteten nahezu unentgeltlich, denn die Bevölkerung
war sehr arm, und die Eltern konnten nur wenig
bezahlen.
ERZÄHLERIN
Jules Bélanger wirkt ein wenig distanziert, wenn er
seine Geschichte erzählt. Beinahe so, als ginge es nicht
um sein Leben, sondern um das Leben aller Menschen
in der Gaspésie, nicht um seine, sondern um ihre
Geschichte, in die sich sein Leben einfügt.
Ich frage ihn, ob es ihm nicht schwergefallen ist, die
Entscheidung zu fällen, Priester zu werden? Darauf zu
verzichten zu heiraten oder eine Familie zu gründen?
Wieder antwortet er so, als ginge es nicht um seine
persönlichen Empfindungen, sondern um etwas
Größeres, darum, seinem Land, der Gaspésie zu
helfen. Er wollte wie seine Lehrer werden, sagt er, die
ihn sehr beeindruckt hatten. Er wollte unterrichten und
dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche in der
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Gaspésie eine bessere Schulbildung bekommen, damit
die Armut zurückgeht.
Es fällt ihm sichtlich schwer darüber zu sprechen, dass
die Gegend heute unter einer Arbeitslosigkeit von 20
Prozent leidet, das ist beinahe das Dreifache des
Landesdurchschnitts. Und dass die meisten jungen
Leute wegziehen, weil es keine Arbeit gibt.
ATMO
Im Stall, Hélène und Placide bei der Arbeit
ERZÄHLERIN
Nur wenige gehen den umgekehrten Weg, ziehen wie
Hélène und Bernard hierher, um etwas aufzubauen. Sie
stellen den Ziegenkäse her, den ich bei Claudine zu
kosten bekam. ,,Du findest sie hinter Douglastown‘‘,
hatte Claudine gesagt. Es ist einfach, sich in der
Gaspésie zu orientieren. Es gibt nur eine
Bundesstraße. In der einen Richtung führt sie nach
Osten, in der anderen nach Westen. Die Straße
schlängelt sich durch den Wald, es ist kaum Verkehr.
Hin und wieder sehe ich ein einzelnes Haus am Weg.
Als ich bei Hélène ankomme, steht sie im Stall und
wiegt die Ziegen.
ATMO
Stall, Ziegen werden gewogen
ERZÄHLERIN
Hélène und ihre Hilfskraft Placide versuchen, die
Ziegen in einen Sack zu stecken. Der Sack wird an
einen Haken gehängt, der von der Waage an der Decke
herunterreicht. Hélène und Placide brauchen ihre ganze
Kraft, um die strampelnden Ziegen in den Sack zu
bekommen.
O-TON Hélène
...une première production avec le bouc 46 on va la
peser,118 aussi, c’est le truc qu’on a trouvé pour peser les
chèvres, non elle n’a pas le poids encore, c’est ça, quand les
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chèvres ont sept mois et plus, on les pèse pour savoir s’ils
ont le poids idéal pour une première production avec le
bouc, faut attendre qu’elles aient sept mois et qu’elles
pèsent 75 livres ou 34 kilos, si elles ont pas le poids vaut
mieux attendre pour les croiser pour pas arrêter leur
croissance.
SPRECHERIN 2
Nein, die hier hat noch nicht das Gewicht erreicht.
Wenn die Ziegen sieben Monate alt sind, wiegen wir
sie, um zu wissen, ob sie zum ersten Mal gedeckt
werden können. Sie müssen mindestens 34 Kilo
wiegen. Wenn sie das Gewicht noch nicht erreicht
haben, sollte man lieber warten, um ihr Wachstum nicht
zu stören.
O-TON Hélène
...saison des amours pour elle oui 75 livres, ca va avec le
bouc. En voilà une qui a 75 livres, ca va être la saison des
amours pour elle, on va la mettre avec un bouc de
reproduction, à ce moment là faut bien vérifier qui est la
mère et le père de chacune des chevrettes parce qu’on a
trois boucs pour la reproduction, faut faite attention á la
génétique, donc je vais regarder le nom de son père et de sa
mère et les trois boucs qu’on a, un des trois boucs pourra
servir.
SPRECHERIN 2
Die hier wiegt 75 Pfund, für sie wird die Zeit der Liebe
beginnen, sie wird mit dem Bock zusammenkommen.
Wir müssen aber erst die Abstammung prüfen, wer
Vater und Mutter der Ziege sind. Wir haben für die
Fortpflanzung drei Böcke, einer der drei wird der
richtige sein.
ERZÄHLERIN
Hélène und Bernard besitzen rund einhundert
Milchziegen. Die männlichen Zicklein werden alle
geschlachtet, einen Teil der weiblichen behalten sie für
die Milchproduktion und die Käserei.
O-TON Hélène
Je sais pas il y pas une grosse mentalité agricole dans la
région, c’est quelque chose qui est à développer, il y en a
déjà pourtant eu beaucoup d’agriculture en Gaspésie, puis
ça a baissé. Dans les années soixante l’agriculture a ralenti
en Gaspésie, mon mari et moi on travaille fort pour qu’il y est
19
une relève agricole en Gaspésie, parce que c’est une belle
façon de vivre. Mais on manque d’infrastructure. Le gros
problème c’est qu’on a pas beaucoup d’infrastructure pour
développer l’agriculture. Par exemple on a pas beaucoup
d’abattoirs en Gaspésie, c’est très difficile de commercialiser
notre viande. Faut monter jusqu’à Rimouski, l’abattoir le plus
proche pour faire abattre nos animaux, c‘est pas rentable
d’aller porter nos animaux, de les ramener ici réfrigérés pour
pouvoir commercialiser vers la restauration.
SPRECHERIN 2
Hier in der Gegend ist der Sinn für Landwirtschaft nicht
besonders ausgeprägt. Dabei gab es früher viel
Landwirtschaft, doch in den sechziger Jahren ging das
zurück. Mein Mann und ich arbeiten dafür, dass es
wieder bergauf geht, denn es ist eine schöne Art zu
leben. Allerdings haben wir in der Gaspésie kaum
Schlachthöfe, es ist schwierig das Fleisch zu
vermarkten. Der nächstgelegene Schlachthof ist
mehrere hundert Kilometer entfernt. Es lohnt sich kaum,
die Tiere dorthin zu bringen und das tiefgefrorene
Fleisch wieder zurück zu transportieren, um es hier zu
verkaufen.
ERZÄHLERIN
Der Arbeitstag beginnt morgens halb sechs mit dem
Melken der Ziegen. Die Milch wird direkt in die weiter
unten am Hang gelegene Käserei geleitet. Ich muss
meine Straßenschuhe ausziehen und in saubere
Gummistiefel steigen. Hier arbeitet Nathalie. Sie trägt
einen weißen Kittel, das schwarze Haar hat sie unter
eine weiße Haube gesteckt.
ATMO
Käserei
ERZÄHLERIN
Nathalie beugt sich über eine große Metallwanne und
rührt immer wieder mit einer Kelle in der Flüssigkeit.
Allmählich setzt sich unten im Behälter die dickflüssige,
geronnene Milch ab, aus der schließlich Käse wird.
Zurück bleibt Molke, die wieder an die Ziegen verfüttert
20
wird. Ich frage Nathalie, ob es ihr nicht schwer fällt, den
ganzen Tag allein in der Käserei zu stehen.
O-TON Nathalie
Non, moi j’aime mieux, moi j’aime ça, j’aime travailler tout
seul afin que j’ai personne, on a pas besoin d’attendre pour
quelqu’un, on va à notre rythme, puis on n‘a pas besoin
d’attendre pour d’autres personnes, moi je pefère travailler
toute seule.
SPRECHERIN 1
Ich arbeite gern allein, da muss man auf niemanden
warten und kann nach seinem eigenen Rhythmus
arbeiten. Das ist mir lieber.
ATMO
Käserei
ERZÄHLERIN
Bevor der neue Stall gebaut wurde und die Leitung für
die Milch gelegt war, musste Nathalie jeden Morgen
350 Liter Ziegenmilch in Eimern aus dem Stall in die
Käserei tragen. Sie erzählt, dass sie ein Diplom in
Verwaltungswissenschaften hat, aber in der Gaspésie
keine Arbeit fand. Hat sie denn nie daran gedacht, von
hier fortzugehen?
O-TON Nathalie
Non, j’ai toujours voulu rester ici, c’est pour ça que je me
suis adaptée à l’emploi, j’ai pas couru pour un emploi là.
Etant donné qu‘on m’avait offert le poste de fromagère je
suis allée suivre une formation, là je suis partie pendant trois
mois à l’ita à Sainte Hyacinthe et je suis revenue dans le
coin là. La majorité des gens ils sont partis de la Gaspésie, il
y a pas d’emplois, je dirais au moins 80 pourcent des jeunes
sont partis étudier à l’extérieur, ils ont trouvé un emploi à
l’extérieur. J’ai des amis qui pensent à revenir là, mais il faut
qu’ils soit leur propres employeurs, soit qu’ils vont partir en
affaires, c’est parce qu’il y a pas de jobs.
SPRECHERIN 1
Nein, ich wollte immer hier bleiben. Man hat mir die
Arbeit in der Käserei angeboten, ich habe drei Monate
lang in Sainte Hyacinthe eine Ausbildung gemacht und
bin wieder zurückgekommen. Aber die meisten sind
fortgegangen.
21
Ich würde sagen, mindestens 80 Prozent der jungen
Leute sind zum Studium gegangen und haben
woanders eine Arbeit gefunden. Ich habe Freunde, die
wieder zurück wollen, aber sie müssen sich selbst eine
Existenz aufbauen, ein Geschäft gründen, es gibt
einfach keine Jobs.
ATMO
Käserei
ERZÄHLERIN
Die Käserei steht direkt neben dem Wohnhaus von
Hélène und Bernard. Es ist ein altes, weiß
angestrichenes Holzhaus mit rotem Dach. Hélène
schreibt an einem Vortrag über die Aufzucht von Ziegen
und die Gründung eines Unternehmens.
Sie und Bernard wollen sich mit anderen Landwirten
zusammenschließen, um ihre Produkte gemeinsam
besser vermarkten zu können. Hélène ist hart in ihrem
Urteil über die Situation der Leute in der Gaspésie.
O-TON Hélène
Je pense qu’ils ont trop été gâtés par le gouvernement, le
gouvernement a dit vendez votre ferme ou brûlez votre
ferme on va vous donner un chèque, tannât par moi, le bienaide social est arrivé, ça fait deux trois générations là,
maintenant les gens sont habitués à pas travailler, à recevoir
un chèque du gouvernement là, il faut changer les
mentalités, redonner la fierté aux gens. Nous autres ça fait
deux ans qu’on cherche quelqu’un, avec cent chèvres on va
avoir besoin d’une personne supplémentaire mais on trouve
pas à Gaspé, personne qui sont intéressés à venir travailler,
pourtant on offre un emploi à l’année, pas à l’année, je veux
avoir mon chômage en hiver, je veux aller travailler
quelques mois pour toi en été. mais pas à l’année, c’est
décourageant.
SPRECHERIN 2
Ich denke, die Menschen sind von der Regierung zu
sehr verwöhnt worden, die Regierung hat gesagt:
Verkaufen Sie Ihren Hof oder brennen Sie ihn ab, wir
geben Ihnen einen Scheck. Dann bekamen sie
Sozialhilfe. Das ist jetzt seit zwei Generationen so. Die
Leute sind es nicht mehr gewöhnt zu arbeiten. Das
22
muss man ändern, man muss den Leuten ihren Stolz
zurückgeben.
Wir suchen schon seit zwei Jahren jemanden, denn mit
einhundert Ziegen brauchen wir noch eine zusätzliche
Kraft, doch wir finden niemanden in Gaspé, keiner will
den Job machen. Dabei bieten wir eine Arbeit für das
ganze Jahr an. Doch die Leute sagen, ich arbeite gerne
einige Monate im Sommer für dich, im Winter will ich
mein Arbeitslosengeld. Das ist entmutigend.
MUSIK
Hans Otte „Das Buch der Klänge“
ERZÄHLERIN
Arbeitslosigkeit und Armut waren groß damals in den
60er und 70er Jahren, die Kosten für Straßen und
Schulen im Hinterland hoch. Die Regierung hoffte, mit
neuen Industrie- und Verwaltungszentren in einigen
ausgewählten Orten auf der Halbinsel Gaspé
Arbeitsplätze zu schaffen. Doch der Erfolg blieb aus.
Viele der Menschen, die umgesiedelt wurden, fühlten
sich entwurzelt.
Als Hélène und Bernard vor zwanzig Jahren in die
Gaspésie kamen, arbeitete Hélène als
Krankenschwester und Bernard in der Verwaltung. Die
Leute im Dorf halfen ihnen bei den ersten Schritten zum
eigenen Hof.
O-TON Hélène
Ils nous ont très bien reçu, on a eu un accueil chaleureux
c’est un village irlandais ici le petit village où on demeure,
Douglastown, c’étaient des anglophones, mais très
accueillants, on a eu beaucoup d’aide, beaucoup de support,
parce que en achetant la maison on avait le banc d’église
qui venait avec l’achat de la maison, ça se faisait comme ça
dans le temps. A l’église les gens achètent pour la messe de
dimanche un banc qui leur appartient pour aller s’asseoir
dans la messe du dimanche, puis dans ce temps là, en
achetant la propriété notre banc à l’église était réservé pour
nous autres, Chaque dimanche on faisait un devoir d’aller à
l‘église puis c’est comme ça qu’on a fait la connaissance des
gens qui étaient nos voisins, qui étaient du même village que
23
nous autres, puis sur le perron d‘église en sortant de la
messe, on faisait des rencontres, puis on leur racontait,
comment on se débrouillait. Parce qu’au début il fallait
défricher nos propres terres, parce que tout était revenu en
friche, alors on s‘est acheté une scie mécanique dans le
catalogue Simson scies, juste pour vous dire qu’on était pas
connaissant du tout, du tout, du tout du domaine là, dans un
catalogue, par la poste, on s’est fait venir une scie
mécanique avec le livre d‘instructions comment couper un
arbre, en plein mois de janvier, mon mari et moi on s‘habille
pour aller bûcher nos premiers arbres puis ça nous a pris
une avant-midi pour couper cinq arbres. Alors les voisins
sont arrivés le lendemain, puis comment ça va, comment ça
a été? On était fiers de nous autres, on avait coupé 5 arbres,
ils ont ri de nous autres un peu puis ils ont dit, viens, on va
te montrer comment faire, laisse ton livre d’instructions à la
maison, on va te montrer, c’est pour ça que je dis que les
gens du village on été très attachants, on voulait pas sentir
des gens de la ville qui venaient prendre la place des gens
de la campagne, on était pas connaissant non plus et on
savait qu’on avait beaucoup à apprendre de nos voisins,
l’intégration a été très facile à Douglastown.
SPRECHERIN 2
Wir sind hier sehr gut aufgenommen worden.
Douglastown war ursprünglich ein irisches Dorf, die
Leute haben Englisch gesprochen. Als wir das Haus
kauften, bekamen wir die Kirchenbank dazu. Die
Menschen hier kaufen für den Gottesdienst am Sonntag
eine Bank in der Kirche. Zu unserem Haus gehörte
eben auch eine Kirchenbank. Jeden Sonntag sind wir
zum Gottesdienst gegangen. So haben wir unsere
Nachbarn und die Leute aus dem Dorf kennen gelernt.
Vor der Kirche, nach dem Gottesdienst, haben wir
erzählt, wie es bei uns vorangeht.
Am Anfang mussten wir unser Grundstück roden, es
war alles zugewachsen. Wir hatten uns aus dem
Katalog eine Säge bestellt. Wir hatten wirklich
überhaupt keine Ahnung. Wir ließen uns die Säge und
eine Bedienungsanleitung schicken. Da stand drin, wie
man einen Baum fällt. Das war im Januar. Mein Mann
und ich haben uns angezogen, um unsere ersten
Bäume zu fällen. Wir haben einen Vormittag gebraucht
für fünf Bäume. Am nächsten Morgen kamen die
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Nachbarn und fragten, wie es denn gelaufen sei. Wir
waren stolz darauf, dass wir fünf Bäume gefällt hatten.
Aber sie haben ein bisschen über uns gelacht und
gesagt: Kommt, wir zeigen euch, wie das geht, lasst
eure Bedienungsanleitung zu Hause.
Die Leute aus dem Dorf waren einfach sehr hilfsbereit.
Sie wollten keine Städter haben, die ihren Platz
einnehmen. Doch wir hatten ja keine Ahnung von den
Dingen hier und wussten nur, dass wir viel von unseren
Nachbarn lernen müssen. Es war sehr leicht, sich
einzuleben.
ERZÄHLERIN
Als ich nach Gaspé zurückfahre, komme ich noch
einmal durch den Ortskern von Douglastown. Nathalie
hatte in der Käserei davon erzählt, dass es in
Douglastown eine Kirche, eine Tankstelle und einen
Kiosk gibt. Mitten durch den Ort führt die Bundesstraße,
von der die Leute spöttelnd sagen, sie sei die längste
Hauptstraße Nordamerikas. Ich stelle mein Auto auf
dem viel zu großen Parkplatz am Stadteingang ab und
gehe die Treppen hinauf zum Brise Bise.
ATMO
Brise Bise
MUSIK
John Cage, Etudes Boréales I ,,Works for Cello''
ERZÄHLERIN
Während ich noch auf Claudine warte und die leere
Bühne anschaue, fällt mir die Geschichte wieder ein,
die sie mir beim Essen erzählt hatte.
O-TON Claudine
En juin, parce que c’est sur deux étages notre entreprise,
j’étais au deuxième étage, et puis j’entends un violoncelle et
je dis, c‘est tellement beau, on dirait quasiment que c’est
live, puis je descend l’escalier, je regarde, puis effectivement
il y avait une violoncelliste qui était sur la scène du brise –
bise, c’était magnifique et il y avait beaucoup de monde au
premier étage et tout le monde était comme bouche-bée
d’entendre cette violoncelliste, et puis quand elle finit sa
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pièce, je vais la voir, puis c‘était une violoncelliste de
l’orchestre symphonique de Londres, qui avait entendu
parler du Brise-Bise, qui était en Gaspésie, puis qui est
arrivée avec son immense violoncelle, s’est installée sur la
scène, puis qui s’est mis à jouer, comme ça sur l’heure du
dîner. (C’est des endroits comme ça qui font que, les gens
qui passent, les gens qui y vivent, que c‘est intéressant
d’être.) C’est la vie. La vie c’est des moments, des moments
qu’on partage, c’est des repas, c’est des gens qu’on
rencontre qui restent là gravés dans nos mémoires et qu’on
voyage avec après, c’est très grand la vie puis c’est si petit,
hein
SPRECHERIN 1
Es war im Juni. Das Lokal hat zwei Ebenen. Ich war im
zweiten Stock und hörte ein Cello. Es war wunderschön
und es klang so, als spielte jemand auf der Bühne. Ich
bin die Treppe hinunter gelaufen und sah die Cellistin
auf der Bühne des Brise Bise sitzen. Es waren viele
Gäste im Lokal, sie waren hingerissen. Als sie zu Ende
gespielt hatte, bin ich zu ihr gegangen. Sie kam vom
Londoner Symphonie Orchester, hatte vom Brise Bise
gehört, war mit ihrem großen Cello angereist, setzte
sich hin und spielte einfach. So ist das Leben. Es
besteht aus Augenblicken, die man teilt, gemeinsamen
Essen, Menschen, die vorbeikommen und sich in unser
Gedächtnis einprägen, mit denen man weiter reist. Das
Leben ist groß und gleichzeitig so klein.
MUSIK
John Cage, Etudes Boréales ,,Works for Cello''
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