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Kirchliche Existenzsymbolik (2009)
Einleitung
Ich rede über das Christentum tendenziös: teils predigend auslegend, teils (säkular „predigend“) das real
Existierende im Kontrast zur Selbstdefinition beschreibend.
Wie alle Symboliken, vereinfacht (und also verzerrt) auch die christliche Symbolik die Wirklichkeit. Deshalb
brauchen wir daneben manche andere Symbolik mit ihrer konkurrierenden Verzerrung.
Existenzsymbole sind prägnante Ausdrucksformen von Existenzverständnis. Um sie zu verstehen, muß man
zunächst ihre – immer subjektive und personal beanspruchende – Selbstauslegung in der Objektsprache
hören. Dann erst kann man hoffen, sie mit Gewinn philosophisch, psychologisch usw. metasprachlich zu
erklären.
So redet auch die folgende Erklärung christlicher Existenzsymbole in der Regel zunächst christlich und
versucht dann, zu objektivieren.
Existenzsymbolik dient Einzelnen und Kollektiven zur Sammlung. Sie ist aber kein Instrumentarium, sondern
ein unberechenbares Geschehen.
Das Christentum ist eine Religion, d.h. eine Existenz-Symbolik. Es ist eine Menge hauptsächlich verbaler
Symbole, die mehr oder weniger mit einander zusammenhängen; ein Symbolsystem schwankender
Kohärenz, das sogar härteste Widersprüche enthält.
Die Bibel bildet den zentralen Bezugspunkt. Nicht ein bestimmtes konkretes Buchexemplar, aber doch eine
recht bestimmte, quasi identisch auf Papier, in menschlichem Gedächtnis und in Schallwellen umkopierbare
Informationsmenge. Zentraler Bezugspunkt individuell verschiedener Vorstellungen ist die historische
Gestalt Jesu als Offenbarung Gottes.
Die Symbolik einer Religion ist im Normalfall getragen von einem Kollektiv. (Sogenannte Privatreligion ist
nicht eine andere Art Religion, sondern eine moderne, prinzipiell selbstverantwortlich-kritische Art der
Teilhabe an religiöser Tradition.) Das Kollektiv ist seinerseits beseelt durch die Symbolik. Kohärenz stärkt
die Symbolik; deshalb tendiert das tragende Kollektiv zu Organisation, Verfassung und Lehrbildung.
Ein Symbol ist Quid pro quo. Über der Handlichkeit des Symbols gerät die existentielle Entsprechung, das
eigentlich Gemeinte, das gesammelte Selbstprüfung verlangt, leicht aus dem Blick. Das Symbol bleibt dann
im Schwang, wird aber unvermerkt immer sinnloser. Das passiert insbesondere dann, wenn sein Gebrauch
institutionell abgesichert ist. Wenn nur noch Bruchstücke der institutionalisierten Symbolik lebendig sind,
so machen sie sich selbständig.
Die Frühphase der Religion ist gesamtgesellschaftlicher Traditionalismus der Lebensregeln in Natur und
Gesellschaft.
Die christliche Weiterentwicklung des Monotheismus ist Höhe- und Wendepunkt der Religionsgeschichte.
Das europäische Christentum wird nicht spurlos verschwinden. Es geht dreispurig in die Zukunft:
1. Die breiteste, längst befahrene Spur ist der Weg der Öffnung: Es wird, aus einer Religion, zu einer
gruppen- und person-unabhängigen, jedoch chaotisch situationsabhängigen religiösen Symbolik als
Ferment von Humanität.
2. Kirchlichkeit: traditionalistische Subkultur, der Residualzustand von Religion. Die Tradition allerdings hat
es in sich; es können da immer wieder Funken herausfliegen.
3. Integrismus: aussichtslose kulturpolitische Rechristianisierungsbemühungen können nicht ausbleiben.
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Die hier folgenden Notizen wollen christliches Traditionsgut im Sinne der erstgenannten Entwicklungslinie
aufschließen.
Vertrauen in die göttliche Macht, die vor dem Tode errettet, ist uns, aufgrund von Zuchtwahl, angeboren
und ist dem noch lebenden Subjekt durch seine Biographie bestätigt. Das Evangelium von Schöpfung und
Vergebung ist dafür ein Repräsentant im symbolischen Register.
Der Schöpfer persönlich
Komm zu Gott und komm in Frieden zurück!
Die Aufforderung des Paulus an die Philipper (2, 12), die eigene Rettung/σωτηρία/Heil zu schaffen
(κατεργάζεσθε), ist eine paradox zugespitzte Charakterisierung der Situation: Alle Kräfte sind im Einsatz;
„denn Gott wirkt in euch“ (v.13)! Der Imperativ artikuliert die Dynamik des Schöpfers, der seine Gemeinde
begeistert.
Der Anfang des Christentums war geprägt durch die (einer verbreiteten Zeitstimmung entsprechende)
Naherwartung der geweissagten Schrecken des wohlverdienten Endes der alten Schöpfung, – welchem der
neue Äon folgen sollte.
Bei Jesus hatte man den gottgeschenkten Neuanfang schon jetzt erlebt. Das Ende Jesu am Kreuz war für
seine Anhänger überraschend gekommen. Sein Geist schöpferischen Neuanfangs wirkte weiter – nun als
das Jenseits im Diesseits.
Die Naherwartung des Weltgerichts ist vergangen. Geblieben ist, auf der Basis einer gründlichen Skepsis
gegen alle weltlichen Gewißheiten, Aufmerksamkeit auf das, was Gott mit uns anfängt. So wurde das
Christentum die Religion des Fortschritts.
Das göttliche Vorauswissen ist ein Stück kindlicher Allmachtsphantasie im Rahmen des kosmos-Glaubens.
Als ideologisches Konstrukt schafft es mehr Probleme, als es löst. Der christliche Glaube braucht es heute
nicht mehr.
Die Idee der göttlichen Seligkeit ist dem "reinen Lust-Ich" nachempfunden, das Freud dem Säugling
zuschrieb. (Vgl. Hölderlin, Hyperions Schicksalslied: "Schicksallos, wie der schlafende Säugling, atmen die
Himmlischen...")
Die klassischen Ideale der griechischen Philosophie – nicht nur das Gerechtigkeitsideal, sondern auch die
Güte – sind als Gottesprädikate irreführend. Sie geben keineswegs Auskunft über Gott. Vielmehr steht ihre
göttliche Bedeutung vor dem lebendigen Gott ständig zur Disposition.
Wir können manchmal, in Augenblicken der Ergriffenheit, die Güte des Allmächtigen bezeugen. Wenn wir
dies aber als Gotteserkenntnis in eine andere Zeit hinein festhalten wollen, wird uns deutlich: Daß Gott gut
sei, kann man sich und anderen glauben. Man kann es als Glaubenslehre überliefern und lehren. Und man
kann danach leben. Aber Gottes Sein bezeugen kann nur Gott selbst, der Geist Gottes.
Wir sollen glauben und lernen, daß wir auch in dem, was uns als böse entgegentritt, den wahren Gott
erfahren. So lernen wir in Gott die Abgründigkeit unseres Alltagswortes "gut" kennen. (Nicht erst unsere
Psychologie, sondern schon die Bibel redet von Reifung als Aufgabe.)
Lebt Gott? – : Der lebendige Gott belebt; der schweigende Gott macht schweigen, – wie nach Luther die in
Christus offenbar gewordene (!) Gerechtigkeit Gottes darin besteht, daß er uns durch den Glauben gerecht
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macht1. Der "lebendige Gott" ist der Vorstellungshorizont, in welchem wir gegebenenfalls die eigene
eigentümliche Belebung durch den Gottesnamen erleben.
Die Schöpfer-Idee ist unser Ja zum Leben. Lebenswille ist Gottähnlichkeit. Dabei wird uns, wie
Mephistopheles (Faust, 2050) bemerkt, bange.
Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis gehören zusammen. Beide sind wesentlich subjektiv. Wir können
Gott und Selbst nicht nur nicht trennen, sondern nicht einmal sauber unterscheiden2. Der Versuch führt in
eine chaotische Denkbewegung. (Man kann wohl überhaupt ein Ding von anderen vielleicht mit beliebiger
endlicher Genauigkeit, aber nicht ganz sauber unterscheiden.)
Wenn wir Unglück erleiden, fragen wir nach der Ursache. Diese ist oft komplex, und es ist schwierig, aus
dem Schaden klüger zu werden und angemessen zu reagieren.
Es besteht ein übermäßiges Bedürfnis, eine persönliche Ursache, den Schuldigen festzustellen. Ein Mensch
oder mehrere, ein böser Geist? Das geht bis in die Theodizee-Frage. Schickt Gott das Unglück? Wir
brauchen die Gottesvorstellung zur Entwicklung einer persönlichen Einstellung zum Schicksal.
Jedenfalls gibt es Unglück, in das wir uns irgendwie schicken müssen, um nicht wesentlich zerstörerisch zu
werden, sondern schöpferisch bleiben zu können.
Wer den Rat des Allmächtigen begehrt, öffnet die Ohren so gut er kann. Wer den Herrn alles Geschehens
sucht, ist umsichtig.
Das Wort des Allmächtigen verwandelt die Angst vor dem Allmächtigen in Gottesfurcht.
Gott als alleiniger Schöpfer bedeutet für den Menschen inmitten aller Weltmächte eine allein von Gott
beschränkte, jeweils im Grund allein mit ihm abzustimmende Autonomie.
Gott ist größer als wir und unsere Welt. Erst mit Gott ist diese Welt eine abgeschlossene Menge.
Gott rät manchmal gebieterisch.
Ich kann nicht bezeugen, daß Gott gerecht sei, aber daß er sich mir als gut erwiesen hat.
Die Tradition nennt Gottes Unscheinbarkeit seine Erhabenheit, in welcher er sich verberge.
Gott weitet dem Bedürftigen den Horizont weit über die eigene Bedürftigkeit und gibt ihm unscheinbare
schöpferische Weisheit.
Der Erfahrung der Kreativität des göttlichen Rats liegt die Vorstellung von Gott als Schöpfer nahe. Man
empfängt eine neue Liebe zur Kreatur wie ein stilles Wunder, eine Gabe des Schöpfergeistes.
Die Gnosis bezeugt gegen den gewalttätigen Schöpfer, Erhalter und Gesetzgeber das göttliche Schweigen.
Sie denkt beides dynamisch in einem Schöpfungszyklus zusammen.
Der wahre, bescheidene Gott aber ist allenthalben ganz gegenwärtig.
Gott hat Freiheit geschaffen und erhält sie und wünscht – formal gesprochen – freie hohe Integrationsleistungen. Worin die bestehen, das hängt fallweise von den Umständen ab und ist nicht in Regeln zu
fassen, die man in Stein meißeln könnte. In diesem Sinne spricht er uns immer wieder an und berät uns.
1
Analog: Gottes Werk, Macht, Kraft, Heil, Weisheit, Herrlichkeit usw. (Luthers Vorrede zu Band I seiner
Opera Latina 1545, WA 54,186.
2 Paulus redet Rm 8 vom Heiligen Geist so, daß man von der Mystik des Apostels Paulus gesprochen hat.
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Der Hungernde, der Gefangene von Mt 25, 35-45 als der Gottessohn selbst; auch der Mensch als "Bild
Gottes" (1Mose 1, 27) – das sind erschreckende Blickanweisungen. Wer an der Weltordnung interessiert
ist, versucht, diese Identifikationen zu limitieren: Der Mensch als "Entsprechung", "Gegenüber", Vizekönig
Gottes; zu behandeln wie Jesus selbst. Das aber sind die Prädikate, und das Subjekt bleibt, auf der unserem
gewöhnlichen Blick abgekehrten Seite, sozusagen zu Gott hin unabgrenzbar offen.
Aus jedem der Gesichter, die mir da schweigend in der U-Bahn gegenüber sitzen, blickt mich Gott an. Er
grimassiert; Gott verbirgt sich hinter der Grimasse. Ich habe ein Mitleid mit ihm, das ich ohne diese
Blickanweisung nicht hätte. Der Mensch ist eine Maske, die Gott für mich trägt. Ja, plötzlich ist der ganze
nackte Mensch, der mir da in seinen Kleidern gegenübersitzt, Mann oder Frau, Erscheinung, authentische
Repräsentation, Bild Gottes für mich.
Wenn der Mensch mich aber anredet und ich mit ihm spreche, so sehe ich ihn nicht mehr als Bild Gottes; er
ist mein Mitmensch, ein Gebilde wie ich. Um die mich entwaffnende Empathie durchzuhalten, müßte ich
selbst eine göttliche Person sein.
Micha ben Jimlah sieht einen Lügengeist in den Propheten, die dem König Ahab Jahwes* Hilfe verheißen, –
einen Lügengeist, zur Vernichtung Ahabs von Jahwe gesandt! (1Kö 22). Das war ein geistlicher
Gewaltstreich! Micha hat allerdings mit seiner Interpretation die intrapersonale Widersprüchlichkeit Gottes
interpersonal (Unterscheidung zwischen Jahwe und seinem dienstbaren Lügengeist) etwas entschärft, – wie
2Sam 24,1 (Gott befiehlt David zu sündigen) durch 2Chron 21,1 (Es war der Satan!) dramatisch entschärft
wird.
Luthers Rede von „Masken“ Gottes ist eigentlich scheußlich. Sie zeugt von Unvermittelbarkeit von
verschiedenen Gottesoffenbarungen, hauptsächlich präambivalenten* Identitätsproblemen.
Ist auch „Persönlichkeit“ eine Maske Gottes? – : Ja, es ist die Maske, in der der Schöpfer uns als Personen
anerkennt.
Die Bibel thematisiert exemplarisch das menschliche Existenzproblem der Einzigkeit.
Nennt man den Gott Israels den einzigen Gott, so redet man eindeutiger als die Bibel. Man redet um soviel
falscher, wie man genauer redet. Der besondere Gott mit seiner fluktuierenden Symbolik steht für den
wahren Gott, – mit Paulus zu reden: für den Gott der gesegneten „Torheit“, den auch wir, erzogen durch
treue Zeugen, bezeugen sollen.
Klassische christliche Theologie ist monotheistisch. Die den Kirchenvätern noch bewußte poytheistische
Seite der Trinität ist in der Kirche verniedlicht. Die orthodoxe Trinitätslehre ist in traditionellen
Monotheismus abgerutscht. (Die Person Jesu1 war in der Gottheit verborgen gewesen und ist wieder darin
verschwunden. Alles hat wieder seine Ordnung.)
Die christologische Zweinaturenlehre von 451 rettet, was in einer Reichskirche zu retten war: Die
Sperrigkeit der menschlichen Natur Christi im Monotheismus wird festgehalten. Will man die
Zweinaturenlehre loswerden, muß man die Trinitätslehre in Ordnung bringen.
Daß Gott-Vater Gott den Sohn zeugt, der wiederum dem Vater gleicht, ist ein vollständiger Rekursionsschritt*. Die Orthodoxie sagt: "Eine göttliche Person ist in der anderen." Die Rekursion ist nach dem
ersten Schritt zunächst angehalten. Die Entwicklung der altkirchlichen Lehre von der Communicatio
idiomatum2 – radikalisiert bei Luther – sowie die Rede von der Weltlichkeit Gottes bei Dietrich Bonhoeffer
zeigen, daß sie darüber hinaustreibt. Die Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist ist nur eine
1
2
325 Nicaea und 381 Konstantinopel:ἐνανθρωπήσαντα lat.: homo factus.
Mitteilung göttlicher Eigenschaften von der göttlichen auf die menschliche Natur Christi.
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kirchlich fixierte Momentaufnahme von Gott. Wir können den Unterschied zwischen Gott und Welt nicht
festlegen. Der Heilige Geist ist Kreativität.
Karl Barth hat das kirchenkritische Potential der Trinitätslehre entdeckt – und entschärft. Er hat sie als
Bevollmächtigung einer kirchlichen Verkündigung verstanden, die die Kirche kritisiert und legitimiert. Die
Radikalität blieb rhetorisch – mit fundamentalistischem Effekt auf der institutionellen Ebene.
Gott kämpft gegen Gott, der vergibt. Gott, der vergibt, kämpft gegen Gott. Gott ertrinkt im Chaos. Man
kann den Namen Gottes vergessen. Aber nun "hat" das Chaos "es in sich"; es ist noch chaotischer
geworden. Es ist Gott geworden, jüngstes Gericht, Gesetz*; unpersönlich, ungerechtes Gericht nach
Werken. Chaos fern vom Gleichgewicht* ist morphogenetisch; plötzlich grimmt dem Chaos ein Gott im
Magen. Er kommt ihm wieder hoch.
These – Antithese – Synthese. Ich – der andere – das System. Selbstliebe – Haß – Liebe. Im Grunde: Gott –
Gott – Gott.
Die göttliche Trinität impliziert die Chaotik des Spiels, – mit der moralischen Verpflichtung des Menschen
auf seine jeweilige Evidenz. Das Wesen (substantia) Gottes ist nicht abstrakt, sondern konkret-personal
präsent. Gott hat immer auch noch ganz andere Weisen, in denen er präsent sein kann. Die Kirche hat wohl
daran getan, dies zu lehren. (Tres personae – una substantia.)
Gott für alles verantwortlich zu machen ist naiv; es sei denn im Glauben an den Gott, der uns durch den
Gekreuzigten in mitverantwortliche Gottheit berufen hat. (Dies ist der Sinn der Lehre vom Heiligen Geist.)
Gott, sagt die Bibel, liebt, fordert, straft – auch stellvertretend, quält, und ist endlich selbst als gequältes,
mitleidendes Geschöpf offenbar geworden. Er, der Schöpfer selbst, ist der gehaßte, verachtete Zerstörer.
(Jer 45)
Wir, als selbst ebenfalls häßliche, verachtete Zerstörer, sollen mit Gott leiden und so an der seltsamen,
göttlichen Herrlichkeit teilhaben. Das ist das christliche Projekt: Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem
Heiligen Geist.
Zeitlos-positionslos ist trinitarischer Gottesglaube unmöglich. Im dreieinigen Gott ist mein jeweils
bestimmtes Selbst aufgehoben. Lebendiger Glaube aber ist wie das kleine Schachspielen gegen sich selbst,
das in jedem Schachspielen enthalten ist: Nur jeweilig klare Grundposition bewahrt vor Irrsinn, vor „Gott“
als einem wilden Durcheinander von Vergebung und Kampf.
Die göttliche Trinität ist, kraft instabiler, einander ausschließender Identifikationsangebote (personae), eine
Art Umwälzpumpe für menschliche Identifikationen.
Die Trinitätstheologie ist eine Symbolik, überwältigende Probleme durch „projektive* Identifikation“ sich
vorerst vom Leibe zu halten.
Der dreieinige Gott sammelt den Zerfetzten.
Im Chaos der Gefühle rufe den dreieinigen Gott an. Er will dir seinen Frieden geben. Gott ist geduldig. Gott
anerkennt.
Den vielen Erwartungen, die an einen gestellt werden und die man auch gutheißt, die einen aber
aufzufressen drohen, muß man auch widerstehen. Die Frage nach dem persönlichen Willen Gottes kann
helfen, die Forderung zu vermenschlichen.
Leben ist eingerichtet für eine "durchschnittlich zu erwartende Umwelt" (Heinz Hartmann); menschlich
Leben ist Vertrauen. Christlicher Glaube vertraut nicht in diesem Sinne auf die schöne Ordnung der Welt; er
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vertraut im Chaos auf die abgründige Schönheit, die Wahrheit als das schöpferische Handeln des
dreieinigen, selbst menschgewordenen Gottes.
Gott relativiert unser Nicht-sich-relativieren-Können.
Des dreieinigen Gottes Gebot: Vergebt einander, gegeneinander kämpfende Vergebungsheilsbringer zu
sein!
Man soll sich sagen: Gott kämpft in mir und durch mich.
Gottvertrauen macht Mut zu ehrlicher Halbwahrheit. Aber der fromme Betrug entspringt dem gottlosen
Mut der Verzweiflung.
Wer überall auf Gott horcht (nicht nur in sich selbst hinein und nicht nur in die Bibel hinein), den führt er
einen guten Weg.
Liebe schickt in selbstentfremdende Tätigkeit, ins Kampfgetümmel für das, was man liebt. In solchem
Kampf pflegt, zusammen mit der Lebenslust, auch die Gottesbeziehung unterzugehen. Aber Gott hat sagen
lassen, wir sollten uns um seine Treue keine Sorge machen.
Anfälle von Scham treiben zu Gott, in dessen Vergebung ich mein Selbstbild entsprechend bearbeiten kann.
Menschen (Freunde, Therapeuten) können Gott vertreten. Kirchenvertreter und Glaubensbrüder als solche
können es in der Regel nicht, weil sie es müssen.
Gott zieht uns in sein Vertrauen, indem er enttäuscht.
Jedes Gottesverständnis – als All, Liebe, Jahwe, Dreieinigkeit, Größenphantasie, Vater Jesu Christi – kann
die Wahrheit Gottes verstellen. (Luther hat die Temporalität des Wort Gottes wahrgenommen und früh
darauf aufmerksam gemacht, daß aus lebendigem Geisteswort tötender Buchstabe werden kann. Es
komme auf ständiges geistliches Fortschreiten an.1)
Ex 3,14, die Offenbarung des Gottesnamens ‫ יהוה‬an Moses (in der Lutherbibel: „Ich bin der ich bin“), wird
von den Hebraisten gern übersetzt: „Ich werde dasein, als welcher ich dasein werde.“ Die vieldeutige
hebräische Relativpartikel ‫ֶׁר‬
‫ַש‬
‫ א‬ist hier – wie meist auch richtig – mit dem eindeutig persönlichen,
deutschen Relativpronomen übersetzt. Das betont die Verheißung als eine Zusage von Person zu Person,
ganz im Oberflächensinn der Erzählung – auf Kosten des typisch biblischen, theologischen Hintersinnes des
Textes, der den Gottesnamen dem sicher bescheidwissenden Verfügen des Gottesvolks gerade entzieht.
Näher am Sinn dieses Textes ist das Modell deutscher Dialekte, die sagen können: „Der Mann, wo gestern
hier war.“ In diesem Sinn wäre zu übersetzen: „Ich bin, wo ich bin.“ oder (auch temporale Bedeutung der
Partikel ist belegt, zB 2Chr 35,20), den Entzug noch stärker betonend: „Ich bin, wann ich bin“, im Sinne von:
„Die Zusage meines Beistandes hat keinen objektivierbaren Inhalt; ich interpretiere die Zusage meiner
Anwesenheit selbst.“ Vgl. 1Sam 2, 30, wo Gott als strafender Richter solch eine Zusage stracks
zurücknimmt!
Das ist das Gegenteil der neuplatonischen2 Erklärung zum gnostischen Mythos: „Dies alles hat sich nie
ereignet, es ist aber ewig.“
Gott ist die Wahrheit des Gottesnamens. Bisweilen straft sie ihn Lügen.
1
Frühes Beispiel in seiner ersten Vorlesung über den Psalter, Scholion zu Psalm 119,125 (WA 4, 365): Die
Trinitätslehre sei zur Zeit des Athanasius dem Arianismus gegenüber "Geist" gewesen; jetzt sei sie
"Buchstabe".
2 SALLOUSTIOS, De diis et mundo, c.4
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Grafitto in Bern: "Machs wie Gott, werde Mensch!"
Grafitto in Bochum: "God isn't dead, he is alive and well and considering a less ambitious project."
Die kirchliche Sprachtradition ist ausgelaugt; auch religiöse Sprache lebt vom gesamtsprachlichen
Austausch gelebten Lebens.
Mit dem Gottesgeist über den Wassern, Gott über dem Chaos, fing, nach biblischer Vorstellung, die
Schöpfung an. Über Gott und das Chaos vor dem Anfang haben wir nichts zu sagen. Besser als von dem
Schöpfer sollten wir deshalb von Gott, dem schaffenden, reden.
Unde malum, woher kommt das Böse, – die Frage der alten Gnostiker muß gestellt werden, wenn
behauptet wird, Gott, der Allmächtige, habe nur das Gute geschaffen. In gesellschaftlichem Interesse am
Glauben an das allmächtige Gute wurde die Frage tabuiert.
Die beiden göttlichen Eigenschaften der klassischen Lehre unterliegen in Wahrheit dem Chaos* der
trinitarischen Gotteslehre.
Der Heilige Geist kann sich als Mitgefühl im Ekel1 offenbaren.
Der Schöpfer sieht, was er getan hat. Es hat ihn schon einmal gereut2; er ließ die Sintflut kommen,
nachspülen. Manchmal möchte man vermuten, Gott müsse Gott zum Ekel sein. "Unser Gott ist ein
verzehrend Feuer" (Hebr 12, 29). Was verzehrt es? Es verzehrt, sagt die Bibel, alles "Unreine", diese ganze
ekelhaft gewordene Schöpfung. Gott verzehrt aber hauptsächlich seinen Ekel. Sein Abscheu geht in seiner
unfaßlichen Herrlichkeit unter.
Die christliche Ausdifferenzierung des Monotheismus bereitet sich vor im Alten Testament: ‫ַי‬
‫על‬
ָ ‫ְַך‬
‫הפ‬
ְֶׁ
‫נ‬
‫ִי‬
‫ִב‬
‫ל‬, "mein Herz wendet sich gegen mich", sagt (Hos 11, 8) der zornige Jahwe im Mitleid. Sie hat auch
bemerkenswerte Parallelen im späteren Judentum.
Der Tod als von Gottes Zorn verhängt – was kann diese biblische Überzeugung bedeuten für den, der zu
wissen glaubt: Ohne Tod keine Evolution, kein höheres Leben, kein Mensch? – : Der Tod offenbart den Zorn
Gottes, der, Deus ipse, gegen Gott kämpft.
Der biblische Gott ist ein lokaler Gott mit universalistischen Ansprüchen, die ihn in sich selbst
widersprüchlich machen.
Luther durchlitt zwischen Gott und Teufel die Ambivalenz der biblischen Existenzsymbole extrem. Der
öffentliche Legitimationsdruck und sein biblisches Wissen hielten ihn darin gefangen. Die – verheißungsvoll
chaotische! – Grenze seiner theologischen Möglichkeiten wird besonders deutlich in der Krise der Jahre
1527/283. Es stellt sowohl dem Luthertum wie seinen Gegnern ein schlechtes Zeugnis aus, daß die
Dokumente dieser Zeit so wenig beachtet wurden!
Gerechtigkeit ist ein Aspekt von Gott als Ideal; nach biblischem Zeugnis hat Gott sich entidealisiert.
Katastrophen schalten meine Idealphantasie um: von der Schöpferidee zur Christusidee. Beide sind diskrete
Ereignisse von Grandiosität.
Man denke an die Lehre von dem einen Gott in mehr als einer Person. Gott ereignet sich immer nur als je
eine Person. Idealisiert wird immer nur je eine Person.
1 LUTHER am
13.9.1526 an Nikolas Hausmann: Es ekelt Christus vor der Welt. Christum coepit taedere
mundani huius cursus ... affore diem illum extremum.
2 Gen 6, 6.
3 Dazu in GERHARD EBELINGs Buch Luthers Seelsorge (1997), Kap.XII. Der volle Wortlaut der einschlägigen
Lutherbriefe findet sich, als Word-Dokument, auf dieser CD.
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Gott schenkt uns – aus ihm selbst, in ihm selbst – unser Selbst.
Das Geschöpf ist die anstößige Erscheinungsform des Schöpfers.
Wir erleben Gott persönlich im Nebeneinander der Geschöpfe; nicht über oder unter ihnen, sondern im
Zufall von Ordnung.
Gott trauert mit den Trauernden; das Mitleid tröstet sie.
In der Not, mit dem Selbstvertrauen und dem Bescheidwissen am Ende (Anomie), muß man, gedemütigt,
neu hingucken, um verwundert Zeichen von Gottes Herrschaft zu sehen und bescheiden neu anzusetzen.
Lex ist Ordnung im Chaos.
Evangelium ist der persönlich sich uns zusprechende Gott, die verheißungsvolle Selbstoffenbarung des
Schöpfers im Chaos.
Die Herrschaft Gottes ins Auge zu fassen und Gottes Wundermacht in der Welt gegenwärtig zu sehen,
verlangt Energie.
Wenn wir uns gehen lassen, verfallen wir in Wiederholung; das Leben mit seinen ständigen (lustvollen oder
lästigen) Herausforderungen wird langweilig – und weil es langweilig wird, lassen wir uns gehen. „Wachet
und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallt!“
Das menschliche Verantwortungsgefühl erwächst aus idealisierter, von Größengefühlen getragener
Gemeinschaft. Der „allmächtige Schöpfer“ (und Erhalter) des kirchlichen Bekenntnisses ist, als das ens
realissimum verstanden, für alles verantwortlich. Eine alles umfassende Verantwortung ist eine archaische
Imagination. Diese Imagination aber bleibt lebenslang ein Jungbrunnen zur höchst persönlichen
Orientierung. Wir sollen teilhaben an der alles umfassenden Verantwortung; in jedem Anspruch sollen wir
auf diesen göttlichen Anspruch hören. Es geht um unsre menschliche Ansprechbarkeit, unsern Glauben an
die Sprache und unser, diesem entsprehendes, glaubwürdiges Reden.
Der Schöpfer, der „lebendige“ Gott „ist“ jeweils das Reale, dessen ganz persönliche Bedeutung
wahrgenommen werden will, – das als ens erscheinende ens realissimum.
Für unsere Augen ist Gott nicht gerecht!
Der Streit um die Reformation krankt an dem klassischen „Wissen“ von der Gerechtigkeit Gottes. In dessen
Vorurteile musste das Evangelium hineingepreßt werden. Dieser Ansatz wurde in unserer Glaubensgeschichte radikalisiert, und führte in systematischer Perfektion zu absurden Konstruktionen.
Es geht aber um Vertrauen, – das ja nicht in einer Mitteilung von Heilstatsachen, sondern in einer
tragfähigen Existenzsymbolik gründet. Unter dem Kreuz Jesu wird unser Verlangen nach Gerechtigkeit
ernüchtert.
Die Zufälle des Lebens erklären sich besser aus dem Vielerlei als direkt aus einem Willen. Gott will das
Vielerlei.
Wo man etwas machen möchte, aber nichts machen kann, sollte man beten. Gott ist die richtige
Speicheradresse für frustrierte Wünsche!
Die Anonymen Alkoholiker sprechen vor jedem Treffen: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge
hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit,
das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Das ist kein Gebet, sondern ein frommer Vorsatz, ein gutes
Programm, dem zuzustimmen Gott anständigerweise nicht umhin können wird. Aber Gott kann umhin!
Erst, wenn man das anerkennt, kann ein Gebet daraus werden.
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Man möchte, etwas leichtsinnig, sagen: „Die Schöpfung war ein Leichtsinn.“ (Das Wort schillert. Es war
ursprünglich ein Gegenbegriff zu Schwermut und bezeichnete Frohsinn, hat aber im 17. Jh. den negativen
Akzent von sträflicher Unbedachtheit bekommen.)
Wir sollten uns von Gottes Leichtsinn anstecken lassen. Gott ist nicht schwermütig, nicht vergrämt. Wer ihn
kennt, kennt ihn als aufmunternd zu gemeinsamen Abenteuern, die das Leben ausmachen, an dem wir, mit
all unsrer Vernunft, hängen.
Der Mensch braucht Begeisterung. Er organisiert sich ums Lust-Ich, seine Identität um Erlebnisse von Glück,
später ausartikuliert, in Begriffen hoch entwickelter Zivilisationen, als Ehre, Ruhm und Herrlichkeit. Das
Herrliche begeistert augenblicklich und motiviert auf die Länge.
Der Glaube an den Einen Gott findet sein Glück allein in Gott: Soli Deo sit gloria. Herrlichkeit, diese
kulturbedingte Qualifikation, aber ist gerade durchs Christentum relativiert worden; mit ihr wird – wie wir
heute sagen können: kindlich – auf Gott verwiesen, aber nicht Gott ausdefiniert. Gott begeistert und
motiviert auf seine eigene Weise!
Herrlichkeit ist mit Schuld verknüpft. In der sexuellen Zuspitzung der Libido, aber auch im Kampf um „Herr“schaft, spitzt sich die Ambivalenz zu. (Ohne Knecht kein Herr.) Herrlichkeit begeistert augenblicklich und
motiviert nachhaltig. Es geht um Macht, Vermehrung.
Gottes Bescheidenheit überwindet Schuld und Herrlichkeit.
Das depersonalisierende tägliche Erleben lässt uns nach dem Schöpfer fragen, der uns als Personen in
Anspruch nimmt.
Als Schöpfung Gottes ist die Welt, obschon für uns global uneinsichtig, ein Feld symbolisch sinnvollen
Verhaltens.
Angesichts der Weltläufte kann man sich Gott oft nicht anders als betrübt denken (vgl. Eph 4,30!). Aber
Paul Gerhard hat uns den Gott gepredigt, „der, ob wir ihn gleich hoch betrübt, doch bleibet guten Muts“.
Schöpfer und Geschöpf ist ein analytisches Begriffspaar. In Wahrheit können wir uns nur kreatürliche
Kreativität vorstellen!
Aus Gott, dem Schöpfer, empfangen, ist alles (auch das Alte) jeweils jetzt neu!
Im Verzweifelten ist Gott selbst verzweifelt.
Die biblischen Religionen sind sensationelle Wege zur Wahrheit. Ostasien scheint unsensationell dahin
gekommen zu sein.
Wir haben in der von Gott persönlich geführten Heilsgeschichte mit Israel und Christus eine sensationelle
Symbolik für die persönliche Identifikation. Vielleicht hängt diese Sensationalität mit der expliziten
Personalität der Existenzsymbolik zusammen.
In Ostasien ist die Personalität der Wahrheit wohl eher in der Beziehung zum selbstgewählten Meister
impliziert, während der Lehrinhalt unpersönlich ist.
„Gottes Lohn“ ist Teilhabe an Gottes Leben.
Die zutiefst erschreckende Wirklichkeit wird uns unversehens zum persönlichen Anspruch.
Zumeist aber leben wir, in kleinen und größeren Handlungszusammenhängen, mit kleinen Variationen
einfach immer so weiter. Dann und wann aber muß man sich, nicht nur in kleinen, sondern größeren
Zusammenhängen, neu orientieren; und wir fragen nach dem umfassendsten Zusammenhang, um ihm zu
entsprechen: „Was soll ich?“ Das ist eine anmaßende Frage; denn sie postuliert einen Schöpfer, der uns
Orientierung schuldig wäre. Aber wir können nicht umhin, sie zu stellen.
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Der Gottesbegriff repräsentiert das Leben als personale Herausforderung. Die Welt als personale
Herausforderung begeistert zu Sammlung aller Kräfte und ermutigt zur Kreativität. (Der Mensch ist, nach
verschiedenen Hinweisen des Neuen Testaments, zur Gottgleichheit bestimmt. Der Kirchenvater
Athanasius sagte: „Gott wurde Mensch, damit wir vergottet werden.“)
Man möchte sagen: Die Idee eines persönlichen Schöpfers fördert die Evolution des Menschen. Sie gibt ihm
einen Selektionsvorteil.
Aber wohin führt die Evolution? Die christliche Gotteslehre erinnert an die Bescheidenheit als den Boden,
auf dem segensreiche Kreativität wächst. Ohne Bescheidenheit werden Kreativität und Fortschritt zur
bösen Karikatur.
Ich traue mir nicht zu, immer wieder neuen Mißerfolgen und Enttäuschungen zum Trotz, Gott zu glauben.
Ich muß meinen Gott sterben lassen. Da bleiben nur Wörter, Teilsysteme (körperliche, seelische und
geistige Sinnbrocken) und die mönchische Todsünde ἀκηδία, die Gleichgültigkeit.
Aber die Teilsysteme reorganisieren sich – wie Hesekiels (Kap. 37) Knochenfeld. Das ist die göttliche
Schöpferkraft, iustificatio sola gratia.
Die Trinitätslehre ist die Substantivierung des Wortgeschehens; Mysterium, als dynamisches Symbol
vielleicht eine entlastende Hilfe gegen religiösen Wahn.
Der „eifersüchtige Gott“ bedeutet Kampf und Rivalität. Wir sollen versöhnt, ja neutestamentlich: „fröhlich“,
für die Wahrheit Gottes kämpfen.
Gott will die Schöpfung autonom. Er wünscht sie harmonisch-„kosmisch“. Das können wir nicht verstehen,
wie er es versteht; wir sollen es so gut verstehen, wie wir können. Dies ist die Thora für alle Welt.
Den (besonders autonomen) Menschen bittet er, von Person zu Person, um Versöhnung (2Kor 5, 20).
Gottes Friedenswunsch erfüllt sich in dem Glauben, den Gott uns schenkt, als Hoffnung für das Chaos der
autonomen Welt.
"Mein Gott" und "unser Gott" spezifizieren nicht einen Gott unter anderen, sondern bringen den Glauben
an eine Zuwendung des einen, wahren Gottes zum Ausdruck. Reden die biblischen Religionen vom Gott
aller Welt, dann ist unser Gott kein anderer als jeder Gott anderer Religionen, auch im Polytheismus, und
kein anderer als der der Atheisten – wieviel falsche Vorstellungen hier immer im Spiel sein mögen. Wir
haben mit unserem Gotteszeugnis zwar nur eine Stimme in der Polyphonie der Gotteszeugnisse; aber die
dürfen und sollen auch wir ehrlich erheben.
Dysfunktionalitäten sind das Material für Innovation. (Wenn man bedenkt, wie unwahrscheinlich die vielen
stabilen Formen sind, die uns umgeben, ahnt man, wie viele weniger stabile Formen bis hierhin zu
durchlaufen waren.) Zur lebendigen Schönheit gehören Dysfunktionalitäten, die die Phantasie des
Betrachters zu Kreativität stimulieren. Eine fertige Welt können wir uns nicht wünschen.
Damit hängt sicher auch die religiöse Phantasie vom weisen Schöpfer zusammen, dessen Gedanken
nachzudenken man sich bemüht. Die Gottesidee ist ein entwicklungsförderndes, vielfach bewährtes
Selbstprojekt.
Vergeblichkeit ist schmerzlich. Man kann von der Vergebung des Schöpfers lernen, damit zu leben.
Der Mensch kann Gott und Teufel nicht unterscheiden.
Gott, der Vater, ist: das große Andere, in Anspruch genommen, lebbar vermittelt von der Verheißung, die
uns als Wort Gottes überliefert ist.
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Die immer neue Frage: „Warum schickt Gott dieses Unglück?“ ist förderlich für kreativen Umgang mit dem
Unglück. Man muß dabei allerdings, zum Schutz gegen Wahnbildung, die Lehre von der Unerforschlichkeit
der Gedanken Gottes beherzigen.
Der gütige und weise persönliche Gott ist ein heuristisch wertvolles Konzept. Es fordert mich auf,
angesichts der Realität, mich zu besinnen, um zutiefst darin guten Sinn für mich zu finden.
Fromme Überlieferung hat uns das mündig machende Wort „Gott“ anvertraut. Wer sich darauf einläßt, ist
nicht verloren.
Gott ist das Chaos, in dem wir Ruhe finden.
Jeder muß sich als Mitschöpfer der Welt fühlen und ist berufen, als solcher lustvoll (im Sinne des expressive
need) mitverantwortlich zu wirken.
Das „Wirken“ darf man nicht zu eng sehen: Es ist einfach Wirklichsein; mitwirken mit den Umständen, vor
allem: Mitfühlen, sich Hineindenken. Daraus ergibt sich zu seiner Zeit auch ein Handeln.
Unter bösen Umständen gelebter Glaube an das Gute ist schön, ein erhebender Eindruck. Solcher Glaube
findet Anhalt an der überlieferten Vorstellung vom persönlich gegenwärtigen Schöpfer.
Gott vereinzelt den Verschmolzenen und verschmilzt den Vereinzelten.
Was tut Gott? – : Er läßt bitten, er empfiehlt, er gibt Weisung, er spricht, ohne zu reden. Und er läßt
gewähren.
Wenn, in einer verknoteten Situation, ich mich erinnere und sage: "Gott vergibt, daß Gott gegen Gott
kämpft," so kann ich eine Lösung finden.
Gott vergibt, daß Gott gegen Gott kämpft. 1 Wenn in diesem Satz nicht von drei Offenbarungen Gottes die
Rede wäre, könnte man ihn mit Reflexivpronomen eleganter formulieren.
Das Reflexivpronomen "sich" mit Bezug auf Gott (etwa: „Gott kämpft gegen sich selbst“), verdeckt einen
unauslotbaren Abgrund: Wir können zwei Gottesoffenbarungen bezeugen, aber von der Beziehung Gottes
zu sich selbst kann nur er selbst reden. Hier hilft kein Gesetz "A = A"; denn Gott ist nicht „gleich“ Gott,
sondern ist Gott, der auch ungleich Gott sein kann!
Mein Symbol „Gott vergibt, daß Gott gegen Gott kämpft“ bezieht sich auf das Leben als Konfliktproblem.
Das trinitarische Konfliktsymbol leistet in der Not seine Hilfe, „auf daß Gott sei alles in allem“, wie das
Symbol des Letzten bei Paulus lautet (1Kor 15, 28). Auch dieses Symbol aber hat seine immer wieder
begrenzte Zeit. Unser Leben ist bis zuletzt immer wieder Kampf.
„Gott vergibt, daß Gott gegen Gott kämpft“ (GLp*) zum Trost in Alltagsnöten – ist das nicht ein Bißchen
hoch gegriffen?
Alltagsnöte haben eine bedrängende Kraft, die man früher dämonisch nannte. (Luther hat diese Bedrängnis
erstaunlich großzügig dem Teufel zugeschrieben.) Angesichts dessen, daß wir alles Seiende im Grunde
personal erleben (das kommt in der Gestalttherapie schön heraus), muß man sagen, daß unsre Seele die
Bedeutung unserer Erlebnisse ohne unser Zutun überhöht. Religiöse Sprachen sind Dialekte unserer Seele,
ein Kulturerbe von unschätzbarem Wert. Man muß sie sehr gewissenhaft brauchen – wie vom Untergang
bedrohte Dialekte.
1
Mein Aufsatz GLp*.
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Mit einander kämpfende Ich-Anteile werden symbolisch integriert, je wann1 ich jenen Trost-Satz
einzusetzen wagen kann. Er löst die Verspannung. Das Unheimliche wird in Gott verschlungen.
Das Grundgefühl, gefährdet zu sein, findet, auf dem Wege über selbstwidersprüchlichen symbolischen
Ausdruck, zu Annahme des schmerzlich Widerlichen und endlich zu differenziertem Ausdruck in der
Alltagssprache und Handlungsfähigkeit.
Meine trinitarische Formel (GLp*) ist, wie nolens volens schon die altkirchliche, ein Koan. Eine nicht
paradoxe Gotteslehre wäre Ideologie.
Gott bekämpft, daß Gott integriert. Gott vergibt, daß Gott gegen Gott kämpft. (GLp*) Wir sind in dieser
Bewegung inbegriffen, die wir nur als chaotisch begreifen können. Das ist der postchristliche Sinn des
Wortes Gott. Der Name symbolisiert Integration.
Die mächtigen Eltern sind eine Vorstellung, mit der das Kind Angst überwinden kann, – wie der Patient mit
dem Halbgott in Weiß und der Erwachsene mit Gott dem Vater.
Mein Koan ist das Gottesbild eines Kindes aus einer spannungsvollen Ehe.
Wir können Gott und Welt nicht sicher unterscheiden.
Die Prädestination, die Vorherbestimmung des Menschen, wurzelt nach lutherischer Lehre im Heilswillen
Gottes, namentlich in Christus, der ewigen, an der Schöpfung beteiligten zweiten Person der Gottheit.
Angesichts der realen Geschichte wird, im Anschluß an Paulus (Rm 9-11), die Vorherbestimmung einiger
Menschen zur Verdammnis gelehrt. Auch sie ist christologisch zu begründen: Seine Treue führt Gott zu
seiner eigenen Verdammnis! Nach Luther hat der Gekreuzigte nicht nur die Strafe, sondern die Sünde, auf
sich genommen.
Subjekt der Prädestination ist der Deus exlex. Calvinistischer Stoizismus und lutherisch christologische
Begründung stehen sich hier gegenüber im Spektrum des Wortgeschehens.
Was Gott von uns will, offenbart er uns, ob wir wollen oder nicht, durch seinen Namen, – der uns auch
erinnert an das, was er unseren Müttern und Vorfahren im Glauben gesagt hat.
Die Trinität als seltsamer Attraktor ist, wie der Lorenz-Attraktor, parameterabhängig! Der Glaube an den
dreieinigen Gott ist höchst umständebedingt!
Die Schöpfung ist ein Spiegel Gottes (Ps 19).
Auch ohne gegenwärtige Menschen, die mich als Person herausfordern, bin ich der Berufung zum
Personsein ausgesetzt, die ich nicht besser kennzeichnen kann denn als Ruf meines Schöpfers: Ich bin dazu
geschaffen, Person zu sein.
Gott verpflichtet persönlich, insofern „ist“ er Person.
Gottes "Ruf, Berufung, Anspruch, Rat" ist klarer als Gottes "Wort". Es ist immer eine persönliche
Herausforderung!
1
„Wann“ als Konjunktion, statt des korrekten „Wenn“, vermeidet den abgeflachten Sinn eines
kausalen Mechanismus (oder gar einer logischen Implikation) und insistiert auf der persönlichen,
zeitlich-existenziellen Beteiligung als Bedingung. Das ist Pascals logique du cœur, die Logik
religiöser Glaubenslehre.
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Ohne Gott vergotten wir die Welt. Wir sollen auch Jesus nicht vergötzen; deshalb ist sogar die
Kreatürlichkeit Jesu uns entzogen (2Kr 5, 16). Wir bleiben da, mit dürftigen und widersprüchlichen
Informationen, auf selbstgemachte Rekonstruktionen angewiesen.
Gotteslehre ist Mythologie.
Mein "bescheidener Gott" ähnelt dem (nach vollbrachter Tat in den Hintergrund getretenen) Schöpfergott
afrikanischer Religionen. Aber wir können bezeugen, daß er (im Unterschied zu diesem) durch sein Wort in
die Geschichte eingreift.
Immer wieder meinen wir zu wissen, was gut ist, und sind dann bitter enttäuscht, daß es anders
herauskommt. In der Freudlosigkeit ist uns immer überraschende Ruhe und Freude verheißen, wenn wir
bescheiden, vorurteilslos den Schöpfer um Rat fragen.
Auch das Grundgefühl einer Teilhabe an der Allmacht in ihrer Bescheidenheit kann einem durch ein paar
Erfahrungen von Vergeblichkeit entzogen werden. Es bleibt eine elende Sinnlosigkeit des Funktionierens –
ohne eine Symbolik, die das „ozeanische* Gefühl“ artikulierte.
Diese Anfechtung müßte mitmenschlich aufgefangen werden, "einer des andern Christus sein" in der
„Vergebung“ des Unglaubens. Da wird der Unglaube als Gottes Unglaube mitgetragen, als Gottes, des
Schöpfers, Gegenwart hier und jetzt.
Unser Heil ist Gott selbst, sonst nichts!
Gott ist das kulturelle Du hinter dem mütterlichen Du der Natur.
Neben dem Götzen erscheint der wirkliche Gott als armer Teufel.
Die Christologie schließt weder Israelologie noch theologische Anthropologie aus. Die Pointe ist keine
Exklusivität Jesu oder Israels oder der Menschheit, sondern Gottes Anweisung, ihn in dieser Welt zu
erkennen, sein real existierendes Geschöpf (exemplarisch: Jesus, den gekreuzigten) als seine Offenbarung
anzuerkennen. Finitum capax infiniti! Es geht um die gegenseitige Inklusivität des Schöpfers und des
Geschöpfs.
Dieser persönliche Appell des Schöpfers steht im Zentrum des Christentums.
Die Lehre von Schöpfung und Weltherrschaft Gottes ist immer vom Hier und Jetzt aus zu nachzuvollziehen.
Gott berät uns individuell, und jeder muß in Freiheit seine Vergangenheit weiterleben, – was weitgehende
Gemeinsamkeiten nicht ausschließt.
Meine Gottesidee ist mein Ideal-Ich. Der Monotheismus ist eine Ich-Idealisierung. Gottes rechtfertigendes
Dasein extra me ist das stabile Ideal gegenüber dem Wirklichen. In der Rede von Gott organisiert der
Mensch in seinen Orientierungsproblemen und „moralischen“ Spannungen seine Identität.
Eine Gottesvorstellung (-begriff oder –idee) ist immer zu verstehen als eine Gottesgabe.
Wir können zwischen dem „Evangelium“ („Das Chaos hat in Gott seinen bleibenden Grund“) und dem
„Gesetz“ („Gott hat seinen bleibenden Grund im Chaos“) nicht objektiv unterscheiden. Wir sind da aufs
Spiel subjektiver Wahrheiten gesetzt.
In einem scheußlichen Milieu – wo ist hier Gott? Menschlichkeit beginnt mit Identifikation; und diese kann
kreativ werden, von Gott hier und jetzt „zum Bilde Gottes“ geschaffen.
Ich bin „allein“, ja, aber allein in meiner Welt, und also nicht allein. Wenn ich mir meine Wahrnehmung der
Welt zu Herzen gehen lasse, muß ich zugeben: Sie ist unübersehbar und unergründlich, nicht nichts und
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nicht niemand! Das Evangelium sagt: Was du hier siehst, aber nicht übersiehst, das ist die Gegenwart
Gottes, dein Ort; nimm ihn ernst!
Man kann seine Wahrnehmungen an verschiedene Schemata assimilieren, die in verschiedener Weise
vereinfachen und Verschiedenes hervorheben bzw. verdecken. Eines davon ist „Schöpfung“; und dieses
stimuliert die (malerische, wissenschftliche, soziale oder andere) Kreativität der Wahrnehmung.
Empfindende Wesen sind auch sterblich. Auch unser Mitempfinden ist sterblich.
Der Gott, an den die Kirche glaubt, empfindet. Er ist für uns, uns voraus, gestorben; wir leben (und sterben
ständig) mit ihm; und er, der Schöpfer, lebt in der Schöpferkraft des Glaubens (Luther).
Die Kirche glaubt, daß Gott die Welt liebt. Er ist den empfindenden Wesen „gnädig“, bescheiden dankbar.
Auch "der bescheidene Schöpfer der Freiheit" ist nur etwas, was wir verstehen können, ein Gottesbild, –
nicht die göttliche Wahrheit, an welcher dieses nur irgendwie teilhat.
Bescheidenheit, eine perfectio Dei
Lange hoffte man auf eine Zukunft, wo Gottes Regiment zum Ziel kommt. Diese Zukunft hat aber mit der
Ausgießung des Heiligen Geistes bereits angefangen; und das Wesen der Herrschaft Gottes ist als Gottes
Brüderlichkeit in Jesus offenbart.
Man versucht, die eigene Person zu integrieren nach Vorbild der Herrschaft Gottes über die Welt. Gottes
bescheidene Herrschaft ist Liebe. Selbstbeherrschung nach dem Vorbild der in Jesus offenbarten,
bescheidenen Herrschaft Gottes befreit zur Kreativität.
„Gott lässt sich nicht spotten!“ (Gal 6,7). Das ist theologia gloriae gegen die Hoffärtigen. Aber Gott lässt sich
spotten (Ps 22,7f., Mt 27,41), zB durch Tauf- und Bekenntnismißbrauch! Und Gott spottet (Ps 2,4); er macht
Hoffart lächerlich.
Der Fromme soll, im Unglück, von Gottes Bescheidenheit lernen, seinen Gott zu entidealisieren.
Berhard von Clairvaux sagte, daß Gott sich nicht weiter erhöhen konnte als durch seine Erniedrigung in
Jesus. Hier bleibt allerdings die Allmacht der Bezugsrahmen. Dieser muß aber relativiert werden.
Das Adjektiv omnipotens kommt schon bei Catull und Vergil vor.
Gott ist (am spürbarsten in mitmenschlicher Teilnahme) in seiner Schöpfung bescheiden anwesend. (Man
ist damit nahe bei Hölderlin, dem Zögling des Tübinger Stifts!)
Auf dieser Linie wäre wohl ein theologischer Zugang zu allen Phänomenen des antiken Polytheismus,
seinem eindrucksvollen Wiederaufleben in der Weimarer Klassik und auch zu dem religiösen Wildwuchs
unserer Tage zu finden.
Die Lehre von den Vollkommenheiten Gottes wäre neu zu durchdenken.
Im Jahwismus war es um Macht und Herrschaft Jahwes gegangen. Im klassischen Monotheismus ging es um
Allmacht Gottes.
In der Vertreibung Israels aus dem gelobten Land und angesichts der Zerstörung des Tempels ging es um
die Offenbarung Gottes in der Ohnmacht. Zu jener Zeit hat sich der Allmächtige in der Ohnmacht Jesu
offenbart. Zweitausend Jahre lang haben wir im Zeichen dieser Offenbarung leben gelernt, uns selbst und
die Welt erlebt.
Ich möchte heute sagen: Alle Dinge bezeugen uns die Bescheidenheit Gottes.
Die Kirche hat ihre Aufgabe als mater et magistra schlecht und recht erfüllt. Die kirchliche Lehre von Jesus,
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dem Schöpferwort, relativiert die Kirchen und hat einer neuen, postchristlichen Frömmigkeit den Boden
bereitet.
Gott lebt bescheiden im unbescheidenen Miteinander der Kreaturen.
Man ruft zu einem imaginären Gott und da ist niemand, der hört. Erschreckend. Aber bisweilen ist einer
real da, Gott oder Mensch, der die Not des Rufenden hört, sich zu Herzen gehen läßt und entsprechend
antwortet. So ist Gott rettend da; der Schreiende kommt zur Ruhe. Die Erfüllung überbietet die
Gotteserwartung in befremdlicher Weise.
Wir sind aufgefordert, sein bescheidenes Leben mit Gott zu teilen. Dieses Leben und dieses Teilen ist ein
chaotischer Prozeß.
Der Allmächtige hat aus Bescheidenheit die Welt geschaffen und erhält sie aus Bescheidenheit.
Gottes Bescheidenheit ist der Ermöglichungsgrund des Polytheismus (Expansion), der chaotischen
Gegenbewegung zur monotheistischen Sammlung und Besinnung (Kontraktion). Aus gesammelter
Betrachtung (speculatio) heraus aber erwächst wieder tendenziell polytheistisches Mythologisieren (das
tadelten die meisten Juden und später die Mohammedaner am Christentum) und kreative Lehrbildung. Es
gibt unfrommen Monotheismus und unfrommen Polytheismus. Einer der Großen Kappadozier sah in der
Trinitätslehre die rechte Mitte zwischen dem jüdische Monotheismus und dem hellenischen Polytheismus.
"Gott, der Herr über Tod und Leben..." – Wie? – : Nicht in Allmacht, sondern in schöpferischer
Bescheidenheit!
Gottes Selbstbescheidung durch die Schöpfung ist ein Verzicht auf Einzigkeit. Einzig Gott verzichtet auf
Einzigkeit.
Von daher sind die Particulae exclusivae der Reformation zu relativieren!
Ist Gottes Bescheidenheit eine postchristliche Idee?
Der bescheidene Gott ist ein christliches Ideal für die ethische Grundorientierung.
In meinem Konzept der Bescheidenheit Gottes wirkt sich, ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten
Weltkrieg, mein Jesusverständnis als Interpretament der Gotteslehre aus, – wie die Vertreibung der Juden
aus Spanien sich 50 Jahre später in der Lehre vom Zimzum auswirkte (G. Scholem).
Gott als Schöpfer ist gegenwärtig.
Allein von hier, von seiner gegenwärtigen Dynamik, von seinem gegenwärtigen Anspruch aus, ist die Welt
zu verstehen als sein Geschöpf.
Dieser uns heute treffende Anspruch ist in Jesus Fleisch geworden. Als Schöpfer der Welt ist also der Gott
anzubeten, dessen Bescheidenheit uns in Jesu Kreuzigung offenbar geworden ist.
Der Schöpfer ist bescheiden. Gott hat sich beschieden. Die alte Kunde vom Allmächtigen hat enttäuscht und
regt auf; aber man kommt immer wieder darauf zurück.
Die Schlange zischelte vom Baum der Erkenntnis herab etwas vom letzten Urteil über uns.
In vielen Kulturen und Religionen wartet man auf ein jüngstes Gericht. Aber der in Jesus offenbare Gott
richtet nicht so, wie unser Hunger nach Gerechtigkeit es erwartet. Gottes letztes Urteil über uns ist die
befreiende Offenbarung seiner Bescheidenheit am Kreuz Jesu.
Allmacht ist ein imaginärer Begriff. Gott ist mächtig. Er demütigt die Hoffärtigen, die sich an Gottes Stelle
setzen wollen, durch die Offenbarung seiner Wahrheit: der göttlichen Bescheidenheit.
Er erschließt uns den Reichtum der Welt durch das Beispiel seiner Bescheidenheit.
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Wir sollen das Recht und das Gute lieben; wir dürfen dafür leben und sterben als für „ein weltlich Ding“.
Auch der Gottesglaube, der durch die Übermacht des Bösen zerschlagen wird, ist ein "weltlich Ding". Gott
will, daß das Böse unseren Glauben an das Gute und an Recht und Gerechtigkeit, ja an Gott, erschlägt. Am
Kreuz Jesu ist der wahre, der bescheidene Gott offenbar geworden! Hier entspringt die „Hoffnung, die nicht
zu Schanden wird“.
Es gibt kein Heilsgebot, das wir halten könnten, auch nicht: Bescheidenheit! Das Mysterium iniquitatis, die
"Sünde wider den Heiligen Geist", ist die Unbescheidenheit. Wir sind von Natur Übertreter.
Das Allmachts-Konzept gehört in unsre psychischen Grundlagen. Wir mögen diese lebenslang
weiterentwickeln. Sie bleiben lebenslang grundlegend. Wir kommen auch als Erwachsene auf unser reifes
Niveau nur dadurch, daß wir unseren psychischen Apparat immer wieder (vom Anfang an) „hochfahren“
wie einen Computer.
Bescheidenheit ist ein hohes Niveau der Äquilibration (sensu Piaget) von Macht-Vorstellungen. Allmacht ist
alle Macht für einen Willen; dieser ist dann eine complexio oppositorum. Denn Äquilibration ist Integration
von Subsystemen, Wünschen, inter- und intra-personell.
Gerade die eigentliche Rede vom ewigen Gott, Gottes Wort als Geschehen in der Zeit, ist metaphorisch.
Wie ich dazu komme, von Gottes Bescheidenheit zu reden? –: Im Hintergrund steht wohl das zimzumVerständnis Isaak Lurias, das ich in GERSHOM SCHOLEMs Die jüdische Mystik kennen lernte.
Bescheidenheit ist mir in theologischem Zusammenhang zuerst bei Michael Servet begegnet, der von der
modestia Jesu schreibt.
Ferner habe ich in pädagogischen Zusammenhang Bescheidenheit als Parole gegen Emanzipation
vorgeschlagen. Mich hat an dem deutschen Wort die Verwandtschaft mit „Bescheidwissen“ gefreut. Luther
noch übersetzt einmal das neutestamentliche γνῶσις mit Bescheidenheit! Ich schrieb darüber eine Miszelle
in einer religionspädagogischen Zeitschrift.
Ich hatte mich auch schon ernsthaft gefragt, ob man nicht, statt von Gottes Lohn, von Gottes Dankbarkeit
reden müßte.
Dann kam mir die Formulierung „Gottes Bescheidenheit“. Die beiden zentralen Sätze meines „Testaments“
habe ich dann in der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie zur Diskussion gestellt. Das Echo war
so enttäuschend, daß ich aus dieser Gesellschaft formell ausgetreten bin.
Verfestigt hat sich mir dieses Lehrstück in der Vorbereitung auf die Mitarbeit in einem Seminar über
„Evolutionäre Ethik“. Ich war, via Richard Dawkins, auf Darwin gekommen.
Unter dem Eindruck der akkumulierten Evidenzen des Lebens verzichtet der moderne westliche Mensch auf
den Gottesbegriff. Ich halte das für einen Kurzschluß, – zu dem man allerdings mit einem infantilen
Gottesbegriff genötigt ist.
Subjekt der göttlichen Bescheidenheit ist die göttliche Herrlichkeit.
Sowohl im Christentum wie im Judentum hat die alttestamentliche Frömmigkeit Reifung erfahren. Dem
folgen die theologischen Wege von der Allmacht zur Bescheidenheit.
In welchen praktischen Zusammenhang gehört die Bescheidenheit Gottes?
Die christliche Tradition denkt nur an das Vorbild von Demut, das Gott uns gegeben hat in Jesu Verzicht auf
Ausübung seiner göttlichen Allmacht und seine Unterwerfung unter den Willen des Vaters.
Eine jüdische Tradition, die von Isaak Luria (16. Jh.) über den Chassidismus läuft, geht viel weiter. Sie
konzipiert für die Schöpfung einen Rückzug (zimzum) Gottes, der allererst den Raum geschaffen habe für
die Welt. Hier deutet sich so etwas wie eine Selbstbescheidung Gottes als Schöpfers an! Gershom Scholem
hat auf den praktischen seelsorgerlichen Zusammenhang hingewiesen. Er hat die Lurianische Mystik
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verstanden als eine theologische Verarbeitung der Glaubensanfechtung, die die Vernichtung des
Judentums in Spanien (1492) darstellte.
In solchem Sinne sollte, unter den neuen Glaubensanfechtungen der Moderne, auch die christliche
Gotteslehre weiter entwickelt werden.
„Gottes bescheidenes Leben teilen“, das ist: Hier und Jetzt, in Verantwortung für das Ganze, das
Bestmögliche schaffen.
Wenn von frommen Menschen heute Zweifel an Gottes Allmacht geäußert werden, so ist das eine
Wahrnehmung von Gottes Bescheidenheit.
Die Rede von der Bescheidenheit Gottes verliert ihre Aussagekraft, wenn sie nicht Prädikat des herrlichen
imaginären Subjekts ist, das in der menschlichen Seele wohnt.
Wäre Gott nur der Allmächtige, so wäre Gott nur Subjekt. Aber Gott ist bescheiden; so ist er auch unser
Objekt – und der Mensch ein Subjekt, das Bescheidenheit lernen muß.
Es steht uns zu, von Gott zu reden, nur wann und wo es ihm gefällt, – auch von seiner Bescheidenheit. Sie
hält dazu an, manchmal nicht von ihm zu reden.
Der Allmächtige ist bescheiden, die Göttchen sind unbescheiden.
Wir sollen in dieser Welt uns, im Sinne der schöpferischen Bescheidenheit Gottes, der gemeinsamen
begrenzten Freiheit freuen.
Der Allmachtsbegriff ist eine Abstraktion aus der konkreten Bescheidenheit des Schöpfers.
„Gott, unser Vater! Du hast auf Deine Allmacht verzichtet und die Welt geschaffen. Und wir sollen Dir
gleich werden. Das soll auch uns helfen, das Zeitliche zu segnen.“
Gott ist bescheiden. Wer ihn deshalb ignoriert, ist, inmitten des Weltgeschehens, orientierungslos der
eigenen Willkür ausgeliefert.
Als "Gottes Abwesenheit" in Not und Unrecht beklagt der Fromme, in Gottes Namen und unter Gottes
Wort, die quälend bescheidene, aber immer schöpferische Anwesenheit des Allmächtigen.
Immer wieder stellt sich mir die Frage: Zu was ist die Gottesidee nütze, die Rede von dem bescheidenen
Gott, der die Welt frei will und nur beratend eingreift? – : Sie soll den Weg des Lebens weisen; in der immer
wieder anderen Situation immer wieder Bescheidenheit lehren.
Der zimzum, der Rückzug Gottes in der Lurianischen Schöpfungslehre, entspricht der κένωσις (der
Selbstentäußerung Gottes von Phil 2,7) in der Paulinischen Christologie. Luria definiert im Schöpfungsakt
einen Zeitraum der Selbstverneinung Gottes.
Daß Gott unschuldig und der Mensch vor ihm ein Sünder sei, ist wesentlich vorchristliche Theologie! Das
unerklärliche Unglück wurde als Strafe für unwissentliche und angeborene Sünde erklärt.
Gott hat freie Geschöpfe gewollt. Zusammen mit den Geschöpfen (als Tätern und als Opfern) trägt
hauptsächlich er in Christus die "Strafe" für ihren Gebrauch der Freiheit. Erst in seinem Leiden kommt
unsere vermessene Suche nach den Schuldigen zur Ruhe.
Er hat uns in unserer Schuldverstrickung sein Wort als Anleitung zu Freiheit gegeben.
Um sich mit der eigenen Vergeblichkeit und Verlorenheit abzufinden, muß man nicht nur das eigene,
sondern das Leben schlechthin, ja die Welt schlechthin, lieben – mit der in Christus offenbar gewordenen,
unendlich bescheidenen Liebe des Schöpfers, der unscheinbaren Kraft des Heiligen Geistes.
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Von Gottes Dankbarkeit kann man nur wie von der Konsubstanziation des Leibes Christi in usu, nämlich
meditativ, reden. (Transsubstanziation ist eine naive Verdinglichung von Existenziellem.)
Gott erwartet mich. Das ist seine schöpferische Bescheidenheit.
Gott hat seine Bescheidenheit in einem scheiternden Heilbringer offenbart.
Der Glaube ist so exponiert wie Gott durch die Schöpfung.
Gottvertrauen lebt aus Gottes väterlicher vertrauensvoller Wundermacht, die auch Raum für unsre
Gottlosigkeit hat.
Es ist eine „Regression im Dienste des Ich“ (Ernst Kris), eine angeborene menschliche Möglichkeit und tut
uns gut, kindlich Gott als bescheidene Allmacht, als väterlichen Freund zu phantasieren. Es mobilisiert unsre
besten Kräfte.
Wir müssen von Gott Geduld lernen.
Die Kirche bezeugt Gottes Ja zu Jesus; daß Gott Jesus dankbar war für sein Ja zu seinem Dasein. Ich
verstehe, dass Gott all seinen Geschöpfen dankbar ist für ihr Ja zum Dasein1, den Menschen für ihr
Mitdenken und dafür, dass jeder nach seinem besten Wissen und Fühlen, oft mit unsicherem und
schlechtem Gewissen weiter sein Bestes tut – trotz der Beschämung im Rückblick auf sein bisheriges Tun.
Nur Gott kann einen Menschen und sein Tun beurteilen. Aber – das ist die frohe Botschaft: Gott will das gar
nicht!
Paulus sagt (Röm 8, 22): Die ganze Schöpfung liegt in Wehen und stöhnt.
Die Schöpfung ist die Ehre des Schöpfers. Gott ist dankbar für den Kampf der leidenden Kreatur.
Uns scheint der bescheidene Gott oft betrüblich, allzu bescheiden.
Wir haben ihm immer schon vorgegriffen und müssen uns umdrehen und uns nach seinem Vorbild
bescheiden korrigieren.
Menschliche Dankbarkeit gegen den gnädigen Gott ohne Gegenseitigkeit setzt das ewige Summum bonum
voraus, dem man die zeitliche, dem Bösen verfallene Welt gegenüberstellt.
„Gnade“ in diesem Sinne ist nicht schöpferisch, sondern ein „Ungeschehenmachen“. Sie hält sich im
Rahmen des „Gesetzes“.
Der dankbare Schöpfer ist ein zwischen χάρις und χαρὰ schwingender Friedensgedanke.
Meine Bescheidenheits- und Dankbarkeitstheologie wirkt schwach (→ „Geborgenheit“!). Ist sie der Boden,
in dem Kräftiges wachsen kann? Versetzt dieser Glaube Bäume und Berge?? Er gibt höchstens ἀταραξία.
Motiviert er zum Kampf gegen oder für etwas? Zu Aktion? – : Er sammelt und macht aufmerksam, entlastet
von Unfug und erleichtert damit die Organisation des Willens.
Im Zeichen der theologia gloriae (die man nie ganz loswird!) erlebte Luther den Christus praesens als den
Teufel, als „larva Dei“, Maske des unfaßlich großen Gottes.
Gottes Bescheidenheit ist Selbstaufhebung in die Sichtbarkeit Verwechselbarkeit.
Die Rede von der „Herrlichkeit Gottes“ ist mir vergangen; sie scheint mir primitiv;
meine Symbolisierung der imaginären Herrlichkeit ist nivelliert. Mein Glaube an den wirklichen, den
1
Dasein ist Ja zum Dasein, wenngleich nicht immer Ja zum eigenen Dasein.
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bescheidenen Gott in seiner Schwäche ist in mir aber selten aktuell, meist weniger begeisternd als andere
Symbole.
Dem Sabbat-Gebot ist zu entnehmen, dass Gott die meiste Zeit (6:1) hinter seiner Schöpfung zurücktritt.
Gott, – „der die Welt unendlich sanft in seinen Händen hält“ (Rilke) – scheint uns schwach.
Auch die Gravitation ist schwach, die doch, mit langem Arm, die Welt zusammenhält!
Wir sind schuldig. Gott hat in Christus unsre Schuld auf sich genommen. Gott ist an allem Schuld. In Christus
haben wir Anteil an Gottes Schuld.
Gott ist dir dankbar für deine Übernahme deiner Mitschuld.
Das Geschöpf ist frei; aber es ist nicht freiwillig in die Welt gekommen. Erst nachträglich kann es sein Dasein
wollen und sogar dafür dankbar sein.
Jesus hat exemplarisch im Namen des Schöpfers der leidenden Kreatur für ihr Dasein gedankt. Das ändert
das Gottesbild ein für alle mal und immer wieder! In Jesus wurde nicht Gottes Leid, sondern Gottes Mitleid
Thema.
Die Tugend als, nach Aristoteles, Mitte zwischen Extremen, hat mit Bescheidenheit zu tun. Nach Eduard
Mörike liegt "in der Mitten holdes Bescheiden". Aber der christliche Glaube hat Gottes Bescheidenheit
nicht nur in der Mitte, sondern allenthalben erfahren.
Der Mensch muß – und angesichts Jesu kann er – in vielen Anläufen Bescheidenheit lernen, indem er lernt,
daß der Allmächtige bescheiden ist.
Auf der Linie von Luthers Hiphil-Theologie1 ("iustitia Dei" qua nos iustos facit) kann man sagen: modestia
Dei, qua nos modestos facit. Das Christentum macht bescheiden; die klassische Form davon hieß Demut.
Wenn wir Gottes Aufforderung folgen, sein bescheidenes Leben mit ihm zu teilen, können wir leben ohne
Absicherung in einem kosmos*-Glauben; und auch unsere Ideale von Gerechtigkeit, Voraussicht und Macht
werden nicht vergötzt, sondern rücken bescheiden an ihren Ort.
"Was soll ich?", als Frage an Gott, muß ihn nicht als Herrn, sondern kann ihn auch als Berater ansprechen.
"Ich soll eingreifen, aber Gott greift nicht ein??" Gott, in der Bescheidenheit des Schöpfers, will die
Geschöpfe, und auch uns als moralische Subjekte: frei, zu kämpfen und zusammen zu leben.
Gott selbst kämpft durch sein Wort. Er macht sich nicht die Hände schmutzig: Er läßt sich von Kopf bis Fuß
besudeln!
Was er sonst noch tut, wissen wir nicht und brauchen wir nicht zu wissen.
Das Erlebnis nicht recht verständlicher Macht ist für Religion wesentlich. Zunächst werden verschiedene
"Mächte" erlebt; Religion artikuliert sich polytheistisch.
Durchgesetzt hat sich Monotheismus. Er ist zentriert um eine Allmachtsidee, die man heute primitiv
nennen muß, – und bleibt meist darauf sitzen. (Demgegenüber ist Erinnerung an den (bescheideneren)
Polytheismus ein Fortschritt.)
Entwicklungspsychologisch geht sie auf den "primären Narzißmus" (Freud) zurück. Heinz Kohut hat die
Entwicklung des Narzißmus studiert (und die abstoßende Freud'sche Terminologie später geändert). In
diesem Sinne wäre auch der religiöse Allmachtsbegriff zu neu durchdenken.
Kohut sprach von Einfühlung, Weisheit und Humor als reifen Formen von Narzißmus. In Anbetracht sowohl
1
Ausdruck Gerhard Ebelings für die charakteristische Denkfigur des Alttestamentlers Luther.
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pädagogischer wie theologischer Problemfelder, möchte ich auch Bescheidenheit als Form eines reifen
Narzißmus bezeichnen.
Die bescheidene Offenbarung ist unscheinbar.
Gottes Barmherzigkeit ist Gottes Bescheidenheit.
"Geh unter, schöne Sonne. Sie achteten wenig dein. Denn mühlos bist du über den Mühsamen
aufgegangen." (Hölderlin)
Des Schöpfers Gerechtigkeit auch sich selbst gegenüber ist seine Bescheidenheit.
Unreife Menschen haben einen unbescheidenen Gott, sie mögen für oder gegen ihn sein.
Wie kämpft, straft Gott? – : Unscheinbar!
Man kann nicht unbescheiden für Gott kämpfen; auch nicht im Namen Gottes unbescheiden für irgend eine
gute Sache.
Gott ist bescheiden, aber nicht gleichmütig.
Besinnung auf Gott ist dann und wann an der Zeit. Aber Besinnlichkeit ist Gott nicht näher als Tätigkeit.
Mit der herkömmlichen Rede von Gottes Allmacht wandelt man die Angst vor dem Weltgeschehen um in
die Angst vor Gott. Die Angst ist nun personalisiert. Jetzt hängt alles davon ab, ob, über die Konvention
hinaus, die gefürchtete Person menschlich mit einem spricht.
Sonst steht man den sog. unerforschlichen Ratschlüssen des Allmächtigen gegenüber mit der verschärften
Angst, unter der Luther, der große Prophet der Allmacht Gottes, immer wieder so grauenvoll gelitten hat,
von der aber schon das Alte sowie das Neue Testament zeugt und mit der auch Mohammeds Verkündigung
begann.
Das lebendige Wort, das die Macht hat, die Angst und die Machtfrage zu redimensionieren, ist
entscheidend wichtig. Dies hat Luther ins Zentrum gestellt. Er hat es im Kloster bei seinem Seelsorger
Johann von Staupitz erfahren und bei Paulus verstehen gelernt. (Was ist das für eine Macht, die im Stil von
2Kor 5, 20 zu verkündigen ist!)
Des bescheidenen Gottes Wort macht aller Vergötzung ein Ende, es stellt die Götzen in Frage, auch
jedermanns eigene Person.
Er stellt alles, das Ruhende und das Unruhige, in Frage. Diese Frage aus dem Jenseits bringt manche
Selbstverständlichkeit zum Einsturz und ruft bei denen, die von der Lüge leben, Abwehr hervor.
Wir sollten uns, so gut wir können, mit Gott freuen an der schöpferischen Freiheit seiner Geschöpfe als
Mitarbeiter an seinem Schöpfungswerk, – wenngleich es auch bei ihnen oft böse herauskommt. Hier sollen
wir göttliche Bescheidenheit lernen (Matth 11, 29). Nach Hebr 5, 8 hat Gottes Sohn uns zum Heil
Gehorsam gelernt. Im gleichen Geist dürfen wir sagen, daß Gott selbst täglich Bescheidenheit übt, indem er
an sich hält und die Schöpfung nicht seinerseits zerstören will.
Sollen wir zwar gegen einander kämpfen (so funktioniert das Leben), aber ohne böse zu sein? Man kann
nicht kämpfen, ganz ohne böse zu sein. Wenn Gott, unter Gottes Vergebung, gegen Gott kämpft, ist er auch
böse auf Gott, d.h. teuflisch. Wir dürfen böse sein – wie auch Gott böse ist, nämlich in aller Bescheidenheit
des Schöpfers und Erhalters.
Der Mächtige ist natürlicherweise nicht bescheiden, sondern bestenfalls großmütig.
Gottes absolute Souveränität ist seine Schöpferkraft, und seine Schöpferkraft ist seine („all-mächtige“)
Bescheidenheit.
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Gottes Waffe gegen den Teufel ist Vergebung.
Bescheidenheit ist nicht Masochismus! Wo man nichts machen kann, soll man mit des Schöpfers
Bescheidenheit über den Fortgang nachdenken.
"Er streut Reif wie Asche" (Ps 147). Wer ein Ereignis als ein Eingreifen Gottes erlebt, fügt prophetisch, d.h.
befremdlich beschenkt und bevollmächtigt von seinem Gott, zu dem Ereignis den Namen Gottes hinzu. Das
impliziert ein persönliches Gutheißen, ein Akzeptieren des Befremdlichen. Ein Gottesereignis ist ein
Existenzsymbol.
Es wird dann oft fetischisiert. Es muß jedoch daran weitergearbeitet werden. Das Imaginäre muß ins
symbolische Register eingearbeitet werden. Schrittweise kann so die ganze Welt zur bescheidenen
Offenbarung des allmächtigen Gottes werden.
Gott, der auch beruhigende Lügen väterlich verantwortet, bei dem man sich sicher fühlt, – auch Gott weiß
vielleicht nicht weiter und hat Angst; aber in seiner Bescheidenheit faßt er immer wieder Mut.
"Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten ..." Was ist das? – : Wir haben Grund zur Angst in der Welt. Diese
Angst unterscheidet uns von Gott, indem sie uns unbescheiden macht. (Die Grund-Angst ist bekanntlich
auch nicht durch gute Werke wegzubringen. Sie verlangt nach Rettung aus der Welt.) Wenn wir uns aber
bescheiden auf Gott besinnen, können sich unsere Kräfte sammeln und organisieren. Das ist Gnade, ein
"Angeld" unseres Heils, Überwindung der Angst, Zuversicht. Und das ist das erste, was wir ernsthaft wollen
können.
Wenn wir bei der theologia crucis/modestiae unsere naturwüchsigen Größenphantasien aus dem Sack
verlieren, verlieren wir uns selbst! Der Mensch ist ein notdürftig vernünftiger Phantast!
Crux soll nicht als absconditas, sondern im Gegenteil: als revelatio Dei creatoris omnipotentis verstanden
werden. Der offene "Himmel" war revelatio gloriae, ist aber absconditas Dei creatoris. Gottes gloria ist
nicht unsere naive Kinder-Gloria, sondern unscheinbare Würde, die nur der Würdige sieht!
An Weihnachten feiert die Kirche die Offenbarung der Bescheidenheit Gottes im Krippenkind.
Das Christentum hat die Bedeutung der Gottesoffenbarung in Jesus bezogen auf die Sünde artikuliert, die
ihrerseits auf das menschliche Gerechtigkeitsproblem bezogen war. Der Glaube an die durch Jesus
geschenkte Vergebung steht im Zentrum. Auch in der Reformation blieb diese fokussierte Negativbestimmung noch zentral.
Der laut neutestamentlichem Zeugnis in Menschenherzen "ausgegossene" Geist Christi aber führt über
diese Problematik hinaus. Man kann ihn als die Bescheidenheit Gottes verstehen.
Die Aufforderung Gottes, Sein bescheidenes Leben mit ihm zu teilen, meint nicht, daß wir die Hände in den
Schoß legen sollen, sondern fordert uns vielmehr auf, mit Gott mit unseren Händen an unserm Platz in der
Welt mitzuarbeiten.
Gott, in seiner Bescheidenheit als Schöpfer, will, um der Freiheit seiner Geschöpfe willen, auch das
Widergöttliche und Böse, wenn sie es denn wollen, leiden. Aber er rät ihnen davon ab. Den Gequälten
offenbart er sich in ihrer Qual, die auch ihn quält, und er ist ihnen dankbar für ihren Beistand.
Für den Schöpfer ("Ich und weiter nichts!" Jes 45 wie 47, 8.10) wurde die real existierende Welt nach der
ersten Woche (1.Mose 3) eine unvorgesehene humiliatio. Schuld seiner Schöpfung, Fluch und Strafen
korrumpierten Gottes Werk.
Gottes Sohn (filius Dei naturalis, die "Zweite Person der Gottheit") hat die Verderbnis auf sich genommen
(Gal 3, 13).
Luther sprach von Christus als dem Deus humilis. Demut/humilitas aber gehört in ein autoritäres
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Bezugssystem und ist deshalb eine heute veraltete Tugend; Bescheidenheit hingegen ist Bezogenheit ohne
Einengung durch bestimmte Systemvoraussetzungen.
Die klassische biblische Gotteslehre verteidigt die Herrlichkeit des Schöpfers gegen die Frage nach der
Gerechtigkeit Gottes, in dem sie den Frager demütigt. Der Herr redet aus dem Gewitter; und Hiob tut Buße
in Staub und Asche. Das ist die elementare Sprache der naiven, auf Gott projizierten superbia.
In Jesus offenbart sich Gott als der Deus humilis (Luther). Er lehrt Bescheidenheit bescheiden. Er demütigt
uns, indem er sich von uns auch demütigen läßt.
So aber lehrt er uns auch sein Schöpfertum verstehen.
Im Rahmen der Dreieinigkeitslehre lag es in der Tat am nächsten, die humilitas auf die Zweite Person der
Gottheit zu beschränken. Konsequente theologia crucis aber muß zur modestia Dei vorstoßen.
Demut
Wenn die christliche Tradition vom Deus humilis spricht, meint sie Jesus.
Die Kirche war nicht radikal genug. Sie hat unsere archaischen Größenphantasien von Gott nicht angetastet,
sondern, durch ihr trinitarisches Verständnis der Erscheinung Jesu, in der Form von Demut konserviert.
Vorsichtig sagt man da, der Allmächtige habe, uns zum Vorbild, sich in Demut gekleidet.
Die Lehren von der gegenseitigen Durchdringung (Perichorese) sowohl der göttlichen Personen wie der
menschlichen und der göttlichen Natur Jesu gehen in die richtige Richtung. Sie fixieren ein frühes Stadium
in dem wesentlich chaotischen* Prozeß theologischer Reflexion.
Götter sind mächtig. Sie können stumm-brutal handeln, und sie können sich ein Bißchen herablassen, zu
erscheinen oder zu sprechen.
Der in Christus offenbare Schöpfer hat sich ganz herabgelassen (nicht nur seinen Sohn und den Heiligen
Geist, die zweite und dritte Person der Gottheit, gesandt, wie die kirchliche Dogmatik will). Der wahre, der
allmächtige Gott ist der in Bescheidenheit schöpferisch Mächtige.
Gottes Demut ist ein unendlicher Prozeß der Herablassung. Wie zeigt sich da Gottes Herrlichkeit? – : Im
Rückblick, von der Offenbarung Gottes in Christus her gesehen, war die Schöpfung (einer weitgehend
autonomen Welt) ein erster Akt göttlicher Selbstdemütigung: Die Welt kann, nach Gottes Willen, sich
seinem Wunsch widersetzen, ihn lästern.
Die Menschwerdung und Schuldübernahme Gottes in Jesus war ein zweiter Akt göttlicher Selbstdemütigung. Hier offenbarte sich dem Glauben die schöpferische Demut als das Wesen der Gottheit.
Diesem Glauben schenkt sich Gott selbst (die "Ausgießung des Gottesgeistes in unsere Herzen"). Die
Herrlichkeit Gottes ist kaum mehr zu erkennen.
Die vornehmste Wirkung dieses Geistes wiederum ist die "Nachfolge Christi", die zum "dienstbaren Knecht
aller Dinge und jedermann untertan" (LUTHER 1520) macht.
Die Dienstbarkeit Gottes geht chaotisch ständig weiter, denn sie ist die Verwirklichung seiner Herrlichkeit.
Die gesamte biblische Demutstradition bezieht sich unverdrossen auf eine verborgene, schlussendlich banal
"offenbar" werdende Herrlichkeit.
„Setzt denn Bescheidenheit nicht die Macht voraus, unbescheiden zu sein?“ – : Nein, auch der Machtlose
kann bescheiden sein, etwa aus Dankbarkeit. – „Ist Gott machtlos?“ – : Das können wir nicht wissen. Wir
können nur sagen, wie er uns begegnet, nämlich so, als ob er machtlos wäre. Er weist jedem von uns einen
besonderen Weg, auf dem wir mit ihm gehen und ihn immer besser kennen lernen können.
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Name und Wort Gottes
Man muß sich von Gott beraten lassen und dem eigenen Gewissen folgen. Das ist nicht dasselbe. Unser
Gewissen bezeugt, daß unser Gottesverständnis immer eine Verzerrung ist, mit der wir in eigener
Verantwortung umzugehen haben.
Auch das Wort Gott hat in verschiedenen Zusammenhängen mehr oder weniger Chance, Sinn zu machen.
Es gibt für jedes Wort, neben stark vordefinierenden, hochfrequentierten und deshalb redundanten,
ungewohnte, mehrdeutige (deshalb interessante) Zusammenhänge (und endlich auch steril-abwegige).
Ein Wort, das nicht überzeugt, kann nicht als Gottes Wort bezeugt werden.
Die naseweisen Fragen nach Gottes Wissen und Macht erheben sich, wo die Rede von Gott keine Evidenz
hat.
Gott rät ad personam, hic et nunc. Ich weiß nicht, was Gott schlechthin will; ich kann jeweils nur wissen,
was er von mir will, und mir dazu eine Vorstellung von Gott machen.
Sein Name stiftet über dem moralischen Dilemma zweier Schuldigkeiten jeweils eine neue Dimension der
Vergebung, die dieses relativiert. In allen seinen Geboten fordert Gott nichts als Glauben. Die Werke schafft
dann der Glaube.
Nach Gottes Willen sind wir manchmal nicht willens, auf Gott zu hören. Er verstockt uns; sein Name
verschließt unser Herz.
Indem der Name Gottes nichts sagt, öffnet er uns, zu persönlicher Begegnung, alles, was uns betroffen hat,
als Appell zur Kreativität. Durch diese unergründliche, unendlich gestaltende, zerstörende und erhaltende
Manifestation (sensu Winnicott: als environmental mother) spricht uns als wahrer, ewiger Identitätspartner
unser Schöpfer an.
Der Gott Israels heißt: „Ich bin da“ (2Mos 3, 14). Indem er genannt wird, ist er da.
„... da ich sah, wie es den Gottlosen so wohl ging.... Ich ward wie ein Tier vor dir.“ (Ps 73) Vgl. die sog.
„Muselmanen“ im Konzentrationslager! Partieller Zusammenbruch der hoch organisierten memetischen
Symbolwelt und jedes Idealismus; es herrscht die rudimentäre Symbolwelt. Sie hat ihre eigene
Selbstverständlichkeit, weder religiös noch säkular, ohne zeitliche Struktur und nicht ewig, hoffnungslos
und freudlos, mit ganz einfachen realistischen Perspektiven, gottverlassen.
Der Gottesname in Ps 22, 2 ist da bloßes Verbum externum, wie ein leeres Vogelhaus. Ohne Glaubenskraft
hat man Gottes Worte als Reliquien, von denen man sich keine Wunder erhofft, als Fetisch.
Gott rät normalerweise zu Anpassung (nach Luther hat er die drei Ordnungen gestiftet).
Das Ideal ist eine Orientierung. Aber Gott orientiert nicht ideal.
Warum spielt in der Religion Schuld eine so große Rolle? Was hat der Gott, der uns berät, mit unserer
Schuld zu tun? Schuld Vergessen ist sich selbst Vergessen und führt zu Fehlorientierung. Gott rät uns,
unsere Angewiesenheit auf Vergebung nicht zu vergessen.
Orientierung im Raum der Schöpfungswunder bekommen wir von Gott. Sein Rat ist eine kreative Störung.
"Das Beste daraus machen!" – Ja, aber was ist in meiner Realität das Beste? Kein Geringerer kann
antworten als Gott! Des frühen Schleiermachers "Universum" bleibt da ziemlich nichtssagend. Autoritäten
und Freunde können auch nur aus ihrem beschränkten Horizont für unseren beschränkten Horizont raten.
Was sie sagen, rückt vor Gott in ein neues Licht; aber auch Gott antwortet uns für unseren beschränkten
Horizont.
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Der Name Gottes ruft uns vor Gott. Und hier bekommen wir Klarheit darüber, was wir sollen.
"Gott" evoziert mir alles und meine eigene Person in spezifischer Weise, indem er nichts gesagt hat.
Gotteslehre ist Ergebnis von Erfahrung mit dem Gottesnamen. Gott rät, seinen Namen heilig zu halten, d.h.
ihn als Symbol einer persönlichen Beziehung zu behandeln.
Gott wirkt wohl durch Handgreiflichkeiten; aber wir verstehen das nur durch sein Wort, das uns zur
Mitwirkung beruft. (Die alte Frage nach dem liberum arbitrium, Freiheit der Kreatur gegenüber Gott, setzte
eine Verdinglichung Gottes voraus1!)
"Was soll ich jetzt und hier?" Die Antwort kommt sehr persönlich, unmittelbar, selbstverständlich aus
derselben Quelle, aus der alles bisher Geschehene gekommen ist. Sie ist das Wort des Schöpfers.
Wir sollen nicht möglichst oft Gott im Munde führen; wir sollen auch nicht unablässig an ihn zu denken
versuchen. Das läuft über kurz oder lang leer. Es werden andere Enttäuschungen kommen, die uns
segensreich und verheißungsvoll wieder an ihn erinnern können.
Eine Übersetzung kann besser sein als das Original; aber jede Übersetzung eines menschlich ansprechenden
Textes läßt auch zu wünschen übrig.
So kann auch der Gehalt von religiösen Begriffen wie Gott oder Sünde durch keine Übersetzung in nichtreligiöse Sprache ausgeschöpft werden. Darüber wird man sich heute auch im aufgeklärten ("postsäkularen") Europa einig.
Die Interpretation des Willens Gottes als Gesetzes gehörte in den Glauben an einen statischen kosmos*.
Das gesetzliche Verständnis des Willens Gottes hat sich, nach Paulus, selbst ad absurdum geführt. Es ist
durch die Dynamik des Christusglaubens überholt. Es hatte die Weisung des Heilswillens Gottes zu einem
Todesurteil gemacht, – das an Jesus vollstreckt worden und nun, für den Glauben an die Offenbarung des
Heilswillens Gottes in Christus, spürbar (!) erledigt ist.
Die monotheistischen Religionen haben den Namen Gottes abgenutzt. Gleichwohl kann der Dankbare
dankend den Namen für sich neu entdecken.
Handelt Gott allein durchs Wort? – : Der "lebendige Gott" belebt, der schweigende Gott macht schweigen.
Der Schöpfer macht schöpferisch. Der gerechte Gott macht gerecht. (Vgl. LUTHER 1545, Vorrede zu den
Opera latina!) Der urteilende Gott macht urteilen. Der bescheidene Gott macht bescheiden.
Theurgische Logik begegnet in der Bibel vielfach: Der Mensch, dem der Allmächtige Macht über den
Allmächtigen gegeben hat.
„Der Mensch ist sich selbst entzogen“ (Ernst Fuchs). Gebet kann durchaus verstanden werden als Gespräch
des Verunsicherten mit seinem eigenen, unbekannten (!) chaotischen Selbst.
Gott will gebraucht werden: "Rufe mich an in der Not! So will ich dich erretten, und du sollst mich preisen"
(Ps 50, 15).
Gesundes oder Pathologisches (Halluzinationen), subjektiv evident mit Gottes Namen verbunden, ist
Offenbarung.
1
Luther ist mit De servo arbitrio Erasmus auf den philosophischen Leim gegangen. Seine neue theologische
Hermeneutik war gegen dessen Skepsis noch nicht genug entwickelt.
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Offenbarung nennen wir die Evidenz der Verbindung von Phänomenen (auch Worten, Schriften und Ideen)
mit dem Gottesnamen.
"Sünde" nennen wir die menschliche Schuld gegenüber der durch unser Gottesverständnis ("Gottes Wort")
gesetzten Norm.
"Der Wandrer von der Heimat weit, wenn rings die Gründe schweigen, der Schiffer in Meeres Einsamkeit,
wenn die Stern' aus den Fluten steigen, sie beide schauen und lesen in stiller Nacht, was sie nicht gedacht,
da es noch fröhlicher Tag gewesen." (Eichendorff)
Jean Paul hat mit der "Rede des toten Christus, vom Himmel herab, daß kein Gott sei," die Angst artikuliert,
die der Anblick des stummen, nächtlichen Himmels zu erregen vermag.
Der eigentlich kühne, aber längst selbstverständlich gewordene Gedanke: "Gott ist größer; er hat den
Himmel gemacht!" füllt die schauervoll bedrohliche Leere. Er beseelt das All, dessen volle Wahrnehmung
uns vernichten würde.
Wir empfinden eine warnende, heilige Scheu schon bei der uns angemessenen Wahrnehmung des Alls.
Kant hat sie in seinem berühmten Wort vom "gestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in
mir" zum Ausdruck gebracht.
Die Vorstellung des persönlichen, allmächtigen Schöpfers beruhigt. Allmachtsphantasien können vor Angst
schützen. Wir haben seinen Namen, "Gott", wie einen Talisman in unserer Sprache zur Verfügung. Er wird
immer noch viel, aber gedankenlos stereotypiert, mit konspirativ abwehrendem Lächeln, benutzt, wo es um
unsere offenen Grenzen geht.
Gott schafft nur durch das Wort. Er macht nicht irgendetwas, sondern er schafft als Person für Personen
Bedeutungsvolles. Personsein ist ein schöpferisch kommunikativer Prozeß. Eine Person erkennt eine Person
daran, daß sie von ihr persönlich angesprochen wird. Der Schöpfer als Person spricht uns durch die
Schöpfung an.
Gottes Name, als Gottes Wort, ist von Gott zu unterscheiden als Geschöpf, das frei den Schöpfer schaffen
kann. Gott spricht uns an, von Person zu Person, er selbst ist in seinem Wort, seinem Geschöpf.
Gottes Wort schafft Glauben an den Schöpfer, die fides creatrix divinitatis, wie Luther sagen kann. Jesus
heißt Gottes Wort, weil der angefochtene Glaube an ihm Halt findet.
Das göttliche Subjekt ist imaginär; das Prädikat, das Wort Gottes ist symbolisch.
Gott ist uns imaginär als der Allmächtige präsent; aber er berät uns symbolisch: Der Allmächtige berät uns.
Greift Gott ein? Aus unserer Selbsterfahrung heraus sagen wir: Gott handelt durch sein Wort – und das ist,
vor allem anderen, sein Name. So handelt er menschlich an Menschen.
Aber handelt er analog auch an anderen Geschöpfen? Was sind Naturwunder? Bezeugen können wir
wieder nur selbst Erfahrenes.
Da sind einerseits die Ereignisse, die wir spontan als Eingriffe einer höheren Macht erleben, rettend oder
rächend im Sinne evidenter Gerechtigkeit oder begnadigend und schöpferisch den Sünder rechtfertigend.
Da sind anderseits die Schicksalsschläge, unter denen wir uns dumm wie Tiere fühlen (Ps 73,22).
Solche Ereignisse predigen Gottesfurcht.
Endlich macht die noch heute, über unübersehbar viele Größenordnungen hinweg, sich weiter
entwickelnde Differenziertheit der Welt uns staunen. "Gottes Schöpfung", sagen wir.
All solches erinnert uns an Gott. Insofern hat Gott hier, bis zu unserem Herzen durch, eingegriffen. Eine
Rede von Gottes Eingreifen darf nicht willkürlich, muß aber immer subjektiv sein.
Die Kirche redet zu schnell vom Wort Gottes. Das (in prophetischer Tradition) so genannte Wort Gottes,
Predigt und Bibel, tragen oft wesentlich bei zum Verständnis des Namens Gottes. Aber das erste "Wort
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Gottes" ist das Wort "Gott". Es meint das göttliche Ich. Im Wort Gott geschieht jeden einzelnen Gottes
bescheidene Offenbarung.
Vor dem Anspruch des Namens Gottes kann man nicht in eine Metasprache ausweichen, ohne in die
Belanglosigkeit zu fallen.
Die häßliche Geschwulst ist kein Gotteslob; sie ist eine Herausforderung Gottes. Gott aber ist bescheiden.
Er läßt sie und uns gewähren. Wie gehen wir im Namen Gottes mit der Geschwulst um? Er wird uns sagen,
wie wir damit leben, damit umgehen und was wir bescheiden – vielleicht dagegen – tun sollen.
Nach AUGUSTIN, En. Ps 103,8, können wir von Gott vor Freude nicht reden und nicht schweigen, sondern nur
jubilieren. Sermo 225,3: Tantus est, talis est, ut nec eum loqui possimus, nec eum tacere debeamus. Der
Affekt soll aber zur Sprache gebracht werden; wir sollen Gott bezeugen.
Die Wahrheit Gottes befiehlt zu reden, unangemessen zu reden, stammelnd, symbolisch, angewiesen auf
gottgegebenes Entgegenkommen des Hörers.
Ein Gotteswort will mitreißen. Es artikuliert die Dynamik des Zeugen zwischen Wissen und Vertrauen.
Der Rufname für das große Andere, „Gott“, ruft die Phantasie einer persönlichen Beziehung hervor, die die
Umwelt und meine Aussichten darin in ihrem Sinne gestaltet. So weist mir Gott einen Weg.
Evangelium ist Einladung zur individuell verantworteten Selbstverständlichkeit. (Vgl. Paulus ἀνάγκη, 1Kor 9,
17.)
Wort Gottes ist ein Ereignis, ein Emergenz-Phänomen; ein Wunder, das man immer tiefer erklären kann,
aber nur ex post.
Orientierung durch den Namen Gottes ist nicht selbstverständlich. Er führt aber zu Evidenz und
Selbstverständlichkeit.
Gottes Name spricht dem Menschen das Allerunbekannteste persönlich zu.
Das „Wort Gottes“ ist dem Christen kein Fetisch, kein vom Himmel gefallener Stein, sondern: in einem
komplexen Vorgang menschlich überlieferte Existenzsymbolik.
Der Prediger des Wortes Gottes teilt das Beste mit, was er, in der sozial vorstrukturierten Situation, zu
gemeinsamer Besinnung (Zu-sich-selbst-Kommen und Zueinander-Kommen) bieten kann: geschichtlich
bescheidene, für ihn selbst verpflichtende Selbstsymbolik.
Die Paulinische „Predigt“, Urbild der evangelischen Predigt, war „Verkündigung“ (κήρυγμα) in der
allbekannten Form der διατριβή, des popularphilosophisch diskutierenden Vortrags. Es war zwar
erläuternde Proklamation eines Herrscherworts; aber als eine an Christi, des Herren, Statt vorgetragene
Bitte (δεόμεθα!): „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ (2.Kor. 5,20).
Gottes berät uns im Chaos jeweilig.
Gott will Freiheit für das weltliche Kräftespiel, in das er sich eingelassen hat. Deshalb setzt er der
Wirksamkeit von Lüge und Gewalt nur seinen Rat entgegen.
Wir sollen uns treiben lassen und umsichtig steuern und selbst etwas betreiben. Gott nimmt uns als
Personen wahr und leitet uns. Wir können bibellesend auf seinen Willen merken; keine noch so bewährte
Gesetze oder Gebote können das ersetzen.
Symbole stiften Zusammenhänge. So wird der Name Gottes Wort Gottes.
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Gott berät uns durch unsre vor ihm gesammelte Vernunft.
Der evangelische Prediger vertraut den Hörern sein Bestes an, er schenkt den Hörern Vertrauen: „Du tust
Gottes Willen, und du willst Gottes Willen tun!“
Name
Juden und Christen ist Heiligung des Gottesnamens ein Anliegen. Das jüdische Namens-Tabu richtet sich
ursprünglich gegen Verwendung des Gottesnamens in geheimen, privaten Zauberpraktiken. Aber der
Regenzauber des Propheten Elia (1Kö 18, 41-45) gehört mit ins Bild. Jahwe ist ein öffentlicher Gott!
Der übliche Gebrauch des Wortes „Gott“ als Interjektion ist trotzig resigniert, begnügt sich mit dem eigenen
Alltagswissen, erhofft sich nichts von tieferer Besinnung.
Existenzsymbole sind prekär. Mit dem Namen Gottes wurde gezaubert; das hat Gott verboten. Aber der
Beter soll Schöpfungswunder erwarten.
Dann und wann legt es sich nahe, von Gott zu reden; jedoch widersprechen wir uns da dauernd selbst. Wir
haben kein sicheres „Recht“, von Gott zu reden.
Gott nimmt sich unser an (Ps 8). Sein Name ruft uns stolzen Menschen in Erinnerung, daß wir, alle
zusammen, sozusagen mit den Füßen im Sumpf stehen. Wir selbst, unsere kleine und die große Welt sind,
in ständigem Wandel, Ausflockungen des Chaos.
Wort
Gebote im Namen des Schöpfers sind keine Maschinenbefehle, sie wenden sich an den gesunden
Menschenverstand. (Vgl. die paränetische Bemühung des Deuteronomiums!)
Auch die nova lex, das kirchlich real „existierende“ Evangelium, wird, vom Schöpfer, durch sein lebendiges
Wort, zusammen mit dem kosmos*-Paradigma relativiert, in welchem allein das Gesetz seinen Sinn hat.
Gottes Wort gibt uns Teil an Gottes Sicht der Dinge.
Das Neue Testament ist ein „neues Lied“ im Sinne des Psalters. Die Kirche nennt das Evangelium
Offenbarung; rhetorisch ist es inventio1. Evangelische Predigt soll Schöpferwort sein, „gefunden“ in
anfechtungsvoller, jedes Mal neuer Christus-Meditation. Die Topik (Loci communes) der kirchlichen
Lehrtradition („Fundorte“) bietet Ansatzpunkte, aber ersetzt nicht die Meditiation! Im kirchlichtheologischen Betrieb unterbleibt diese oft. Ohne sie aber ist die Predigt tautologisch, schlechte Rhetorik.
Die Rede von „Verkündigung des Wortes Gottes“ ist heute eine traditionell-monarchistische Selbststilisierung. Aber, ob wir wollen oder nicht, wir bezeugen Gott.
Gottes Wort ist sozial ein marginales Phänomen mit öffentlichem Anspruch.
In Luthers Worttheologie geht es um verantwortliches Reden nach eigenem bestem Wissen und Gewissen,
die Paulinische παρρησία, das freie Wort, – sei es für die Einhaltung sozialer Normen (lex), sei es das Wort
von Christus (evangelium), das, von deren Herrschaft, zu schöpferischem Gehorsam aus Liebe befreit.
Vorbild waren die alttestamentlichen ‫יאים‬
ִ ‫נְ ִב‬. Das waren zunächst marginale Typen, eine Art Derwische
(vgl. 1Sam 10,11). Sie bildeten sozial (wie später die ausgestoßenen Aussätzigen – aber respektiert)
Randgruppen mit Zulauf von Sonderlingen aus der Gesellschaft, die hier Respekt fanden und in Verzückung
gerieten.
Der ‫ נ ִָביא‬wurde zum „Prophet“, die Evidenz seines veränderten Bewußtseins war Gottes Angelegenheit,
1
Da wird nicht etwas erfunden, sondern zustimmungsfähig Orientierendes gefunden.
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Gottes Wort, ‫ ָדבָ ר יְהוָה‬. Seine eindrucksvollen, in wahnhafter Evidenz vorgebrachten Mitteilungen werden
in seinem Volk kollektiv festgehalten. Aber auch dieses ganze Volk war historisch marginal.
Jesus
Seit ich Gottes Bescheidenheit konzipiert habe, ist Jesus, an dem ich sie sehen gelernt habe, mir seltener
wichtig. Aber wenn das Konzept mir verblaßt, kann ich sie an der Person Jesu wieder sehen.
Jesus lebte in böser Zeit. Man muß in solchen Zeiten ständig optieren zwischen Leben in der Lüge und
Sterben in der Wahrheit. Er hatte gelebt in Erwartung des nahen Endes dieser verderbten Welt, in
unbedingtem Vertrauen in Gottes Liebe tätig. Er war vielen damit ein menschliches Licht in der Finsternis.
Jesus vermittelte Sicherheit. Er hat dieses Leben mit einem grausamen Tod bezahlt.
Das Erbe verpflichtete; die Trauerarbeit* in solchen Fällen ist besonders schwer. Das erste, Primitivste, ist
Verleugnung1 des Verlusts; sodann Imitation und Folgsamkeit. Das Ziel aber ist mündiges Weiterleben.
Israels Nein zu Jesus war eine menschliche Tragödie, in welcher der Glaube Israels bei den Jüngern einen
Knacks bekam und, zunächst unbewußt, behielt. (Das erste Zeichen waren die Ostervisionen.)
Der Tod Jesu war nicht die erste Tragödie dieser Art in Israel gewesen (Mt 23, 30f), aber in der Tradition
Jesu konnte erstmalig das Erlebte mit seiner voller Sprengkraft im Wesentlichen beieinander gehalten
werden und artikulierte sich allmählich. Ἀυτὸς ὁ θεὸς ἀπέθανε, "Gott selbst ist gestorben," konnte GREGOR
VON NYSSA später kurz formulieren – eine Formulierung aus hellenistisch-polytheistischer Umwelt, in
biblischer Tradition eine Ungeheuerlichkeit. Jahwes* Unverständlichkeit wurde in guten Treuen2 als
Dreieinigkeit konzipiert.
Dem Judentum in seiner bedrängten Einzigkeit waren Gesetze, die ihre ursprüngliche Funktion verloren
hatten, als Bundeszeichen wesentlich geworden. Jesus hat die alte Gottesverheißung direkt neu geglaubt,
gelebt und allgemein-menschlich einleuchtend gemacht.
Erlösungshoffnung entsteht unter Bedrückung. Unter Berufung zu schöpferischer Freiheit glänzen auch
Illusionen* auf.
Jesus hat in seinen Gleichnissen die Natürlichkeit3 der Herrschaft Gottes, die ontologisch tabuiert gewesene
Gegenwart Gottes, zu Ehren gebracht. Jesus hat die Herrschaft des Gottes, zu dem, als Ideal in sicherem
Abstand, Israel in aller Drangsal dieser Welt sich retten konnte, in dieser Welt, ja in seinem eigenen
verwunderlichen Wirken, hoffnungsvoll anbrechen gesehen. Das war destabilisierend. Deshalb wurde Jesus
beseitigt. Von den Seinen wurde er religiös verehrt. In Form von Gleichnissen wurde seine Entdeckung
Gottes in der Natur als übernatürliche Offenbarung konserviert.
1
Am radikalsten durch Halluzination.
Man denke etwa an die alte kirchliche Interpretation der „drei Männer“, die Abraham in Mamre besuchen
(1Mose 18), als der göttlichen Dreieinigkeit.
3 Meteorlogie: Wettervorhersage, Mikrobiologie: Sauerteig; viel Botanik: Vierfacher Acker (hier, Matth
13,1-9 und Parall., wird bewußt gemacht, daß ganz wenige Erfolge im Leben eine Überzahl von Mißerfolgen
aufwiegen, weil das Leben mit Erfolg wuchert); Senfkorn; Zoologie auffallend wenig: Adler und Aas;
Mikrosoziologie: Vater mit verlorenem Sohn, Herr mit Knecht, Richter mit Witwe, Haushalter zwischen Herr
und Knechten etc.; Makrosoziologie wenig: Turmbauer, Kriegsrat; Alltagserfahrung: gärender Most in alten
Schläuchen, Flicken auf alten Mantel.
2
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Jesus der Magier, der "göttliche Mann"1, der Schwärmer, der Demagoge, der Erfolgsmensch, war nötig, um
den phantastischen Gottesbegriff einzufangen und – eine Leidensgeschichte – Gott ein für alle Mal ins
Weltliche zurückzubringen, in die Welt der zufälligen Peinlichkeiten, der illusionären Symbolik, in die auch
Jesus ganz hineingehörte.
Jesus wurde der Fetisch der Institution Kirche. Die Vergötzung schließt an eine Seite seines Auftretens an –
zwar nicht gut (denn sie stereotypiert alles, und das tat er nicht), aber doch zur Not. Das muß alles immer
wieder, in der Nachfolge Jesu, zurückgedreht werden – Trauerarbeit.
Man kann auch mit Glaubensformeln zaubern. Der irdische Jesus selbst hat gezaubert. (Auf dieser Linie
liegen auch die Ostervisionen.) Aber das muß dann doch unter das Kreuz der gemeinsam zu erleidenden
und zu gestaltenden Wirklichkeit.
Es ist vergleichbar mit den Analgetica und Psychopharmaka, die dem Betroffenen die Erfahrung von
Unerträglichkeiten des Lebens zeitweilig ersparen; sie erhalten einen illusionären Glauben an die
Tragfähigkeit der personalen Struktur des Menschen.
Jesus wurde, in schnell sich ausweitenden, verschiedenartigen Kreisen von religiösen Bedürfnissen in
Anspruch genommen, an entsprechende Schemata assimiliert und erscheint schon im Neuen Testament
von vielerlei Überlieferungsschichten übermalt. Der historische Jesus ist unter diesen Ikonen fast
verschwunden. Auch das außerkirchliche Interesse an Jesus (einem seinerzeit außerhalb seiner Jüngerkreise
bald vergessenen Mann!) hat als historisches Material fast nur diese kirchlichen Quellen. Jede noch so
kirchenkritische Beziehung zu Jesus ist kirchlich vermittelt! Jedes neue Jesusbild setzt die Geschichte der
Christologie, ja die Geschichte des Christentums fort. Die Kirche hat die christologische* Frage in die Welt
gesetzt. Diese betrifft die Heilssuche jedes Menschen und hat ein der Kirche gegenüber selbständiges
Leben entwickelt. Mancher läßt die Frage nach Jesus auf sich beruhen; für jede Umarbeitung des
Jesusbildes aber bleibt die Heilssuche der Menschen wesentlich.
Die verheißungsvolle Wirkung des gekreuzigten Jesus ist überraschend und vielfältig.
Jesu Predigt der Königsherrschaft Gottes ist vielfältig anschaulich; selbstverantwortet, nicht angelernt;
zentralgesteuert, frei, integral gehorsam der persönlich beanspruchenden Wahrheit, dem ins Dasein
rufenden Schöpferwort.
In desintegrativ chaotischen Umständen, wie sie in Palästina damals herrschten2, erwartet er Gutes für das
Gute (das er allenthalben bemerkt) allein vom neuen Äon. In gesunden Zeiten wäre das pathologisch. Bei
Jesus aber war es, wie auch die in der frühen Kirche aufblühenden Talente („Geistesbegabungen“)
vermuten lassen, "Regression im Dienste des Ich"*.
Es ist verständlich, daß jemand, der das Neue Testament endlich tatsächlich gelesen hat, sagt, es sei ein
scheußliches Buch. Man kann einwenden, es gehe hier im Grunde um die allgemeine Scheußlichkeit des
Menschen, die nicht zu verschweigen, sondern zu bedenken sei. Schon Kinder haben damit zu tun und
denken in ihrer Weise darüber nach. Kirche, Schule und Elternhaus neigen aber dazu, das Neue Testament zu
einem idyllischen Märchenbuch zu machen. Die großen kirchlichen Feiertage tun das Ihre dazu. Es fehlt an
Respekt vor dem hier in Rede stehenden Stück Geschichte.
Monotheismus ist eine kulturgeschichtlich wichtige Stufe. Das Christentum setzt ihn voraus. Es ist eine
Selbstkorrektur des Monotheismus. Der von Jesus Christus ausgehende Geist der Paulinischen, zur
gottgewirkten Gottlosigkeit (ἀνάθημα) bereiten (Rm 9, 3) Radikalität der Liebe war Ziel, Erfüllung und Ende
1
2
Θεῖος ἀνήρ, paradigmatisch Pythagoras, Apollonius von Tyana.
Hiervon gibt einen Eindruck FLAVIUS JOSEPHUS, sowohl sein Leben wie sein Buch Der jüdische Krieg.
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des Monotheismus und damit das „Ende des Gesetzes“ (Rm 10, 4). Durch Christus ist der Bann des
Monotheismus gebrochen. Es hat lang gebraucht, bis sich das ausgewirkt hat.
Die Jesusgeschichte macht der Idealisierung Gottes den Garaus.
Einen hoch idealisierten, ambivalent geliebten Menschen zu überleben, wird als Schuld erlebt. Jesus, den
guten Meister, zu überleben, hat bei den Christen natürlicherweise das Schuldgefühl und Sündenverständnis radikalisiert.
Konkret kam es zu der Entschränkung des alttestamentlichen Liebesgebots nach dem Vorbild des
idealisierten Meisters, die eine Überforderung bedeutet.
Man ist für seine Kinder verantwortlich. Dafür muß man reif sein. Der Zölibat kann in einem Gefühl der
Unreife wohl begründet sein. Der neutestamentliche Jesus hatte keine Kinder.
Das hat Folgen für das Christentum: Es ist, mit seinen Radikalismen, wörtlich genommen, eine jugendliche
Religion. Immer wieder versuchen sektenhafte Neuansätze, ungeschehen zu machen, daß es älter und (mit
allen dazugehörigen Fehlentwicklungen) reifer wird. (Notabene: Es tut alten Menschen gut, sich an ihre
Jugend und Kindheit zu erinnern!)
Jesus Christus ist bei uns zum Symbol für opferbereite Liebe als höchsten Lebenssinn geworden.
Das Leben ist beängstigend. Wir müssen uns unterwerfen – andern Menschen und der eigenen Natur,
endlich dem Sterben. Wir müssen viel "mitmachen", allein und, in der Nachfolge Jesu, gottverlassen (Matth
27, 46). Das Christentum hat, unter solchen Anfechtungen des Glaubens an die Liebe Gottes, aus der
Apokalyptik die Abkoppelung der "Gottesherrschaft", als "jener Welt", von "dieser Welt" fast ganz
übernommen: Nur ein „Anbruch“ der Gottesherrschaft durch die Gabe des Geistes der Endzeit (des
"Heiligen Geistes") in der Gemeinde Jesu wird gesehen.
Dieser Geist sieht die Herrschaft des Allmächtigen allgegenwärtig, auch im Bösen (Rm 8, 28). Im Licht der
Passion Christi erscheint alles unter dem Anspruch der Herrschaft Gottes. Wir sollen diese erkennen.
Gott hat viel mitgemacht, alles. Auch das fürchterlichste Leben sollen wir verstehen als im Grunde Gottes,
des Schöpfers, Leben; als je besondere Berufung, schöpferisch zu leben. Diese Aufforderung ist Gottes
Beistand, wie die Tradition (im Anschluß an Joh 1,14) sagt: Gottes "Wort", in Jesus "Fleisch geworden".
Durch die Gestalt Jesu hat der allmächtige Herr den Menschen bescheiden gebeten, sich mit ihm zu
versöhnen (2Kor 5, 20).
Jesus repräsentiert für mich exemplarisch das Beste vom alttestamentlichen, dem besten real existierenden
Gottesglauben. Unter dem Kreuz und immer wieder nur hier, angesichts des Scheiterns Jesu, kann und soll
ich den Durchbruch zum wahren Glauben an den wahren Gott erwarten.
Aber das Heil kommt verwunderlich. Der Geist Gottes weht, wo er will. Er schenkt dem Wartenden den
Glauben nicht, wo und wann und wie er ihn erwartet. (Es ist ähnlich wie mit den guten Werken, die uns
geboten sind, aber nichts zu unsrer Rechtfertigung vor Gott beitragen.)
Ob Jesus im üblichen Sinne besonders bescheiden war, wissen wir nicht. In dieser Hinsicht weisen die Texte
in verschiedene Richtungen.
Im Namen Gottes trat er anspruchsvoll auf. Die Überlieferung sieht Jesus ganz in der Funktion des
Offenbarers Gottes aufgehen. Das kann man als Bescheidenheit interpretieren; aber es wurde auch als
unerträgliche Anmaßung interpretiert.
Jesus, Offenbarung der Bescheidenheit Gottes, übermalt und fast ganz vergessen!
Das Christentum und die Schia manifestieren sich oft in Masochismus. (Auch Perversionen können
Existenzsymbole sein.)
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Das gläubige Mittelalter malte seine Kirchen mit Gräueln aus! Die Anfechtung des Glaubens durch die
Qualen des Lebens war ein zentrales Problem; sie wurde in Martyrienlegenden meditiert. Diese
phantastischen Problemlösungen sind aber nur Problemanzeigen.
Jesus ist das anspruchsvollste Gottes-Interpretament. Dem suchen die vielen Jesus-Interpretationen zu
entsprechen.
An Jesus Christus glauben heißt: Gottes Vergebung und Gnade, die Dankbarkeit des Schöpfers glauben. Wir
sollen unsre Mitmenschen die Treue des Schöpfers, Gottes Dankbarkeit spüren lassen!
Vor Jahren notierte ich: „Aus allem blickt Jesus mich an, als die Wahrheit und das Leben, als der Weg (Joh
14, 6) von einer Herrlichkeit zur andern (2Kor 3, 18).“ Es ging da um das Empfinden einer Doppelbödigkeit
der Erscheinungswelt. Ich hatte viel über die alte Lehre von Christus als dem Schöpferwort Gottes
nachgedacht.
Jesus erlebt den Anbruch der Gottesherrschaft. Die Massenbegeisterung wurde dann aber schon in
neutestamentlicher Zeit radikal domestiziert.
Wir brauchen Gott und Jesus nicht immer. Aber immer wieder verhilft uns Gottes Name zu uns selbst, und
Jesus hilft uns zu Gott.
Vergebung ist Kampf.
Im grau melierten Alltag ruft, wenn wir jeder schuldverstrickt undankbar zum Essen greifen, das Tischgebet
„Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ nach dem, der einst den
ungerechten Zöllnern den Dank Gottes für ihr verworrenes Dasein an den Tisch und damit einen
Sinneswandel zu Stande gebracht hat.
Jesus hatte sich von Johannes dem Täufer, zum Zeichen der Zugehörigkeit zur nahe bevorstehenden Neuen
Welt, den Schmutz der gegenwärtigen Welt abwaschen und sich taufen lassen. Er ging dann durchs Land
und lebte in Worten und Werken den Anbruch der Gottesherrschaft. Viel Volks sammelte sich um ihn.
Die vollmundig religiöse Rhetorik der altorientalischen Hofpoeten wurde auf die Davididen übertragen und
dann von der christlichen Verherrlichung Jesu überboten.
Der Glaube Jesu war eine durchschlagende religiöse Vereinfachung, Berufung zur Gotteskindschaft. Er trug
den Sieg über seine Leidensgeschichte davon.
Jesu herrisches Auftreten und auch sein Gottesverständnis gehört zu Jesu anstößiger menschlicher
Eigenart. Das „Christus-Bekenntnis“ des Petrus und seine Ostervision nach seiner Exekution liegen auf
dieser Linie. Sie waren fatal.
Jesus liebte die (um der sündigen Menschen willen gegebene) Thorah und die Sünder; und er haßte die
Vergötzung des Gesetzes als inhumane Abgötterei.
Jesus war nicht der Idealmensch – der schönste, klügste, liebste (das waren altprotestantisch-orthodoxe
Phantasien) – , sondern ein anstößiges Individuum, vielleicht sogar ein unangenehmer Knoten.
Jesus als charismatischer Führer ist der Kirche personalisiertes Gesetz, repräsentiert durch der Person des
Predigers. Nova lex ist ἐντολή, nicht νόμος.
Die Erinnerung an Jesus stört jede soziale Selbstverständlichkeit und ruft in die Mitverantwortung der
Gotteskinder: „Prüfet alles, und das Beste behaltet“, indem ihr es weiter entwickelt!
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Die Anstößigkeit Jesu gereichte vielen zum Segen.
Christus
Die Naherwartung des Weltendes und der ganze Kreis dazugehöriger älterer Vorstellungen (GeistAusgießung und allgemeine Auferstehung) waren, vor Jesus, durch den Täufer Johannes frisch aktualisiert
worden.
Die Botschaft von der Auferstehung des gekreuzigten Jesus überbot die etwas ältere jüdische Idee der
Rettung der Überlebenden vor der ihnen gebührenden Strafe durch das stellvertretende Opfer der
Märtyrer (2Makk 7,37, ausdrücklich 4Makk 6,28f.) überschwänglich mit dem Angebot der Gottessohnschaft
(göttlicher Bevollmächtigung) als Frucht des Todes Jesu.
Die christliche Begeisterung flackert zwischen heiliger Nüchterheit und Schwärmerei.
Jesus hat gegen die Fetischisierung der Tora gekämpft, wurde aber selbst fetischisiert; und hiergegen ist im
Namen des in Jesus offenbaren Schöpfers zu kämpfen.
Der Psalm 87 besingt ein Wallfahrtsfest. Am Wallfahrtsort herrschen gemeinsame Hochstimmung und
Größenphantasien, natürliche Ausgangspunkte tragfähiger Existenzsymbolik. Die Geschichte, gipfelnd in
der Jesus-Geschichte, kommentierte und legte sie aus.
Das Jesus-Ereignis hat seinen ursprünglichen Sinn als Kommentar zur Geschichte Israels.
Wo kein Idealismus gebietet, kein Projekt, kein "Gesetz"* ist, fehlt dem Evangelium von Jesus als Christus*,
dem Herrn, sein ursprünglicher Adressat. (Wer Idealismus auf Jesus als Ideal allererst aufbauen will, muß
sowohl Jesus mit seinen Fragwürdigkeiten als auch sich selbst verzerren; und dann muß, in der Tat, der
historische Jesus gegen diesen Christus in Erinnerung gerufen werden.)
Des späten Kohut* dreigliedriger Selbstobjekt*-Schematismus läßt jedoch noch auf folgendes aufmerken:
Gott ist in Jesus als unser Bruder erschienen. So wird Gott in diesem Jesus, als mit uns irrendem Menschen,
zur Heilsgabe. Auf dieser Ebene ergibt sich auch eine natürliche Einbettung der Beziehung zu Jesus in unsre
anderen Beziehungen.
Und: Gott traut uns zu, jeder in seiner Weise1 neben Jesus zu bestehen.
Gott hat in Jesus unsre Sünde auf sich genommen (Gal 3, 13). Es hat eingeleuchtet. Das Christentum hat die
Erlösung vom Fluch gebracht. Es ist nun im Begriff, zu einer Humanitätsreligion zu werden. Mutter Kirche
konnte und mußte ihre Kinder in die Mündigkeit entlassen. Aus Töchtern sind selbst auch Mütter, aus
Söhnen Väter geworden. Einige aber kommen erwachsen zurück in der Hoffnung, daß auch die Mutter
Kirche würdig gealtert und gereift ist, so daß sie an erwachsenen Kindern die noch größere Freude hat.
Der "Sitz im Leben" des Evangeliums von Jesus ist die Not, in welche die opferbereite Liebe führt. (Luther:
Verständnisvoraussetzung des Evangeliums ist das Gesetz*.)
An Jesus, dem Gekreuzigten, hat die Menschheit die prinzipielle Bedeutung der Erlebnisse schöpferischer
Kraft des Leidens der Vergebung entdeckt.
Gott fordert nicht nur verantwortliches Leben; er bittet im Namen Jesu um Versöhnung2.
Psalmist: „Gott, ich habe schlecht gemacht, ich kann nicht gutmachen. Ich muß schreien vor Scham und
Schuld. Vergib!“
1
2
Entsprechend den mancherlei Gnadengaben, von denen Paulus 1Kor 12-14 einige bespricht.
Paulus, 2Kor 5,20: "So bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott."
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Gott hat durch Jesus Christus, unsern Herrn, geantwortet: „Was du als deine Schuld erkennst, habe ich
vergeben. Ich habe es gegeben. Ich habe es getan1. Ich gebe euch mich selbst, nehmt mich an. Nehmt mir
nicht meine Gottheit, indem ihr mich rechtfertigen, die Schuld auf euch nehmen wollt. Das ist für euch zu
schwer.“
Dankpsalm: „Ja, Gott! Als Vater Jesu Christi hast Du Dich uns offenbart. Du Gott des Alten Israel, Du Gott
der Psalmen, Du Gott der Kirche. Ich will Dir dankbar bleiben für Deine Antwort; die mir Ruhe gibt. Ich
konnte zu Dir kommen, Dir gegenübertreten, zu dir reden, und kann nun, unter Deinem Segen gehen.“
Gott hat vergeben. Damit ist allen auch berechtigten Ansprüchen von Menschen die giftige Spitze2
abgebrochen. Wir können uns auf sie einlassen.
Schreiendes Unrecht geschieht. Gott erscheint nicht nur als alter Trottel, sondern als Dämon, die Welt als
Hölle. Christliche Botschaft: Christi Höllenfahrt (Eph 4,9), "die Befreiung ist im Gang!" göttlicher Neuanfang
aus dem Tohuwabohu – jetzt!
Wie sieht er aus, der Sohn Gottes, der "Gehorsam gelernt hat" (Hebr 5,8)? Es ist unsre Sache, ihn zu
imaginieren, wie er uns anblickt.
Jesu historische Bedeutung liegt darin, daß an seinem Leben im Licht seines Todes den Menschen etwas
über Gott aufgegangen ist, was erst im Lauf der Zeit immer klarer wurde! (Zu den wichtigen klärenden
späteren Kommentaren gehört, außer der altkirchlichen Trinitätslehre, GOETHEs Satz: Nemo contra Deum
nisi Deus ipse3, und NIETZSCHEs Text: Der tolle Mensch4).
Das Evangelium ist die erschreckend überbietende Bestätigung der immer schon präsumierten (richtige
Rasse, Glaube, Nation, Familie, Schule, Geschmack, Moral) Auserwähltheit: als Gotteskindschaft durch den
Tod Gottes für uns.
Der Mensch lästert Gott. In Christus hat Gott unsre Lästerung vergebend auf sich genommen. Die
Menschen haben Gott gemordet, sagt NIETZSCHE5. Gott hat ihnen Recht6 gegeben.
Der Segen Gottes, der Geist Christi, macht von Gott frei für die Welt. In seinem Segen ist Gott göttlich
gegenwärtig. Wir sind durch Gottes Offenbarung gezeichnet7.
„Christus“ ist das Offenbarwerden des in der gegenwärtigen Welt verborgenen Gottes, Symbol der
gesegneten Aussichtslosigkeit.
Das neutestamentliche Wort "Glaube" meint, auch wo es absolut gebraucht ist, immer Glaube an die
Offenbarung Gottes in Jesus, nicht einfach psychologisch: "Urvertrauen"; das ist zu diffus.
Grund des Urvertrauens ist die gesamte Lebenserfahrung. Sie prägt auch den Christus-Glauben.
Mit der Rede vom Heiligen Geist wird oft etwas tabuiert, was man vor distanzierter Beurteilung schützen
möchte.
1
Ich verweise noch einmal auf Luthers Auslegung von Gal 3,13 ("Christus ... ward ein Fluch für uns") WA
40/I, S.433ff.
2 Die Wünsche der Mitmenschen sind nicht an sich giftig. Sie bekommen eine teuflische Spitze, wenn "die
Welt gottet" (GLp).
3 Dichtung und Wahrheit, Motto zum 4. Buch; dazu Kap. 20.
4 Fröhliche Wissenschaft, Nr. 125.
5 Fröhliche Wissenschaft, Nr. 125: Der tolle Mensch.
6 Vgl. Rm 4,5: Glaube an Gott, "der den Gottlosen gerecht macht..."
7 Das Wort "Segen" kommt vom lateinischen signare.
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Der Heilige Geist ist Gott als die Wahrheit des Christusglaubens. Der tut Wunder, meist allerdings das
Wunder einer gelingenden, befriedigenden, Kreativität ermöglichenden Ernüchterung, die auch keiner
kompensierenden Selbstgefälligkeit mehr bedarf.
Gott wurde als Großkönig vorgestellt. Dann erschien Gott in Jesus als verachteter, hilflos Sterbender. Gott
ist der wahre Großkönig gewesen nur insofern er schon immer auch der sterbende Bettler gewesen ist. Das
ist das andere Extrem. Wir fragen nach Gott besonders im Grenzbereich der Überwältigung, in extremis.
Die pura doctrina, die "reine" Lehre, ist reinigende Lehre – mit einer selten beachteten Pointe: Sie ist eine
selbstreinigende Lehre; für den Glauben ein wahres "purgatorium" ("Feg"-feuer).
Jedes Quid pro quo, jedes Symbol ist kontextbestimmt und will verantwortungsvoll gebraucht werden.
Wer Christus als sacramentum haben will, für den ist Christus auch exemplum. Ohne Nachfolge, ohne
imitatio kein Heil durch Christus. (Imitatio Christi im Sinn des Paulus ist nichts als Selbstauslegung Jesu,
Wirkung Jesu in und an uns.)
Matth 25,31-461 läßt das erschreckend Überwältigende ahnen: Gott hat mich aus jedem menschlichen
Gesicht angeblickt, Gott blickt mich aus jedem Menschen an, ja: aus jeder Kreatur.
Auf meiner Suche nach der Wahrheit, in die mein Leben eingebettet ist, blickt aus jedem Menschen
Christus mich an, der Schöpfer als Mensch.
(Die Gestalttherapie lehrt drastisch: Jedes meiner Objekte, auch die objektiv unbelebten, sind mir, zunächst
unbewußt, Bild meiner selbst. Man kann das als Andeutung einer "Spiegelübertragung" des Selbst*
verstehen.)
Das belebt alle ungemein in meiner Wahrnehmung. Man ist bereiter, ihnen ihre oft zunächst unerfreuliche
Eigentümlichkeit zu lassen und sich dafür naiv neugierig zu interessieren.
Diese Sicht kann ich nicht durchhalten. Sollte man diese Wahrnehmungseinstellung trainieren? Es wäre
eine nicht ungefährliche Derealisierung, gewollte Selbstvergessenheit.
Gott bricht in Evangelium und Sakrament (Taufe und Abendmahl) seine Rechtsordnung. Indem er sich und
uns in Jesus identifiziert, überholt er die ideale Forderung; er verzichtet nicht nur auf unsere Erfüllung (also
nicht: Jesus als stellvertretendes Opfer!); Gott ändert seinen Sinn und kommt zu uns! Entsprechend
eröffnet die Liebe dem Gegenwärtigen eine qualitativ neue Zukunft. Der Heilige Geist wird in unsre Herzen
ausgegossen2, oder umgekehrt: wir werden trinitarisch* in Gott, ins innergöttliche Geheimnis hineingeholt.
Das unchristliche Zeugnis ist neben der christlichen Tradition unverzichtbar. Das Nebeneinander fordert das
Subjekt aus seinen fatalen Sicherungen heraus.
Das monarchische Gottesbild bekam seinen entscheidenden Knacks durch den Tod Jesu.
In der doppelten Vorgeschichte des hellenistischen Christentums waren bereits wichtige mit dem
Monotheismus gemachte Erfahrungen verarbeitet. Einerseits der ins Christentum einfließende
philosophische Monotheismus entwickelte sich zunächst noch selbständig weiter neben dem Christentum
her.
Anderseits gehört ein Jeremia und sein Gedächtnis wesentlich hinein in die Geschichte des Volkes, das die
Entwicklung der Gottesidee paradigmatisch vorangetrieben hat. Die Offenbarung der tieferen Wahrheit
Gottes an einem gescheiterten Hoffnungsträger hatte in der Luft gelegen. Schüler Johannes' des Täufers
schlossen sich, nach dem Märtyrertod ihres Meisters, Jesus an. Die Märtyrergestalt des, ungeachtet Jesu,
1
Jesu Weissagung vom Jüngsten Gericht, wo der Richter sagt, er sei nackt, krank, gefangen Mensch unter
Menschen gewesen, und danach urteilt, wie man sich da zu ihm verhalten hat.
2 Die alte biblische Metapher.
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100 Jahre nach dessem Tod, erst an den aufständischen Bar Kochba als Messias glaubenden und dann unter
den Händen römischer Folterknechte standhaft sterbenden Rabbi Aqiba war eine bedeutende
Glaubensversteifung für die übrigen jüdischen Monotheisten. (Einem seiner Schüler war er Grund zum
Abfall.)
Beiderlei Zeugen hätten in Christen, die Jesus nicht vergötzten, Brüder erkennen können.
Die Jesus-Vergötzung war eine Eierschale des Glaubens an die Offenbarung Gottes in Jesus gewesen. Sie
brach auf.
Heute entdecken Christen in den säkularisierten Juden ältere Brüder. In deren Identität gehören viele
Enttäuschungen, die sie immer wieder in die gleiche Richtung gewiesen haben wie jene ersten Juden, die
der Schock der Kreuzigung Jesu aus dem synagogalen Konsens hinausstieß.
Die Christen bauten sich schnell ihrerseits so etwas wie eine Orthodoxie auf, die zwar der völkischen Basis
entraten konnte (schon Johannes der Täufer soll nach evangelischer Überlieferung (Mt 3,9) gesagt haben,
Gott könne dem Verheißungsträger Abraham auch aus Steinen Kinder erwecken!), bald aber eine
zivilisatorische, gesellschaftliche und staatliche Basis bekam, die erst in der Neuzeit, Stück für Stück,
spürbar enttäuschte.
Die Frucht jüdischer und christlicher Trauerarbeit (die von den orthodoxen Synagogen und Kirchen nicht
geleistet werden kann), die eigenste Arbeit des Volkes Gottes, ist heute noch ein Segen, eine zivilisatorische
Führungsmacht.
Gott hat am Kreuz Jesu sich als den größten Sünder, chaotisch identisch mit dem Teufel, offenbart und will,
uns zum Heil, so bezeugt sein1.
Lebensziel ist nach Schopenhauer ist das Sterben. Besser: das mutige, gute Lebenkönnen, das auch das
rechte Sterbenkönnen ist.
Es ist immer neu weiter zu lernen – „unter dem Kreuz Jesu“ sagt die christliche Tradition, – das heißt aber
nicht nur: mit Maria und Johannes, sondern mit den Priestern und den Soldaten, die um seinen Mantel das
Los werfen. Unter der Vergebung Gottes.
Der Christ darf alles als Offenbarung Gottes nehmen, – des Gottes, der ihn in Jesus Christus angesprochen
hat.
Der Kirchenvater Gregor von Nyssa stellte, in seinem kanonisierten Brief, Ostern noch ungeniert in den
Frühlingszusammenhang. „Grün aus Trümmern“2.
Die Auferstehung Jesu als heilvoller Beginn der allgemeinen Auferstehung zum gerechten Gericht ist eine
prägnante Vorstellung für Ludwig Uhlands Radikalisierung des Frühlingsgefühls: „Jetzt muß sich alles, alles
wenden!“
Daß die Sonne ihren verlorenen Schein (Luk 23,45) nach der Kreuzigung Jesu wiederfindet, ist das Erlebnis
eines Gotteswunders. Auf dem Hintergrund der Scheußlichkeiten des Lebens, die mit dem Tode Jesu
verkündigt werden, ist überwältigende Schönheit eine Auferstehungs-Metapher. (Schon der Begriff der
Auferstehung ist eine Metapher!)
Der als Messias/Christus bekannt gemachte Jesus ist königlich-monotheistisches Gottessymbol, ein
geschichtsmächtiges Existenzsymbol des Zeitalters der Persönlichkeit und ähnlicher Lebenssituationen.
„Wahrer Mensch“? Man hat das bald nachdrücklich dazusagen müssen!
1
So ist LUTHERs Paulusverständnis in der großen Galater-Vorlesung, namentlich seine Auslegung von Gal
3,13 ("Christus ... ward ein Fluch für uns") WA 40/I, S.433ff. zugespitzt zusammenzufassen.
2 Ein schöner Buchtitel von PAUL ERNST.
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GOETHEs „Stirb und Werde“1 ist eine Verallgemeinerung von „Kreuz und Auferstehung“, – was seinerseits
eine Zusammenfassung der Jesusgeschichte als Appell an alle ist. Dieser von Jesus ausgegangene,
persönlich weitergetragene Zuspruch hat immer noch an Jesus eine Symbolfigur, die im Sterben die
Hoffnungskräfte des Lebens sammeln kann. Die Kraft einer Symbolik ist allerdings unverfügbar; und auch
ganz anderes kann dies bewirken. Der historische Ursprung aber ist natürlich das solideste Symbol.
Das Scheitern Jesu öffnete den Jüngern das dunkle Nichts. Auf diesem Hintergrund wurde dann das eigene
Leben als Schöpfungswunder entdeckt.
Es wurde als Teilnahme am neuen Leben Jesu verstanden. Dies wurde apokalyptisch verdinglicht und sogar
halluziniert. Man lebte im Geist der Neuen Schöpfung, wovon man im Alten Testament schon hatte lesen
können.
Das waren die vorübergehenden Erscheinungen, deren Zeugnis wir die Entdeckung der Abgründigkeit
unseres Lebens und die Aufmerksamkeit auf die unerschöpfliche Neuigkeit des Lebens verdanken. Die
Sprachgeschichte dokumentiert es.
Die neutestamentlichen Erzähler berichten von Jesus Weissagungen seines Endes. Das ist begründet nicht
nur in dem oberflächlichen Bedürfnis der Gemeinde, seine Souvernänität zu zeigen, sondern, ernsthafter,
darin, daß man in ihm die ewige Wahrheit erkannte. Die Erzählung will diese Erkenntnis darstellen.
Trauer über eigene Verfehlungen muß sowohl am Selbstbild wie am Ideal arbeiten. Descendit de coelis, „er
ist uns zugut vom Himmel herabgestiegen“, sagt das Credo.
Der christliche Glaube lenkt durch das Liebesgebot im Namen Christi die Aufmerksamkeit auf transitorische
Existenzsymbolik des Alltags. Unsere Identität ist bei dem „wiederkommenden Christus“ aufgehoben, – der
uns in einem jedem begegnet, der unserer Zuwendung bedarf (Matth 25).
Ein kleines Ereignis von Mitmenschlichkeit in der Verzweiflung, – die erschütternde Freude, die es auslösen
kann, ist richtungweisend zum Verständnis von Auferstehung (der katholische Pfarrer Heinrich Henkst
mündlich), daß Gott wieder da ist, daß der Gekreuzigte in göttlich bescheidener Weise verherrlicht ist, daß
wir für das Leid der ganzen Welt Hoffnung fassen können.
Die Osterbotschaft ist zweideutig. Der Psalter erinnert, gegen die Hoffnungslosigkeit, uns zur Ermutigung,
an „die“ großen Rettungstaten des Allmächtigen. Die Grandiosität der herkömmlichen Auferstehungsvorstellungen ist geeignet, die Offenbarung Gottes in Jesus zu interpretieren im Sinne der herkömmlichen
theologia gloriae als ein objektives Ereignis, – das dann bezeugen kann nur, wer dabei gewesen ist
(Lessing!).
Der Osterglaube der Gemeinde aber bezeugt die selbst erfahrene Herrlichkeit Gottes. 1Joh 1,1, aus der
Feder der zweiten Generation, insistiert pseudepigraphisch, aber eben damit entscheidungerhellend, auf
der authentischen Zeugenschaft.
Man sehe und höre sich Leben und Lehre der Zeugen an! Das wenigste überzeugt; aber dieses wenige wiegt
den Rest auf. Das ist Kirchengeschichte.
Der historische Jesus wurde den Christen zum Zeichen für das (präzis als zweinaturig erkannte) Ideal-Selbst.
Die zwei Naturen, die die orthodoxe Christologie Jesus zuschrieb, sind zwei Weisen, Jesus zu erleben: als
Geschöpf und als den Schöpfer. Hat man in ihm den Schöpfer sehen gelernt, so kann man ihn auch in
anderen Geschöpfen sehen.
1
Die zum geflügelten Wort gewordene Formel hat die spezielle Konkretisierung im West-östlichen Diwan
hinter sich zurückgelassen.
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Nach Johanneischer Tradition war Liebe der letzte Wille Jesu. Mitmenschlichkeit ist des für uns gestorbenen
Gottes Segen: Mitgefühl der verlassenen Hinterbliebenen mit einander.
Höllenangst machte Jesus, den Heiland, zur Zwangsidee.
Ostern und ähnliche Wahnphantasien waren Implosionseffekte der plötzlich enttäuschten, auf Jesus
gesetzten Hoffnungen. Sie bildeten einen phantastischen Schutzraum für die durch Verzweiflung bedrohte
Menschlichkeit.
Nach Jesu Tod an dessen Gott glauben, der einst so genannte "Auferstehungsglaube", ist ein Schöpfungswunder, erschreckend, ein geistliches Ereignis, auch ohne die alten Vorstellungen.
Traumatische Erlebnisse haben dauernde seelische Störungen zur Folge. Sie werden vom Alltagsbewußtsein
abgespalten und können mit der Normalität zusammenwachsen erst nach einer Latenzzeit (diesen Begriff
braucht hier Judith Kestenberg; den Gedanken äußert schon bei Gershom Scholem betreffend die
Lurianische Mystik als Reaktion auf die Vernichtung des spanischen Judentums). Es entsteht ein
ungewöhnliches Weltbild, das den Menschen zu isolieren droht, aber auch neue Verständigungsmöglichkeiten bieten kann.
Von daher wäre auch über die Geschichte des Glaubens an die Auferstehung Jesu nachzudenken.
„Heil“ im Sinne des Evangeliums ist: Rettung aus der Verdammnis der gesamten Schöpfung, der unleugbar
gerechtfertigten Vernichtung. Das war der Horizont des neutestamentlichen Missionseifers.
Die Heilsnotwendigkeit des Evangeliums wird in unsern Kirchen weiterhin behauptet; aber die unleugbare
Verdammnis der Welt wird anders gesehen; und dementsprechend ist die Rede von der Rettung durch
Christus nicht mehr in der herkömmlichen Weise zu verstehen. Unsere Rettung beginnt, wie das Neue
Testament lehrt, mit der Mitteilung des Geistes, – ich verstehe: der in Christus offenbar gewordenen
schöpferischen Bescheidenheit Gottes.
„Der gekreuzigte Gottessohn ist unser Beistand in unserer Not.“ Das kann man nur in der Not bezeugen.
Die Osterbotschaft ist Zeugnis vom unerwarteten Handeln des Schöpfers. Die Erinnerung an diese
Existenzsymbolik wollen wir festhalten.
Kirche ist der Raum der Bibel. Sie bietet Raum für Austausch von Erkenntnis des Gottes, der heute in der
Welt am Werk ist, in Jesus.
Das ist nur für wenige aktuell unmittelbar ansprechend. Diese wenigen aber lernen die andern als
Manifestationen Gottes tiefer verstehen und vermitteln ihnen die Dankbarkeit Gottes.
Die trinitarischen und christologischen Streitigkeiten in der Alten Kirche zeigen, daß die Trennung zwischen
Schöpfer und Geschöpf bei Jesus problematisch geworden ist. Hier wurde göttliche Kreativität menschlich
erlebt. Der Realismus des Alltagswissens verlor seine Selbstverständlichkeit; Schwärmerei liegt da nahe und
wurde kirchenamtlich eingedämmt.
Autoritäre Strukturen sind einfach. Autorität verleiht Sicherheit. Die Bibel hat ein obrigkeitliches Weltbild.
Auch Jesus wird in diesem Sinne als Herr interpretiert.
Nach Paulus (1. Kor 12) haben Christen durch Christus „Charismen“, Gaben des Heiligen Geistes der
Endzeit. Sie können kleine Wunder tun, die einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit, einen Blick in die
Zukunft Gottes vermitteln. Man kennt das noch heute von den charismatischen Gemeinden. Das sind
wahnhafte Interpretationen.
Man kann das aber normalisieren und verallgemeinern: Wer – von den unsäglichen Zerstörungen, mit
denen die Evolution ihre strukturellen Gewinne bezahlt, indem sie den Zufall für sich arbeiten läßt,
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abgeschreckt und entsetzt wie die alten Apokalyptiker – sich fragt, wozu man lebt, muss sich von Christus
als Gottes Schöpferwort, für diese Welt die Augen ganz öffnen lassen. Er bekommt, unverhofft, mit tiefer
Selbstverständlichkeit Richtungweisendes, Beglückendes zu sehen, das hilft, das Entsetzliche persönlich zu
verkraften!
Liest man die spät-alttestamentlich prophetischen Aufregungen um den Tempel, erscheint die
neutestamentliche Abwendung und die Deutung des Leibes Christi als des wahren Tempels goldrichtig.
Die heilsame Wahrheit Gottes wurde in der Person Jesu erlebt und uns ausgelegt von einer breiten Kette
von Zeugen.
Im Glauben an Jesus wird die Erfüllung der alttestamentlichen Hoffnungen der für Untreue Bestraften
erlebt. Jesus, der vorbildliche, wundermächtige Moralprediger, ist, als Gekreuzigter, ihr Identifikationsobjekt und Friedensfürst insbesondere im Sinne des Buß-Bedürfnisses, allgemeiner: der Anaximandrischen
Gerechtigkeit1.
In der Leiche Jesu wurde der religiöse Wahn der Jünger geerdet und wurde auferweckt als Kern einer
neuen, lebendigen Symbolik.
Die durch Christus eingeleitete Auferstehung zum Gericht ist Neue Schöpfung. Sie zeichnet sich nicht, wie
etwa der Trost von Ps 73, in den Rahmen einer schon bekannten Gerechtigkeit ein, sondern ist Erscheinung
der Wahrheit des wahren Gottes. Nur vorher hatte Gerechtigkeit dessen Güte abbilden sollen!
Im Gekreuzigten ist Gott down to earth (!) gekommen.
Sich zu einer Symbolik Bekennen heißt: sie (nach eigenen Kräften und Möglichkeiten) in Bearbeitung
nehmen.
Nach Maleachi (1,3) und Paulus (Rm 9,13) haßt Jahwe den Esau. Auch diesen wirklichen Haß hat Gott auf
Jesus geladen und erleidet ihn mit seinem Geschöpf – dem Geschöpf zum Heil.
Ist man mit eigener Schuld hilfsbedürftig und verächtlich geworden, so kann die Erinnerung an Jesus
trösten, der zu den Sündern ging und ihnen Mut machte.
Wohl dem, der sich wundern kann! Infolge der individuellen und gesellschaftlichen Wissensakkumulation
sieht man Wunder immer seltener. Lebendiger Glaube sieht, wie der Aberglaube, Wunder. Aber er
beachtet das Ungewohnte, das noch nicht Gewusste, Überraschende und reflektiert es dann im Licht des
Bekannten. So macht er Entdeckungen, die sich als, inmitten des Gewohnten, unvorhergesehen
entwicklungsfähig erweisen.
Wir hätten die Welt gern ganz zu unsrer Verfügung. Man hat Angst, die Welt als Wunder Gottes zu sehen.
Das Evangelium vom auferstandenen Jesus aber sagt: „Nur Mut!“
Lehre
Gotteslehre will Gottes Namen in unser Denken einweben. Der Mensch kann sich mit Gotteslehre gegen
Gott abdichten und sie zur Ideologie verwandeln, – ein Mißbrauch, der den Gottesnamen stinkend macht.
Die institutionalisierte Lehre einer Kirche ist jeweils eine Ansammlung der Ergebnisse einer langen
Geschichte von Lehr-Streitigkeiten. Sie wurde, immer wieder anders, nie ganz befriedigend, von Einzelnen
1
Von Anaximander, dem vorsokratischen Weisen, ist ein diesbezüglicher Spruch überliefert, auf den
Heidegger mit seiner Interpretation wieder aufmerksam gemacht hat.
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theologisch mehr oder weniger professionell, systematisch stabilisiert. Sie hat aber so viel von ihrem Kredit
verloren, daß jetzt jeder sich seine eigene Weltanschauung erarbeitet.
Auch die Christustradition ist eine Reihe immer wieder korrekturbedürftiger Vereinfachung.
Christentum ist eine Sprache der Bescheidenheit, die dem Einzelnen ein unbegrenzt jeweils noch
umfassenderes Eingebettetsein symbolisiert.
Die institutionalisierte Symbolik der Einheit, die regula fidei, ist ein vielversprechender Treffpunkt für viele
menschliche Gemeinschaft Suchende.
Paulus ist ein geistlicher Familienvater. Unser Gewissen fühlt seine Autorität. Es muss versuchen, ihn besser
zu verstehen, als er sich selbst verstand, sein Wort als Autorität selbst zu verantworten.
Luthers Lehre war in ihrer Pointierung hinreichend genau (ein goldner „Ring“, der das Kleinod Christus
fasst), insofern sie die Chaotik respektierte und den Glauben als Anfechtungsgeschichte der Existenzsymbolik verstand.
Der Prediger ist nicht nur Kommantator, sondern – nolens volens – ein Kommentar zu seinem Text.
Den Horizont bilden immer phantastische Verzerrungen – man denke an die Geometrie durch Wolken
brechender Sonnenstrahlen!
Nicht nur umrissene Verallgemeinerung von bestimmten Einsichten, sondern auch die (verzerrende)
Globalisierung von solchen zu existenzsymbolischer Bedeutung ist lebenswichtig.
Christliche Rede von Gott ist Bekenntnis, d.h. persönlich in eigentümlicher Weise verbindlich, obschon
zugegebenermaßen (1Kor 13,9!) illusionär. Dies ist die bescheidenste, verantwortlichste und verheißungsvollste Form der natürlichen Globalisierung partikulärer Einsichten.
Die Resonanz mit einer guten Formulierung, einem Spruch, kann in einer Krise den Menschen, der ihn sich
wiederholt, wieder ins Gleichgewicht bringen. Das ist der Sinn auch von kirchlicher „Lehre“. Man muss sich
für Krisen einen kleinen persönlichen Vorrat davon anlegen; der Gottesname gehört dazu.
Dogmatik ist die Pflege des derartigen Notvorrats einer Kirche.
Ich kann keine größeren Texte mehr schreiben, weil die Agenda solch eines Vorhabens die Agenda meines
geistlichen Lebens mißachtet, nämlich im täglichen Leben gewissenhaft auf Gott zu achten, der mir ständig
Anfechtungen schickt. Damit fertig zu werden, ist auf meine alten Tage meine zentrale Aufgabe. Aber was
immer ich in diesem Sinne niedergeschrieben habe, erscheint mir bald zu unsolide, um es einfach
fortzuschreiben.
Das Glaubenszeugnis ist jeweils ein metaphorischer Kern mit einer lokalen Metonymik, deren Sinn durch
Globalisierung zu Unsinn verzerrt wird. Näherbestimmungen der Geltungsbereichs, sog. Distinktionen,
werden nötig. Die hohe Dimensionalität der Glaubenszeugnisse ist immer nur für begrenzte Zwecke auf den
niedrigdimensionalen Atlas einer Dogmatik abzubilden.
„Die kirchliche Lehre“ beansprucht Verbindlichkeit. Man kann sie deshalb darstellen nur entweder
subjektiv, d.h. (pro oder contra) bekennend, genau, oder dann (objektivierend) nur ungefähr und
denaturiert; denn der vielfache jeweilige Kontext gehört zum Verständnis wesentlich dazu.
Der Anspruch auf unbedingte, zeitlose Wahrheit ist besonders umstände- und zeitbedingt! Er entsteht in
der Angst der Angewiesenheit auf das Zeitliche und Bedingte.
Die großen kontroversen Glaubenslehren der Reformationszeit setzten alle bedenkenswert an. Ihre
Symbolik wurde, möglichst einfach, widerspruchsfrei weiter ausgearbeitet; und so wurden all diese
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Systeme doch immer komplizierter und endeten in Aporien. Sie werden aber trotzdem, gegen einander, als
erste Stufen zur Gotteserkenntnis verteidigt; und in der Kontroverse demonstriert jeder den gegnerischen
Ansatz, verzerrend, als unzumutbar wegen dessen eigentlich nicht intendierter (aber unleugbarer)
skandalöser Implikationen. Damit aber ist nichts gewonnen; denn keine menschenmögliche rationale
Systematisierung ist der Komplikation der Wahrheit gewachsen.
Gemeinsame, aber irrige Voraussetzung der ehrlichen Bemühungen und Kämpfe war: unbedingte
Stimmigkeit zwischen wahren Aussagen. Aber alle Aussagen sind nur bedingt wahr; und um diese
Bedingungen erkennen und respektieren zu können, ist man wohlberaten, die Vielstimmigkeit mit den
Ansätzen der Andern ernstzunehmen. Das führt nicht zu Stimmigkeit, aber zu tieferer Einsicht.
Das synoptische δεῖ, die göttliche Notwendigkeit der Passion Jesu, verlangt Anerkennung. Die Kirche
anerkennt es als Heilsplan der Vorsehung. Aber ein Plan ist ein zu enger Rahmen für ein Verständnis der
Passionsgeschichte. Die Passion Jesu war ein Ereignis der gottgewollten Freiheit der Schöpfung.
Die meisten naiven Individuen und Gruppen glauben praktisch an die eigene Unfehlbarkeit. Der Vatikan
aber hat sich in die besorgliche Situation gebracht, an die eigene Unfehlbarkeit glauben zu müssen.
Die Offenbarung Gottes in Jesus ist objektiviert in paradoxen Worten. Sie geschieht, wo und wann und wie
es Gott gefällt; und die christlichen Worte bleiben leer, wo und wann Gott dies, uns zum Heile, will.
Kirchliche Lehre ist ein unter den Wechselfällen der Geschichte fraktal, wie ein Baum, ausartikulierter
Monotheismus, ein mildes stochastisches Chaos.
Auch die Pauschalurteile des Evangeliums sind Vereinfachungen, die nur zeitweise, in bestimmten
Zusammenhängen, befriedigen. Deshalb hat der Glaube laufend weitere Bekenntnisse, Lieder, Predigten
und erläuternde Glaubenslehren (allmählich ein Dickicht) aus sich herausgesetzt.
Die Leidensbereitschaft, für alle Wahrheit offen zu sein, kann die Preisgabe der eigenen Identität nicht
ausschließen.
Wenn man möglichst prägnant redet, kommt man an die Grenze, daß man bekennen muß, seine Sache
nicht besser sagen, Gott nicht besser bezeugen zu können. Wo es in diesem Sinne um Gottes Wort geht,
muß der Stil der Theologie assertorisch werden (wie Luther es in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus
gefordert hat). Er setzt dann die Moral der Sensibilität voraus. Solches "Wortgeschehen" lebt in der Tragik
der gelebten Vereinfachung, unvorhersehbar chaotisierend, klärend und ordnend.
Leben ist Sterben. Jesu Ruf in die Nachfolge ist Berufung zu Teilnahme am Leben des Schöpfers. Eritis sicut
Deus, nun sei Gott! Nimm auch auf dich die Last der Welterhaltung.
Die tiefsinnige Symbolik der Lutherischen Orthodoxie hatte ihre Bedeutung in der Enge der deutschen
Gesellschaft des Barock; in diesem Rahmen ist sie ein leuchtendes Beispiel guter Theologie. Aber als ihre
Erben müssen wir heute eine christliche Glaubenslehre ganz anders strukturieren.
Hinter Lehrstreitigkeiten stecken immer konfligierende Lebenszusammenhänge.
In der Anfechtung des Glaubens an eine Lehre muß man zu deren Anfängen zurückfragen, – in der
Glaubensanfechtung also zurück zu Jesus.
Ritual / Gottesdienst
Das Glaubensbekenntnis (σύμβολον) im Gottesdienst ist eine Art Tätowierung.
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Schöne kirchliche Glaubenszeugnisse schaffen eine erstaunlich widerstandsfähige Welt selbstverständlichen Heils, – aus der einen Gott selbst vertreiben muß. Man relativiert sie (sich!) nur unter Druck.
Die Sakramente sind institutionalisierte Stücke der Wirkungsgeschichte Jesu.
Räume haben je ihren besonderen Charakter; sie deuten, was darin geschieht, Kirchengebäude: erhaben,
erhoben, festlich, feierlich oder besinnlich, innig; manche drücken einen obrigkeitlichen Anspruch aus, mit
dem man nichts zu tun haben möchte. Die Wirkung eines Raumes, in dem Besinnung stattfinden soll, muß
immer wieder bewußt wahrgenommen und im Licht des heute wirklich gelebten Lebens bedacht werden.
Dann kann man zur Not auch in Götzentempeln christlich meditieren.
Umgekehrt sind gute Kirchgebäude auch als Alibi gegen den Ruf Gottes brauchbar.
Im Gottesdienst stellt man Gott Dienen dar.
Die Grenze zwischen ehrwürdiger Liturgie und Magie ist fließend.
Gottesdienst ist gemeinsames Warten, daß Gottes Wort sich ereigne; meist geht man enttäuscht nach
Hause.
Freie Rede im Gottesdienst öffnet das stereotyp überlieferte Sakrale exemplarisch in einer individuellen
Äußerung zum profanen Heute hin.
Die meisten Gottesdienste imponieren als dröhnende Gottlosigkeit.
Auch die leidenschaftlichste Predigt sollte nüchtern enden.
Wie auch immer die herkömmliche Sozialform des allsonntäglichen Gemeindegottesdienstes heute gefüllt
wird – und was wird nicht alles versucht! – diese Veranstaltungen der großen Kirchen bleiben schlecht
besucht! Die Form ist ansprechend oder anspruchsvoll; der Inhalt, oft hörbar gedankenlos dahergesagt und
-gesungen, bleibt in der Regel langweilig. The more it’s different the more it is the same: unendlich repetitiv
die Bestätigung einer traditionellen Identität. Dabeisein ist alles.
Die Beerdigungsfeier ist Kommunikation, wo der Mensch nichts Befriedigendes zu sagen weiß. Aber
kollektives Schweigen ist bald bedrückend und gibt dem Wort, das das Schweigen bricht, übermäßige
Bedeutung. Man symbolisiert einander Mitgefühl nicht ganz ohne Worte. Ein Liturg und Wortführer ist
notwendig. Die überlieferte kirchliche Symbolik ist ein bewährtes Medium, enorm anspruchsvoll, aber nicht
jedermanns Sache. Sie muß Stück für Stück in persönlicher Verantwortung eingesetzt werden.
Die individualisierte Beerdigungspredigt ist eine unmögliche Aufgabe. Als Christuspredigt fordert sie vom
Prediger persönlich letzte Ehrlichkeit.
Im Gottesdienst soll man sich gemeinsam besinnen können. Das konkrete kultische Angebot ist ein
gemeinsamer Anlaß zu jedermanns idiosynkratischer Besinnung auf die gemeinsame Grundlage. Der Kult,
einschließlich Predigt, soll den Einzelnen, für die Weiterbesinnung über seine vielerlei offenen Fragen,
geeignete Symbolik zur Horizonterweiterung bereitstellen.
Indem wir mit ihm beten, bevormunden wir das Kind.
Der Erwachsene kann allein einzelne Worte ohne Sätze beten, von Erinnerung geführt, Erinnerungen vor
Gott bringen.
Gemeinsam geht das nur bei großer Intimität (die man niemandem aufdrängen soll). Besser betet man hier
mit ganzen Sätzen, – obwohl das meist viel mehr Ordnung ist, als die wirkliche Gottesbeziehung des
Einzelnen schon hat. Auch dies aber soll man niemandem aufdrängen!
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Die Vermutung, daß das Credo im Gottesdienst zur Vertreibung der Ketzer eingeführt wurde, paßt zu dem,
was man da in unsern Gottesdiensten spürt. Anders wirkt das gesungene Credo in der Messe!
„Mündigentaufe“ ist unter den obwaltenden Umständen ein öffentliches Bekenntnis nicht zur Offenbarung
Gottes in Jesus, sondern zu einer Stereotypierung von Bekenntnis, die schlecht zu Jesus als Offenbarung
Gottes paßt.
Kirchen sind zunächst Tabuzonen, Sakralräume, Gotteshäuser, wie Synagogen, Moscheen und Tempel,
unabhängig davon, was hier etwa gepredigt wird. Ein Verständnis dafür liegt wohl in der menschlichen
Natur.
Durch Prophetenwort (wie im Alten Testament) und Predigt mag der hier wohnende Gott sich als überall
gleichermaßen wohnend erklären und den Tempel damit säkularisieren.
Auch im evangelischen Gottesdienst feiert die Kirchgemeinde sich selber.
Das Leben ist mörderisch; auch das menschliche. Der Staat ist eine Rechts-, Ordnungs- und Friedensmacht,
aber als Lebensmacht mit Gewaltmonopol potentiell mörderisch. Staatskult – etwa im Fußball mit Fahnen,
Hymne, König u. dgl. – ist ein menschliches Naturphänomen.
Kult ist eine staatsähnliche menschliche Lebenserscheinung1, potentiell mörderisch. Im Kult wird Gott
vergötzt; im Dienst menschlicher Selbstbehauptung wird seine kritische Dynamik, aufgefangen in
sterilisierten Sündenbekenntnissen, gestoppt und kollektiv verleugnet. Im christlichen, kirchlichen Kult wird
der Vater Jesu Christi vergötzt. Die kritische Dynamik seiner in Christus offenbarten Bescheidenheit wird
gestoppt und lobend überholt.
Gleichwohl ist das Christentum auf diese Tradition angewiesen. Sie dringt allerdings darauf, erschlossen zu
werden. Dementsprechend hat Luther im Gottesdienst der Predigt die entscheidende Rolle zugewiesen.
(Vgl. schon Paulus über Moses, 2.Kor 3, 1-18.) Von hier aus konnte auch die Staatsbürgerlichkeit kultiviert
werden.
Fest ist kollektive Autosuggestion, Induktion eines veränderten Bewusstseins.
Im Gottesdienst soll die Predigt Wasser in diesen Wein gießen: die (im Fest als selbstverständlich
neutralisierte) Verweisung des im Zentrum stehenden Existenzsymbols auf die prekäre Existenz des
(augenblicklich so grandiosen) Selbst, existenziell artikulieren!
Ritual markiert Schutzraum für sozial wertvolle Kommunikation kindlicher Gefühle, „Regression im Dienst
des Ich“.
Man muss Zitate aus einer andern (etwa einer biblischen) Welt unserer Glaubenstradition in Hörweite, aber
von der eigenen Welt unterschieden halten. Das geschieht (undeklariert) durch die liturgische Theatralik.
Kult ist Verschwörung: Mit vereint „verändertem Bewusstsein“ den Mund zu voll nehmen. Diese
gemeinsame Erfahrung verpflichtet dann.
Ein Bestattungsritual überbrückt symbolisch den Riss in der Kommunikation mit dem Verstorbenen. Es
muss vieldeutig und darf unverständlich sein. So symbolisiert es den Sterblichen eine Gemeinschaft im
Nichtverstehen.
Das Ritual soll ein Segen über der Vergänglichkeit sein, eine Verheißung aus der Vergangenheit; jeder
Bestattungsredner ist Tradent von Glauben.
1
Die Hauptbedeutung von λειτουργία ist Staatsdienst.
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Die Feststimmung in marginalen Kirchen ist theologisch bemerkenswert. Die Marginalen erleben hier die
soziale Tragfähigkeit der Tradition, die sie marginalisiert.
Kirche
Die heutigen islamistischen Märtyrer sind als Beichtspiegel der Kirche in ihrer Märtyrerverehrung nützlich:
Die gleiche eindrucksvolle, wahnhafte Kompromißlosigkeit.
Es ist anregend, die Geschichte des biblischen Erwählungsglaubens als eine paradigmatische Sozialgeschichte des Narzißmus zu lesen.
Jesus ist der Herr der Kirche. Diese begann als wahnhafte Abwehr einer posttraumatischen Depression. Ihre
Symbolik bedeutete bis heute – erschreckend (anthropologisch bemerkenswert) vielen – eine Hilfe.
Diese Abwehrform verwuchs mit der Zeit, in vielen kleinen Entwicklungsschritten, enger mit der
normalmenschlichen1 Symbolik der Umwelt – vielfach zu beiderseitigem Gewinn. Die Kirche übernahm
Funktionen, die zur Jesustradition paßten. Es entstanden um die Kirche herum christliche Kulturen.
Zwischen christlicher Kultur und Kirche besteht lockerer Kontakt ohne klare Grenze.
Die Herrschaft Jesu Christi ist in der christlichen Kultur ein Problem, denn die Kirche ist durch das vinculum
charitatis, das Band der Liebe, zusammengebunden; aber zieht der Herr der Liebe Grenzen? Schickt mit
dem Liebesgebot der Herr die Seinen gar aus seinem Haus hinaus? Man erinnere sich an Paulus, der bereit
ist, aus Liebe den Fluch Jesu auf sich zu nehmen (Rm 9, 3). Das kann man nicht Gehorsam gegenüber dem
Herrn Jesus nennen; das ist Nachfolge Jesu! Es geht da nicht mehr nur um das Gefühl der Gottverlassenheit,
sondern um Verfluchtsein. Hier hat – mit dem Johannesevangelium zu reden – der Heilige Geist ein
größeres Werk getan als Jesus (Joh 14,12). Die Liebe Gottes kann Mut zur Gottlosigkeit machen.
In der Nachfolge Jesu sollen wir frei sein von dem Herrn. Das ist das Gebot des Herrn der Kirche an die
christliche und post-christliche Kultur.
Den Traumatisierten hält der „Apothekengott“2 die Kirchentür offen. Aber auch die andern sollen freien
Zugang zur kirchlichen Symbolik haben. Sprachnot muß allerdings ehrlich zugegeben werden3; Heuchelei
hilft da nicht heraus.
Kirchen sind Tummelplätze auch für krude Größenphantasien.
Die Zahl der zahlenden Kirchenmitglieder fällt; der institutionelle und bauliche Rahmen blieb bis jetzt
stehen – und wird den Verbliebenen allzu teuer. Der katholische Bischof von Essen schließt Kirchen und
entmündigt die Gemeinden finanziell, hofft aber auf – stärker episkopal gesteuertes – Weiterleben der (ihm
bislang zu gemeindlich-selbstbezogenen) Laienaktivität. Die Laien aber sind von dem klerikalen Umgang mit
dem Geld nicht überzeugt.
Der Glaube ist eine heute schärfer individualisierte Sache. Das klerikale Verständnis von Einheit ist zu
einfach. Die verstärkte Zentralisierung erdrückt das Gemeindeleben.
Die EKD geht in dieselbe Richtung. Die Kirche wird zum hohlen Fass, auf dem der höchste Würdenträger
steht und vor der Fernsehkamera predigt.
Ich möchte die christliche Überlieferung des Gottesnamens nicht missen; sie ist mitmenschlicher Beistand,
eine wesentliche Lebenshilfe. Und es ist eine Aufgabe menschlicher Solidarität, sie weiterzugeben.
1
Die chaotischen Bedingungen des Lebens produzieren eine gesellschaftliche Normalität, die nur bedingt
gesund zu nennen ist.
2 Dietrich Bonhoeffer in einem Brief an Eberhard Bethge.
3 Das fehlt in den Kasualliturgien.
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Die erste Aufgabe einer Institition ist Kontinuität. Die wesentliche Aufgabe einer Kirche ist die Pflege der
Erinnerung an die Offenbarung Gottes in Jesus. Weitere Funktionen können ihr zuwachsen und absterben.
Die Zerstörung Jerusalems nach der Kreuzigung Jesu scheint für viele Jesusleute die reale Erfüllung eines
(moralisch verbotenen) archaischen Rachewunsches gewesen zu sein. Die Sequenz dieser beiden
Ereignisse, schließlich noch verstärkt durch die jüdische Katastrophe des Jahres 135, war ein kumulatives
Trauma1. Systematisiertes, apokalyptisches* Wissen (Naherwartung des Endgerichts!), integrierend
darstellende Evangelien, , das Heil reïfizierende Kirche, Einheitsideologie, wurden zur Panik-Abwehr nötig.
Missionarisch boten sie sich an als starkes Orientierungssystem in dem Normenchaos unter einer (weithin
als illegitim empfundenen, ausländischen) Staatsmacht. Damit begann die Erfolgsgeschichte des
Christentums. Und für den Anfang gilt: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg.
Kirche als Symbolwelt ist festgemacht an einem historischen Ereignis, dem Leben Jesu. Die Religionsgeschichte weiß von verschiedensten Offenbarungserlebnissen. Kirche ist die Geschichte des Verständnisses
des gekreuzigten Jesus als Offenbarung Gottes, als des Schöpfers im Geschöpf. (In diesem grundlegenden
Sinn ist Kirche nicht Institution, sondern eher Aufhebung von Institution, nämlich Aufhebung von Gott als
Institution – durch Gott.)
Mit dem Verständnis Jesu als Messias/Christus begann die Institution Kirche. Sie ist selbst Subjekt mit mehr
oder weniger formelhafter Reflexion auf Jesus als Christus.
Sie versteift die neue Sprache des Glaubens (gegenüber Störungen vonseiten Gottes und der Welt) – mit
dem Risiko der Sinnentleerung. Die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht, aber die Kirchengeschichte ist
das Gericht der Welt über Gottes Offenbarung in Jesus. Und diese menschenmögliche Kompromittierung
Gottes gehört, im Sinn des Evangeliums, tatsächlich in voller Länge als Passionsgeschichte zur
Offenbarungsgeschichte2. Wer sehenden Auges an Gottes Gegenwart – nicht nur in Jesus, sondern auch in
der Kirche, glauben kann, der, vielleicht, tut größere Werke als Jesus (Joh 14,12) und " ist vom Tode zum
Leben durchgedrungen" (Joh 5,24).
Institutionalisierung führt zu Fetischisierung der Symbole. Jesus ist der Fetisch der Kirchen. Die dialektische
Theologie* hat das durch die Predigt zurückdrehen wollen, aber im Effekt wohl eher noch fester
geschraubt.
Eine Kirche soll institutionell für Ordnung sorgen, soweit das für Verständigung erforderlich ist; aber nicht
den Geist des Lebens ersticken, der etwas zu sagen hat. Sonst stirbt sie selbst ab.
Ein Buch ist eine Institution. Eine Kirche ist eine Institution. Besonders solide steht eine Institution auf
einem guten Text.
Kirche hat einen natürlichen Hang zu Katholizität. Wenn der Papst institutionell Primas der Ökumene wird,
ist das kirchliche Trugbild komplett. Dann müssen, als echte Alternativen zum schönen Schein, Freikirchen
die Nicht-Institutionalisierbarkeit Gottes repräsentieren – und damit tun, was Aufgabe der Kirche ist: in die
Wahrheit des Wortes Gottes einweisen.
Im allgemeinen, postmodernen Verfall der Ideologien sind kleinere Koordinationen gefragt. Die Macht der
großen Kirchen verfällt. Der einzelne muß sich, statt mit der Macht einer ideologischen Institution, mit der
"neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) auseinandersetzen.
1
2
Begriff von MASUD R. KHAN.
"Offenbarung als Geschichte" (W. PANNENBERG) ist in Wahrheit dies!
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Die Kirchen pflegen die Erinnerung an Christuszeugnisse institutionell. Aber die Christus-Tradition läuft an
dieser Pflege auch vorbei. Die Kirchen versuchen, das einzufangen.
Die Deutschen waren zu Luthers Zeiten besonders kirchenfromm und deshalb dankbare Opfer römischer
Ausbeutung gewesen. Luthers Rechtfertigungslehre, die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium,
schnitt deren Angelschnur durch, an der die Volksfrömmigkeit hing. Das hinterließ ein normatives Vakuum,
in welchem eine gefährlich chaotische Entwicklung einsetzte. Die sog. Reformatoren, nicht anders als die
Altgläubigen, setzten dieser – und dem evangelischen Glauben – durch staatliche Gewalt brutal ein
gesetzliches Ende. Sie selbst eröffneten das konfessionelle Zeitalter übermäßiger politischer Verantwortung
der Theologie, einer entsprechend ängstlichen Bemühung um die schlechthin rechte Lehre, Verpflichtung
zu allgemeingültiger Orthodoxie.
Die Reformation hatte Erfolg, weil Luther das wieder entdeckte Evangelium nicht seinen eigenen Weg
nehmen ließ, sondern es gesetzlich predigte. Er verstrickte sich mit seiner Lehre in grauenhafte
Selbstwidersprüche. Er spürte das auch; aber er fand nicht heraus. Er wollte die Kirche evangelisch machen.
Das Zeitalter der Kirche als Institution aber war vorbei. So gründete er also unabsichtlich eine neue.
Die Evidenz der Reformation war nicht haltbar. Die Wahrheit aber bahnte sich, an den Kirchen vorbei, trotz
Unterdrückung, langsam ihren Weg zu den Menschen.
An den Folgen des obrigkeitlichen Doping im 19. Jahrhundert aber leidet die Kirche bei uns noch heute.
Die größten Idealisten sind die lohnendste Gesellschaft für Betrüger. Deshalb sind Kirchen und
Sozialistische Parteien auch reich an hochkaratigen Betrügern.
Kirchen wollen ihr eigenes Wort ins Gespräch zwischen dem lebendigen Gott und dem einzelnen Menschen
einbringen. Sie sind verpflichtet, ihr Bestes zu tun gegen christlich unterfutterten Unfug, – wovon sie
vielerlei in Erinnerung haben. Aber „ihr Bestes“ ist Lehre mit der geschwächten Autorität einer Institution,
nicht aber das persönliche Wort in seiner mitmenschlichen, und deshalb verheißungsvollen Schwachheit.
Eine Kirche ist eine Institution symbolischen Fundamentkonsenses, eine religiöse Ordnungsmacht, die auf
interne Verständigung dringt.
Indem sie interne Verständigung übt, trainiert sie die Fähigkeit zu Verständigung überhaupt. Erzwungene
Monotonie allerdings erzieht im Gegenteil zu Zynismus und ängstlicher Heuchelei.
Nicht nur Staaten, auch Religionen entarten leicht. Es liegt im Interesse der Gesellschaft, wenn sie ein Auge
auf einander haben und sich gegenseitig vor dem Fall bewahren – wie zwei Betrunkene.
Die Gesellschaft hat ein Interesse an kultivierter Religion. Deshalb zahlen die Staaten akademische
Ausbildungsstätten, Departments of Religion bzw. theologische Fakultäten, begünstigen Religionsgemeinschaften und beaufsichtigen sie.
Theologie und Philosophie haben gesellschaftlich heute wenig beizutragen. Die letzte Weisheit der
Bemühung um allumfassende Systematik lautet: Unser Wissen ist immer nur begrenzt gültig. Das berechtigt
jedermann zu gezieltem Lerneifer einerseits, weltanschaulichem Eigenbau andrerseits.
Die Kirchen mahnen – und tun auch Nützliches, wo die staatliche Decke zu kurz, die Zivilisation barbarisch
ist. Sie halten auch Gottesdienste. Daß aber für all Dienste solch ein großer Apparat nötig ist, leuchtet nicht
ein. (Daß sehr viele soziale Einrichtungen noch unter kirchlicher Vormundschaft stehen, ist heute eher
anstößig und nur historisch zu begründen.)
Die Kirchen spielen Gottesvolk.
Das (mehr oder weniger explizite) Selbstverständnis einer Gemeinschaft als Gottesvolks ist nicht selten. Bei
schlechter Theologie (bzw. schlechter civil theology) kann dieses naive Selbstgefühl aber giftige Früchte
tragen. Ein sich selbst fetischisierendes Volk lebt mit seinem Götzendienst verworfen und verdammt.
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Schon Plutarch1 dachte über das Absterben von Heiligtümern nach.
Kirchen, insbesondere die unsren, werden als überinstitutionalisiert empfunden. Die Mitgliederzahl der
hochinstitutionalisierten Kirchen geht ständig zurück. Aber sie sind mit ihrer ererbten gesellschaftlichen
Rolle und Sozialform identifiziert und können sich nur äußerst langsam ändern.
In den fortschrittlichen Gesellschaften sind die großen Kirchen Institutionen für Verständigung und
menschliche Teilnahme. Nach beidem besteht gesellschaftlich dringender Bedarf.
Die Kirchen und was sie lehren zerfällt heute (NIETZSCHE: "verwest").
Wie jede Gemeinschaft, so entwickelt jede Kirche Lehren und kann Richtlinien definieren, wie man hier tun
und reden soll. Diese fügen sich irgendwie zu einer Lehre zusammen, die dann auch noch, auf verschiedene
Weise, mit leichten Verformungen, systematisiert werden kann.
Denkschriften von großen Kirchen (als wichtigen Schmelztiegeln zur Bildung einer öffentlichen Meinung)
sind historisch im Christentum wurzelnde, durch Gremienbeschlüsse – niemals durch ihre biblischen
Argumentationen! – autorisierte, politisch-rhetorische Handreichungen.
Kirche ist ideologischer Schmelztiegel (Liebe, Friede). Was sie sagt, kann kaum ganz abwegig sein. Hier
geschieht ständig eine enorme Koordinations-Vorleistung für die Gesamtgesellschaft.
Die Landeskirche hat ihrem Pfarrer Hans Ehrenberg als Juden erst zeitgemäß im Stich gelassen – und post
festum zeitgemäß ihre Schuld bekannt. Die Zeiten haben sich geändert. Alles ganz natürlich und in
Ordnung; aber unheimlich.
Die Kirche operationalisierte ihre Heiligkeit durch das kanonische Recht, das ursprünglich schwere Sünder
exkommunizierte und ihnen Vergebung und Wiederaufnahme erst nach einer langen Bußzeit gewährte. Bis
ins 14. Jh. blieben die zum Tode Verurteilten aus der Kirche ausgeschlossen.
Erst die Bettelmönche im 14. Jh. haben mit Hilfe des Papstes von den weltlichen Gewalten erreicht, daß sie
zum Tod Verurteilte bis zum Schafott begleiten durften!
Kirche als Vergebungs- und Liebes-Institution ist gesellschaftlich betraut mit der Erarbeitung und Pflege
konsensfähiger moralischer Kompromisse.
Soziale Einheiten – Staat, Firma, Familie und so auch die Kirchen – nötigen den Einzelnen zu Verstößen
gegen sein Gewissen.
In Kirchen und Wissenschaft allerdings, als Wahrheitsbetrieben, ist das doppelt korrumpierend.
Je mehr es um Verantwortung, Sprache, Wort und Wahrheit geht, sind Institutionen primär schädlich.
Man kann den Schaden infolge der Macht des institutionalisierten Schwindels durch Gegeninstitutionen
(mit deren Schwindel) begrenzen. So wird der einzelne zwischen den Institutionen wieder zurück in die
eigene Verantwortung genötigt. In dieser Funktion können Kirchen der Wahrheit dienen.
Der einzelne kann allerdings in der Flickenteppich-Gesellschaft auch eine Flickenteppich-Identität – statt
einer differenzierten Persönlichkeit mit Spannkraft – entwickeln.
Der schweigenden Mehrheit ist die Existenz ihrer Kirche knapp die Kirchensteuer wert.
Die ideologische Aufweichung der großen Kirchen stellt der Gesellschaft eine Kommunikationsstruktur
gemäßigt alternativen Denkens zur Verfügung. Unausgereifte Ideologien kleiner Gruppen finden erhöhte
Beachtung. Dies ist eine diakonische Funktion der Kirchen.
1
(Um 100 n.Chr.) De defectu oraculorum.
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Daneben sind fundamentalistische Kontraktionsbewegungen zu erwarten. Sie halten die herkömmliche
Gottessymbolik steril präsent.
Aus jeder dieser Aktivitäten kann durch Berührung mit selbständig denkenden, ernsten Menschen
neuartiges christliches Leben erwachsen.
Die Bekennende Kirche artikulierte sich gesetzlich-wahnhaft, um wertvolles Bedrohtes zu konservieren.
Es kam die folgende Generation aber teuer zu stehen, daß die Bekennende Kirche sich in der Angst religiösgesetzlich, statt vernünftig, gegen schlechte Gesetze gewehrt hatte.
Für die Reformatoren war wichtig der öffentliche Anspruch auf kontrollierbar richtige Auslegung der
anerkannten Lehrautorität (Bibel), nicht aber Gewissens- und Glaubensfreiheit.
Die Kirchen idealisieren die Kirche.
Pfarrer („Bischöfe“, Gemeindeaufseher) dürfen durchschnittlich ordentlich leben. Sie müssen nicht
Vorbilder, keine religiosi sein (die sich um ihrer Existenzsymbolik willen außergewöhnlich einschränken).
Gewiß ist Kritik an der Kirche als Begründung für die Kirchenaustritte oft Vorwand für Geiz. Immerhin aber
geizt man eher an den Dingen, die man weniger schätzt.
Das Christentum war lange ein ganz großes Geschäft. Es ist sehr heruntergewirtschaftet.
Das Verhalten der Kirchen angesichts des Holokaust war nicht besser als das der Staaten. Das paßt nicht ins
christliche Selbstbild. Es paßt aber zur kanonischen christlichen Symbolik, und ist zu dieser ein später,
notwendiger Kommentar, der dem Bewußtsein die Schattenseite des Christentums aufdrängt. Dieses
verlegene Untätigbleiben als Zuschauer monströser Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehört
wesentlich in die Geschichte des Christentums als seine andere Selbstauslegung.
Neben dem "Herr, bin ichs?" (Mark 14,19, Matth 26,22) hat die Kirche in der Gestalt des Judas den Verräter
symbolisiert, der von Gott verworfen ist, – und hat mit Matth v. 25 die schlechte Antwort auf die gute Frage
erleichtert. Das Böse ist, entlastend symbolisiert, externalisiert. Im gleichen Sinn wirkt das nachpaulinische,
im Neuen Testament dokumentierte Juden-Klischee.
Der technische Fortschritt hat die Gesellschaft umstrukturiert. Anfang hatte man Maschinen, deren man
sich bediente. Die Menschen haben sich mithilfe der Maschinen so vermehrt, wie sie nur dank der
Maschinerie weiterleben können. Schon seit gut hundert Jahren „bedient“ der Mensch die Maschinen. Das
menschliche Subjekt ist zum Objekt der Maschine geworden. Die „Servo“-Systeme dominieren die
Sozialstruktur.
Die Metonymik ist jetzt wichtiger als die Metaphorik. In dieser aber steckt der Glaube; hier schlägt das Herz
der Menschlichkeit und der Religion. Die moderne Kultur ist pluralistisch, politisch und religiös ein
Kompromiß.
Das Individuum ist polyzentrisch, mit wechselndem Schwerpunkt zugleich Glied verschiedener
Symbolgemeinschaften. Die Kirchen sind Vereine zur Zentrierung der Persönlichkeit durch monarchische
Symbolik.
Monotheismus tendiert zu Totalitarismus.
Die moderne Form des Polytheismus ist religiöser Pluralismus. Dieser steht und fällt mit der Kompromißfähigkeit der Menschen; er setzt zuversichtliche Spannungstoleranz, letztlich: Menschenliebe, voraus.
Lebendiger Pluralismus kann den Monotheismus vor Totalitarismus bewahren.
Das (von den alten Kirchenvätern noch gesehene) polytheistische Strukturmoment in dem Begriff des
dreieinigen Gottes – der Schöpfer (Vater) als ein Geschöpf (Jesus) und dann vielfach verleiblicht (1Kor
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15,44, Geist) – bringt die anfechtungsvolle Zeitlichkeit des Glaubens zum Ausdruck, die später Luther (in
Begriffen wie Gesetz und Evangelium) thematisiert hat und von der Goethes „ungeheurer Spruch“1 zeugt.
Kirchen repräsentieren die Kirche, und wollen damit den desintegrationsbedrohten Menschen eine in Gott
gegründete Einheit vermitteln.
Unsre alten und historisch bewußteren Kirchen repräsentieren allerdings auch, etwas ermüdet, ihre
Streitgeschichte.
Eine Konfession ist ein Resonanzphänomen, das den einzelnen befähigt, relativ kraftvoll in (erzwungenen)
Frequenzen eines Kollektivs mitzuschwingen.
Die "christliche Freude" in unseren Kirchen wirkt oft etwas programmatisch2.
Kirchen fungieren in der Gesellschaft als sozialpsychiatrische Selbsthilfeorganisationen. Sie betreiben
Seelsorge im katholischen Plural, cura animarum, – nicht nurἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς, Seelsorge im sokratischplatonischen Singular. Durch das Wort ihres "verordneten Dieners" stützt die Kirche als institutierte
Glaubensgemeinschaft den Einzelnen.
Die Alcoholics Anonymous sind eine relativ homogene Symptomgruppe. Die Kirchen sind erheblich
vielfältiger, – was zu scharfen Konflikten führen würde, wäre nicht die Vergebung hier zentraler Wert. Hier
herrscht – schon in dem Gegenüber von Hirten und Gemeinde – eher Komplementarität. Sie bilden,
getragen von öffentlichen und privaten Zuwendungen, ein milieu d'accueil, Spielraum für allerlei marginales
Leben bis hin zu theologischen Fakultäten.
Die ganze menschliche Gesellschaft ist kulturell gruppiert in Illusionsgemeinschaften und Wahninstitutionen.
Jeder Wahn, wie gefährlich auch immer, soll ein Schutzraum sein für gefährdete Menschlichkeit. Auch
kirchlicher Wahn. Der moderne Mensch wohnt daneben und sucht ihn nach Bedarf auf.
Die kanonische* Repräsentation des christlichen Glaubens verliert an Plausibilität, wo der Glaube nicht von
außen angefochten wird, – wie ohne Energiefluß eine dissipative* Struktur zerfällt. Das Christentum hat die
Struktur einer Gegenbewegung. Es hat seinen Ort im Kampf gegen "die Sünde", die die Welt nicht nur dann
und wann, sondern ständig beherrscht. Das hat in "bösen Zeiten" seine höchste Evidenz. Es ist dafür
gesorgt, daß immer wieder böse Zeiten kommen. Und sie hinterlassen Erinnerungsspuren in der Kultur.
In den Zwischenzeiten wird in den jeweils glücklichen Regionen das Neue Testament mit Drum und Dran
liberal als Kulturgut, konservativ als Mysterium distanziert bewahrt oder glanzvoll zelebriert.
"Und da ist keiner, der lacht", schrieb 1855 KIERKEGAARD3. Es war ihm ernst. Es ist ernst. Jesus, das Opfer der
heute wie damals heuchlerischen Gesellschaft, von der wir profitieren, als Gewissensfrage, ist für den
Besitzer von Kultur peinlich4. Das Evangelium vom Kreuz Jesu ist in keine real existierende Kultur zu
integrieren. Los werden kann eine Kultur, die irgendwelche humanen Ideale hat, es auch nicht; sie muß also
ihre Humanität in ihrer Auseinandersetzung damit bewähren.
Evangelium ist Befreiung vom Gesetz der Kirche aufgrund des Gesetzes der Kirche.
1
Nemo contra Deum nisi Deus ipse. Ich habe ihn 1988 (GLp*) trinitätstheologisch interpretiert.
Häufig eine hysterisch gefärbte, manische Depressionsabwehr.
3 Der Augenblick Nr. 6, 23. August 1855.
4 Den Ausdruck " Furcht und Zittern" von Paulus hat KIERKEGAARD zum Titel eines seiner Bücher gewählt.
2
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Man kann „auserwählt“ sein, ein tragfähiges Einzigkeitssymbol zu haben.
Will man die exklusive Auserwähltheit haben, muß man sich mit anderen um dieses "Erbe" streiten wie um
Urgroßvaters Meerschaumpfeife.
Kooperation und also Kompromiß sind im Kampf ums Dasein wichtiger als individuelle Kräfte und
entscheidend fürs historische Überleben. Es kommt darauf an, was stabil genug ist, sich in wenigstens
einem Teil seiner Mischungen evolutionär eine Zeit lang durchzuhalten.
Ewige Identität ist eine sehr einfache, deshalb sehr stabile Idee. Aber auch sie – und sogar das Ideal der
Kompromißlosigkeit – überlebt nur dank Kompromissen.
Auch das Christentum und seine Kirchen überlebt dank der ständigen Kompromisse, Fusionen und
Anbindungen. Man begründet das mit der Zusammengehörigkeit von Glaube und Liebe. Die kirchliche Idee
von „Glaube“ aber ist nicht der psychisch reale Glaube.
Es konnte nicht anders sein, als daß die Tradition des Christusbekenntnisses eine Geschichte der Fusionen,
Institutionalisierungen, Spaltungen und des Veraltens von Spaltungen wurde.
Autorität wird persönlich repräsentiert. Der einzelne Mitmensch aber ist eine schwache Versicherung
gegen die berechtigte Angst vor Fehlorientierung. Der Repräsentant einer geachteten Gemeinschaft
hingegen, z.B. ein Priester, kann befreien von unpersönlichen Gewissensforderungen, „binden und lösen“.
Nicht nur war der Staat lange "weltlicher Arm" der Kirche, sondern auch der Staat braucht noch heute
Kirchen gern als "geistlichen" Arm.
Für Gemeinschaften wie Kirchen wesentlich ist die Spannkraft ihrer Symbole, die die Einzelnen vereinen.
Die Gemeinschaften können weit, jedoch bedeutungslos sein, aber auch lebendig, jedoch zu eng.
Lebendige Konventikel können unerwarteten Zulauf bekommen, und ihre Symbolik kann dann im
umfänglicheren Gemeindeleben Monotonie – oder auch in Diffenzierung große Spannkraft beweisen (die
für citizenship wichtig ist). Instituierte Großkirchen mit kulturgeschichtlich bedeutender Tradition wiederum
können zu bedeutungslosen Konventikeln zusammenschrumpfen.
Der Staat hat, bei allem Interesse an einem vielfältigen (auch spannungsvollen) Ideenpotential, kein
Interesse an ideologischer Dissoziation der Gesellschaft – etwa noch verschärft durch ideologische Vereine
oder Kirchen. Der institutionelle Zwang zu breiter Konsensfähigkeit in einer Institution mit sehr breiter Basis
(wie einer großen Kirche oder in einer staatlichen Universität) liegt im öffentlichen Interesse.
Man muß sich fragen, worauf die Fortführung der staatlichen Unterstützung der Kirchen bei uns beruht. Die
großen Kirchen betreiben Diakonie* an der öffentlichen Meinungsbildung. Und keine politische Partei will,
bei dem immer knappen Stimmenkalkül, sich frustrierte Kirchen zum Gegner machen.
Seit der Aufklärung ist die Halt gebende Ordnung nicht mehr nur sündig gestört, auch nicht einfach
apokalyptisch terminiert, sondern mit deutlicher, aber nur auf kurze Sicht berechenbarer, eigener Dynamik
ins Rutschen geraten. Vergangenheit wird, gegenüber Gegenwart und Zukunft, immer unwichtiger. Der
freundliche Jean Paul hatte Angst; Nietzsche, der dionysische Altphilologe, freute sich.
Verfaßte Kirche, wesentlich autoritäre Ordnungsmacht, eine ungeheure, träge Masse abendländischen
Kulturgutes, wird langsam aber sicher zur Randerscheinung. Die politisch besorgten Konservativen
versuchten zunächst, die alten Symbole mit Macht verstärkt ins Spiel zu bringen. Das Ergebnis dieser
Überstrapazierung war eine Musealisierung. Die großen Kirchen verlieren an Evidenz zugunsten von Sekten,
Freikirchen, christlichen Vereinen, Bewegungen und kontaktscheuen Eigenbröteleien. (Aus diesen Letzteren
könnte noch soziokulturell Tragfähiges erwachsen!)
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Kirche ist, wie ein Gen-pool, zu Entwicklung in vielen Richtungen fähig, vieldeutig. Heute steht ihre sozialdiakonische Funktion im Vordergrund. Daneben aber ist sie eine traditionelle Identität, welche Marginalen
(Alten und Jugendlichen) als Stütze dient; darüber hinaus hat sie für allgemeinmenschliche Sonderfälle des
Lebens Formen der gemeinsamen Bewältigung. Endlich ist sie heute ein Sammelbecken für jugendlichidealistische Größengefühle („Ihr seid das Salz der Erde“), die andernorts belächelt werden.
In den charismatischen Bewegungen sucht und entdeckt man Begabungen und genießt gemeinsam
Grandiosität jedes Einzelnen. Sie sind ein spezifisch christliches Phänomen.
Schon Paulus aber hatte seine liebe Not mit chaotischen Entwicklungen der enthusiastischen
Liebesgemeinschaft, die das Evangelium hervorrief.
Der Enthusiasmus wurde durch geistesmächtige Lehrentwicklung und Autorität gebändigt und dann, in
Anlehnung an einerseits die alttestamentlich-kanonischen Ordnungen und anderseits die Ordnung der
umgebenden Gesellschaft, trotz der frühen Warnung des Paulus (1Thess 5,19), kirchlich fast erstickt. Er war
nie ganz verschwunden; und heute schwinden die Kirchen, er aber breitet sich wieder aus.
Die christlichen Sozialformen sind nicht mehr einfach zu typisieren. Grob gesprochen, sind sowohl Kirchen
(konstantinisch staatsfreundlich, politisch interessiert) wie (vom Staat freie) Freikirchen und Sekten (mehr
privat, aber normativ starr) eher autoritär; „Bewegungen“ (vielfach quer zu diesen festen Formen) riskieren
eher das Chaos.
Die Ähnlichkeiten mit Sozialformen anderer Religionen (bis hin zu Psychoanalyse, „Ökologie“ usw.) sind
lehrreich.
Theologie ist Museumsdidaktik. Die Bibel is ein Museumsstück. Eine Kirche ist ein (vielleicht modernes)
Museum. Was an ihrem Rande geschieht, ist wichtig ("An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen")!
Mit der Aufklärung entglitt der Kirche die kulturelle Führung der Gesellschaft. Die Romantik war ein
Restaurationsversuch; die alte Naivität war dahin.
Im 19. Jahrhundert wurde der evangelische Pfarrer zur priesterlichen Gestalt stilisiert; die Kirche
marginalisierte sich selbst. In der bekennenden Kirche wurden die Pfarrer heilige Opfer1. Heute sind unsere
Pfarrer wesentlich geschätzt als Hauptverantwortliche eines vielfach wohltätigen Vereins.
Das Feindbild der Reformation sind die zynischen Schmarotzer. Diese aber sind vielleicht so fett geworden,
weil sie auf einer edlen Pflanze saßen, – einem Katholizismus mutiger ernster Menschlichkeit. Die Portraits
aus der Renaissance sind oft mit frommem, beeindruckendem Ernst gemalt.
Die kirchliche Moral hat, auch im Luthertum, autoritäre Züge. „Gott der Herr“ dient der Institution auch
hier als Gesetzgeber.
Den richtigen Herrn zu haben, berechtigt zu großen Ansprüchen. Fromme und Unfromme aber haben
immer wieder gefragt, ob so Gott richtig verstanden wird und nicht vielmehr vergessen ist.
„In der Welt habt ihr Angst“, übersetzt Luther; und das ist wahr!
Johannes (16,33) schrieb nur: In der Welt habt ihr Bedrängnis (θλῖψιν). Nach Johannes ist in der Liebe keine
Furcht (1Joh 4,16). Die Angst ist „draußen“ in der „Nacht“ (Joh 13,30). Das ist Schwärmerei eines vom
eigenen Licht geblendeten Konventikels, narzißtische, blinde „Liebe“.
Kirchen sind Museen des Christusglaubens. Es ist nicht verwunderlich, daß sich darum herum auch
geistliches Leben entwickelt.
Die Kirche ist eine besondere Spur Gottes.
1
Ich denke an DIETRICH BONHOEFFER, Gemeinsames Leben und Nachfolge.
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„Unser christlicher Glaube“ hat Gott gefaßt in Bibel, Lieder und Kirchen. Aber auch in dieser Form kann Gott
sich unseren Zugriff verbitten und Nein sagen.
Die Christen hätten als anständige Bürger gegen die Judenverfolgung protestieren müssen, nicht als Kirche!
Die Kirchen hätten gegen den staatlichen Mißbrauch des Namens Gottes protestieren müssen; und das
konnten sie nicht, ohne daß ein Kampf in der Kirche ausbricht. Deshalb wollten sie es nicht.
Kirche ist sozial ein polymorphes Aggregat, dessen Einheit letztlich im symbolischen Rückbezug auf Jesus
besteht. Durch Regelung wird Symbolik in größeren Gesellschaften brauchbarer. Man kann sie aber nur
beschränkt und muß sie flexibel reglementieren.
Die christliche Symbolik wurde die längste Zeit strengstens reglementiert. In der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts explodierte ein Wildwuchs; und das war nötig und heilsam. Man kann den Kräften, die der
sozialen Auflösung entgegenwirken, vertrauen. Heute wächst wieder das Interesse an Dauerhaftem,
Bewährtem und sozial Tragfähigem.
Zur Stabilisierung der Identität eines Kollektivs machen religiöse Institutionen einen Zaun gegen Vernutzung
um ihre Symbole. Christlicher Glaubensgehorsam hingegen setzt seine Identität auf Spiel im Wagnis der
Liebe. Das Christentum ist die Religion, um die man keine Angst haben soll und deren („fleischgewordene“,
jeweils zeit- und umständebedingte) Symbolik man getrost für sich selbst sprechen, beanspruchen und
sorgen lassen darf. Sie fordert auch selbst zum Widerspruch gegen Mißbrauch auf. Sie bewegt uns, wie es
Gott gefällt.
Glaube sucht Gemeinschaft; und Gemeinschaft symbolisiert sich tendentiell religiös, mag sie sich
Gottesvolk nennen oder nicht. Völker und Staaten sind schon Gemeinschaften, Magnete für Religion, Kerne
von Volksreligion.
Das Luthertum ist nun auch in die Jahre gekommen und eine von der Gottesfrage emanzipierte
Gemeinschaftsreligion geworden, wo es nicht auf Gott, sondern auf institutionalisiertes Glauben und
Verhalten des Menschen ankommt.
Kirchliche Lehre ist Existenzsymbolik einer Institution, Sprachregelung für existenziellen Austausch.
Kirche ist gegenseitige Bestätigung in der gemeinsam symbolisierten Hoffnung. In der gemeinsamen
Wiederholung erlebt man das Imaginäre als soziale Realität.
Paulus der Prediger der evangelischen Freiheit gegenüber dem Gesetz, machte selbst aus dem Evangelium
das Gesetz einer Institution.
Das Christentum wurde dann unter Konstantin de Großen verpflichtende Staatsreligion zur Gleichschaltung
der verhaltensbestimmenden Existenzsymbolik aufgrund der langen Bewährung der Institution Kirche als
Ordnungsmacht.
Christentum im kultursoziologischen Sinn ist eine bestimmte Tradition vorbehaltloser menschlicher
Ansprechbarkeit und entsprechenden Verantwortungsgefühls.
Kirchen pflegen entsprechende Symboltraditionen. Die Lebensbedeutung von Existenzsymbolen allerdings
ist unverfügbar; sie können leer und wirkungslos bleiben. Kirchen sind nicht besonders christlich, aber, als
eine Art Gedenksteine, gleichwohl für die Erhaltung des Christentums wichtig.
Die klassische Sozialform des Christentums hat, wie die der politischen Partei, ihre beste Zeit hinter sich.
Die klassische Kirchenmusik (auch der erhabene Katzenjammer aus dem Psalter) und die klassischen
ekklesiologischen Texte artikulieren kirchliche Hochgefühle; sie stimmen heute weniger hoffnungsfroh als
nostalgisch. Zuversicht herrscht vielmehr in kleinen, christlich untermischten Aktionsgruppen.
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Das Existenzsymbol Christus spricht Menschen stark an. Es hat sich, schon früh und heute wieder in vielen
Hinsichten stark verändert, weltweit verbeitet. Identisch geblieben ist nur der religiöse Bezug auf den
historischen, im Neuen Testament bezeugten, aber nicht scharf erkennbaren Jesus. Im damit gesetzten
Rahmen ist die Kirche ein Chaos.
Eine alte Institution en mal de cause ist, für verwandte innovative Projekte eine gute Basis, obwohl solche
Umstrukturierungen wesentliche Opfer fordern.
Es ist gleichwohl nicht zu erwarten, daß unsere Kirchen mit ihrem heilsanstaltlichen Selbstgefühl durch ihre
neuen Aktivitäten einen erheblichen Schrumpfungsprozeß verhindern können.
Wie Museen Herausforderungen zu eigener Kreativität sind, so sind Kirchen eine Herausforderung zu
Christentum. Dieses kann Institutionen beleben und befruchten, kann aber nie institutionalisiert werden.
"Ist er nun auferstanden oder nicht??", fragte mich streng mein Vikariatsvater. Ich antwortete ängstlich:
"Ja! Aber was heißt das?!" Ich hätte antworten sollen: "Ich glaube: Nein. Aber was heißt das?" Mit dem
"Nein" bricht für den Christen die Forderung auf, selbst zu bezeugen, was ihm an Jesus aufgegangen ist!
Alte Glaubensformeln zu wiederholen, ist bestenfalls ein Zeugnis des Glaubens an die Väter im Glauben,
eine historische und soziale Selbstidentifikation. Im Unterschied aber zu andern Religionsgemeinschaften,
ist kirchliche Identität immer Gottes Neuschöpfung, vermittelt durch Identitätsbruch (vgl. Matth 3,9!).
Jedes überlieferte Gotteswort kann uns eine Weile tragen; es setzt uns dann aber wieder auf die eigenen
Füße ab. Wir sollen selbst schöpferisch leben und reden, bekennen und beten, wieder Gottes Wort hören
und dem Gotteswort, das uns getragen hat, neu begegnen.
Die Rede von "Gottes Wort" ist in kirchlichen Kreisen zu einer gottvergessenen Selbstverständlichkeit
geworden
Unsere Fähigkeit zu der Orientierungsfrage an Gott verdanken wir unserer christlichen Tradition –
ausgedünnt, wie sie, durch kirchliche Institutionen und an ihnen vorbei, vermittelt sein mag.
Jede Menschengruppe braucht für Stabilität eine konsensual symbolisierte, umweltbezogene Identität.
Der Idealbegriff „Kirche“ hat sich ent-apokalyptisiert. Ich habe 1992 in diesem Sinne Kirche weich als
„Sprachgemeinschaft der Christustradition“ definiert. Ich möchte das zurechtrücken: Aus der (von Anfang
an sich als Institution verstehenden) Kirche heraus hat sich das (nicht institutionalisierte) Christentum
entwickelt, das über die Grenzen der musealen Institutionen hinausgeht. „Die Sprachgemeinschaft der
Christustradition“ ist eher dieses kulturelle „Ganze“, das die Kirchen (i.e.S.) einbegreift.
Im ordentlichen (1Kor 14, 32!) Ablauf der gottesdienstlichen Versammlung ist auch vorgesehen, dass, wer
möchte, hier Gott laut anrufen darf, von Mitmenschen aufmerksam gehört wird und Antwort (evt. ein
„Amen“) bekommt.
Konflikt in der Gemeinde kann zu kontroversen Gebetsrufen führen. Der Christusglaube führt zu einem
Pfingstwunder: polyglott versteht man sich doch als eine Gemeinde von Zeugen des Christus, dessen Friede
höher ist als alle Vernunft.
Heute sind Festhallen-events nicht mehr Zentrum der Gesellschaft, sondern nur noch Zentren in einer
multikulturell gewordenen Gesellschaft. (Schon das Wort „Leitkultur“ wurde als „retro“ empfunden!)
Wie die Christen in der Antike in der öffentlichen Mehrzweckhalle (Basilika) Gottesdienst feierten, können
wir es auch wieder tun.
Eine Kirche hat keinen wirtschaftlichen Vereinszweck, sie ist ein sog. „Idealverein“, insofern sie ein FreizeitVerein ist zur Pflege der Erinnerung an die Offenbarung Gottes in Jesus. Aber zu den Formen, in welchen sie
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ihren Vereinszweck erfüllt, (Hauptbeispiel Diakonie) gehören einige, teils gewichtige, wirtschaftliche
Funktionen in der Gesellschaft.
In der Programmschrift „Kirche der Freiheit“ fehlte jegliche Begründung der Vision und der Ziele.
Diskussionen auf dem Zukunftskongress waren nur betreffs der Operationalisierung der Ziele vorgesehen.
Betriebswirtschaftliche Ziel-Bestimmung ist Kompromiß zwischen heterogenen Stakeholder-Zielen.
„Die Kirche“ ist kein Betrieb, sie wird institutionell repräsentiert durch Betriebe.
Betriebe sind die Kirchen. Sie betreiben das übliche Marketing nach dem Lustprinzip, und das endet
natürlich in Enttäuschungen.
Respekt vor der Ratlosigkeit ist die nichtreligiöse Form von Ehrfurcht vor dem Heiligen.
Das Christentum wird in verschiedenen Kirchen mit verschiedenen Zielbestimmungen tradiert.
Religionen sind Kooperativen zur individuellen Selbst-Stabilisierung. Institutionalisierung gibt einer
Unternehmung einen wahnartigen Kern; der soziale Wert einer Religion aber liegt in der hier verankerten
Symbolik. Die verschiedenen Religionsgemeinschaften können die je eigentümliche Symbolik verschiedener
Menschentypen moderieren – Bruderschaft sozialisiert –, und damit die Gefahr von individueller
Wahnbildung mindern.
Langsame innere Änderungen eines Menschen sind normal, irgendwann werden auch äußere Einschnitte
fällig; Bekehrungen aber sind meist prekäre Notlösungsversuche. Zwangskonversionen destabilisieren
moralisch oder fanatisieren und machen autoritär abhängig.
Radikalisierung ist Verengung der Hoffnung, Kräftekonzentration (jihad), umständebedingte apokalyptische
Versimpelung, Ver-jenseitigung, seelische Verarmung.
Der Heilige Geist dagegen ist Ver-diesseitigung mit dem Leitsymptom ἀγάπη (menschliche Solidarität,
„Liebe“).
Leitbilder und „Visionen“ der Kommissionen, Präsides und Bischöfe können selten inspirieren und dadurch
Realitäten schaffen; deshalb können sie auch nicht bestmöglich rationale Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten und Chancen ersetzen!
Es gilt, die faktische langsame Redimensionierung der Kirche verantwortlich zu gestalten.
Die Machtstrukturen der Kirche sind rigide; Innovationen sind erst unter erheblichem äußerem Druck zu
erwarten.
Religiöse Symbole sind Vororientierung für die Nutzung der Widrigkeiten des Lebens zur Reifung der
Persönlichkeit. DIETER WITTMANN redet (1998) im Blick auf die Arbeitsfelder der Kirche „vom Verstummen
der Symbole“. Vereinzelt kann man das eine oder andere Symbol plötzlich neu hören in der Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten.
Der Missionar muß seinen Adressaten mit Interesse als seinerseits einen Gotteszeugen hören.
Paulus predigt, besonders im Philipperbrief, Freude am „beschädigten Guten“ (Melanie Klein), dem in Jesus
offenbaren Gott!
„Persönliche Beziehung zu Jesus“ ist grundlegend nichts anderes als: zu Dietrich Bonhoeffer, Sokrates (vgl.
Höderlins Gedicht), Heine, Paulus, Luther, Zwingli, Schiller, Karl Moor, Le père Goriot, Charles Bovary. Da
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ist keine Mystik und kein Biblizismus nötig, nur eine andere Wahrnehmungseinstellung, verstärkte
Empathie und Phantasie.
Sinn stellt in Dienst. Dem rechten Herrn dienen verleiht einem Leben Sinn.
Zu Kreativität vgl. Eriksons überraschende Gegenüberstellung „Initiative vs. Schuldgefühl“. Neutestsamentlich geht es um ἄφεσις/Vergebung vom Schöpfer.
Wir sind bestenfalls – mit fraktionierter und limitierter Annäherung an einander, taktvoll, respektvoll,
liebevoll – unterwegs zur „ganzheitlichen Gemeinde“, wo Individuen in ihrer Abgründigkeit als Gottes
Geschöpfe beachtet werden.
Eine christliche Gemeinde ist Symbol für das Himmelreich.
Luther wollte die Relevanz der äußeren Realität für das innere Heil festhalten: Gott, der sich als den
Schöpfer der Welt offenbart, den Fleischgewordenen.
Kirche versteht sich von Hause aus apokalyptisch; sie ist, wie die ganze Apokalyptik, ein Angstprodukt.
Das Erleiden von Gewalttätigkeit spielt im Judentum eine große, aber akzidentelle Rolle, im Christentum
eine wesentliche. Das hat mit dem apokalyptischen Erbe im Christentum zu tun.
Der christlich/jüdisch/islamische „Blutzeuge“ bezeugt die Kraft seines Glaubens. Es geht aber zentral nicht
hierum, sondern um die Wahrheit Gottes, unseres Schöpfers; sie gilt es menschlich überzeugend zu
bezeugen!
Wo die Christen nicht nur für nur für Menschen kämpfen (wie sie etwa als Eltern oder Staatsbürger sollen),
sondern für die Gottesherrschaft (auch: Demokratie als Theokratie). Da kämpfen sie nur für ihre
Selbstsymbole, für sich selbst! Gottes herrscht allein durch seine Bescheidenheit!
Diese kann uns nicht Vorbild sein; denn sie sieht oft brutal und gleichgültig aus. Sie wird erst eindeutig
durch den Heiligen Geist, der vom Vater und dem Sohne ausgeht.
Man hat im Gottesdienst dieselben Szenen im Kopf wie draußen, aber anders ausgeleuchtet, – zwecks
Besinnung verfremdet: eine andere, möglichst aufschlußreiche, Vereinfachung.
„Evangelikal“ scheint oft eine Abwehr von gottgesandter Anfechtung des Glaubens; eine unreif trotzige,
kollektive Begeisterung, hypomanische Depressionsabwehr zu sein. Und das ist eine legitime Lesart des
Christentums; aber nur eine!
Dienen in höheren Kulturen ausdifferenzierte Existenzsymbol-Gemeinschaften (Glaubensgemeinschaften/Kirchen) – analog erbbiologisch „rezessiven“ Strukturen gegenüber den „dominanten“ (staatlichen)
Strukturen – als Sicherheitsstrukturen für Fälle des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung?
Erst mit der Neuzeit verloren in Europa Angst und Religion ihre kulturbeherrschende Bedeutung. Damit
wurden auch die Kirchen allmählich marginal.
Das Christentum ist aus einer Religion zu einer Kultur geworden; es hat nur situationsabhängig religiöse
Anwandlungen.
Der westliche wie der östliche Katholizismus sind an der Institutionalisierung der Gnade, der Protestantismus ist an der Institutionalisierung des Glaubens erstickt.
„Dieweil die Ungerechtigkeit wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharrt bis
ans Ende, der wird selig.“ (Mt 24,12f.) Die Liebe kann nämlich, auch nach Erschöpfung und De-realisation,
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durch neue Wahrnehmungen immer wieder neu entzündet werden. In der Gemeinde wird eine Technik
überliefert, die Wahrnehmung neu aufs Neue einzustellen: Erinnerung an die Offenbarung Gottes in der
Jesus-Geschichte.
Wirkliche Liebe ist begrenzt. (Auf das: „Seid umschlungen, Millionen,“ folgt: „... der stehle weinend sich aus
diesem Bund.“1) Die Eingrenzung der biblischen Heils-Zusagen auf die Gemeinde ist jeweils bedingt durch
die Begrenztheit der Liebe in der Symbolik des Zeugen. (Der Erste Korintherbrief ist voll von Beispielen, wo,
in der Symbolik des Apostels, die Unverträglichkeit zwischen Glauben und Verhalten in der Gemeinde
entschieden zu weit ging.)
Aber Abgrenzungen waren in der Kirche immer nur teilweise konsensual und wurden auch revidiert. Wie
die Rechtskultur, ist auch die moralische Kultur inzwischen differenzierter geworden. Die Kirchgemeinden
sind nur noch ein wichtiger Teil der Sprachgemeinschaft der Christustradition, die die wahre Kirche ist.
Paulus entwickelt seine Ethik der Christusknechtschaft als Liebesethik aus der heidnisch (Phil 4,8!), jüdisch
und christlich (durch παραδόσεις, ἐντολαί, γνῶμαι, κλήσεις u. dgl.), mild chaotisch symbolisch
vorstrukturierten Wirklichkeit. Diese Gemeindeethik hat auch scharfe Ränder, ist aber „interimistisch“
(Albert Schweitzer), kulturabhängig, instabil strukturiert.
Es geht um unsere angesichts Christi bestimmte Freiheit, dieses wollen und jenes nicht wollen zu können.
Der Blick auf Jesus bestimmt nicht jeden gleich; da gibt es auch Streit (z.B. zwischen Peter und Paul).
Die Kirchen werden geschätzt als Institution für Humanität.
Die kirchliche Symbolik hat mit ihren Vereinfachungen einerseits den Menschen etwas von ihnen selbst
erschlossen, anderseits aber manche andern guten, wahren und schönen Vereinfachungen zur Seite
gedrängt.
Dann haben, im brutalen Spiel der historischen Zufälle, andere Symboliken (große Beispiele: Islam,
Kommunismus und allerlei Säkularismen) mit ihren Vereinfachungen da und dort wiederum die christliche
als Existenzsymbolik ersetzt. Gottes Wege sind wunderlich. Das christliche Abendland, „der Westen“,
entwickelt sich, nach der Erholung vom Zweiten Weltkrieg, zum postchristlichen Abendland. Das
großkirchliche, aber auch das unkirchliche individualisierte und soziokulturelle Christentum stirbt ab. Die
christliche Symbolik greift kaum noch.
Wie alle Symboliken und jede Sprache, so vereinfacht (und also verzerrt) auch die christliche die
Wirklichkeit. Christliche Mission, die das nicht anerkennt, wirkt borniert bis hoffärtig. Zunächst wäre hier
die hoffärtige Kirche zu missionieren (sozusagen: „Innerste Mission“). Gottes Bescheidenheit läßt sie als
Zeugen der Wahrheit wirken – in welcher Sprache auch immer.
Jeder einzelne muss sich fragen: Was habe ich, als Christ im nachchristlichen Zeitalter, in Erinnerung zu
bringen? (Harnack formulierte: den unendlichen Wert der menschlichen Seele.) Wie kann ich, mit Paulus zu
reden: den „Ruf“ Gottes artikulieren? (Nach 1Kor 7, 20, wo man κλῆσις mit „Beruf“ übersetzen darf, kann
das ganz weltlich sein!)
Friedrich Lückes „innere Mission“ hat sich zu Diakonie entwickelt. Und es gilt nicht nur, die Bedürfnisse des
Adressaten, sondern auch sein Denken ernst zu nehmen!
Die Definition von Kirche ist ein allenthalben chaotischer Prozeß. Der Begriff Kirche ist nicht verlässlich
operationalisierbar.
1
Diesem Impuls im Lied an die Freude stellt Schiller selbst (in Das Ideal und das Leben) entgegen: „... der
heil’gen Sympathie erliege das Unsterbliche in euch!“
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Kirche ist ursprünglich apokalyptischer Ersatz des gescheiterten Gottesvolks („Rest“ mit Erweiterung), dann
gegenseitige Bestärkung, Bereicherung und Bearbeitung der Existenzsymbolik.
Die neue Selbst-Identifikation der Kirche mit der Synagoge läuft parallel mit der Versteinerung der Kirchen.
In dem Maß, wie die Kirche selbstverständlich wird, wird sie gottlos. (Für junge Leute ist auch eine alte
Kirche noch nicht selbstverständlich.)
Sollte ich aus der Kirche austreten? – : Sie ist meine Großfamilie; man kann nicht aus seiner Familie
austreten.
Aber ich soll die Kirche in meiner eigenen Person gegebenenfalls in Auseinandersetzungen geraten lassen –
wie der heranwachsende Jugendliche Konflikte zwischen verschiedenen Familientraditionen in ihrer
Auseinandersetzung mit der Umwelt durchleben muß.
Man läßt für die gute Gemeinschaft vorläufig Fünf gerade sein. Man setzt sich dafür ein, die Dinge noch
zurechtzubiegen. Man bekennt sich zu dieser Gemeinschaft, die man, durch Weiterarbeit an ihrer Symbolik,
sogar ausweiten möchte.
Durch die gemeinsame Existenzsymbolik ist auch aus dem Christentum ein Volk mit einer Stammesreligion
geworden wie das Judentum.
Der globalisierte Konkurrenzkampf macht Zusammenschlüsse nicht mehr nur von Individuen, sondern
zunehmend auch riesige Zusammenschlüsse von sozialen Einheiten zur Überlebensbedingung. Damit
werden die menschlichen Beziehungen oberflächlicher. Im Christentum aber geht es um Menschlichkeit;
deshalb verlieren heute die Großkirchen Mitglieder, während kleinere Kirchen wachsen.
Mission im bereits christianisierten Abendland hat es schwer. Die in Verruf geratene, alte päpstliche
Inquisition wechselte ihren Namen zu Congregatio de propaganda fide. So entstand das (denn auch in
Verruf geratene!) Wort „Propaganda“. Unsre Landeskirchen modernisieren sich heute nach Kräften und
sind zu geschäftigen Werbeagenturen für Glaubensartikel geworden; aus dem kalten Gemäuer weht ein
geistloser Wind. Geschäftigkeit ist kein taugliches Heilmittel, wo es um menschliche Beziehungen geht.
Die Strukturen der westeuropäischen Großkirchen sind allzu starr, um dem Zerfließenwollenden Halt zu
geben.
Politik und Kirchen sind demoskopisch interessiert. Die Kirchenleitungen sind für große Unternehmen
verantwortlich, die außerordentlich abhängig von der öffentlichen Meinung sind. Demoskopie liefert ihnen
praktisch griffige Vereinfachungen.
Der biblische Kanon verankert die Kirche in einem hoffnungsvollen Stück Kulturgeschichte. Kirche
überliefert Ansätze für die individuelle Entwicklung eines Selbstverständnisses, d.h. einer organisierenden
„Identität“. Predigt im Auftrag der Gemeinde unterstützt und stärkt diese Entwicklungen und hält sie bei
einander.
Idealismus interessiert sich in unserer Kultur natürlicherweise auch für das Christentum und seine Heilige
Schrift. Die Bibel artikuliert die Dialektik der Ideale historisch.
Kirche ist Nachfolge Jesu, eines Outlaw. Sie ist eine kulturrevolutionäre Subkultur.
Kulturrevolution, die diesen Namen verdiente, wendet sich gegen eine machtgestützte Kultur, die das
Individuum in einem ungerechtfertigt erscheinenden Maße zur Heuchelei nötigt und, durch Verderbnis der
Sprache, die Gesellschaft zersetzt.
Lukas (der erste Kirchengeschichtler) hat (ähnlich wie kurz vorher Jochanan ben Zakkai für das
revoltierende Judentum, ein Outlaw des römischen Reiches) nachdrücklich allen machtpolitischen
revolutionären Interpretationen Jesu abgeschworen.
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Synagoge und Kirche haben Kräfte sammeln, sich organisieren und instututionalisieren können. Die Kirche
ist damit zu Macht gekommen und in offenen Selbstwiderspruch geraten. Die Kirchengeschichte ist deshalb
eine Geschichte instabiler Kompromisse.
Das betrachtende Individuum ist durch die faktische Existenz der Kirche ständig nach seiner eigenen Kultur
gefragt.
Die Gesamtheit der Kirchen bildet den zentralen (durch die Taufe gekennzeichneten) Teil des Christentums,
– das ich als Sprachgemeinschaft der Christustradition verstehe. Der Begriff Christentum würde sich als
Bezeichnung für das Wesentliche empfehlen gerade durch seine Unschärfe (die nötigt, auf das
Wortgeschehen zu achten!) gegenüber dem verführerisch scharfen Begriff „Kirche“.
Gemeinde
Die kirchliche Gemeinschaft stützt den einzelnen im Schmerz der Selbstrelativierung, im Verzicht auf
Rechtsansprüche, im Leiden der Vergebung, und stärkt zu Neubeginn inmitten des Alten.
Gemeinde verleiht Sicherheit und Wohlbehagen (Hermann Argelanders Definition des Narzißmus*).
Die heutige Weltgesellschaft macht glauben, daß das Christentum eine besondere Affinität zu Egalität,
Humanität und Aufklärung habe. Die Geschichte relativiert das.
Natürlich ist die Kirche magistra betreffs der Zugehörigkeit zur Symbolgemeinschaft. Es ist aber die
Gemeinschaft der von Gott selbst Belehrten (1Thess 4,9), der Christen und deshalb magistri, die da
einander belehren können, weil sie auch auf einander hören. Die Zugehörigkeit zur Symbolgemeinschaft
reguliert sich in einem chaotischen Sprachgeschehen, in welchem marginale und zentrale Stimmen wichtig
sind. Die Stimme einer institutionellen Zentralstelle ist immer nur eine – aus soziologischen (und
gegebenenfalls rechtlichen) Gründen besonders beachtliche – unter anderen Stimmen.
Die katholische Skepsis gegenüber der doktrinalen Engführung der Ekklesiologie (auf protestantischer Seite)
hat sich als realistisch erwiesen, – ebenso wie der evangelische Protest gegen die institutionslogische
Engführung auf katholischer Seite.
Die Christustradition wird dünn. Stattdessen quellen neue primitive Symboliken auf, bestehend aus
primitivisierten Resten alter Symboliken. Statt von christlichen Tradition muß man vom Schutt christlicher
Vergangenheit reden. (In Athen fand man im Perserschutt an der Akropolis schöne Fragmente – kein Grund
für Restitution des alten Kults.)
Schlußendlich verstehen nur noch historische Spezialisten die – im Laufe der Zeit im Dienste des
Verständnisses der je realen Existenz überkomplex gewordenen – Symboliken. Tradition wird zu
Priesterwissen und stirbt endlich ab. Der landläufige Gebrauch der Tradition ist – naiv oder hilflos –
barbarisch.
Die christliche Tradition mit ihrem Vor- und Nachleben ist die lehrreiche Geschichte eines Falles von
Narzißmus*.
Das Wort Ökumene ist mit guten Gründen vieldeutig. Man muß das im Auge behalten und es bei der
Vieldeutigkeit belassen.
Die institutionelle Ökumene von oben ist eine träge gemeinsame Anpassungsbewegung der kirchlichen
Bürokratien. Die mutigste Vorwärtsstrategie hinkt weit hinter den Basisproblemen her. Dort herrscht
primitiver, kraftvoller symbolischer Wildwuchs auf der Basis allzu lange mißachteter elementarer
Mitmenschlichkeit.
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Menschen in hoffnungslosem Unheil finden in Heilslehren eine Sprache der Hoffnung. Der nur unter
grotesken sozialen Verhältnissen hinreichend eindeutigen, diakonisch wirkungsvollen Reich-GottesSchwärmerei der Basis-Ökumene steht, mit dem zu erhoffenden, wachsenden Erfolg, Klärung und
Institutionalisierung noch bevor.
Causes célèbres, aufsehenerregende Streitigkeiten, bringen heilige Empörungen und Begeisterungen in die
Kirchen.
Die Gesellschaft braucht Stereotypen, und Recht ist stereotypierte Moral. Vereinzelte Kirchenasyle bei
sozialpolitisch streitbaren Gemeinden erzwingen öffentliche Aufmerksamkeit durch Rechtsbruch. Das ist
ein grobes Mittel. Wenn man Vergröberung des moralischen Empfindens, Denkens und Urteilens gerade
bekämpfen will, darf es nur sehr sparsam eingesetzt werden.
Dialog ist die Situation der Theologie. Das Streben nach Wahrheit bewegt sie.
Die Kirche als Sprachgemeinschaft der Christustradition hat aus sich herausgesetzt ein Verbundsystem von
verschieden langlebigen Organisationen. Deren aktive Teilnehmerschaft verteilt sich auf verschiedene
Teilnehmerkreise. Sie verschiebt sich immer mehr von den endlos regelmäßigen (zB Hauptgottesdienst) auf
die befristet regelmäßigen oder einmaligen Gruppenaktivitäten. Die Hauptgottesdienst-Gemeinde als
Repräsentation der Menschheit vor Gott bildet das schrumpfende Zentrum.
Bei einigen der (für das kirchliche Leben immer wichtiger werdenden) spontan entstehenden
Projektgruppen machen oft auch Außenstehende mit. Umgekehrt muß ein gutes Projekt nicht christlichen
Ursprungs sein; der christliche Einschlag, das Ereignis Kirche kann hinzukommen.
In zeitlich beschränkt konzipierten kirchennahen Projektgruppen und Gruppen mit Bricolage1-Interesse an
verschiedenen Stücken christlicher Tradition, aber ohne besonders nachdrückliche Ansprüche für die
Identitätsbildung, finden sich Einzelne für kurz oder lang, vielleicht nur zu zweit, dritt oder viert,
angemessen zwanglos zusammen. Hier geht Kirche unter und taucht verwandelt wieder auf. Man entdeckt,
daß man sich gut und tiefergehend versteht. Hier können aus der gemeinsamen Arbeit auch zwecklose,
dauerhafte weltliche Freundschaften entstehen. Gerade dieser Beziehungstyp ist verwandt mit der Struktur
von Sprachgemeinschaft, die der Kirche wesentlich ist.
Man muß damit rechnen, daß Kirchen zwischen den zentrifugalen Tendenzen und zentripetalen Reaktionen
zerreißen.
Die bezeichnenderweise kaum bekannten Briefe Luthers aus dem bösen Jahr 1527 zeigen eindrücklich, wie
wichtig ihm in schwerster Anfechtung die befreundeten Familien gewesen sind2. Er war ein lebendiger
Christ, aber nicht der bekannte Kirchenmann.
"Tiefe" (höher-dimensionale, weil menschlich lebendige) Texte artikulieren gute Gruppenkommunikation
vor. Jeder Einzelne reflektiert jeweils selbständig den Text und das in der Gruppe bereits dazu Gesagte; und
das Gespräch wird immer wieder zum Text zurückkommen.
Auch falsche Aussagen des Textes oder der Gesprächsteilnehmer regen an. Gruppengesprächslogik ist
symbolisch.
1
"Bastelei" (frz.). Mit diesem Wort charakterisiert die Wissenssoziologie die weltanschauliche Orientierung
der modernen Jugend, die ohne Systemzwang alles, was anspricht, aufgreift und ohne professionelle
Vormünder zusammenzufügen versucht.
2 Vgl die singuläre Struktur des Christus-Vertrauens in dem Brief an Justus Jonas vom 29. Dezember WA
Briefe 4, S. 307. Ich verdanke diesen Hinweis Gerhard Ebeling und verweise auf sein Buch Luthers Seelsorge
an seinen Briefen dargestellt, 1997, sowie die von mir zusammengestellte elektronische Sammlung der
einschlägigen Briefe aus dieser Zeit auf dieser CD.
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Die Kommunikation in festen Lesekreisen ist durch weitere (oft ungeklärte) Zwecke der Gruppe bestimmt.
Die Bibelgruppe betreibt gemeinsame Revision ihrer christlichen Symbolik. Die Autorität des Textes zieht
das Interesse stärker von der Gruppe ab, hin auf Bibel, Kirche und Gemeinde.
Eine Gruppe bedeutet gemeinsam getragene symbolische Geborgenheit. In einer kirchlichen Gruppe ist
jeder virtuell zugleich Vater und Mutter und Kind, in wechselnder Aktualisierung1.
Gebets- und Bibelkreise übernehmen und entwickeln Gruppennormen. Wegen der Autorität des Kerns,
wird die Gruppe, die der freien gemeinsamen Besinnung dienen sollte, leicht wahnhaft sakralisiert und
zwänglich.
Der europäische Mitgliederschwund der ehemaligen Staatskirchen entspricht dem (in Europa unter
staatlicher Fürsorge gediehenen) stärkeren Individualismus. Die amerikanische Kirchlichkeit hingegen
entspricht dem (in Amerika unter unzureichender staatlicher Fürsorge stärker gediehenen) amerikanischen
Gruppenleben. Europäischer Episkopalismus steht einem amerikanischem Gemeindeprinzip (Kongregationalismus/Presbyterianismus) gegenüber.
Die schwindende staatliche Fürsorge in Europa macht auch hier stärkeres Gruppenleben nötig.
Gottes Gnade ist nicht objektivierbar. Mein „Objekt“ ist da der Mitmensch, der mir die Dankbarkeit Gottes
bezeugt.
Kirchen vermitteln, durch ihre Existenzsymbolik, verunsicherten Marginalen Hoffnung. Gibt es Gemeinden,
wo die christliche Symbolik in der gemeindlichen Kommunikation, auch ohne das Amts-Charisma eines
Predigers, dafür stark genug ist? Unter Unsicherheit verlangen Gruppen Führung. Der Gruppenleiter sollte
dann die Teilnehmer zu sich selbst ermutigen.
Gemeinde = Teilnahme; Hoffnung im Ungefähr des Glaubens; Stabilisierung angesichts des Chaos.
In den USA existiert „Gott als klientelfixierter Spezialgott im Plural“; Kirchlichkeit ist hier, aggregierter
dezisionistischer Wellness-Individualismus (F.W.Graf). Die spezialisierten Kirchgemeinden nehmen
Marginale in ihrer spezifischen Identität im Namen Gottes ernst und dienen als spezialisierte Intergrationshelfer.
Der Prediger exponiert sich und braucht ein Amen der Gemeinde.
Die lehrende Kirche leidet in der Neuzeit in Europa an einem langsam wachsenden Legitimationsdefizit.
Nach dem Zusammenbruch einer modernen Diktatur bekommen unterdrückte Normensyssteme zwar
jeweils wieder Oberwasser, auch wenn die Autorität der Institution kompromittiert ist. Sie enttäuschen
dann aber schnell.
Zunächst versuchen sie dann, sich durch Verankerung in „Gottes Wort“ autoritativ zu legitimieren. In
gewissen Zusammenhängen sind Bibelworte tatsächlich evidente Wegweiser; und dann kann der
„Schriftbeweis“ jedenfalls weiterführen. In der Regel aber verlangt die Institution von der Exegese, was
diese nicht leisten kann.
Als Kulturzentrum hat die Kirche im Abendland eine große Zeit gehabt; den Problemen der kulturellen
Entwicklung der Neuzeit aber war sie nicht mehr gewachsen.
Nach dem zweiten Weltkrieg bewährte sie sich, bescheidener, als moralisches Diskussionsforum. Heute
liegt ihre Stärke in den Kreisen der kirchlich sog. „Randsiedler“, die, im lockeren Anschluß an die kirchliche
Tradition, konkrete soziale Aufgaben anpacken.
1
Vergleiche das Überlagerungsprinzip in der Quantenmechanik.
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Die Kirche erscheint, als solche identifizierbar, in Kirchen und Gemeinden. Die Gemeinde war ein stabiler
Gottesdienstkreis. Sie teilt sich aber immer stärker auf in verschiedenen Bedürfnissen nachkommende,
überlappende Arbeitskreise mit gottesdienstlichen Sammelpunkten.
Der "Geistliche" (Rabbiner, Priester, Imam, Pfarrer, Pastor) ist Repräsentant der Gemeinde vor Gott und
Gottes vor der Gemeinde. In den Vieldeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten von Gemeinden dient er
stabilisierend als personale Integrationsfigur.
Diakonie
Ἀγάπη (die christliche „Liebe“) ist zunächst Solidarität, die viszerale mitmenschliche Identifikation – auch
ohne individuelle Zuneigung. Sie gehört zur menschlichen Erbmasse, kann – wie im Christentum – gepflegt
und zu persönlicher Beziehung entwickelt werden.
Der Christ versteht Jesus als Inbegriff des eigenen Todes (Röm 6,3) und des eigenen Lebens (Joh 14,6, Gal
2,20). Die Kirchengeschichte ist im Kern Verarbeitung der – in der Kreuzigung Jesu symbolisierten –
Katastrophe eigener Größenphantasien.
Trauerarbeit kann schöpferische Liebe freisetzen. Aus der Kirche stammen gute soziale Ideen.
Diakonie ist: bewußt in christlicher Tradition geübte Menschlichkeit.
Der Klingelbeutel ist nur noch Liturgie. Die vorausgehende Abkündigung ist keine Informationsbasis für
nennenswerte Engagements, (die doch eigentlich gefordert sind!).
Die Wohltätigkeit von Leuten, die Geld haben, wird durch gute Information über gut geplante Vorhaben
angeregt.
Ein kirchliches Unternehmen wird, auch von Nicht-Christen, oft eher unterstützt als ein weltliches, weil hier
noch mehr freiwillig geleistete Arbeit dem guten Zweck zugute kommt.
Kirchen sollten in der Gesellschaft in erster Linie als Anreger tätig sein. Kirchliche "Werke" sollten, nach
einer Experimentierphase als Projekt einer Gemeinde, so schnell wie möglich verselbständigt und
säkularisiert werden. (Christen dürfen ja auch in weltlichen Unternehmen christlich mitarbeiten!) Sind es
"gute" Werke, die auf guten Ideen beruhen, so sind sie in sich selbst befriedigend und bedürfen keiner
religiösen Überhöhung.
Unabhängig von aller Religion, muß jeder, durch größere Zusammenhänge gezwungen, immer wieder
etwas tun, was in sich selbst nicht befriedigend ist. Religiöse Überhöhung von Werken aber macht aus
dieser natürlichen Gesetzlichkeit eine übernatürliche. Und das stärkt eine starre Tüchtigkeit, schwächt aber
die selbstkritische Vernunft, die doch als ständige Begleiterin gebraucht wird, sowohl um der menschlichen
Präsenz und Ansprechbarkeit willen als auch im Interesse der aufgabenbezogenen Weiterentwicklung des
Unternehmens. (Wenn etwa, auf der Suche nach einem christlichen Markenzeichen der Diakonie, der
unbedingte Schutz des Lebens herausgestellt wird, so ist das eine religiös-gesetzlich überhöhte,
verhängnisvolle Verblendung!)
"Kirche als Seele der Polis" (πόλις = Stadt/Staatim Sinne des Diognetbriefes1 ist eine schöne Idee. Die
Sprachgemeinschaft der Christustradition nimmt sich natürlicherweise die ganze Stadt zu Herzen. Sie wird
dadurch nicht zum Herzen, könnte aber die Stadt beseelen und (lateinisch:) animieren.
1 An einen (sonst unbekannten) Diognet adressierter Brief eines unbekannten frühen christlichen Apologeten.
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Christlicher Wahn motiviert auch zum Guten; aber dadurch wird das Gute in verzerrter Form gestärkt.
Diakonie ist ein selbsttragend sinnhaftes System. Die Dankbarkeit der Empfänger gibt dem diakonischen
Tun die natürliche Evidenz; sie ist eine persönliche Beziehung. Diese ist aber durch Effizienz-Maximierung
bedroht.
Ehrenamtliche Tätigkeit ist eine schon leicht institutionalisierte Form von Freiwilligkeit. So hat schon Paulus
gewisse Formen des Dienstes als „Ämter“ der Gemeinde institutionalisiert. Gegenüber der ganz informellen
Hilfe bedeutet das zusätzliches Sozialprestige; es gibt hier eine Sprache, ehrenvoll über Dienstbarkeit zu
reden.
Informelle Hilfe dagegen ist Teilname an einer auch symbolischen Hilflosigkeit.
Dienstbereitschaft ist wichtig für die Gesellschaft; aber nicht erst, wenn sie publizitätsfähig ist!
Diakonie am hoffnungslosen Fall ist überflüssig und sinnvoll – wie ein Kunstwerk. Die Evidenz einer Tat des
Mitgefühls und Mitleids ist ein Geschenk für den Täter.
Diakonie in ihrer Radikalität ist aus der angesichts des gekreuzigten Jesus vertieften, mitmenschlichen
Solidarität erwachsen.
Die Kirche gibt symbolisch, opfert etwas, hilft dem Elenden etwas auf. Sie tut das einfache, kleine,
undialektische Gute. Das große Gute ist nicht so einfach. Das weiß peinlicherweise die Welt besser als die
Kirche, die es predigt.
Luther hat die Welt "des Teufels Wirtshaus" genannt. Mitfühlen ist oft entsetzlich. Man darf sich aber
davon nicht unterkriegen lassen, sondern soll geduldig seinem Wunsch folgen, Abhilfe zu schaffen; auf
Trost und Abhilfe sinnen. Man soll mitfühlenden Trost selbst annehmen. Wir sollen Trost und Hilfe für uns
und andere finden und erfinden.
Man muß gewiß sich auch immer wieder fragen, ob hier und jetzt schon der Tod die Abhilfe sei. Meist wird
man nach ruhiger Besinnung aber doch noch etwas anderes versuchen wollen. (Paradoxerweise gewinnt
die Lust, zu wirken, an Kraft, indem sie zunehmend von Unlust durchwirkt ist.)
Christentum ist wesentlich Glaube an die in Jesus offenbar gewordene Bescheidenheit Gottes. Es äußert
sich, individuell und kollektiv, signifikant in diakonischem Avantgardismus und Engagement.
Wir sollen mitfühlen. Das schmerzt, und wir können es nur ein Stück weit. Aber auf diesem Gebot liegt
Verheißung; und daran muss immer wieder erinnert werden.
Die Kasualien und die Ritualberatung gehören in die Diakonie.
Welches missionarische und Verkündigungspotential in der Diakonie steckt, kann man einerseits an den
islamischen Wohltätigkeitsorganisationen ablesen, die einen selbstmörderischen Glauben auf die Beine
stellen, anderseits an den wütenden islamistischen Angriffen auf humanitäre Helfer aus christlichen
Ländern.
Glauben
Der Glaube an Gottes Offenbarung in dem konkreten, deshalb anstößigen Jesus, ist durch Erfahrung
beschädigtes1 Urvertrauen, angeschlagene Zuversicht, wesentlich angefochtene Wegweisung im Kampf
ums Dasein.
Im Glauben steht man „vor Gott“, d.h. in bewußtseinsverändernder Wahrnehmungseinstellung, unter
1
Ich erinnere an Melanie Kleins psychoanalytischen Begriff des „beschädigten Guten“.
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seiner Zusage, dem Evangelium, hörend auf seinen Rat und achtend auf sein Werk, gesammelt auf Gottes
Willen. Man kann glauben wollen; aber ob man glauben kann, das bleibt Gottes Sache. Glaube ist
angefochtener Glaube.
Dazu soll man sich bekennen, wo es die Mitmenschlichkeit gebietet.
Gottvertrauen ist Wille zur Realität.
Glaube ist ein Lebensvorgang; er lebt aus Gottes Hand, von der Hand in den Mund. Immer wieder muß er
selbst in Frage stellen, wes er doch gewiß geworden war.
Mein Glaube ist nicht etwas „in“ mir, sondern mein Dasein als Person in der Welt, mein Eingelassensein in
die Welt. (Luther lehrte, daß wir unser Glaube sei unsere „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, die wahre, „von
außen“, ab extra haben; Melanchthon sagte mit Paulus, diese sei iustitia imputata, die uns zugerechnete
Gerechtigkeit Jesu.)
Der Geist des Auferstehungsglaubens hat die naturhafte Liebe des Menschen zur äußeren Realität wohl
kreativer gemacht.
Der Glaube wird angefochten durch das vernichtende große Niemand, das Gott selbst ist.
Der Christ versteht sich ganz konkret hier und jetzt als Geschöpf des befremdlichen Anderen. Wir wissen
nicht, wie uns geschieht. Gott verbietet uns, ein Gottesbild zu fixieren; er hat uns geschaffen, selbst Gottes
Bild zu sein, Gottes Repräsentanten auf Erden, der bescheidenen Liebe des Allmächtigen teilhaftig.
Es hat die Selbstverständlichkeit eines echten Wunders, ist ein Geschenk: Man kann an Gottes Treue zu
Jesus glauben.
Der neutestamentliche Glaubensbegriff ist auf weite Strecken apokalyptisch* totalitär, d.h. er meint
absolute Sicherheit und geht aufs Ganze.
Aber Sicherheit bedeutet Stillstand. Sie ist eine trügerische Beruhigung. Sie mag manchmal in der Not ein
Unterschlupf sein für die Zuversicht, die wir auf dem Wege brauchen; danach ist aber Ernüchterung
wünschenswert, um einem Zusammenbruch zuvorzukommen. (Echter Wahn allerdings bringt eher die
Mitmenschen zum Zusammenbruch.)
Christlicher Glaube wurde früher lehrhaft institutionell definiert durch Konzilien. Heute wird christlicher
Glaube lehrhaft, in individueller theologischer Verantwortung der Tradition, artikuliert. Keine Institution hat
heute noch die Autorität, über wahr und unwahr zu urteilen. Auch die Autorität von Individuen ist meist
nur noch informierend und beratend.
Luther 1527, in einer schweren Krise, an einen Freund1: "Ich bin körperlich gesund – und auch psychisch,
soweit Christus hilft. Wir hängen, er an einem dünnen Faden an mir, und ich an ihm. Satan aber hängt mit
mächtigen Seilen an mir und zieht in die Tiefe. Aber der schwache Christus ist, durch eure Gebete, bis jetzt
überlegen oder wenigstens kämpft er doch tapfer. Also bleibt dran, und macht den schwachen Christus
durch Eure Gebete stark, daß er mit seiner Machtlosigkeit die Macht, die wilde Gewalt des Satans breche!"
Christus angewiesen auf die, die, angesichts seiner, an Gott glauben! Ein stärkender Bund derer, die – um
der zarten, verbindlichen guten Sache willen, in deren Sinne – schwach sind; die mit Ernst* Christen sein
wollen.
In der äußersten Not flieht Luther gerade nicht in eine objektivistisch-wahnhafte Dogmatik, sondern geht
den Weg in die Wahrheit immer tiefer voran in den Relativismus, der Glauben von Wahn unterscheidet.
1
Lateinischer Brief an Justus Jonas vom 29. Dezember, WA Briefe 4, S. 307.
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Nicht einmal die hohen Repräsentanten des verfaßten Luthertums verstehen den Unterschied zwischen
Luthers Rechtfertigungslehre und der tridentinisch-katholischen. Die juridische ist als religiöse Sprache tot.
Das „Gesetz“ war der klassische Verständnishorizont des Evangeliums. Die Thora war das jüdische
Selbstsymbol. Aber der altertümliche Glaube an das Recht ist heute dahin. Wir sind nicht mehr primär
durch Recht, sondern durch andere Selbstsymbole* in die Welt eingebunden – und immer wieder
erlösungsbedürftig, wie der Christusglaube einst Freiheit gegenüber dem Gesetz brachte.
„Wir glauben“ – obzwar kleingläubig – immer ein Bißchen mehr als "ich glaube".
Kleinglaube ist die schwache Teilhabe des kommunikationsfähigen Einzelnen am Dogma des Kollektivs. Der
lebendige Glaube an Gott ist da oder ist nicht da.
Unser Credo, "der Glaube", ist ein zunehmend verzerrendes Assimilationsschema* für den wirklich
gelebten Glauben.
"Glaube" im kirchlichen Sinne ist symbolfixiert.
Glaube ist Selbstrelativierung, Leben von der Vergebung, aus Gnade. Seine prinzipielle Bedeutung wurde im
Blick auf den gekreuzigten Jesus entdeckt.
"Glaube an Jesus" heißt: Selbstrelativierung kraft Jesu, Bescheidenheit durch Jesus.
Ich „habe“ keinen Gott, aber ich habe Erfahrung mit Gott.
Ich „habe“ keinen Glauben, aber ich habe Erfahrung mit dem Glauben.
Unser Gottesbewußtsein, unser Glaube ist (und soll sein) aller Anfechtung ausgesetzt und von realer
Erfahrung abhängig – zu welcher das überlieferte Wort gehört. Für Luther waren das geschriebene
Evangelium sowie das Sakrament Zeugnisse des Wohlwollens Gottes, die sich bei ihm, wenngleich oft erst
nach stundenlangen, lauten Gesprächen mit Gott, gegen jede Anfechtung durchsetzen können.
Bei Luther kann die fiducia zusammenbrechen; sie kann sich aber an notitia und assensus wieder
aufrichten. Melanchthon1 hat wohl besser verstanden, wie Luther die Dinge verstanden wissen wollte, als
uns in den Kram paßt: Die Lehre ist nach dieser Theorie unanfechtbar, und das ist im Grunde katholisch!
Faktisch haben aber gerade seine Anfechtungen Luther zu seiner reformatorischen Entwicklung der
Rechtfertigungslehre (und 1528 darüber hinaus!) vorangetrieben! Er kam immer nur zeitweise zur Ruhe.
Daß er dies als Gottes Willen akzeptieren lernte und lehrte, war das Neue.
Wo der Mensch über das Wichtigste ein positives Wissen zu haben glaubt, spricht Gerechtigkeit, nicht
Vergebung, das letzte Wort über diese Welt. Vergebung ist Sache des Glaubens – nicht an ein Wissen,
sondern an die prekäre Bedeutung personalen Erlebens, wie sie in guten Worten symbolisch (also immer
noch prekär) festgehalten sein kann.
„Die Wund-Entzündung ist in Ordnung“, sagt der Arzt – ein beruhigendes Assimilationsschema* für die
eigentlich beunruhigenden, eigenen Wahrnehmungen, stabilisiert durch Glauben, begründet durch
Autorität, in der Vorstellung, diese habe mehr Erfahrung und Überblick.
Auch kirchlicher Glaube ist soziokulturelle Vergewisserung.
Beim in letzter Not aufgesuchten Wunderdoktor wird deutlich, wie Verzweiflung, Irrationalität, Vertrauen,
Glaubensvorstellung und Autorität zusammengehören und subjektiv heilsam wirken können.
Christliche Bescheidenheit beruht auf einem gotteskindlichen Gefühl.
1
Von ihm stammt diese Näherbestimmung des Glaubens als notitia, assensus und fiducia, Kenntnis,
Zustimmung und Vertrauen.
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Luthers "Glaube, der die Gottheit erschafft"1 hebt das Schöpferische in dem hebräischen Wort2 („wahr sein
lassen“) für Glauben hervor. (Luther war Alttestamentler.)
Glaube vermittelt Gottes Segen.
Bekennen und gewissenhaftes sich Relativieren sind zwei Seiten derselben Sache: lebendigen Glaubens.
Auch ein Glaube lebt nur, so lang er sterben kann.
Der Glaube ist in der Regel nur halb lebendig; und so hat man oft weniger mit Glaube und Liebe als mit
Trotz und Opportunismus zu tun.
Glaube ist: Sich in seine Materialität zurückfallen lassen Können – trotz Angstphantasien.
Als Rechtgläubigkeit macht der Glaube sich selbst zum Gesetzesinhalt und das Evangelium zum Gesetz. Das
führt zu christlichem Auf-der Stelle-Treten und nebenbei zu Galilei-Prozessen.
Der Tod Christi bedeutet, daß Christus in die Welt diffundiert. Nicht nur jeder Mensch kann des andern
Christus sein (Mt 25, 35-45). In Christus hat sich der Gott offenbart, den alle Dinge bezeugen!
Wer nicht wahr haben will, daß Christus gestorben ist, kann ihn auch nirgends erleben.
Die Bekenntnispflicht entspricht dem jeweiligen Glauben. Jesus als König (Messias/Christus) will
proklamiert sein, zu seinem Ruhm und zur Bekehrung der Völker. Die klassischen Christen der Antike waren
apokalyptische Objektivisten, die die menschliche Macht und die göttliche Übermacht auf derselben Ebene
kämpfend sich vorstellten.
Worin aber bestand die göttliche Übermacht, die sie erfahren hatten? – : In der Kraft der Auferstehung Jesu
(Phil 3,10), im Heiligen Geist des Lebens, der in ihre Herzen ausgegossen (Röm 5,5) war, wie sie, in
Anlehnung an alttestamentliche Stereotypen, sagten. Ich verstehe: Sie kämpften für die unter ihnen
aufgekommene lebendigere Sprache gegen die Kommunikationsverbote der geistlosen Macht jüdischer
und römischer kultischer Halbherzigkeit.
Man wird aber den guten Geist der christlichen Tradition oft eher gerade durch geduldigen Verzicht auf das
Christusbekenntnis ausbreiten. Der Glaube kann und muß zu seiner eigenen Vieldeutigkeit stehen.
Das letzte Nein zur Spekulation ist die "Offenbarung" Gottes in Jesus. Das Christus-Bekenntnis ist der
Offenbarungseid des Gottesglaubens. Der Glaube lebt von der Hand in den Mund. Die Tragfähigkeit all
seines (eigenen und überlieferten) Erfahrungswissens ist unberechenbar.
Die Gottesidee in mir ist nicht mein Werk, aber das Werk des Glaubens in mir. Menschen können keinen
Glauben machen; Glaube ist ein Gottesgeschenk. Gott und der Glaube erschaffen sich gegenseitig.
Die Kirche lehrt, die Welt liege so im Argen, daß jeder allein im Glauben an den Anbruch der Heilen Welt in
der Auferstehung des für unsere Sünden Gekreuzigten den in Gott gründenden Frieden finden kann. Das ist
eine veraltete Vorstellungswelt, aber der Sinn dieser Lehre ist nicht veraltet.
Der Glaube lebt in Gott und entäußert sich (Phil 2,7) in der Liebe.
Man kann Glauben haben, man kann ihn sogar besitzen; aber nicht als Eigentum. Er kann uns jederzeit
genommen werden, und wir bleiben auf Symbolen sitzen, die auf einander verweisen und insgesamt im
1
Fides est creatrix Divinitatis, non in persona, sed in nobis WA 40/I, S. 360, zu Gal 3,6. Man soll sich wohl
bei der "Schaffung der Gottheit in uns durch den Glauben" vorstellen Gott den Heiligen Geist, der dem
Glauben verliehen wird. Dessen Unterscheidung von der "Gottheit in Person" ist aber theologisch
bedenkliche, institutionalisierte Tradition.
2 Hiphil: ‫ִין‬
‫אמ‬
ֱ‫ה‬
ֶׁ
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Leeren hängen.
Lebendiger Glaube aber wirkt Liebe. Und in der mitmenschlichen wechselseitigen Teilnahme, in die wir
dadurch hineinkommen, finden wir beschränkten Sinn, der doch über sich hinausweist. Die mitmenschliche
Teilnahme spannt einen unermeßlichen Raum auf. Unversehens ist das vergessene Wort Gott wieder da mit ganz unerwartetem Sinn.
Die Lehre hatte das vorausgesagt, aber man hatte es anders verstanden.
Gottesfurcht ist die natürliche Furcht, in Gottlosigkeit von Gott der Welt überlassen zu werden, der man
nicht vertrauen kann.
Der uns zugemessene Anteil am Frieden Gottes ist der Glaube.
Glaube ist die Selbstverständlichkeit der Existenzsymbolik.
Die Tragfähigkeit der Existenzsymbolik ist große Opfer wert.
Erfahrungen werden in persönlicher Symbolik erinnert und weiter entwickelt. Davon lebt das Urvertrauen.
Wir sollen auch in der Angst Gott vertrauen. Und wir sollen glauben, daß wir das können!
Der Glaube ist Sache von Bewusstseinsveränderungen; er durchlebt verschiedene Zeiten, zum Beispiel: Zeit
der Qual (eigener und fremder) und Zeit des Danks; Idealisierung des Daseins und Desillusionierung. Luther
resümiert: tempus legis und tempus gratiae.
Man kann diese in der Erinnerung oberflächlich zusammenhalten und, zwischen den Zeiten, sich besinnen;
aber man kann sie nicht gleichzeitig erleben oder auch nur sie zusammendenken. (Der gequälte Gott ist
eine neben zwei „andern“ göttlichen „Personen“; Gott ist nicht masochistisch, sondern „dreieinig“!) Der
Glaube ist Identitätssuche1 im Zeichen von Selbstsymbolen.
Leben ist Bewegung. Wirkliche Bewegung ist immer durch die (letztlich unberechenbare) Umwelt vom
geraden Weg abgelenkt. Symbole helfen Identität stabilisieren. Sie sind Glaubenssache.
Die Symbolik der zeitlichen Existenz des eigenen Selbst will gepflegt sein; lebendiger Glaube sucht seine
heute schon nicht mehr ganz befriedigende Symbolik von gestern für morgen tragfähig zu erhalten und
notfalls umzuarbeiten. Er ist also zwangsläufig ein „quest“ (C. Daniel Batson), ein immer nur pro tempore
Finden. (Man denke an Luthers Qualifikation der Anfechtung als Ingrediens des Glaubens!)
Items einer aussagekräftigeren „Quest-Skala“ (Batson) könnten etwa sein:
„Die Auferstehung des gekreuzigten Jesus [bzw. ein anderer Glaubenslehr-„Inhalt“] kam mir in einer
bestimmten Situation in den Sinn, und das hat mich diese Situation anders wahrnehmen lassen. Das hat
mich stutzig gemacht; ich habe öfter daran denken müssen, und dabei hat mein Glaubensverständnis sich
verändert.“ (Antwort: „Nie“ bis: „Immer wieder“.)
Lebendiger Glaube ist etwas anderes als eine fixe Idee.
C. Daniel Batson’s Quest-Skala ist kein Maß für kreative Dynamik der traditionellen religiösen Symbolik im
Lebenszusammenhang (Religion als quest), sondern (in unsachgemäßer Antithese!) für quest als (noch eine
weitere) „Religion“.
Das Christentum ist ein Stil, mit Widersprüchen umzugehen, der in der Überlieferung vom auferweckten
Gekreuzigten wurzelt. Das Neue Testament nennt ihn: Liebe.
1
Quest – gegen C. D. BATSON!
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„Glaube“ im konfessionellen Sinne bezieht sich auf Symbolsysteme als Assimilationsschemata.
Kraft Solidarisierung in drohender „Ortlosigkeit“ (Martin Buber) / vanité (Pascal), hilft Symbolgemeinschaft
bei der existenzsymbolischen Anpassung.
Unser sogenanntes Glaubensbekenntnis ist eigentlich ein Taufsymbol, also Symbol der Zugehörigkeit zu
einer Gemeinschaft.
Jede Gemeinschaft ist eine Glaubensgemeinschaft; aber nur Kirchen definieren sich als solche. Hier ist die
Naivität unserer Orientierung in der Welt gebrochen; man weiß im Grunde, dass das gemeinsame
symbolische Verstehen kein Faktenwissen, sondern ein prekäres Glauben ist. Die gesellschaftlich
garantierte Orientierung bleibt immer prekär, – wie sehr die gesellschaftlichen Ordnungsmächte das auch
praktisch verleugnen mögen.
Eine Glaubensgemeinschaft aber hilft dem Einzelnen in der Orientierungskrise solidarisch bei der
Erarbeitung einer persönlich brauchbaren Symbolik. „Ich glaube ...“ heißt: In dieser Aussage ist etwas
lebenswichtiges Wahres festgehalten, das ich besser verstehen lernen und mir aneignen sollte; und allein
kann ich es nicht.
Als zu Beginn der Neuzeit das christliche Abendland zerbrach, stritten in Europa die Massen, um wenige
alternative Bekenntnisse solidarisiert, wie in Notwehr. In dem Maße, wie dann (auch durch viele neue,
durchschlagend rationale Partialevidenzen) die Existenzsymbolik wieder zur Frage an den Einzelnen wurde
und die groben Alternativen sich ausdifferenzierten, wurden die großen Glaubensgemeinschaften als
Orientierungshilfe relativiert.
„Anfechtung“ des Glaubens ist die Ambivalenz des Friedens-Symbols (das Selbst, Gott), die Spannung in der
Repräsentanz. Gegen den Willen zur Integration (das Gute) kämpft die Desintegration (das Böse).
Die religiöse Metonymik (theoretische und liturgische Systematik) stabilisiert die religiöse Sprache. Deren
Kern ist Metaphorik, diese erscheint hier aber nur als Störung.
Anfechtung ist Gottes ernstgemeinter, freundlicher Spott (Ps 2,4 im Licht des Evangeliums).
Dankbarkeit ist das Gottesgeschenk, die Wirklichkeit nicht an fertigen Wunschvorstellungen und Zielen zu
messen, sondern: die Wünsche und Ziele, im schöpferisch bescheidenen Blick auf die aktuelle Wirklichkeit,
als deren Möglichkeit entstehen zu lassen.
Aber das alterniert mit bitterster Klage – im Klage-Psalm als Gebet des menschgewordenen Gottessohnes.
Paulus lebt dynamisch ἐκ δόξης εἰς δόξαν (2Kor 3,18); er lebt aus verheißungsvoller Realität als Material der
Schöpfung. Die Gegenwart ist Zwischenzeit der Hoffnung.
Die Lebenseinstellung des christlichen Glaubens beruht auf Demütigungen: dem Ende Israels und dem Ende
des Messias Jesus. (Melanie Klein hat den Begriff des „beschädigten Guten“ ins Zentrum ihrer
Psychotherapie gestellt.) Die narzisstische Besetzung der Ich-Funktionen ist geschwächt.
Der christliche Glaube ist ein Bewusstseinszustand, eine Art des Erlebens, eine Lebenseinstellung: durch
Demütigung der eigenen Gerechtigkeit bescheiden geworden, in Gottes Wahrheit gegründet.
Die Kreativität transzendiert unser Ich. Das halten wir fest, indem wir unseren Glauben als „Gottes Werk“
anerkennen.
Wir glauben; aber das Glauben-Können machen wir nicht selber. Es ist ein unberechenbares Zusammenwirken aller Umstände; der Gottesglaube wird erlebt als persönliche Selbstoffenbarung des Schöpfers.
Der Wahrheitsanspruch des Glaubens stört den (nicht lebenswichtigen) Glauben an den (lebenswichtigen)
mittelfristigen Konsens. Er droht mit einem „jüngsten Tag“ als dem Tag des Gerichts.
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Das Formalobjekt des Glaubens ist verheißungsvolle Einsicht. Einsicht enttäuscht; sie verlangt Geduld; sie
ist schöpferisch.
Der kosmologische Bezugsrahmen des Glaubens ist eine Vereinfachung, auf die man sich – zunächst mit
sich selbst – hat einigen können.
Der Forscher glaubt an seinen Forschungsansatz; er wagt seine Zeit daran. Er hat etwas Wahres
wahrgenommen und verstanden (d.h. vereinfacht). Er muß aber für möglich halten, daß er durch das
Wahrgenommene sich hat irreführen lassen.
Der Fromme glaubt an seinen Gott als Assimilationsschema für das Schicksal, obwohl er weiß, daß er irrt
(1.Kor 13, 9-13).
Die kirchlichen Illusionen entlasten den Glauben von der Angewiesenheit auf Gott.
Subjekt des Glaubens ist ein undefiniertes „Wir“, das sich im Ungefähr einer Gemeinschaft konkretisiert.
Theologie
Luthers Forderung assertorischer Theologie verführt zu apodiktischem Stil, – der zum Wissen paßt, aber
nicht zum Glauben.
Wenn eine Religion „dumm wird“ (Mt 5,13), so zerfällt sie in einerseits einen zum Fetisch erstarrten
dogmatischen Kern und oberflächlich-anpasserische Beweglichkeit andrerseits.
Kirche ist der Raum für die Durcharbeitung der eigenen Größenphantasien in einer klassischen Form.
Theologie ist ein Teil dieser Arbeit.
Es gibt schwer angeschlagene Menschen, Dichter und Theologen, die haben Seltsames, Überwältigendes zu
sagen, und empfinden die Pflicht, den Mund zu voll zu nehmen. "Theologische Existenz" war ein stolzes
Schlagwort, – gegen Eitelkeit nicht gefeit.
Religiös denken, eine immer nur verliehene, nie anzueignende Sprache weiterentwickeln, kann man nur in
einer bestimmten Verfassung (leicht hysterisch?). Sie gehört zum theologischen Denken, macht dieses aber
nicht aus.
Die vorchristliche Theologie1 war Teil der Philosophie, und diese war persönliches Bekenntnis.
Luther konnte von guter und schlechter Theologie reden. Sein Kriterium war nicht die wissenschaftliche
Denkform, sondern der Zusammenhang, der die Existenz zum Störfaktor der Wissenschaft macht.
Theologie im prägnanten Sinne ist: von der Kreuzigung Jesu umgetriebenes Denken über Gott. Theologie ist
nur teilweise wissenschaftlich ordentliche, religiöse Rede. Will man methodisch nur akademisch von
Gotteserlebnissen und deren Dokumentation reden, so hat man dem nach Luther eigentümlichen Anspruch
der Theologie entsagt und betreibt Religionswissenschaft. Die Beschäftigung mit christlichen Gegenständen
ist noch nicht Theologie, sondern Religionswissenschaft vom Christentum. Man sollte die akademische
Theologie vielleicht ehrlicherweise heute so definieren.
Das Bedürfnis nach Kommunikation als Realitätsprüfung gegen Wahnbildung bei religiösen Phantasien ist
gesund. Zunächst provoziert ungebetener Monolog grobe Antwort. Der Missionar kann sich dadurch in
1 Theologie ist ein altgriechisches Wort! (Siehe meine Studie: Die Wurzeln des Begriffs Theologie, in: Archiv
für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 7-26).
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seinem Monolog bestätigt fühlen; er kann sich aber auch mitmenschlich beansprucht fühlen, zu tieferer
Besinnung kommen und evt. im Gespräch Förderung erfahren.
Die Liebe betrachtet die Äußerungen des eigenen Glaubens nicht nur von innen, sondern auch von außen –
verständnisvoll kritisch, wie man auch anderer Leute Glauben betrachten soll – auf die Gefahr hin, daß die
Liebe auch hier tut, was sie tun soll: daß sie nämlich den Menschen und seine Überzeugungen wandelt.
Man soll theologisch in Worten reden und schreiben, die einem persönlich etwas bedeuten.
Theologie redet vom mitwandernden Horizont des Lebens.
Wie jede Offenbarung Gottes sich in die Welt auflöst, so muß sich Theologie immer wieder in Leben
auflösen.
Offenbarungserlebnisse haben einen psychotischen – also nicht symbolisch, sondern imaginär
strukturierten – Kern.
Dichtung ist idiosynkratische Symbolik.
Religionswissenschaft objektiviert; um fruchtbar zu sein muß das empathisch sein.
Theologie ist identifikatorische, konfessorische, subjektiv urteilende Interpretation überlieferter Symbolik.
Theologie erklärt die christlichen Symbole immer aus objektivem Wissen und subjektiver Identifikation
heraus.
Paul Gerhards Dichtung artikulierte sein beglückendes Projekt. Wen sie anspricht, der ist ihr doch
heutzutage schuldig, sie sich neu zu erarbeiten, nicht nur ihr, sondern auch sich selbst und seinen
Mitmenschen.
Es gibt keine allgemeingültige Gotteslehre. Aber Bekenntnisse zum jeweils eigenen Glauben und deren
kritische Ausarbeitung liegen im Interesse einer tragfähigen sozialen Ordnung.
Theologie war eine Disziplin der klassischen Philosophie, – die ihrerseits Bemühung um Weisheit war, die
befähigt, Verantwortung zu tragen.
Der Lutherisch verstandene Theologe (meditatio, oratio, tentatio) steht in der Tradition des Einsiedlers, den
man in der Wüste oder im Wald aufsucht (wie den heiligen Nikolaus von der Flühe) und der aus dem Walde
kommt, unbestochen an die Wahrheit zu erinnern, wenn die Gesellschaft sich in ihren Halbwahrheiten
heillos verfangen hat. (Luther war Augustinereremit.)
Theologen sind keine Propheten; sie müssen in der heutigen Welt viel zu früh und viel zu viel öffentlich von
Gott reden und lehren.
Theologie umfaßt durchaus auch religionswissenschaftliche Arbeit. Persönlich verpflichtende
Weltanschauungen, die sich nicht als wissenschaftlich begründet ausgeben, also Religionen, können
objektivierend oberflächlich verstanden werden, – was zum vollen Verständnis gewiß dazugehört.
Man kann die christliche Symbolik auf verschiedene theologische und anthropologische Ebenen abbilden.
Der Gewinn an Einfachheit und Klarheit wird dabei mit spezifischen Verlusten von (irrationalem, aber nicht
irrelevantem) Inhalt erkauft.
Die Unsicherheit, die den Menschen menschlich und ansprechbar macht, wird in Psychologie, Soziologie,
Theologie und Philosophie gelindert durch ideologische Gemeinschaft (Glauben, was die „Kirche“ glaubt,
und Zünftigkeit des Wissens und Denkens).
Kirchliche Dogmatik redet vom kirchlich stabilisierten Gott.
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Eine Dogmatik elaboriert je konsequent ideologisch eine Gottesvorstellung. Ein Igel soll frisiert werden.
Professionalisierung differenziert und spezialisiert nicht nur, sondern fragmentiert die Gesellschaft in
Subkulturen. Das betrifft, wie die Ärzte und die Juristen, auch die professionellen Theologen. Das zünftige
Gespräch kann erstaunlich gut an Problemen vorbei laufen.
Fachtheologie redet, wie Religionswissenschaft, über Religiöses "wie der Schuster übers Leder" (Luther).
Das Außerordentliche des Religiösen gegenüber dem Profanen kann gewöhnlich werden. Innerhalb des
Gewöhnlichen können allerdings hier und dort Einzelne immer noch unversehens aufmerken, staunen und
innehalten.
Kirchen und Theologie spielen, wie die Putten auf barocken Fresken, mit Christi Marterwerkzeugen.
Matth 23,11, die Anklage Jesu gegen die jüdischen Theologen, daß sie, die selbst nicht hineinkommen, auch
andern die Gottesherrschaft verschließen, ist auch der christlichen Theologie ins Stammbuch geschrieben –
"uns zur Warnung", wie es 1Kor 10,11 heißt!
Gott wird in der theologischen Institution zur Denksportaufgabe.
Das Medium der Theologie ist das menschliche Gespräch. Theologische Diskussion aber ist meist steril;
denn man kann Metaphorik nicht metonymisch* erzwingen.
Kommunikationsloser Pluralismus der Verkündigungen herrscht bei uns, wie in der Werbung, nun auch in
der Theologie! Periphere, sinnlose Diskussion verdeckt den hoffnungslosen und aussichtslosen Mangel an
Kommunikation. Die Theologie ist in Auflösung begriffen. Die engen konfessionellen Institutionen sind
obsolete Interessengemeinschaften.
Theologie soll, an bewährten Beispielen aus ihrer Tradition, uns üben im Verständnis unserer Vorstellungen
als Metaphern des Überwältigenden.
Theologie ist Auslegung der christlichen Tradition. Als „Kulturhermeneutik“ (W.GRÄB) setzt sie diese
Tradition ein zur Interpretation aller kulturellen Interpretationen der menschlichen Existenz, – vergleichbar
psychoanalytischer Deutung spontaner Äußerungen.
Theologische Besinnung verhütet Fixierung der Metapher durch Erinnerung an ganz andere beeindruckende Metaphern. So dient die Lehre der Reinheit des Glaubens.
Das Wir der klassischen Bekenntnisse ist immer weniger wahr; und es ist auch durch neue Bekenntnisformulierungen nicht wieder herzustellen. Wir müssen auf einander hören; aber jeder mit seinem Kopf und
seiner Zunge, und also verschieden, reden.
Wo es um Übernahme einer Überlieferung mit einer verführerisch reichen Sprachtradition geht, ist
unverfälschte Bezeugung des eigenen Glaubens und Unglaubens gar nicht so leicht – und die Hilfe zur
Falschmünzerei sehr angenehm.
In armen, traditionellen Gesellschaften ist der Märchenerzähler eine wichtige Figur. In hoffnungslosen und
ungebildeten Massen werden sich immer wieder, um geeignete Menschen und primitive Symbole herum,
mehr oder weniger religiöse, charismatische Gemeinden bilden.
Theologie erwächst aus eigener Betroffenheit von deren Symbolik. Aber sie setzt gute Erfahrungen mit den
Chancen hypothetischen Denkens voraus. Sie ist deshalb eher ein Mittelschichtsphänomen, setzt aber
tragfähiges Mitgefühl voraus.
Wo die Gesellschaft mit ihrer Weisheit am Ende ist, überläßt sie sich rituellen Vorgaben der Überlieferung,
die ihr über die Runden helfen sollen. Da kommt es auf die Kraft der Symbolik an.
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Symbolik will angemessen gepflegt sein. Das ist hier eine priesterliche Aufgabe; diese kann auch von
Rabbinern und Theologen wahrgenommen werden. Sie bilden eine Schicht, die die Gesellschaft gegen das
Unheimliche abzuschirmen hat. Ihre fachinterne Diskussion ist bizarr, vergleichbar mit der Glossolalie, – die
ja aber (nach Paulus) übersetzbar sein soll.
Unser Reden ist immer nur bedingt richtig und verantwortbar; immer auf wohlwollendes Mitdenken
angewiesen.
Eigentliche religiöse Rede ist besonders prekär; sie ist prophetisch, sie will hier und jetzt unmittelbar
verstanden werden. Sie ist wesentlich metaphorisch. Theologie will bleibende Zusammenhänge
artikulieren; aber sie wird zwangsläufig desto lückenhafter, je wesentlicher sie wird.
Der Theologe kann sich mit der Analogie zur Unschärferelation in der Physik der Elementarteilchen trösten.
Religiöse Einsichten sind die Elementarteilchen der Theologie. Sie erscheinen nur mit statistischer
Wahrscheinlichkeit. Objektiv greifbar sind von ihnen nur Erscheinungen, deren Zusammenhang man zwar
modellieren, aber nicht verstehen kann. Die Vorstellungen, die wir uns von diesen „Gegenständen“ an den
Grenzen unsres Weltverstehens machen können, sind paradox. Paradoxien aber können sich an
überraschenden Stellen als erhellend erweisen.
„Evangelikal“ ist Abwehr von gottgesandter Anfechtung des Glaubens; eine unreif trotzige, kollektive
Begeisterung, hypomanische Depressionsabwehr. Das ist eine legitime Lesart des Christentums; aber nur
eíne!
In der Theologie herrscht Institutionslogik.
Theologie gehört in Winnicotts „intermediären Raum“.
Religion ist immer ein Symbol-Dickicht. (Die Kirchen kämpfen gegen aktive Sterbehilfe, Abtreibung,
Homosexualität, in Deutschland für den Friedhofszwang!)
Theologie ist keine scientia, sondern eine ars, zu welcher allerdings theoretische und wissenschaftliche
Elemente gehören.
Man darf sich nicht in Theologie verbiestern.
Gotteslehre hat ihre Zeit; Anfechtung hat ihre Zeit. Unangefochtene Weltlichkeit hat ihre Zeit und
Urmißtrauen hat seine Zeit.
Im theologischen Thema Prädestination überlagern sich ganz verschiedene Probleme. Hier geht es
um (die erste und letzte) Vereinfachung (gut oder schlecht),
um Gottes Güte,
um Gerechtigkeit (Verdienst),
um Allmacht,
um den Zusammenhang zwischen göttlichem Wollen und Wissen (Providenz),
um Zusammenwirken,
um Verantwortung,
dreifach um Zeit: 1. Vorherbestimmung,
2. Akkumulation von Verdiensten und Schulden,
3. Das „letzte Stündlein“.
Jean Duvergier (der von Pascal verehrte Jansenist „Saint Cyran“) predigte die bienheureuse incertitude. Sie
bezieht sich auf die göttliche Beurteilung unserer Werke, die der christliche Glaube (mit 1Kor 4,4)
vertrauensvoll im Dunkel der Prädestination liegen lassen kann.
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Theologie ist auf alle Fälle anspruchsvoll, – auch wenn sie sich als reine Darlegung der Lehre eines Textes
versteht, für den sie göttlichen Anspruch erhebt. Theologie ist immer persönliches Zeugnis.
Luthers Theologie war religiös-exegetische Mythologie. Das Gewissen im Freud’schen Sinne spielt für ihn
auch eine große Rolle; aber seine Theologie lebte von einem weitergehendem „Mit-wissen“ der „conscientia“.
Der eigentliche Gebrauch von Existenzsymbole ist der existentielle. Kirchlich objektiviert, liturgisiert,
reduziert sich ihr eigenster Sinn auf eine soziale Integration. Und wenn man wissenschaftlich objektivierend, „wie der Schuster übers Leder“ (Luther), wie ein Bakteriologe über seine Kulturen reden können
will, muß man Übersetzungen in wissenschaftliche Sprachen wagen – und wahrnehmen, wie weit das
jeweils trägt.
Ich biete in diesen meinen eigenen Texten einesteils Mythologie, wie es mir gegeben ist; andernteils
wissenschaftliche Erklärungsansätze.
Theologie ist eine Kunst der Doppeldeutigkeit: Alles Christliche soll übersetzbar sein ins Allgemeinmenschliche.
Die Chaos-Theorie macht ein gutes Gewissen bei gewissenhafter Theologie, die eben auch chaotisch ist.
Die Lehren von Schöpfer und Geschöpf, Gott und Mensch, Schöpfung und Fall kann man nur fraktal
ausartikulieren. Diese Grenzen sind chaotisch.
Die Kultur ist gelockert und die Kirchen haben ihre Einbindung in die Kultur gelockert. Moralische
Blauäugigkeiten für Kirchentage oder die Predigt von kulturell selbstverständlichen Normen für alle,
moderne Bilderausstellungen in der Kirche, Aktionen und Happenings, von denen die Zeitungen berichten,
lenken das Augenmerk auf das Problem, aber beheben es nicht. Sie haben jedoch (profitierend von
nachlassendem öffentlichem Interesse) an Autonomie gewonnen.
So hat sich auch die Einbindung der von den Kirchen kontrollierten theologischen Bildung in die
Allgemeinbildung gelockert.
Die wissenschaftlich-kritische Beschäftigung mit der christlichen Überlieferung ist praktisch von Kirchen
monopolisiert, auch wo diese kulturell immer abseitiger geworden sind. So aber wird auch die Theologie
steril.
Als lebendige Institution muß die Theologie sehr häßlich teilhaben an der religiösen Chaotik ihrer Zeit. Das
verlangt vom einzelnen Theologen hohe charakterliche und intellektuelle Spannkraft.
Theologie ist Arbeit an der eigenen Existenzsymbolik.
Beim symbolischen Einweben des bedrängenden Imaginären in die Realität wurde Luther zu einem der
gewaltigsten deutschen Sprachschöpfer. In seinen Anfechtungen leistete er psychotherapeutisch
bahnbrechende Arbeit.
Diese Sprache nimmt uns in unseren Ungereimtheiten sehr ernst.
Theologie macht langsame Fortschritte. Es geht um Auswertung seltener Ereignisse! Da sorgen nur voreilige
Schlüsse für viel Bewegung.
Theologie ist erlaubt dank Gottes Bescheidenheit.
Auch im reifen Menschen bleiben primitive Allmachtsphantasien die imaginäre Grundlage des Denkens und
Empfindens. Man muß mit Gotteslehre den Weg markieren und gangbar halten für Regression im Dienste
des Ich.
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Theologische Ethik ist der Versuch, die spontan sich einstellende Bedeutung der religiösen Symbole solide
verhaltensrelevant zu organisieren.
Religiöse Erbschleicherei verrät sich in ihren sprachlichen Leerstellen, heute z.B. "Evangelium", "Wort
Gottes". Man will mit der reichen religiösen Überlieferung beeindrucken. Tragfähig aber ist nur die
sprachliche Dürftigkeit eigener Besinnung.
Die theologische Metonymik als theoretische Forschung kann nur Fragen für die empirische Metaphorik
umformulieren. Der Test auf die Dogmatik ist die Lebenspraxis.
Der Theologe verkauft seine lebendige Seele auf dem Arbeitsmarkt. Theologie macht die persönliche
Identität zum Beruf; damit sind aber die Krisen, die ja zur lebendigen Identität gehören, professionell
verboten. In anderen Berufen ist Person und Amt besser unterschieden.
Luther denkt widersprüchlich; denn er denkt über Gott nach.
Er bekennt seine existenziellen Ambivalenzen im christlichen Glaubens und versucht, mit Hilfe der Bibel und
im Gebet, im Hin und Her von Hören und Verantworten, zu klären und zu lehren, was Aufgabe des
Menschen und was Gottes Sache ist, und kommt zu neuen, höchst kontroversen, praktischen
Konsequenzen. Im Interesse der letzten Vereinfachung, welche Praxis immer bedeutet, kommt es, im
Kampf für das gefühlte letztlich Richtige, zu Spitzfindigkeiten sowie überrissenen Behauptungen und
Antithesen in der Lehre, weil er zwischen Lehre und Wort nicht unterscheiden konnte.
Wie die Synagoge, sakralisiert die Kirche sich selbst so sehr, daß auch radikale Selbstkritik sie nicht
umstoßen kann.
Bibel
Beim Bibelwort hat man oft das Gefühl, da sei etwas Wahres dran. Man soll dann nachdenken: Was?
Wieviel Bibellektüre ist für die Erinnerung an die Offenbarung Gottes in Jesus förderlich? Leicht entsteht
eine Sakralisierung, die der Offenbarung Gottes durch Jesus just diese Texte in den Weg stellt.
Für die Frage nach Gott finden wir Hilfe in der Jesusgeschichte. Die Dokumentation der Jesusgeschichte
finden wir in der Bibel. Die real existierende Selbstauslegung der Jesusgeschichte ist die Kirchengeschichte;
und deren Fortsetzung sind wir.
Die Qualifikation der Bibel als Gotteswortes ist die hermeneutische Anweisung, sie als Gotteswort zu
verstehen, d.h. sie nach bestem Wissen und Gewissen in optimam partem zu interpretieren. Das kann in
staunende Ehrfurcht umschlagen.
Die Transparenz der Schöpfung für den Schöpfer, wie man sie an religiösen Symbolen lernt, ist für das
Verstehen jedes Sachverhalts vorbildlich.
Wo existenzielles Interesse an der Bibel Menschen ins Gespräch bringt, da entsteht christliche Gemeinde.
In der Bibel (besonders dem Alten Testament) hatte auch das chaotische, wirkliche Leben Platz; aber sie
endet glücklich. Die Bibel ist, im Glauben an den auferstandenen Jesus, aufbauend auf den Sammlungen
der Synagoge, zusammengestellt von der Kirche; und Kirche ist eben auch, so gut es geht, ein
verführerischer Kosmos mit seinen Illusionen.
Auf die klassisch-griechische Tragödie folgte schließlich eine Komödie. Das war kein happy end, aber ein
lachendes Ende, eine dionysische Dramatisierung des Lebens.
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Weitere Symbole
So wenig wie die Anwesenheit Christi im Sakrament, so wenig ist Gottes Wort in der Bibel objektiv eine
Heilsgabe (1Kor 11,29). Nach Luther ist der dreieinige Gott zwar überall anwesend, im Sakrament ist er aber
dem Gläubigen zum Heil anwesend.
Die "christliche Freiheit" ist vor Anomie* geschützt nicht durch irgendwelche Gebote, nicht einmal durch
das Liebesgebot, sondern durch die persönliche Verantwortung vor Christus. Allerdings gibt es eine in ihrer
Stereotypie starke, gesetzliche Auslegungstradition.
Heil für das beschädigte Gute ist in apokalyptischer Tradition Entmischung und Abspaltung. Bei Paulus aber
ist sie nicht das Letzte. Das letzte Wort hat die Erwartung der vollen Integration (1Kor 15,28).
Hoffnung auf "den lieben jüngsten Tag" (Luther) ist Entmischungserwartung des durch Liebesdienst
überanstrengten Ich. Die Unterhaltskosten für die realitätsangepaßten mentalen Repräsentanzen sind zu
hoch. Man möchte einerseits fluchen und anderseits störungsfrei genießen können.
Was auch immer man sich unter "dem Bösen" vorstellen mag, Neid, Herrschsucht , Betrug, Wut, fixiert als
Haß, – es ist Außenseite und setzt einen positiven Kern voraus, der da verteidigt wird. L'enfer, c'est les
autres (SARTRE)! Es ist nicht Substanz, sondern Relation.
Diese Distinktion ist jeweils abhängig davon, wie weit man in das Problem eingedrungen ist. Das zunächst
substantiell böse Erscheinde zeigt sich bei näherer Betrachtung als relational.
Für Paulus, den Visionär, war sein Heiland sinnliche Erfahrung. So hatte er seinen Wahn aufs Trockene
gebracht; er mußte ihn nicht ständig schützen und stützen und konnte sich für die Mitmenschen öffnen.
Die gleiche Funktion hatte für Luther die Bibel und das Sakrament. Für andere ist es die Kirche. Wohl nur
unter günstigen Umständen kommt christliche Leben auch ohne Fetische aus.
Durch Christi Himmelfahrt ist den Christen zu ihrem Heil ihr Heiligtum entzogen. Die Himmelfahrt
symbolisiert den befreienden Entzug des Sakralen.
Sakramente sind zunächst und zumeist fetischisierte Symbole der Gottesgemeinschaft.
Das Sakrament verleiht dem Einzelnen einen kirchlichen Status, eine sozialgestützte Ortsbestimmung in der
Welt vor Gott.
Die religiöse Symbolik wirkt auf das übrige Leben (und vice versa), aber ziemlich regellos, von Fall zu Fall
sehr verschieden.
Nach dem Ende des wilhelminischen Reiches standen Latifundien nach preußisch-oberkirchenrätlicher
Theologie unter dem Schutz des siebenten Gebots (Du sollst nicht stehlen).
Dann: „Schwerter zu Pflugscharen“ in den 70er Jahren (nach Micha 4,3 bzw. Jes 2)
Ähnlich: „Bewahrung der Schöpfung“ – auf welchem Stand? Auf dem heutigen? Auf dem Stand der
Abfassungszeit der priesterschriftlichen Schöpfungsberichts (also vor vielleicht 2500 Jahren) oder nach
Abschmelzen der letzten Eiszeit oder, ganz sauber, gleich nach dem Urknall? Oder wie als wir Kinder
waren?
Heute das fünfte Gebot (Du sollst nicht töten) gegen Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie.
Es ist unfaßlich, wie korrupt die Vernunft im Dienst treuherziger Wünsche, und wie publikumswirksam
Dummheiten in kirchlichen Kreisen noch heute sind!
In finsteren Zeiten leuchten Bibel, Sakrament und die Sozialform der gottesdienstlichen Gemeinde direkt;
es sind Zeugen der Hoffnung aus finsteren Zeiten. In helleren Zeiten ist Vermittlung nötig.
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Die Kirche tabuiert sich selbst als Gottesvolk durch die Identifikation mit dem durch den Holokaust
tabuierten Judentum.
Die "neue Schöpfung"1 bedeutet: Mir ist vergeben; infolge der Offenbarung Gottes in Christus kann ich
vergeben. Letztlich: Jetzt kann ich Gott vergeben (2Kor 5,20: καταλλάγητε).
Die biblischen Ostervorstellungen stehen heute der Osterbotschaft im Licht.
Nietzsche nahm den kleinbürgerlichen2 Charakter wahr, den das Christentum in unserem Kulturkreis in der
zweiten Hälfte des 19. Jh. deutlich angenommen hatte.
Christlich (d.h. dem im gekreuzigten Jesus offenbar gewordenen Gott entsprechend) sind weniger Symbole
und Gedanken als die Gedankenführung, weniger die Gedankenführung als die Gesprächsführung, weniger
die Gesprächsführung als das Gesamtverhalten.
Wichtiger als der Lehrinhalt ist der Stil.
„Wir sind die Erwählten, die Erben“ sagten die Israeliten zu den Edomitern, die Juden zu den Samaritanern
und dann die Christen zu den Juden. Lessing machte im Nathan auf die Frage aufmerksam, worin denn die
Erwählung besteht, um die es geht, – und gab eine beachtliche Antwort.
Im „Vorletzten“ sieht der Glaube Zeichen des Letzten. Das sollte aber nicht chronologisch verstanden
werden; es sind symbolische Wunscherfüllungen, Symbole des Imaginären, das unsere tiefsten Wünsche
repräsentiert.
Die biblischen Verheißungen in Zeiten des Wartens auf Erlösung sind spezielle Ermutigungen. Für den
Fortgang des Lebens reichen allgemein sehr wenige Erfolge auf sehr viele Mißerfolge.
Das „Freuet Euch!“ des Philipperbriefs kann sehr oberflächlich verstanden werden. Derselbe Apostel
schreibt auch: „Weinet mit den Weinenden!“ (Röm 12,15). Paulus ruft den Beistand des Schöpfers in
Erinnerung, der teilnehmend zu uns gekommen ist.
„Ewige Höllenstrafe“ ist, extrapunitiv oder intropunitiv, eine Idee der Rachsucht.
Die Überwertigkeit der Zukunft und die entsprechende Zielstrebigkeit zeichnet das klassisch christliche
gegenüber dem vorchristlich-abendländischen und den fernöstlichen Denken aus, welches die Welt, wie
auch immer sie sei, versteht als Gegenwart eines stabilen Systems.
Alle drei großen Erfinder des Christentums – Jesus (der die Gottesherrschaft nahe brachte), Petrus (der
reuige Verleugner, dem der gekreuzigte Jesus als Messias auferstanden erschien) und Paulus (der bekehrte
Verfolger, Theologe und Weltmissionar) – waren Visionäre auf der Linie der alten Propheten, nach heutigen
Begriffen Verrückte. Sie nahmen Symbolisches von grundlegender Wichtigkeit verdinglicht wahr. Diese
Verdinglichungen, sogenannte Heilstatsachen, waren aber symbolisch verständlich und analogiekräftig
mitteilbar wie andere uns vorgegebene historische Tatsachen – etwa die Überlieferungen und
Institutionen, von denen und in denen wir, ohne uns zu wundern, mit größter Selbstverständlichkeit leben.
Die Institutionalisierung der Kirche lag auf der Linie diesen Visionen.
Skepsis gegenüber unsrer Wahrnehmung und deren Deutung, die Fähigkeit, unsre Überzeugungen in
Zweifel zu ziehen, heute eine Voraussetzung des Zusammenlebens, war im Altertum noch eine kulturelle
Randerscheinung.
1
2
"Ist jemand in Christus, so ist er (ein Stück der verheißenen) neue(n) Schöpfung", sagt Paulus 2Kor 5,17.
Zwischen Großbürgertum und Arbeiterschaft.
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Die Symbolik etwa der Taufe Jesu, der Ostervision des Petrus, und des Damaskus-Erlebnisses sprengten den
Rahmen des Menschenmöglichen. Aber auch so etwas wie die Vision von 1Thess 4,15ff. war ein
„Herrenwort“. (Bei den Montanisten blieb diese Tradition noch länger lebendig.) Wir aber müssen
dergleichen (Erlebnisse und auch Worte!) in Beziehung zu dem setzen, was wir heute zu wissen meinen.
Wenn wir es auf uns selbst beziehen wollen, müssen wir es mitverantwortlich kritisch relativieren.
Was bleibt uns dann vom Christentum? – : Jesus, als Anfang der „Neuen Welt“ bezeugt, fordert uns auf,
inmitten des uns scheinbar hinlänglich Bekannten, auf Gott zu achten, der Neues geschaffen hat und zu
unsern Lebzeiten schafft.
Das prophetische „Wort Gottes“ sowie das Paulinische „Herrenwort“ verdinglichen und tabuieren eine Ant„wort“ auf eine dringende Frage.
Paulus (1Kor 15) verdinglicht die Auferstehung Jesu. Der Kolosserbrief redet die Adressanten schwärmerisch als Auferstandene an; dazu gehört aber auch hier noch (wie im 1Kor) die Paränese. Das ist,
posttraumatisch charismatisches Flickwerk.
Es kam den biblischen Wunder-Erzählern so vor, „als ob…“. Das unwahrscheinliche Erlebnis wird da aber
nicht als unerklärt respektiert, sondern als göttlich erklärt und wahnhaft ausgegrenzt.
Das Verständnis des Todes Jesu als Sühnopfers setzt Gottes Verdammung des Menschen zu ewiger
Höllenstrafe voraus. Diese setzt den Perfektionismus eines lebensfeindlichen Rationalismus aus der
Frühzeit der Logos-Kultur voraus. Dieser Gott hasst die Menschen, hat aber seinen natürlichen Sohn so lieb,
dass er, um dessentwillen, wenigstens für dessen Freunde, mit einem kleinen Trick, auf die Perfektion
seiner Gerechtigkeit scheinbar nicht verzichtet.
Seit Kant weiß man Genaueres von den Grenzen der Vernunft. Die alte Lehre ist heute nur unter verzweifelt
erhöhtem Einsatz von eigenem Sadismus aufrecht zu erhalten.
Was für ein Weltbild hat, wer das glauben kann1? Welche Erfahrungen mit der Schöpfung stehen hinter
solch einem Bild vom Schöpfer? – : Hier fehlt jedes Grundvertrauen, eine Lehre ist vonnöten, die keine
große und keine kleine Frage offen lässt. Diese Lehre wird, mit vereinten Kräften, in Gebetskreisen, ständig
auf den neuesten Stand gebracht.
Frettlöh: Segen ist Segen Abrahams. Nach Paulus ist der Segen Abrahams der Segen des Glaubens – und
Segen des Glaubens ist Segen des in Jesus offenbarten Gottes. Ihn sollen wir weitergeben.
Welt etsi Deus non daretur und Gott verhalten sich – ebenso wie Gesetz und Evangelium – dual zu
einander.
Jemanden segnen ist: den fleischgewordenen Gott in ihm anerkennen.
Segnend kann der Sterbende die Welt in Frieden verlassen.
Segnenkönnen ist unser höchstes Gut.
Auferstehung: Auf die, „menschlicher Nüchternheit“ überlegenen, konstruktiven Leistungen des „göttlichen
Wahns“ hatte schon Plato im Philebos aufmerksam gemacht. Der gesunde antike Mensch ließ sich in seiner
eigenen Weltsicht durch die Unheimlichkeit des Wahns verunsichern. In unsern Tagen fand die Theorie von
der pandemischen Schizophrenie der Gesellschaft Beachtung.
Die Vision des auferstandenen Jesus hatte das mörderische Schuldgefühl des Paulus (man beachte die ὀργὴ
in seiner Apokalyptik!) aufgehoben. Es liegt nahe, den hypomanischen Glauben an die Auferstehung Jesu zu
verstehen als Abwehr eines depressiv-zwanghaften Wahns, einen – weitgehend (!) ernüchterten –
1
Es liegt heute nahe, hier an George W. Bush zu denken.
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Residualzustand. Wie dem auch sei – dieser Glaube entband χαρίσματα, ungeahnte Kräfte in den
Menschen.
Gesetz: Die Gemeinde des Zweiten Tempels (die Juden gegen die Samaritaner) kultivierte verängstigte
Restauration.
Jesus, Petrus und Paulus führten einen schwärmerischen Ausbruch an: aus dieser Angstwelt hinaus in das
Wagnis der radikal neuen Welt, das Gottesreich der Erwählten. Nur mit dieser Radikalität war dem
religiösen Zwang Paroli zu bieten.
Heute ist die urchristliche Apokalyptik für die Freiheit vom Gesetz nicht mehr vonnöten. Wir stehen
vielmehr in legislativer1 Mitverantwortung.
Die Hellenisierung des alttestamentlichen Erbes hat Gott idealisiert und das Ideal vergottet.
Der biblische Wunderglaube umspielt sowohl das Wunder der Schöpfung wie den ungeheuerlichen Begriff
einer „Offenbarung Gottes“.
Die christliche Apokalyptik ist auf den eínen radikalen Wandel ausgerichtet. Aber der „Geist der Endzeit“
lässt „Zeichen und Wunder“ erleben, die den kosmos-Glauben verunsichern.
Die Lehre vom Heiligen Geist etabliert eine christliche Identitätskrise: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern
Christus in mir.“ (Gal 2, 20) Nicht ein gottfernes „Sei kreativ!“, sondern: „Du bist kreativ!“
Masochismus ist, wie Sadismus, „sexualisierte“ Aggression, triebhaft. Arbeit/labor/‫ָה‬
‫ֲבֹד‬
‫ ע‬hingegen ist
sublimierte Aggression; die lustvolle Vorstellung vom begehrten Ziel ist in den Kampf mit dem Material und
die Selbstüberwindung integriert. Das ist die normale Einstellung auf die „durchschnittlich zu erwartende
Umwelt“.
Die christliche Leidensbereitschaft im Zeichen des Gekreuzigten ist kein Masochismus; unter anormalem
Triebverzicht in Bedrängnis kann sie aber sexualisiert werden.
Gott ist dankbar für unser Dasein.
Die Zukunft, von der die christliche Predigt redet, hat schon angefangen!
Gegenstand der Liebe ist das Verheißungsvolle. Das Liebesgebot verweist an die Einsicht, die wir von unsrer
Wahrnehmung des Mitmenschen erwarten dürfen.
Freude ist auf Gemeinsamkeit aus; und sie findet ihre Vollendung in schlechthiniger Dankbarkeit.
Die Bewusstseinsveränderung zur gottesdienstlichen Wahrnehmungseinstellung „Sursum corda2/Erhebet
eure Herzen!“ äußert sich am Natürlichsten in Gesang.
Kummer in Ehren; aber Gott will ihm heilen. In Christus sollen wir wieder guten Mut fassen.
Paulus zeichnet alles ein in die Chaotik des Anbruchs der Gottesherrschaft. In solcher Vorfreude trägt er
seine Leiden und seine Trauer und fordert die mit leidenden Philipper zur Mitfreude auf.
Er war aber Apokalyptiker; und das ist heute kaum noch nachzuvollziehen. So hat sein „Freuet euch!“
vielfach zu aufgesetzter Freudigkeit verführt. (Und Nietzsche hat nachgeholfen: „Erlöster müssten mir die
Christen aussehen, wenn ich an ihre Erlösung glauben sollte.“)
1 Siehe Luther 1535, Disp. De fide, These 52f. (novos decalogos scribamus)
2 So hieß dann auch das alte Gesangbuch der Diözese Paderborn.
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Inhalt
I.
Einleitung
1
II.
Der Schöpfer persönlich
2
III.
Bescheidenheit, eine perfectio Dei
14
IV.
Name und Wort Gottes
23
V.
Jesus
28
VI.
Christus
32
VII.
Lehre
38
VIII.
Ritual / Gottesdienst
40
IX.
Kirche
43
X.
Gemeinde
57
XI.
Diakonie
60
XII.
Glauben
61
XIII.
Theologie
67
XIV.
Bibel
72
XV.
Weitere Symbole
73
XVI.
Inhalt
77
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