(III)

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Peter Wheling/Willi Viehöver/Reiner Keller/Christoph Lau
Zwischen Biologisierung des Sozialen und neuer Biosozialität: Dynamiken der biopolitischen
Grenzüberschreitung
1. Einführung
-Ziel ist es die idealtypisch vier Dynamiken der Biopolitik im Spannungsfeld der Abgrenzung zwischen
Krankheit und Gesundheit sowie Therapier und Enhancement zu unterscheiden, um die
Differenziertheit und Vielschichtigkeit sichtbar zu machen
-Biopolitik: umfasst die Diskussion über ein breites Spektrum von Entwicklungen, welche die
Etablierung gesellschaftlicher Erfahrungs- und Vorstellungshorizonte von Gesundheit und Krankheit
sowie von Natürlichkeit des menschlichen Körpers zu sprengen droht
-vieles davon ist bisher nur Spekulation, nicht wenige können jedoch in absehbarer Zeit realisiert
werden
2. Jenseits von Gesundheit und Krankheit
-Alltagsweltliche Wahrnehmung von Krankheit als Abweichung von einem natürlichen normalen
Zustand des menschlichen Körpers löst sich auf
-Krankheit: bedeutet die suboptimale Entfaltung und Ausnutzung eines prinzipiell steigerbaren
Potenzials über das der menschliche Körper verfügt, oder welches man ihm einpflanzen kann
Lebensweltliche Handlungsweisen und der menschliche Körper werden zum Objekt wissenschaftlichtechnischer Intervention
-Ursachen für die Folge neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse:
1. Die technisch-materiale und diskursive Erosion der Abgrenzung von Natur versus
Kultur/Gesellschaft, Krankheit versus Gesundheit
2. einer Reihe sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Faktoren und Kontexte, welche die
Nutzung und Weiterentwicklung technischer Möglichkeiten beeinflussen und in eine
bestimmte Richtung lenken
-Entgrenzungstendenzen werden dadurch verstärkt, dass es für Menschen normal ist, das eigene
Wohlergehen, Aussehen sowie die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit mit medizinischen
Mitteln zu verbessern, auch wenn keine medizinische Diagnose vorliegt
-Diese Medizin wird Lifestyle Medizin oder wunscherfüllende Medizin genannt, durch diese die
Differenz zwischen Heilung und Verbesserung verschwimmt
-beim Spannungsverhältnis zwischen Heilung(Therapie) und Verbesserung(Enhancement) geht es in
erster Linie um eine Differenz zwischen kulturellen Erwartungshorizonten und
Handlungsorientierungen
-die Unterscheidung wird undeutig und problematische dadurch, dass infolge teils bereits
verfügbare, teils anvisierte Möglichkeiten der Biomedizin, der Handlungshorizont der Heilung und
Wiederherstellung sukzessive durch denjenigen der Verbesserung und Optimierung der
menschlichen Natur überlagert wird
-soziologische Analyse protestiert von einem neuristischen Modell biopolitischer
Entgrenzungsdynamiken, das es erlaubt die unterschiedlichen Prozesse und Phänomene idealtypisch
zu ordnen und auf ihre jeweilige Implikationen zu befragen
3. Vier Dynamiken der biopolitischen Entgrenzung
-Grenzüberschreitung bedeutet gleichzeitig Entgrenzung= Erosion und Auflösung der Grenzziehung
1.Ausweistung medizinischer Diagnostik:
-umfasst eine gesellschaftliche Dynamik, in deren Verlauf körperliche, psychische und oder
mentale Phänomene, die zuvor nicht in medizinischen Termini wahrgenommen wurden und
wird durch Begriffe wie Krankheit, Störung und Pathologie gedeutet
-führt nicht zu neuen stabilen Krankheitsdefinitionen, sondern vielmehr verschwimmt die
Unterscheidung von Gesund und Krank
-Individuen müssen deshalb die Befindlichkeiten selbst interpretieren und definieren und
werden dabei angeregt von Außeneinflüssen wie Medien usw.
2.Entgrenzung von Therapie:
-umfasst allgemein den sich sukzessiven ausweitenden Einsatz medizinischer
Behandlungstechniken über professionell definierte und begrenzte Krankheitsdiagnosen
-die Nutzung medizinischer Technologie löst sich mehr und mehr von Krankheitsdefinitionen
ab, ohne den Bezug zu verlieren
-an die Heilung oder Wiederherstellung tritt damit die Verbesserung des gesunden
menschlichen Körpers bzw. bestimmter psychischer oder mentaler Funktionen
3.Entzeitlichung von Krankheit:
-umfasst die zunehmende Ablösung des Krankheitsbegriffs von zeitliche manifesten
Beschwerden sowie seine Vorverlagerung auf bestimmte Indizien und Risikofaktoren
-die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit wird neu definiert, pluralisiert, verschoben
aber auch die Möglichkeiten der Biomedizin könnten das präventive Risikomanagement
eines Tages sogar in Bemühungen um eine krankheitsvermeidende Optimierung des Körpers
übergehen lassen
4.Perfektionierung und Transformation der menschlichen Natur
-umfasst idealtypisch, die direkte Verbesserung des menschlichen Körpers, seiner Funktionen
und Leistungen über das natürliche Maß hinaus
-lässt sich gegenwärtig überwiegend auf der Ebene von Strategien und
Forschungsprogrammen sowie in Diskursen beobachten und wird dabei häufig rhetorisch
überdeckt oder bleibt unausgesprochen
5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Dynamiken
-alle Vier weisen eine Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit und oder Therapie und
Enhancement auf, wodurch neue Handlungsspielräume für Individuen und professionelle Akteure
eröffnet werden
-alle Vier unterscheiden sich in der jeweiligen gesellschaftlichen Rolle, Legitimation und Konstellation
der verschiedenen Akteure
6. Biologisierung des Sozialen oder neue Biosozialität?
-die Entgrenzungsprozesse könnten zu einer irreversiblen Veränderung und Überschreitung der
menschlichen Natur führen
-moderne Gesellschaften dürfen es zukünftig mit Formen der Gleichzeitigkeit , des „Sowohl als auch“
zu tun haben: sowohl mit neuartigen Dynamiken einer naturbasierten sozialen Diskriminierung und
neue Formen von körperbasierter Macht und Distinktion als auch mit neuen sozialen
Zusammenschlüssen und kollektiven Praktiken, die wiederum erweiterte Handlungsmöglichkeiten
auch gegenüber einflussreichen Makroakteuren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik eröffnen
können
-Natur wird als gesellschaftlich Gestaltetes und Gestaltbares zu begreifen sein ohne jedoch den
modernistischen Phantasma eingrenzloser Formbarkeit und Perfektionierung der menschlichen
Natur aufzusetzen
7.Fazit: der Umgang mit biopolitischen Entgrenzungstendenzen würde einerseits die Notwendigkeit
von gesellschaftlich zuziehenden Grenzen des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die Natur des
Menschen anerkennen, ohne andererseits natürliche Gegebenheiten als prinzipiell unverfügbar zu
tabuisieren, zu ontologisieren oder zu sakralisieren.
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