Band 136, 1997, Titel: Ästhetik des Reisens, S. 59 Paolo Bianchi Sehn-Sucht-Trips: Versuch über das Reisen und Ruhen Als Reisende im Prä-Millennium TRICKY: Pre-Millennium Tension, 1996, CD, Island Records. Blue Source Sleeve Photography by Stephane Sednaoui. Courtesy Polygram Switzerland, Zürich RAOUL HAUSMANN (1886 - 1971), Tatlin Zuhause, 1920, Fotomontage und Gouache, 45 x 30 cm IARA LEE: Synthetik Pleasures, 1965, Dolby-Stereo, 35 mm, 83 Minuten, Courtesy Columbus Film, Zürich NAZCA-KULTUR (200 v. bis 700 n. Chr.) Anthropomorphes Gefäß, um 300 n. Chr., gebrannter Ton, Höhe: 74,5 cm, Durchmesser: 37 cm. Foto: Carl Troll, Geo-Ecology of the Mountainous Regions of the Tropical Americas (1968). Courtesy Museum Rietberg, Zürich. Aus dem Katalog zur Ausstellung "Sicán - Ein Fürstengrab in Alt Peru", bis 9. März 1997 Das Prinzip Sehnsucht ist das A und O des Reisens. Die Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden ist die Triebfeder. Die Sehnsucht nach Entgrenzung macht aus Reisenden Flüchtende und Suchende. Die Sehnsucht nach e-motionaler Erfahrung 1 (motion/emotion) ist groß: Einerseits ist die Tourismusindustrie der größte Wirtschaftszweig der Welt, andererseits gehört das Drogenproblem zu einer der Hauptsorgen westlicher Gesellschaften. Das Sehnen entfaltet sich als emotionale Bewegung auf etwas Unbestimmtes und Unfaßbares hin. Die Sucht ist, ganz im Gegensatz dazu, ein Verlangen nach etwas Bestimmtem. Das Sehnen paart sich mit der Neugierde und die Sucht mit der Angst. Das Wort Sehn-Sucht sagt bereits, daß Sehnen zur Sucht wird. Sowohl künstliche (Ferien-)Paradiese als auch Drogen, beides lähmt den Menschen in seiner Sehnsucht, so der Schweizer Psychologie Matthias Vogt. Die "Reisewut" vieler Menschen hat Suchtcharakter. Vogts Analyse kommt zum Schluß: Es ist ein Phänomen unserer Zeit, daß "viele Menschen Sehnsüchte gar nicht aufkommen lassen, sondern auf sofortige Bedürfnisbefriedigung und Spannungsabfuhr fixiert sind. Unser heutiges Leben ist wahrscheinlich der Sucht näher als dem Sehnen". Die Formulierung einer Philosophie, Psychologie oder Anatomie der Ruhelosigkeit bleibt unter solchen Umständen ein schwieriges Unterfangen. Und wenn dem so ist, so ist authentisches Reisen vor allem in einer unauflöslichen Mischung und Hybridität zu suchen. Wo, wenn nicht in diesem Dazwischen, ist die Intensität des Reisens und Ruhens zu finden? Der amerikanische Kult-Autor Hakim Bey spricht in diesem Heft von Zwillingsgespenstern und meint damit den Touristen und den Terroristen, die beide unter demselben Hunger nach dem Authentischen leiden. "Doch jedesmal, wenn sie sich dem Authentischen nähern, weicht es vor ihnen zurück. Fotoapparate und Maschinenpistolen stehen jenem Moment der Liebe im Weg, nach dem sich alle Terroristen und Touristen insgeheim sehnen. Zu ihrem unbewußten Kummer können sie nur eins: vernichten. Der Tourist vernichtet Bedeutung, und der Terrorist vernichtet den Touristen." Vielleicht ist der Begriff der Sehnsucht noch das Präziseste, was sich zur Authentizität, zur Liebe und zum Reisen sagen läßt. Sehnsucht richtet sich auf etwas, was sich entzieht, sie ist die heftigste Form der Reise. I. Reisen - Utopie globaler Solidaritätserfahrung Die Bilder des Reisens konstruieren sich durch Sehn-Sucht. Sie ereignen sich in körperlichen, geistigen, sozialen und virtuellen Realitäten. Das geschieht in einem visuellen Raum, mit dem Auge als dem ausgeprägtesten Sinnesorgan der Reiseerfahrung, gefolgt vom Hören, Riechen und Tasten. Viele visuelle Künstler und Musiker bauen ihre Ästhetik gerne auf Exotik oder Fremdeinflüssen auf. Während sich die einen unterschiedliche Einflüsse auf ihre engen Bedürfnisse zurechtschneiden, lassen sich andere davon berauschen und tragen. Die Literatur bringt Welterfahrung durch Sprache zum Ausdruck, durch das Ertönen des Wortes. Kulturtourismus - Kult-Urtourismus? Fungieren Reisende als Kultgemeinschaft? 2 Marcel Duchamp verweigerte sich als Tourist, indem er es vom Auftreffen einer Münze, Kopf oder Zahl, abhängig machte, ob er sich am Abend nach New York, seiner zweiten "Heimat", einschiffte oder in Paris blieb. Der Prototyp des Sehn-Süchtigen ist der Künstler. Der Zürcher Psychoanalytiker und Kunstethnologe Mario Erdheim meint, daß das Sehnen des Künstlers die Bewegung auf ein noch unbekanntes, zu findendes oder zu erschaffendes Objekt hin markiere, während demgegenüber die Sucht des Künstlers dem Wiederholungszwang gehorcht: "Der Künstler begnügt sich nicht mit dem bereits Erkannten", sagt Erdheim, "er verläßt den gegebenen Rahmen und erkundet das Neue, oder er sprengt den Rahmen selbst und stellt die Objekte in neue Zusammenhänge." Auf der anderen Seite gehorcht "die Sucht des Künstlers dem Wiederholungszwang, stellt sich in den Dienst der Angstabwehr und reproduziert das erfolgreich Bekannte. Davon kommt er nun nicht mehr los. Der Erfolg macht süchtig und zwingt zur Wahrung der Tradition." Erdheim stellt die These auf, "daß Sucht und Sehnen in jeder Kunst aufweisbar sind, und je nachdem, ob die Gesellschaft den Kulturwandel (die Geschichte) bejaht oder verneint, wird die eine oder die andere Tendenz die in der Kunst vorherrschende sein." Wem außer dem Künstler kann heute ein Bedürfnis nach Freiheit und Abweichung attestiert werden, nach Grenzüberschreitung, Abschütteln von Konventionen, gesellschaftlicher Enge und alltäglicher Routine? Seine Suche nach neuen Reizen steht für Unruhe, für den Aufbruch zu immer wieder neuen Horizonten, was neue Lust am Leben verleiht. Der Künstler bietet sich mit seiner komplexen Mischung aus Lust an der Welt, aus Flucht vor der Gesellschaft und sich selbst als Idealbild eines Sehnsüchtigen an. Das Unterwegssein des Künstlers wird zum Gleichnis des Menschen, sein Leben eine Reise: homo viator. Wenn Künstler (oder Kulturen) ihre Lebendigkeit behalten wollen, müssen sie Grenzen überschreiten. Der Ort des Künstlers ist heute mobil, so wie der Künstler selbst mobil geworden ist. Es gibt den stationären Künstler nicht mehr, auch sein Atelier ist imprägniert mit einer gewissen Flüchtigkeit und daher diffus und transitorisch geworden. Der Künstler als künstliches Produkt hat ausgedient. Heute ist er unterwegs als Exilant oder unter uns als Asylant, vielleicht auch bloß als Tourist. Er ist jedenfalls on the road, überall fremd und überall daheim. Der Künstler befindet sich als Passagier im Dazwischen, er ist betwixt und between Orten, Gemeinschaften und Bindungen. Dieses Dasein im Dazwischen basiert auf einer eigenen Ursache, Logik und Wirkung. Das Unterwegssein ist ein Phänomen: Es kann den reisenden Künstler sprachlos werden lassen, ihn beruhigen, süchtig machen oder neue Sehnsüchte erzeugen. Das Selbst des mobilen Künstlers ist die Kehrseite eines sozialen Selbst, also einer Identität, nach der man sich selbst bestimmt sowie von anderen (an-)erkannt und definiert wird. Wer in den USA vor einem Bankschalter steht, kommt ohne Fahrausweis oder Kreditkarte nicht zu seinem Cash. Ein Klischee der Literatur ist es, das "Ein-anderer-Werden" durch eine Reise zu beschwören. Ob Identitäten flüchtig oder dauerhaft, weitläufig oder intim, weltbürgerlich oder provinziell, nachgiebig oder starr sind, eine stabile Strukturbesitzen sie nicht. "Der Katalog verfügbarer Identitätsbildungen vergrößert, verkleinert, wandelt, verzweigt und entwickelt sich mit der immer dichteren ökonomischen und politischen Vernetzung der Welt", schreibt 3 der Ethnologe Clifford Geertz. "Er wird mit dem Ziehen neuer und der Aufhebung alter Grenzen wieder an Komplexität gewinnen, um so mehr, als sich Menschen auf unvorhersehbare, nur teilweise kontrollierbare Weise und in immer größerer Zahl in Bewegung setzen." Richtiges Unterwegssein sollte sich von der Identitäts-Maske befreien, und so ideologische Konstruktionen und metaphysische Illusionen hinterfragen und zu Selbstbefragung führen. Masken sind starr, so gilt er der Versteinerung zu entgehen und zum Wechsel bereit zu sein - bis hin zur Auflösung. Ist die Wahrheit hinten der Maske versteckt? Es geht einerseits darum, daß der beobachtende Reisende auf die Wilden stößt und dabei erkennt: Je näher das Fremde rückt, desto fremder wird das Eigene. Andererseits gilt aber auch: Je mehr de Mensch um seine Innenwelt weiß, desto eher kann er das Fremde als das wahrnehmen, was es ist, nämlich etwas durch und durch außerhalb seines Selbst Befindliches. Oder ausgedrückt mit den von Bruce Chatwin überlieferten Worten von Buddha: "Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht der Pfad selbst geworden bist." Reisen bildet. Man reist weniger zu seinem Vergnügen, sondern, so Albert Camus, "um der Bildung willen". Camus versteht unter Bildung "die Bestätigung des geheimsten unserer Sinne, nämlich des Sinns für das Ewige". Mit Nietzsche ließe sich anfügen: "Jede (Reise-)Lust will Ewigkeit." Ewig schon streifen die Menschen wie wandernde Tiere herum. Mobilität ist die erste conditio humana, seßhaft wurden wir viel später. Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Ortswechsel, der großen Wanderungen und der Seßhaftigkeit. Wo Heim und Heimat geschaffen werden, gibt es auch Heimatlosigkeit. Heimweh als Sehnsucht nach der fernen Heimat entsteht in der Fremde. Am Ende aller Entfremdungen, wie der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) in seinem Hauptwerk "Prinzip Hoffnung" notiert, kann so etwas "in der Welt entstehen, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat". Als Kinder grenzenloser Kommunikationskulturen sind wir heute überall und nirgends zu Hause. Wir sind Menschen, die im Weltdorf herumschlendern wie Spaziergänger in Suburbia. Wir sind Reisende im Spannungsfeld des Prä-Millenniums - ohne Herkunft, ohne Absichten, ohne Ziel, ohne Haß, ohne Liebe, ohne Gott. Ein Umgetriebensein, ein orientierungsloses Umherirren in der Welt begleitet die Menschheit von Anfang an. So wie der Erdkern nicht wie ein Diamant fest im Zentrum ruht, sondern fließt wie Honig, ist der Mensch in ständiger Bewegung. Der Mensch, schreibt Heidegger, wird "in die Welt geworfen". Anzufügen ist, daß man als Kind "auf die ganze Welt" kommt. In den Wehen äußert sich das Sehnen nach einem Leben unter freiem Himmel statt in der Höhle. Mehr noch: Durch die Geburt fußt man, wie es in buddhistischen Lehren heißt, "auf der uns innewohnenden 'großen Mutter Erde', der Buddhaschaft". Mit dem ersten Schrei ist man sowohl Unbehauster Weltbürger als auch geborgen in der Intimität der Familie: geboren zu werden von einem Mutterland in ein Vaterland und so in ein Land unter anderen Ländern ist ein transnationaler Lebenszustand. Eine neue Synthese ist nicht in Sicht - eher Brüche, Knoten und Spannungen. Zur Jahrtausendwende erzeugt gerade Mobilität ein ganz eigenes Gefühl der Gemeinschaft kultureller Zivilisationen. Als Polyglotter mit Wurzeln am ideellen 4 Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturkreuzwege, als Weltbetourertaucht der Mensch des nächsten Millenniums in ein Esperanto der Sehnsüchte ein - und aus. Reisen als letzte Utopie globaler Solidaritätserfahrung? In Kalifornien hat sich ein Verein dem Motto "Weltfrieden durch Weltreisen" verschrieben, berichtet der englische Reisejournalist Simon Winchester, der einem Member mitten im Atlantik an der Reling eines Schiffs begegnete, als dieser heftig weinte. Der Kapitän hatte den Seegang für zu schwer befunden, um den Fahrgast, der nur noch drei "unerledigte" Orte auf der Welt abhaken mußte, auf der Insel Ascension an Land gehen zu lassen. Der Zweck des Vereins ist es, daß seine Mitglieder jedes Land der Erde besuchen und in einem Büchlein abstempeln lassen. Im Büchlein sind über 300 "Staaten" aufgelistet, neben klaren Fällen wie Frankreich, Brasilien, Sri Lanka oder Kenia finden sich darunter die Insel Midway, Schottland und Miquelon. "Der Mann aus Ohio", notiert Winchester nach einem Gespräch und einem Drink unter Deck, "glaubte, je mehr Menschen die Welt bereisten, um einander zu sehen und kennenzulernen, je mehr sie sich verstünden und einander tolerierten, je mehr Fremdsprachen sie lernten und fremde Sitten kennenlernten und je mehr Vergnügen sie an solcher Verschiedenheit fänden, um so friedlicher und zufriedener könnte die Welt sein." Über diese seltsame und so sentimentale Ansicht läßt sich streiten. Winchester mußte sich jedoch eingestehen, daß der Weltreisende in Sachen Weltfrieden im Grunde recht hat: "Ich bin zu dieser Erkenntnis gelangt, als ich mir die einfache Frage stellte: Was verlangt eine Tyrannei von ihrem Volk, außer daß es sich ihr zu Hause unterwerfe? Antwort: Sie verbietet alle Auslandreisen, damit man mit niemandem sprechen kann, der unter weniger eingeengten Bedingungen leben muß. - Die Chinesen verboten das Reisen 500 Jahre hindurch. Selbst ein Boot zu besitzen galt als Verbrechen, das mit dem Tod durch Erwürgen oder das Messer geahndet wurde." Sehnsucht wird häufig als "Fernweh der Seele" bezeichnet. Sehnsucht steht für ein Ziehen oder Gezogenwerden in eine - bestimmte und/oder unbestimmte - Ferne. Sehnsucht überfällt uns als kleine Unruhe mitten im Alltag. Der Philosoph Wilhelm Dilthey (18331911), dem die Selbstbesinnung wichtig war, hat von der "dunklen Sehnsucht nach Erweiterung unseres Daseins in uns" gesprochen. Damit hat er Menschen wie sich selbst gemeint, "die wie auf einer Wanderung begriffen sind und in keinem Gemüth eine Heimat haben". Das Sehnen weist auf eine zwar unbestimmte und unfaßbare Bewegung hin, die aber erahnt werden kann. Der Philosoph Bloch schreibt in seinem Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" vom Sehnen, dem "einzigen bei allen Menschen ehrlichen Zustand". Das Sehnen sei, ähnlich wie der Drang, vage und allgemein, "doch es ist deutlich wenigstens nach außen gerichtet. Es wühlt nicht wie das Drängen, sondern schweift, das freilich gleichfalls ruhelos schlechthin, süchtig. Und verbohrt es sich dabei in sich, so bleibt das Sehnen bloße allgemeine Sucht. Als blind und leer schweifende kann diese sich gar nicht dorthin begeben, wo sie gestillt würde". 5 Wenn die rückwärtsgewandte Sehnsucht sich etwa als Nostalgie äußere, dann gehöre zur vorwärtsgewandten Sehnsucht die Utopie. Der Zürcher Psychologe Matthias Vogt stellt fest, daß die Sehnsucht sich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft richte, also gleichzeitig Retro(spektion) und Vision enthält. Das regressive und progressive Moment der Sehnsucht stehe in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Kein Widerspruch, denn beides sind Formen der "Ferne". Sehnsucht, so Vogt, sei darüber hinaus eine ausschließlich menschliche Empfindung - im Gegensatz zum Trieb oder Bedürfnis, welche auch Tieren eigen sind. "Sehnsucht treibt uns zurück oder vorwärts in einen Zustand der Grenzenlosigkeit." Wenn die Grenzen lose sind, kann das auch bedeuten, daß Fernweh und Unruhe keineswegs nur fürs Unterwegssein stehen, sondern ebenfalls für die Suche nach einem Zustand von Harmonie und Einklang mit der Natur, von Geborgenheit, Ruhe und Glück als Reaktion auf die Entwurzelung und Entfremdung der eigenen denaturierten Zivilisation. Wer etwa als Kind von italienischen Migranten in einem Gastland aufwächst, kennt die Idee des Ritorno, der Rückkehr, als diffuse Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit. Gleichzeitig stellt der Rückkehrwunsch eine bessere Zukunft in der Heimat in Aussicht. Um das zu erreichen, muß möglichst viel Geld verdient werden, was zu Raffgier und teilweise süchtigem Arbeitsverhalten führt. So kann Sehnsucht in Sucht umschlagen. Für die Jugendlichen der zweiten Generation, die zwischen zwei Kulturen stehen und sich beiderorts beheimatet oder weder hier noch dort richtig zu Hause fühlen, ist der Rückkehrwunsch der Eltern nicht mehr nachvollziehbar. "Sie wollen jetzt leben", schreibt der Psychologe Vogt, "nicht erst in einer fernen Zukunft." Der Generationenkonflikt ist hier zugleich ein Kulturkonflikt. Wer kann sich schon dem eigenartigen Phänomen entziehen, immer dort sein zu wollen, wo man sich gerade nicht befindet? Spiegelt sich im Reisen eine existentielle Ausweglosigkeit, die betrübt und schmerzt? Die Nix-wie-weg-lndustrie behebt Defizite und Bedürfnisse wie Sehnsucht, Fernweh und ungestillten Lebenshunger im Nu, günstig und beliebig - Paradiese sind im Dutzend billiger. Reiseziele ersetzen fehlende Lebensziele. Auf und davon? Wenn ein Gebiet in der Ostschweiz nach der berühmten Kinderbuchheldin Heidiland getauft wird, dann profitiert man vom Retro-Trend zurück zu Natur, Ethno und Folklore, von der nostalgischen Sehnsucht nach Echtheit und Pseudo-Authentizität. Wenn "Ferien auf dem Mond" tatsächlich zur unwiderstehlichen Attraktion werden, sind wir nicht nur dem Lustwandeln im Unendlichen einen Schritt nähergerückt, sondern auch dem freien Fall nach oben. Die virtuelle Realität verspricht "synthetic pleasures", ohne daß jemand nach Ägypten zu den Pyramiden reisen muß, denn künstliche Welten sind viel schöner als die wirklichen. Die Wirklichkeit löst sich im Medienzeitalter auf und hinterläßt aufs äußerste irritierte Geister. Die schönere vorgespielte Wirklichkeit bietet ebenfalls die Glotze: Den DDRMenschen hat das Bild, das sie vom Fernsehen über die Wirklichkeit im Westen vermittelt bekamen, schließlich besser gefallen als die Wirklichkeit, in die sie gelockt wurden. Selbst exotischen Ländern haftet immer etwas Scheinhaftes an. Vor ihre Wirklichkeit schieben sich Sehnsüchte, Wünsche und Illusionen, die unsere 6 Vorstellung von der "Trauminsel" bald einmal gebrochen, haltlos und fragwürdig erscheinen lassen. Der Tourismus paktiert mit dem jüdisch-christlichen Vergewaltigungsgebot des "Macht Euch die Erde untertan". So erscheint die Reiseindustrie als geistige Kolonisation, als spekulative Land- und Besitznahme, die mit den Feldzügen eines Alexander oder der Expansion des Römischen Reichs augenfällige Parallelen besitzt. Wer einmalige Naturparadiese wie etwa die Galapagus-Inseln wirklich schützen will, muß als Tourist hinreisen, behaupten nicht nur die Tourismusmanager, sondern auch die Naturschützer vor Ort. Ist das wirklich so? Tourismus, das Allheilmittel? Ware es, im Gegenteil, nicht angebrachter, daheim zu bleiben? Wer nicht reist, spart Geld, zertrampelt keine fremde Erde und verwüstet keine fremden Kulturen. Der Körper reist heute (auch ohne Körper) auf einem weiten Feld - zwischen den Bytes im Cyberspace, den Bildern am Bildschirm und dem realen Brüllen des afrikanischen Löwen. Nichtsdestotrotz verflacht das Reisen mehr und mehr zum Pseudoabenteuer. Die Überraschungslosigkeit des Reisens nimmt zu. Würstel und Kraut gibt's an der Adria wie in der australischen Wüste. Löwenbrau trinkt man auf Elba wie im Flugzeug der Air New Zealand. Die Welt scheint nicht nur zum globalen Dorf, sondern auf die Größe eines Hirns geschrumpft zu sein. Okay: "Die Welt ist klein." Das gilt aber nur für Touristen und ist überdies eine reaktionäre Äußerung. Der New Yorker Hip-Hop-Musiker Chuck D, vielreisender in Zeichen der Rap-Kultur, hat hingegen eine visionäre Sicht der Dinge: "When People say it's a small world, it ain't no small world. It's a big motherfucker. It's a big world, man." Neue Kontinente gibt es keine mehr zu entdecken, und alle Berge sind entjungfert. "Es gibt keinen Neuschnee", hat Kurt Tucholsky einst in einer ziemlich warmen Stube geschrieben: Wandere in die entlegensten Täler, erklimme die höchsten Gipfel - du wirst immer Spuren im Schnee finden, denn es ist immer einer schon dagewesen. Destinationen sind zur Schemareise degradiert. Wohin der Neckermann-Tourist auch reist, nie kommt er in einem anderen Land an. Auf den Malediven gibt es, das ist wahrscheinlich ziemlich einmalig in der Welt, eine strikte Trennung zwischen Touristeninseln und Einheimischeninseln, wo Touristen nicht einmal übernachten dürfen. Ein Vorteil für beide Seiten, meint Tourismusminister Ibrahim Hussain Zaki: "Die negativen Auswirkungen des Tourismus auf unser Volk halten sich in Grenzen, die Touristen andererseits haben ihre Privatsphäre." Was den schwarzen Amerikanern ein Dorn im Auge war, hier die Schwarzen, dort die Weißen, getrennte Badezimmer, getrennte Theken, ist dem Tourismus ein Heilmittel. Ob magischer Ort oder schlimmstes Rattenloch, Jetset oder Last-minute, wo ist der Unterschied? Ist das Reisen nicht mehr symbolfähig? Wie Robinson sein und unerforschte Welten entdecken können heute nicht einmal mehr die Kinder, denn die sogenannten Robinson-Spielplätze gleichen sich wie ein Ei dem andern. Alles ist austauschbar in der Konsumgesellschaft. "Was man nicht kennt, lohnt sicher auch das Kennenlernen nicht, alles ist wie überall", sagt Günter Metken. Zugleich entpuppt er sich als Mahner gegen Kulturpessimismus: "Daß es nichts mehr zu entdecken 7 gebe, ist ein Gemeinplatz. Mit gleichem Recht ließe sich sagen, daß jeder wieder alles neu für sich erleben kann." Der Reisende wird mechanisch abgefertigt und begegnet überall unpersönlichen Dienstleistungen. Perfekte Ferien langweilen. Unvorhergesehenes bleibt hingegen lebendig in Erinnerung. Oft ist es viel spannender, lesend zu reisen, als sich der Reisebewegung selbst hinzugeben. Lesende sind Nomaden mit den Augen. Seit der Vatikan 1985 entschieden hat, daß der päpstliche Segen per Bildschirm nichts von seiner Wirkung verliert, entfällt jeder Grund, selbst nach Rom zu reisen. Der Mensch wäre wohl besser dran, wenn er Fußgänger geblieben wäre. Alles hat seine korrekte Umlaufbahn. Oder einen bestimmten Weg. Ein Zug bewegt sich auf Schienen. Entgleist er, passiert ein Unglück. Eine Rakete hat eine Flugbahn, auch wenn sie unsichtbar bleibt. Gleiches gilt für Fische, Winde und Sterne. Jedes Leben hat seinen eigenen Weg. Das Dasein folgt einer großen Lebensreise. Diese vereint bemerkenswerte Reiseleistungen auf der öffentlichen Bühne des Lebens wie auch schwierige Herausforderungen und Hindernisse hinter der Bühne. So gesehen ist die Reise häufig Symbol für den Lebensweg. Wohin führt die Lebensreise? Das Leben ist eine Irrfahrt zum Selbst. Wissen wir, wer wir sind? Auf unserem Lebensweg zu Wahrheit und Weisheit brechen wir eigentlich zu unserer Selbstentdeckung auf. Während das Ziel im Schatten bleibt, müssen wir unserem Schicksal - wie katastrophal es auch in~mer sei - einen Sinn verleihen, mit der Liebe, mit der Gelassenheit und durch die Entdeckung des eigenen Selbst. Wer ins Buddhaland vorstößt, gelangt zum absoluten Glück und zum wahren Selbst, aber nicht in ein Paradies oder in ein Land, das frei ist von menschlichem Leiden: Lebensreisen sind Leidensreisen. Der Geist und Glanz der Utopie mag erloschen sein, der Utopos, der Nirgendwo-Ort, hat als Mythos überlebt - dem Touristen stehen 1000 Welten zur Auswahl. Action und Thrill sind in: Klettern auf einem vereisten Wasserfall im Sellraingebirge, Rafting im ungezähmten Tschatkal-Fluß im Tien-Chan-Massiv Kirgisiens, Untertauchen in Tropfsteinhöhlen zwischen Maya-Ruinen und Kokospalmen in Mexiko, Uberleben im malaysischen Taman-Negara-Urwald, Husky-Rennen 1000 Kilometer über die Finnmarksvidda nach Alta, Biking in China oder auf zwei Rädern durch die Wüste, oder ein letzter Tip für die große Freiheit, gleich mit dem Survival-Koffer (inkl. Hängematte und Angelrute) für 15 Mark pro Tag das einsame Robinson-Gefühl auf einer unbewohnten Insel in Neuseeland reinziehen. Für Kulturfreunde sei der Ausflug zu einer bizarren Reliquie in ein kleines Museum in Südfrankreich empfohlen: die Hoden Napoleons, eingelegt in Alkohol! Das Verschwinden von Utopien kompensiert ein Nebeneinander von unterschiedlichsten temporären Reiseereignissen. "Heute sind die sogenannten Paradiese der Ferienanbieter total künstlich, wie alle touristischen Anlagen: utopisch", schreibt Aurel Schmidt in diesem Heft. Ob in der virtuellen Welt oder im Club der Biker, Trekker und Surfer: für Raum, Zeit und Körper ist ein reichhaltiger Prothesenmarkt entstanden. Dazu kommt, daß Reisetrips sich paradox entwickeln: Enträumlichung (ohne räumliche Distanz von Altona bis Alabama zum Ortstarif im Internet), Entkörperlichung (Verblassen der Grenzen zwischen Ich und die Welt) und Entzeitlichung (Verschiebung zeitlicher Dimensionen in eine Art virtuelle Ewigkeit) gehen Hand in Hand mit Verkörperlichung (Kaptisches Erlebnis), Verdinglichung (im 8 Sinne von haptischer Wirklichkeit), Verortung (Sehnsucht nach räumlicher Bindung) und Verzeitlichung (Nostalgie) - entgegengesetzte Bewegungen also, die sich sogar wechselseitig verstärken. Gleiches gilt für die wachsende Globalisierung, die einhergeht mit der Zunahme neuer Differenzierungen: Kosmopolitismus und Provinzgeist sind keine Gegensätze mehr - allen Nörglern zum Trotz, die infolge fortschreitender Vernetzung überall Uniformitäten einer Einheitskultur wittern. II. Ruhen - enge Räume für weite Träume Alles Unglück dieser Welt rührt einzig daher, daß der Mensch nicht ruhig in einem Zimmer bleiben kann, befand Blaise Pascal, Franzose des 17. Jahrhunderts, der die medizinische Spritze und die Rechenmaschine erfand und 1662 mit nur 39 Jahren starb. Stattreglos in seinem Zimmer zu liegen wie ein verpupptes Insekt, das auf den Anbruch einer neuen Jahreszeit wartet, ist der Mensch ein Tempomacher und Ruheloser: Seine Reise um die Welt in 80 Tagen führt jedoch in die Leere. Denn die Welt ist bis in den letzten Winkel bereist. Der wahre Garten Eden ist die Ode. Angesagt wäre eher, um einen Buchtitel von Julio Cortazar zu zitieren, eine "Reise um den Tag in 80 Welten". Pascals Welt war damals ein Durcheinandertal. Die Deutschen, wie Simon Winchester schreibt, prägten dafür späteren Begriff Wanderlust: "Frankreich dehnte sich nach allen Seiten aus, die Briten waren dabei, Kolonien in Afrika zu errichten, die Holländer eilten nach Ostindien, um dort Reichtümer zu entdecken, die Siedler führten Kriege mit den Eingeborenen in Amerika." Obwohl Pascal sich vom Sausen und Rasen der Leute angewidert fühlte, bekannte er sich später zum Satz: "Unsere Natur liegt in der Bewegung, die vollkommene Ruhe ist der Tod." Er stellte fest, daß das Reisen der Urtrieb des Menschen ist, ohne den er weder existieren kann noch wird. Was ist der moderne Mensch, wenn nicht die Folge von Mobilität, Migration und Multikultur, von Massenwanderung und Massentourismus? "Pilgrim's Progress" von Johan Bunyan, diese allegorische Darstellung des menschlichen Lebens als eine Wallfahrt, war nach 1678 in der christlichen Welt das hinter der Bibel am weitesten verbreitete und meistübersetzte Buch, was zeigt, wie genau es ein damals und noch während langer Zeit vorherrschendes Lebensgefühl ausdrückte. Was wäre, wenn jemand mit Pascals Diktum ernst machte und beschlösse, ganz einfach nicht mehr rauszugehen? Das Zuhausebleiben biete alle Chancen, das Glück auf Erden ökologisch vernünftig zu mehren, behauptet das Autorenteam Wolf Schneider und Christoph Fasel in ihrem polemischen Buch "Wie man die Welt rettet und sich dabei amüsiert" (1995). Das Leben aus erster Hand ruiniere die Erde, im Leben aus zweiter Hand liege die Rettung: "Die Zukunft gehört dem Stubenhocker: ihm, der keinen Autofriedhof und keine Giftmüllhalde produziert, kein Ozonloch, keinen Ölteppich und keine Algenpest." Die These besticht: Je mehr und länger die Leute daheim vor dem Fernsehen sitzen, desto weniger zerstören sie autofahrend, fliegend, lärmend und stinkend die Umwelt. Das Fernsehen ist nicht nur der beste Umweltschutz, es würde dem Arbeitslosenheer auch eine neue Heimat bieten. Der Staat muß umdenken und jenen eine Rente 9 aussetzen, die auf die Produktion von - ohnehin umweltbelastenden - Waren verzichten. Wohlstand ist nicht als Lohn für geleistete Arbeit zu betrachten, sondern als Prämie fürs Zuhausebleiben. Das Motto "Bleibt mehr zu Hause, seht mehr fern! " ist zwar zynisch, aber doch ernst und nicht als schlechter Witz gemeint. Cocooning, das Einspinnen in den eigenen vier Wände nach dem Motto "My home is my castle", die Lebensform der Zukunft? In einem Rechenbeispiel gehen Schneider/Fasel von einer Million Touristen aus, die pro Jahr das Schauspiel eines Sonnenaufgangs an der Bucht von Rio de Janeiro genießen möchten. 10 Prozent davon sind Deutsche, die also 100 000 Flugreisen buchen, 60 000 Hotelzimmer belegen, in 30 000 Taxis steigen und insgesamt rund 400 Millionen Mark verpulvern. Warum nicht lediglich ein fünfköpfiges Fernsehteam hinfliegen und den Sonnenaufgang filmen lassen? Die Ersparnis ist unglaublich: Fluglärm, Flugbenzin, Hotelsilos, Autoabgase, Unfälle, Diebe, Durchfall, Knoblauch und Achselschweiß. Fernsehen ist nicht nur schöner als die Wirklichkeit, das TV-Team hat auch Zeit und Geld genug, einen malerischeren Sonnenaufgang zu zeigen, als die Reisenden je erleben können. "Touristen legen nämlich nicht den geringsten Wert auf fremde Speisen, Gerüche und Geräusche; nur ihr Auge liebt des Ungewohnte. Wie wäre sonst der Erfolg amerikanischer Hotelketten zu erklären, die die Ohren, die Nasen und die Zungen in aller Welt vor dem Fremdartigen bewahren? Fernsehen schmeckt nicht und riecht nicht, und selbst die exotischen Laute werden unserem Ohr erspart mit Hilfe der Synchronisation - Augenlust ohne Erdenrest." Eine ganze TV- und Video-Generation lebt heute quasi aus zweiter Hand. ComicHelden für Kinder, Regenbogenromanzen für Frauen, Sexvideos für Männer und vieles andere mehr bietet sich zur Identifikation an. Oft werden einem künstliche Paradiese vorgegaukelt, die an ihrem Glücksversprechen kläglich scheitern. Der verheißungsvolle Slogan "Don't work, be happy" an Technopartys macht aus dem Rave wie jede Rauschdroge eine Fluchtburg und steht für ein Streben nach Lust und Glück. Wenn auch die Kulturindustrie die Ausbeutung jugendlicher Glückssehnsüchte an großen Raves fleißig vorantreibt, sind kleine, illegale Partys - im Gegensatz zu Discos, wo Zwänge, Hierarchien und Kontrolle wie in der Außenwelt vorherrschen Freiräume, an denen eigene Grenzen experimentierend erprobt und überschritten werden: Orte für authentische Lebenserfahrung. Sekundäre Lebenserfahrung durch künstliche Paradiese sind Zuflucht und Fluchtversuch in einem. Das Leiden primärer Lebenserfahrung wird ausgeblendet. Fertige Lebensmuster verhindern es, eigene Erfahrungen zu machen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Als Walt Whitman 1867 während eines astrologischen Vortrags plötzlicher Ekel befällt, verläßt er den Hörsaal, läuft ins Freie und betrachtet wortlos den Himmel - um die Sterne über sich zu sehen, anstatt Wörter über sie zu hören. Nur wer das eigene Leben anpackt, gelangt zu Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Selbstvertrauen. Sehn-süchtig Dauerberieselung durch TV oder Musik macht realitätsblind, unkritisch und selbstvergessen. "Ohne Musik kann ich nicht einschlafen." "Ich brauche Sound, um mich wohlzuführen." "Ohne Musik, die bei mir immer läuft, wirkt mein Zimmer beängstigend leer." Dies sind Statements von 10 Teenagern, die dem Musikkonsum einen rauschdrogenähnlichen Zustand zuschreiben. "Künstliche Paradiese", resümiert Matthias Vogt, "betrugen uns letztlich um unsere Sehnsüchte. Sie versprechen schnelles Glück, zementieren aber den Status quo und sind veränderungshemmend." Mit der cocoonten Einbunkerung zwischen Sofa, Cyberspace, Multimedia und Telearbeit wird einmal mehr der Mythos vom Paradies beschworen, der im gleichen Bild des eingezäunten Gartens Glückseligkeit verspricht. Blumengiesen im Netz kann man im "Tele-Garden" (http://www.usc.edu/dept/garden/). Dem Kölner Galeristen Joachim Blüher ist der Faxhinweis auf "Kurzer Weg" von Ernst Bloch zu verdanken. Bloch spricht davon, das Draußen einmal draußen zu lassen, und von Wegen drinnen, auf denen man auch reisen kann. Was einem in den Weg komme, könne entweder scharf umgangen oder weggeräumt werden. Was meint er mit dem "Kurzen Weg? Originalton Bloch: "Ein Schritt weiter, und die Bahn ist meistens wieder offen, es wird gewandert. Das kann bereits im eigenen Zimmer gelernt werden, in ihm fing uns ja das erste Gehen, also Reisen an. Auch später ist das Auf und Ab im eigenen Zimmer sonderlich erfrischend. Der Wanderer kehrt bald um, gewiß, wegen der Wand, die sperrt und nicht zu umgehen ist, es fehlt so buchstäblich das Freie. Ebenso zeigen sich immer wieder die gleichen wiederholten Dinge, der Tisch, der Schrank, die Stühle und selbst das Fenster, das, auch wenn es noch so weit, jedenfalls die Wand brechend blicken läßt, bald gewohnte Aussicht gibt. Trotzdem ist Reisen in Zimmern sonderlich entspannend, und das nicht nur, weil es eine Art von bewegtem Sichstrecken ist. Sein Auf und Ab ist auch ein Abschreiten, und treulich rufen die Dinge ihr Hier, an denen man häuslich vorüberkommt. Auch wirkt die schmale Fläche, indem sie behaglich betrachtet, geachtet wird, gar nicht mehr eng. Ja dies kleine Draußen führt sogar weit in sich fort." Wie sich ein Trip durchs eigene Zimmer zu einem Loblied auf die Faulheit verdichtet, ist im Buch "Mitte" (1994) des in Berlin lebenden Schriftstellers Thorsten Becker nachzulesen. Kernstück seiner assoziativen Schreibdurchgänge bildet Beckers Übersetzung von Xavier de Maistres "Reise durch mein Zimmer" aus dem Jahre 1794, die Becker zur Nachahmung empfiehlt. Dieses Manifest des Antireisens transformiert Becker paradoxerweise in eine Philosophie der Unrast und Unbehaustheit: " 10 8-92 Köln: Auf der Zugfahrt von München nach Mainz fühlte ich mich seltsam leicht und frei", steht im Reisetagebuch. "Ich wußte überhaupt nicht, wo ich hingehörte, und dieses Gefühl war sehr angenehm." Xavier de Maistre reiste 42 Tage gänzlich ohne Gepäck, kostenlos und allein. "Das Vergnügen, das der Reisende in seinem Zimmer erfährt, bleibt unberührt von der peinigenden Eifersucht der Menschen, es ist unabhängig von Glück und Vermögen.... Ich bin sicher, daß jeder vernünftige Mensch mein System übernehmen wird, gleich welcher Sorte sein Charakter, welcher Art sein Temperament auch sei, ob er geizig oder verschwenderisch, reich oder arm, jung oder alt, ob er der heißen Zone entstammt oder in der Nähe des Pols geboren; er kann reisen wie ich. Also in der unermeßlichen Menschenfamilie, wie sie auf dem Erdboden herumwimmelt, 11 befindet sich nicht ein einziger - nein, nicht ein einziger (wohlbemerkt: Ich spreche von denjenigen, die Zimmer bewohnen) -, der dieser neuen Art des Reisens, wie ich sie hier in die Welt einführe, seinen Beifall verweigern könnte." Maistre wünschte sich, daß alle Faulen sich in Massen erheben und ihm auf seiner Reise folgen, "wohin auch immer sie uns führen mag". Und: "Ich werde mich sogar im Zickzack bewegen." Dabei schreitet er "von Entdeckung zu Entdeckung". Sein Zimmer ist von Osten nach Westen gerichtet und bildet ein längliches Rechteck von sechsunddreißig Schritten Umfang. Ein Sessel, ein Bett und ein Schreibtisch stehen drin, die Aussicht ist schön. Drucke und Gemälde dekorieren die Wände, etwa das Porträt Raffaels und das seiner Geliebten. Thorsten Beckers Buch des Reisens und Verweilens sei auch, so der Klappentext, ein Buch der Verselbstung und Entselbstigung. Und wenn Becker auf der letzten Seite seines Buchs notiert, daß er das Gelingen einer Sache anders versteht denn als Erfüllung von Wünschen, eröffnet sich hier den Lesern plötzlich das Leitmotiv des Autors, im Leben wie im Schreiben. Mit seinem Rückgriff auf die Vergangenheit, auf den Text von Maistre wie auch auf die eigenen Reiseerinnerungen, unterscheidet Becker den simplen Wunsch von der Sehnsucht. Es sind Sehnsüchte, die gewissermaßen hinter den Wünschen liegen. Es ist ein Sehnsuchtsbild, das aus engen Räumen weite Träume schafft. In der Abgeschiedenheit des eigenen Zimmers (eines Klosters oder auch Zugabteils) entwickelt sich das Reisen als Freiheit des Geistes, die sich über die Zwänge der Gesellschaft hinwegsetzt. Einer Gefahr muß man sich aber immer bewußt sein: Im engen Zimmer oder Tal sind oftmals auch die Herzen enger. Hier droht ein Autismus, ein sonderbares Benehmen, das von der Außenwelt psychosenhaft kaum Notiz nimmt und ganz und gar nach affektiven Bedürfnissen und inneren Zuständen lebt. Ein Zustand, der Bereistisch, de-real genannt wird, was soviel wie wirklichkeitsfremd meint. Dennoch: Reisen auf der Stelle sind Reisen an Intensität. Drogen sind Mittel, sich auf einen Trip zu begeben, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die Bewegung des Reisenden formt die Wahrnehmung seiner Welt und von sich selbst, unabhängig davon, ob er wochenlang unterwegs ist, zum Arbeitsplatz fährt oder auch nur das eigene Zimmer durchquert. Der Kaiser von China soll jeden Morgen sein Reich der Mitte besucht haben, indem er sich den vier Seiten seines Zimmers zuwandte. In Peking, der Mitte der Mitte, in der Verbotenen Stadt, kreuzen sich die Achsen des Reiches und die Himmelsrichtungen im Kaiserpalast. Der Wahrnehmungspsychologe James Gibson macht auf die Interaktion zwischen Bewegung und Wahrnehmung aufmerksam, wenn er schreibt: "Sich von Ort zu Ort zu bewegen wird als 'physisch' angesehen, während die Wahrnehmung 'geistig' sein soll. Doch diese Dichotomie ist irreführend. Fortbewegung wird von der visuellen Wahrnehmung geleitet. Sich fortbewegen hängt aber nicht nur von der Wahrnehmung ab, sondern auch die Wahrnehmung hängt von der Fortbewegung ab; das insofern, als für ein ausreichendes Kennenlernen der Umgebung ein bewegter Beobachtungshorizont nötig ist. Man muß also wahrnehmen, um sich fortzubewegen; zugleich muß man sich weiterbewegen, um alles genau wahrzunehmen." 12 Es ist derselbe Gibson, der von zwei Fixpunkten innerhalb eines in ständigem Fluß befindlichen visuellen Feldes spricht, die dem Reisenden als Orientierung dienen: der Punkt, auf den die Reise hinzielt und der immer größer wird, je näher der Reisende kommt, und der Fluchtpunkt, von dem man herkommt und von dem aus alles immer kleiner wird. Von diesen beiden Punkten aus entspinnt sich jene Hülle der Wahrnehmung, in der sich der Reisende während der Reise befindet - einem Kokon gleich, der bei Temposteigerung die Gestalt eines Tunnels annimmt. Das Reisen impliziert eine komplexere Wahrnehmung, denn es appelliert nicht nur an die Sinne, sondern an den Sinn, den die Reise der menschlichen Erfahrung gibt. So gesehen ähnelt das Reisen anderen intellektuellen oder spirituellen Erfahrungen. Wer ein gutes Buch liest, wird in eine Beziehung hineingezogen, das eigene Dasein scheint sich im Wortsinn zu erweitern. Das gleiche Gefühl kann eine Reise vermitteln, nämlich die Möglichkeit für das Selbst, sich zu einer unendlichen natürlichen oder übernatürlichen - Welt zu öffnen, das persönliche Dasein in innige Verbindung mit dem ganzen Universum zu bringen. III. Rastlos - selbstfremd die Welt erfahren Die Reise gibt es nicht. Jede Reise ist stets lediglich eine Reise unter anderen Reisen. So wie jede Kultur eine Kultur unter anderen Kulturen ist. Das reisende Selbst ist in verschiedene Räume und Zeiten, Identitäten und Gefühlszustände zerstreut. Erst das In-Bewegung-Sein schafft ein Bewußtsein für wahre Identität. Die Beziehung zu anderen gebiert ein eigenes Selbstverständnis und somit kulturellen Wandel. Reisen verändert das Selbst des Reisenden. Reisen steht heute für den Trip. Die Aura des Ortes ist hin, fragt sich nur, wohin. Jetzt gilt es, den Touristen selbst ins Anderswo zu befördern, denn hier ist er sowieso. Das Abenteuer spielt sich nicht mehr in der exotischen Fremde ab, sondern im eigenen Ego-Zentrum, ohne daß man dabei auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das Ich wird zum Kulminationspunkt des Reisens. Der "Kick" kommt von innen. Der exotische Ort verkommt zum stillen Abort. Das Ego verdrängt das Geo. Die Abenteuersucht wird weniger durch die Begegnung mit den letzten Kannibalen gestillt, als vielmehr mittels Adrenalinschüben und der Mobilisierung körpereigener Morphine befriedigt. Extremsportarten boomen. Adrenalin-Junkies fordern die Grenzen zwischen Angst und Lust immer wieder aufs neue heraus. Die durch immer stärkere Reize aktivierten Endorphine, diese hausgemachten Drogen, filtern Angst und Schmerz heraus und liefern das ersehnte Ekstasegefühl. Man will, das hat sehr wahrscheinlich schon Trendmama Faith Popcorn in den achtziger Jahren prophezeit, in einen anderen Lebenszustand entführt, aber zum Abendessen wieder ins traute Heim zurückgeholt werden. Auffallend ist ebenfalls, daß in den späten Neunzigern, so Trendbürokrat Matthias Horx, "sich die Anzeichen für eine neue Welle von Aussteigern mehren. Mit dem Aussteigertum der Alternativen hat dies wenig zu tun: Ausgestiegen wird meist professionell und mit Hilfe einer Menge Berufserfahrung". Job-, Home- und Fun-Sehnsüchte suchen ihre Erfüllung. Wer träumt nicht davon: "Den Fernseher verkaufen, den Toaster auf den Müll werfen, Flugticket holen und 13 weg, dorthin, wo die Sonne immer scheint, die Menschen freundlicher sind und das Essen schmackhafter ist." ("Tempo", Sommerheft 95). Die Titelgeschichte trug den Titel "Ferien für immer. Infos zum Auswandern und Glücklichsein". Ein Beispiel: "Kurt, 24, Sydney, Australien: Kurt kam aus dem österreichischen Burgenland hierhier. Er studiert jetzt Architektur. Sonst surft er mit einem Longboard, taucht gerne, lebt mit sechs Australiern in einem viktorianischen Holzhaus und cremt sich sehr häufig ein, wegen des Ozonlochs. Zu Weihnachten fährt Kurt zurück ins Burgenland, seine Mutter besuchen." Auswandern, schmackhaft gemacht? Zu Hause lebt's sich gesünder, gemütlicher und glücklicher, denkt sich der Hausmuffel. Überhaupt: Sind die Fluchtwege nicht längst verstellt? Oder ihre zeitliche Begrenzung entlarvt? Das Abhauen ist komplizierter geworden. Jede Reise wird zu einer gelungenen, selbst wenn sie die größte Enttäuschung war. Wer gibt schon gerne zu, die getane Reise sei ein Flop gewesen. Jährlich reisen fast 2,5 Millionen ausländische Freier nach Thailand. Gesucht wird schneller Sex, aber auch nach einer Lebenspartnerin unter den thailändischen Prostituierten: eine familienbezogene, immer freundlich lächelnde Asiatin, die aufgrund ihrer Andersartigkeit eine heile Welt im Zwischengeschlechtlichen bietet mit anderen Worten eine Frau, die ganz dem in Europa kreierten Klischee entsprechen soll. Die hohen Erwartungen werden oft mit bitteren Erfahrungen quittiert. Das Fazit einer Sextourismus-Studie spricht Klartext: Der Sex miz Thai-Girls ist nur quantitativ überbordend, emotional empfinden ihn die Männer meist als langweilig, unschön oder sogar abstoßend. Viele werden trotzdem wieder hinfliegen. Die Kunst des Verdrängens löscht die Unzufriedenheit in der Erinnerung, durch zeitliche und räumliche Distanz werden die Erlebnisse idealisiert. Gelungenes Reisen ist selten, meist bleibt der geistige Horizont hinter dem geographischen zurück. Umgekehrt ist die Geographie des Denkens nicht nur eine Sache der Theorie, sondern entspringt dem Bedürfnis des Menschen, sich sinnlich in der Welt zu situieren. Auf dem Rücken eines Elefanten zu sitzen und sich als geistreicher Weißer bemitleidend über das arme, wilde Indien zu amüsieren steht beispielhaft fürs schöne Staunen eines Europäers. Wer nicht nur sehen, sondern auch begreifen will, kommt um ein vertieftes Studium fremder Kulturen nicht herum. Je mehr man weiß, um so mehr sieht man. Der Wissende nimmt besser wahr. Oft muß man weit vor die Haustür gehen, um etwas über sich zu erfahren: Die weite Welt als Lebensschule. Indem man reist, beginnt die passive Biographie sich zu entgrenzen, um als Denkgeographie aktive Gestalt anzunehmen. In der Geo-Graphie kehrt die Bio-Graphie als Anderer, als Gast zu sich selbst zurück. Der Einkehr geht das Verlassen der engen Grenzen des nicht selten unheimlichen Heims voraus. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage: In welche Richtung betet man im Flugzeug? 14 Die meisten Reisenden stellen moderne, hochindividualisierte und pluralistische EgoGesellschaften, die kapitalistische Welt. Im Massentourismus wird erkennbar, wie sehr die Kultur des Imperialismus westlichen Denkens und Tuns auch heute noch, in der Zeit des Postkolonialismus, aktuell geblieben ist. Gerade der Tourismus steuert und verblendet die Attitüden und Erwartungen des sogenannten Zentrums gegenüber der sogenannten Peripherie, dem Rest der Welt. Gelingt es den Blick von einer Ethno-Kultur zu einer Geo-Kultur überzuschwenken? Kann ein neuer kosmopolitischer oder eben geo-kultureller Raum wachsen, gedacht als Einheit ohne Zentrum, als herrschaftsfreier Zusammenhalt einzelner, aber füreinander geöffneter Identitäten? Das würde nicht nur helfen eine seit langem zwischen den Kulturen spielende Kultur der Kreuzungen, Durchmischungen und Konflikte zu fördern, sondern sie ebenso produktiv und verbindend wirken zu lassen: zugunsten gemeinsam-erdbürglicher (also nicht-ethnozentrischer statt ethnozentrischer) Achtung vor der Würde des anderen und der Andersheit. Seit 1989 sind zahlreiche Staaten und Kulturräume auf dem Weg zu sich selbst und zu neuen Formen der Gemeinschaft in Europa und in der interkulturellen Zusammenarbeit. Unterwegs ist der Mensch nicht nur mit dem Selbstbild seiner Identität. Unterwegs ist er auch ästhetisch - nicht als neue Autorität, aber als eine nomadische, unstet wandernde und antinarrative Energie. Heute ringt man gerade im demokratiegesättigten und wohlstandsverwöhnten Westen um Veränderung des negativen Karmas. Verbraucht hat sich die Mode des Mutmaßens über die Wirklichkeit und deren Utopisierung. Bewußtseinsveränderungen von Individuen, Organisationen oder Kulturen setzen voraus, daß erst einmal ein Bewußtsein vorhanden ist, besser noch, ein starkes Selbstbewußtsein gepaart mit Selbstzweifel, - Ironie und auch Achtung. Für den ästhethisch Reisenden stellt sich die Frage nach einer oppositionellen Strategie, nach einer Vision als Gegenstück zum Tourismus-Imperialismus. Gegen die Tyrannei des Massenhaften setzt der reisende Ästhet auf die Subversion des Eigenen, auch wenn ihm bei seiner Abfahrt der Stau am Check-in-Schalter nicht erspart bleibt. Es geht ihm auf seiner Passage um eine ethisch-ästhetische Position in einer Globalkultur, um seinen interkulturellen Standort in einem neuen kosmopolitischen Raum, um sein Image in der Welt. Reisen kommt von der Lust des Reisenden an der Welt. "Der Kult des bloßen Augenscheins, wie ihn noch heute literarische Touristen, ob es sie nach Patagonien oder nach Serbien führt, so ignorant kultivieren", bemängelt der Literaturkritiker Karl-Markus Gauss, "diese Haltung, die vermeint, die verborgenen Zusammenhänge der Welt entschleierten sich just dem ahnungslosen Spaziergänger" sollte dem um sein Wissen ringenden Reisenden fremd bleiben. Spannend wird es, wenn das faszinierende Experiment gelingt, das Fremde exakt zu beschreiben und zu begreifen und es so mit dem Eigenen in Beziehung zu setzen weder überheblich noch demütig, aber mit wachen Sinnen. Grund und Ziel allen Reisens sind Wissensdurst, Erlebnishunger und Glück. Wünschenswert ist es, mit den Augen des süchtigen Flaneurs zu reisen, dem der Weg das Ziel ist, der ausgestattet ist mit dem fremden oder, besser noch, mit einem 15 fremdelnd beobachtenden Blick, der sich beim Spazierengehen an Dingen festsaugt. Es ist ein assoziatives Verfahren, das ins Unbekannte abhebt, ins Unheimliche, um im nur allzu Bekannten, Komischen und oft genug Ausweglosen zu landen. Es kommt nicht darauf an, etwas Tolles oder Schäbiges zu erfahren, sondern die laufende Bereicherung des eigenen Selbst wahrzunehmen und produktiv umzusetzen. Dergestalt reisend unterwegs zu sein, geschieht immer simultan mit anderen. Fremdes mischt sich fraglos in Eigenes hinein. Der erlebte Augenblick ist eine zufällige Schnittmenge verschiedener Begegnungen und Assoziationen. Wir sind Spiegel und Echo. (Davon handelt der zweite KUNSTFORUM-Band über das Reisen von Künstlern.) Das Motto "Lieber anderswo flanieren" gilt heute für einige Metropolen der Welt. Was sich im klimatisierten Kokon mit Straßencafe a la italienische Piazza eines wohlhabenden Vororts abspielt, ist etwa im Stadtkern von Johannesburg undenkbar: Entspanntes Flanieren vor Schaufensterfronten ist praktisch unmöglich, da fordernde schwarze Hände einem ständig an Kleidern oder Schuhen herumfummeln. Geschichten über entrissene Fotoapparate und Brieftaschen gehören zur Tagesordnung. Vorsicht ist geboten. Stetige Wachsamkeit jedoch streßt und nervt. Ein politisch alles andere als korrekter Witz spiegelt die Lage im Zentrum der größten Stadt Südafrikas: "Was ist der Unterschied zwischen einem Touristen und einem Rassisten? - Zwei Stunden in Johannesburg." Der südwärts Reisende muß Klischees und Widersprüche aushalten können, muß zwischen Fremdenfeindlichkeit und Familienliebe, Brutalität und Banalität pendeln, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. High-Tech-Tunnelfahrten mit Multimedia, Datenhandschuh und 3-D-Brillen, CyberReisen auf einem Eisbrecher oder Cyber-Party auf einer Sex-Hotline -wohin führt das? Die Natur wird aufatmen, die Erde wird blühen. "Der Stubenhocker", so Schneider/Fasel, Weltverbesserer im Zeichen einer medialen Kunstwelt, "gibt sich einen Ruck und verschwindet im Cyber-Raum." Einen Ruck hat sich auch Bruce Chatwin (1940 - 1989) gegeben, doch verschwunden ist der vielgepriesene "travel weiter" und Wanderer aus Leidenschaft in die gegenseitige Richtung: Low statt high hieß seine Devise, oder anders ausgedrückt: Nomadismus statt schöner neuer Hometechnozauber und Stubenheimweh. Ab zu den Kamelen, statt vor dem flimmernden Kaminfeuer im Fernsehen zu reisen. Flow statt fly. Im flow zu bleiben machte aus Chatwin den gewohnheitsmäßigen Reisenden, den ewigen Wanderer, der nirgends zu Hause ist als in der Bewegung. Die Natur der menschlichen Ruhelosigkeit war es, die den rastlos reisenden Chatwin am meisten beschäftigte. Er versuchte, Antworten auf uralte Fragen zu finden: Warum ist der Mensch das unsteste, unzufriedenste aller Lebewesen? Warum erscheint die Welt der Nomaden als vollkommen, während die Seßhaften ständig um deren Verbesserung bemüht sind? Mit 18 Jahren begann Bruce Chatwin beim Londoner Auktionshaus Sotheby's als Laubursche zu arbeiten, mit 22 stieg er zum Direktor der Impressionismus-Abteilung 16 auf - zum jüngsten Direktor, den Sotheby's je hervorbrachte. Geschätzt wurde sein unfehlbares Auge. Drei Jahre später erblindete Chatwin vorübergehend. Er begriff diese offenbar psychosomatische Erkrankung als Ausdruck eines Unbehagens. Der Augenarzt empfahl ihm, "weite Horizonte" aufzusuchen. Chatwin brach, um seine eigene Unruhe zu "erwandern", nach Afrika und Zentralasien auf - und entdeckte seine wahre Bestimmung: das selbstgenügsame Wanderleben der Nomaden. Er kündigte bei Sotheby's, lebte fünf Jahre bei herumziehenden Hirtenvölkern zwischen Marokko und Afghanistan, füllte seine Notizbücher mit Anekdoten, Spekulationen und Beschreibungen und kam, wie er schreibt, zur "Überzeugung, daß Nomaden der Angelpunkt der Geschichte gewesen waren". Er wollte das in einem umfangreichen Buch mit dem Titel "Die nomadische Alternative" belegen. Es sollte ein "außerordentlich ehrgeiziges und intolerantes Werk" (Chatwin) werden, eine Art "Anatomie der Rastlosigkeit", in der Pascals Satz von dem Menschen, der unfähig ist, ruhig in einem Zimmer zu sitzen, weiter ausgeführt werden sollte. Das Buch sollte die These verfechten, daß "die natürliche Auslese uns - von der Struktur unserer Hirnzellen bis zur Struktur unseres großen Zehs - zu einem Leben periodischer Fußreisen durch brennend heißes Dornen- oder Wüstenland bestimmt habe". Wahre Ruhe, glaubte Chatwin instinktiv, könne nur in der Bewegung gefunden werden. Die Seßhaftigkeit betrachtete Chatwin als denaturierend. Die Seßhaften suchten sich "ein Ventil in Gewalttätigkeit, Gier, Suche nach einem bestimmten Status oder in einer Sucht nach allem, was neu war". Mobile Gesellschaften dagegen fand er "egalitär, unbelastet von Dingen und resistent gegenüber jeder Veränderung". Aus seinem Nomadenprojekt wurde vorerst jedoch nichts, denn er verbrannte das Manuskript. Warum nur? Die "Kunstwelt" mit all ihren teuren, toten Sammelstücken hinter sich lassend, lernte Chatwin auf Reisen wieder sehen. Er kehrte den Artefakten den Rücken und wandte sich der Askese des Unterwegsseins zu. Als ein Nomade der Literatur sprach er durch seine Bücher: Bewegung, nicht Seßhaftigkeit ist die dem Menschen gemäße Lebensform; das Gehen und Unterwegssein hat heilende Kraft, wirkt gegen Aggressionen und Depressionen; wechselnde Umgebung und der Kontakt mit anderen Menschen verhindern das Versinken im gleichförmigen Alltag; im Spiegel des Fremden entdeckt sich das eigene Ich viel leichter, klarer, unmittelbarer als im Behausten, Heimatlichen. Chatwin war der Autor all jener, die den Tourismus hassen und dennoch unter Fernweh leiden. Chatwin war ein Reisender, kein Tourist, einer, der beim Aufbrechen nicht schon an die Heimkehr dachte. Wenn Künstler wie Bruce Chatwin ihre Biographie an der Geographie, am Fremden und Unbekannten brechen und entfalten, kommt es zu einer Ästhetik des Reisens, die eigene Formen, Motive und Ausdrucksarten schafft, um auszudrücken, was sich nicht einfach, unvermittelt aussprechen und darstellen läßt. Diesen Bruch zwischen Selbst und Fremd in der eigenen Künstlerperson auftreten und die beiden Elemente sich durchdringen zu lassen führt zu glücklichen Momenten, in welchen Leben und Erleben zusammengeführt werden. Selbstfremd der Künstler die Welt. 17 Von diesem Sehnen aus entsteht eine Kunst, aus der das Selbst und das Fremde gleichberechtigt das neue Objekt schafft. Der kulturelle Ort der Souveränität oder Autorität des Subjekts wird aufgelöst zugunsten einer interkulturellen Verbindung von Energien. Das Sehnen einer Kunst, die darauf basiert, daß das Selbst das Fremde abwehrt (etwa NS-Kunst oder Futurismus a la Marinetti oder sonst disziplinierte und kalte Ästhetiken) schafft Abhängigkeit und macht süchtig. Statt Reisen mit dem Bekannten, Vertrauten und Heimatlichen gleichzusetzen, bezieht sich der ästhetisch Reisende aufs Fremde. Das läßt eine wichtige Funktion des Reisens faßbar werden: Reisen (oder Kulturj ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, es stellt die Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar. Das Reisen bekommt so gesehen einen paradigmatischen Wert für die Kultur. Der ästhetisch Reisende trifft unterwegs auf geistige Verwandte, indem er das Eigene im Fremden wiedererkennt und so herausfindet, daß das Fremde gar nicht so fremd ist. Wenn es aber in der Ferne zu Freundschaften kommt, läuft ein anderer Prozeß ab: Eine Solidaritätserfahrung mit Fremden entsteht erst dann, so der Psychoanalytiker Erdheim, "wenn man bereit ist, dank der sympathiegetragenen Begegnung mit dem Anderen das Fremde im Eigenen wahrzunehmen". Der ästhetisch Reisende schließt sich nicht irgendwelchen Organisation an, um zu reisen, sondern ist angewiesen auf dichte Netze und auf Formen lebendiger kultureller Selbstorganisation nicht zuletzt in kleinen Einheiten und Kommunitäten. Obschon oder gerade weil der Massentourismus in den nächsten Jahren massiv boomen wird, prägt komplementär zu Nivellierung und Konformismus eine starke Differenzierung und Individualisierung das kulturelle Bild massenmedial integrierter Gesellschaften. Die egalitäre Freisetzung selbstbestimmter Reisemöglichkeiten wächst. Wenn massenhaft Tennis oder Schach gespielt wird, heißt das noch lange nicht, daß auch das Niveau dieser Sportarten sinkt. Das Gegenteil ist der Fall. Je breiter die Basis, um so höher die Meisterschaft. Alternativen zum Massentourismus erfahren beim reisenden Künstler eine ästhetische Zuspitzung. Ob am Ende der Massentourismus sich sogar auflöst? Ob generell quantitative von qualitativen Konzepten abgelöst werden? Für den Ästheten des Reisens sollte das Reisen letztlich Selbstzweck sein. Chatwin, Engländer, der mit einem Kolonialbewußtsein imprägniert wurde, das die Welt als Englands Hinterhof betrachtete, sah das trivialer und radikaler zugleich: "Für uns Junge war Reisen damals nicht Selbstzweck, es gehörte einfach dazu. Man konnte nach London, aber ebensogut in die Südsee gehen. Diese Vorstellung hat mich bis heute nicht verlassen. Wenn ich meine Sachen packe, nehme ich mir nicht vor, eine Reise zu unternehmen. Ich gehe einfach weg." Der Zweck des Reisens ist, auf Reisen zu bleiben, also nicht utopischen Zielen nachzuhängen, sondern in Bewegung zu bleiben. Es gibt keinen anderen Grund fürs Reisen als das Reisen selbst: Reisen als Selbstkommunikation. 18 Ob Lost Generation oder Beat Generation, für beide blieb die Bewegung einmal mehr Selbstzweck, für Ernest Hemingway wie für Jack Kerouac. Unterwegs zu sein ist die einzige und einzig edle Funktion des Lebens, heißt es in "On the road". In Bewegung zu bleiben gehörte ebenfalls zum Credo der Hippies. Amerika liegt an einer großen Autobahn. Der amerikanische Mensch ist ein Pilger geblieben, ewig im Aufbruch, fortwährend unterwegs auf Straßen. In der Ästhetik des Reisens zählt nicht die Flucht vor etwas oder die Suche nach dem "Anderen". Im Mittelpunkt steht ein Unterwegssein, das gewissermaßen als Rundreise um die Erde zum Ausgangspunkt zurückführt, um dann wieder von vorne zu beginnen, wie in einem unendlichen Loop. Ich bin ständig auf der "unvollendeten Suche nach einem Selbst unter anderen", notierte der reisende Ästhet Victor Segalen; was sich wie ein Plädoyer liest für ein Reisen als Hang zur Selbstunterwanderung. Der Kontakt mit der entzauberten Wirklichkeit erübrigt sich für den wahren Ästheten nicht. Und wichtiger noch: Sehnsüchte müssen nicht in Erfüllung gehen. Was uns lebendig hält, ist weniger die Erfüllung der Sehnsucht als die Sehnsucht selber. Die Sehnsucht zu erfüllen entspricht dem Wunsch, eine Blume haben zu wollen und sie dann zu pflücken. Die Sehnsucht ist erfüllt, die Blume aber ist tot. ANMERKUNGEN LITERATUR Thorsten Becker: Mitte, Berlin 1994. Klaus H. Bömer: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie, Frankfurt 1984. Bruce Chatwin: Traumpfade, München/Wien 1990. Mario Erdheim: Die Sucht und das Sehnen des Künstlers. Ethnopsychoanalytische Überlegungen zur Ästhetik, in: Kulturen - Verwandtschaften in Geist und Form, herausgegeben von der Galerie nächst St. Stephan, Wien 1991. Clifford Geertz: Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1996. James Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München/Wien 1982. Eric J. Leed: Die Erfahrung der Ferne. Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage, Frankfurt/New York 1993. Günter Metken: Reisen als schöne Kunst betrachtet, Frankfurt am Main 1983. Gert Raeithel: Go West. Ein psychohistorischer Versuch über die Amerikaner, 1993. Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main 1994. Wolf Schneider/Christoph Fasel: Wie man die Welt rettet und sich dabei amüsiert, Reinbek bei Hamburg 1995. Matthias Vogt: Sehn-Sucht. Der Zusammenhang zwischen Sehnsucht und Sucht, Lausanne 1994. Simon Winchester: Die Welt ist klein, in: Martin Parr: Small World, Heidelberg 1995. KOMMENTARE ZU DEN BILDERN IM TEXT TRICKY: Pre-Millennium Tension, CD 19 IM SPANNUNGSFELD DES PRÄ-MILLENNIUMS: Er hat ein einziges geniales Album gemacht >Maxinquaye< (1995), und seither muß er alles können: avantgardistisch und verständlich sein, den Star und Anti-Star verkörpern, kurz: famous and naked zugleich sein, wie er mit asthmatischer Stimme auf seinem neuen Werk >Pre-Millennium Tension< singt. Von düsteren Gedanken hat sich Tricky (~1968 in Bristol) weiter hinabziehen lassen in eine innere Höhle. Über seinen PräMillennium-Blues meint er: >The 'Pre-Millennium Tension' idea is a bit a joke. It's nothing to do with the Millennium. We're tense anyway We're best. We're going. We've gone too fast, too quickly. We're in trouble. Everybody's on about the millennium . I don't think tha's got anything to do with it. We're just bust. We've just bust. We've no Chance. It's not looking good.< - Als Kinder grenzenloser Kommunikationskulturen sind wir heute überall und nirgends zu Hause. Wir sind Menschen, die im Weltdorf herumschlendern wie Spaziergänger in Suburbia. Wir sind Reisende im Spannungsfeld des Prä-Millenniums - ohne Herkunft, ohne Absichten, ohne Ziel, ohne Haß, ohne Liebe, ohne Gott. Ein Umgetriebensein, ein orientierungsloses Umherirren in der Welt begleitet die Menschheit von Anfang an. So wie der Erdkern nicht wie ein Diamant fest im Zentrum ruht, sondern fließt wie Honig, ist der Mensch in ständiger Bewegung. - Zur Jahrtausendwende erzeugt gerade Mobilität ein ganz eigenes Gefühl der Gemeinschaft kultureller Zivilisationen. Als Polyglotter mit Wurzeln am ideellen Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturkreuzwege, als Weltbetourer taucht der Mensch des nächsten Millenniums in ein Esperanto der Sehnsüchte ein - und aus. Reisen als letzte Utopie globaler Solidaritätserfahrung? IARA LEE: Synthetik Pleasures ES IST NATÜRLICH KÜNSTLICH: Ein künstlicher Meeresstrand mit Schiebedach in Japan, Skipisten in riesigen Freizeitballen, wo sich Hunderte von Menschen einem durch Witterung ungetrübten Bade- und Skiplausch widmen - ohne Quallen und ohne Frostbeulen. Der Film der in Brasilien aufgewachsenen und in den USA lebenden Koreanerin Iara Lee ist ein - elektronischer Road Movie< und zeigt, was der Titel verspricht: lauter Umformungen Natürlichere Gegebenheiten, Versuche des Menschen, nicht nur die Naturgewalten zu zähmen, sondern neuerdings die reizvollen Seiten der rauhen Welt künstlich herzustellen -synthetische Vergnügungen< eben. - Sowohl künstliche (Ferien-)Paradiese als auch Drogen, beides lähmt den Menschen in seiner Sehnsucht, so der Schweizer Psychologie Matthias Vogt. >Die Reisewut< vieler Menschen hat Suchtcharakter. Vogts Analyse kommt zum Schluß: Es ist ein Phänomen unserer Zeit, daß >viele Menschen Sehnsüchte gar nicht aufkommen lassen, sondern auf sofortige Bedürfnisbefriedigung und Spannungsabfuhr fixiert sind. Unser heutiges Leben ist wahrscheinlich der Sucht näher als dem Sehnen.< - Oft werden einem künstliche Paradiese vorgegaukelt, die an ihrem Glücksversprechen kläglich scheitern. Sekundäre Lebenserfahrung durch künstliche Paradiese sind Zuflucht und Fluchtversuch in einem. Das Leiden primärer Lebenserfahrung wird ausgeblendet. Fertige Lebensmuster verhindern es, eigene Erfahrungen zu machen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. - >Künstliche Paradiese<, resümiert Vogt, >betrügen uns letztlich um unsere Sehnsüchte. Sie versprechen schnelles Glück, zementieren aber den Status quo und sind veränderungshemmend.< RAOUL HAUSMANN (1886 - 1971), Tatlin Zuhause 20 PRODUKTIVISTENMANIFEST DES ZUHAUSEBLEIBENS: Die Beschäftigung mit konstruktivistischen Formproblemen erwächst für Wladimir Tatlin (1885-1954) aus der Begegnung mit den führenden Künstlern des Kubismus, Futurismus und Dadaismus anläßlich einer Studienreise 1933 durch Europa. In Paris trifft Tatlin mit Picasso zusammen, dessen kubistische Collagetechnik nachhaltigen Eindruck auf den Russen ausübt. Nach der Oktoberrevolution wendet sich Tatlin als erster der russischen Avantgardisten den politischen Ideen eines kommunistischen Staates zu. Tatlin macht die dadaistischen Versuche einer gesellschaftsbezogenen Kunst für die Politik fruchtbar, indem er die konstruktive Kunst in die zweckgebundene Technik, Theorie in Praxis einmünden läßt. Das Jahr 1920 ist ein wichtiges Datum, da Tatlin sein Produktivistenmanifest veröffentlicht, worin er sein kommunistisches Ziel einer praxisorientierten, technischen Kunst, die eine individualistische Selbstverwirklichung im Stile Malewitschs ablehnt und nur eine gesellschaftsbezogene Kollektivkunst gelten läßt. - Umgemünzt aufs Reisen läßt sich Tatlin als eine Art Propagandist der Mobilität und des Massentourismus bezeichnen, als ein die Kartographie von Mensch und Maschine neu bestimmender Geist. Dadaist Hausmann hat das Bild mit einer nicht zu unterschätzenden Dosis Ironie >Tatlin Zuhause< genannt und so quasi eine kühne Vision von heute vorweggenommen, die behauptet, daß das Zuhausebleiben alle Chancen biete, das Glück auf Erden ökologisch vernünftig zu mehren. Also nicht länger mehr Mobilität = mehr Wohlstand, sondern weniger Mobilität = mehr Wohlstand. Der Staat muß umdenken und jenen eine Rente aussetzen, die auf die Produktion von - ohnehin umweltbelastenden - Waren verzichten. Wohlstand ist nicht als Lohn für geleistete Arbeit zu betrachten, sondern als Prämie fürs Zuhausebleiben. NAZCA-KULTUR (200 v. bis 700 n. Chr.) RAUM QUALITATIVER NÄHE UND FERNE :1991 wurde in Peru ein Grab mit unermeßlichen Kostbarkeiten entdeckt, dessen Erforschung erstmals umfassende Einblicke in die bisher nur wenig bekannte Sicán-Kultur (ca. 1000 n. Chr.) eröffnete. Die Sicán herrschten vor den Inkas (ca. 1470 n. Chr.), auf deren mächtiges Reich die spanischen Eroberer stießen und im Goldrausch systematisch plünderten. Die archäologische Sensation der Sicán-Entdeckung präsentierte in Europa einmalig das Rietberg Museum in Zürich. Im Katalog heißt es über die Zivilisation im Andenraum: >Im Vergleich mit der Alten Welt scheinen die Technologien in der Neuen Welt zu stagnieren.. Der Webstuhl bleibt etwa unverändert bestehen bis zur Zeit der Inka Herrschaft. Überdies waren das Eisen als Gebrauchsmetall, das Rad für den Betrieb von Fahrzeugen und die Schrift in der vorspanischen Welt unbekannt. Die soziale Organisation und die politischen Systeme entwickelten sich rasch von früheren undifferenzierten landwirtschaftlichen Gemeinschaften zu den komplexen Staatsgebilden der Sicán, Chimú und Inka. Diese Situation erscheint aus der Sicht der Alten Welt recht eigenartig, denn dort gingen soziale Evolution und technologischer Fortschritt miteinander einher< -Das ästhetische Sprechen wird im Unterschied zurWissenschaftssprache wesentlich durch Metaphern angereichert. Es eliminiert nicht, sondern eröffnet somit Ähnlichkeitsräume. Zwischen der futuristischen >Synthetic Pleasure<-Woman, Hausmanns >Tatlin Zuhause< und diesem Nazca Gefäß, das ein von Trophäenköpfen und mythischen Wesen eingehülltes Mumienbündel zeigt, gibt es Ähnlichkeiten in - materieller wie gedanklicher - Gestalt und Struktur. Es ist offenbar so, daß authentisches Reisen, das alles Seiende respektiert, dem Menschen einen Raum qualitativer Nähe und 21 Ferne eröffnet, in dem auch das Fernste noch ein Ent-Ferntes, das heißt ein Nahes ist. Reisen zwischen den Kulturen läßt Ent Fernung, also eine Nähe sichtbar werden, die aller Begrifflichkeit zugrunde liegt und sich selbst doch dem Begriff entzieht. 22