Hexenmeister und Reformer: Was Varoufakis von Balcerowicz

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Hexenmeister und Reformer:
Was Varoufakis von Balcerowicz lernen kann
Thomas Apolte
Im Sommer 1989 warf die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) angesichts der
Daueropposition der polnischen Bevölkerung und der inzwischen katastrophalen
Wirtschaftslage den führenden Köpfen der legendären Solidarność sprichwörtlich die Brocken
vor die Füße, und zwar nach dem Motto: Wenn ihr es besser könnt, dann bitte. Vermutlich
ahnten General Jaruzelski und die alt-sozialistische Parteielite nicht, dass die SolidarnośćOppositionellen es wirklich besser konnten. Ebenso wenig hatte zu dieser Zeit im Westen
jemand ernsthaft vorhergesehen, dass dieses von Krisen und wirtschaftlichem Chaos
geschüttelte Land gerade damit begann, sich auf eindrucksvolle Weise aus seiner Misere zu
befreien.
Und doch sollte es so kommen. Tadeusz Mazowiecki, der erste frei gewählte
Ministerpräsident innerhalb der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, zögerte nicht lange,
denn für ihn wie für die meisten seiner Landsleute war klar: Die Ursache für die Misere war
ein System, das man den Polen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezwungen hatte und das
wohl kaum irgendwo derart ungeliebt war wie in Polen. Aber befreien von diesem System
und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Chaos müssten sich die Polen dennoch in
allererster Linie selbst. Dies klar vor Augen, benannte Mazowiecki einen SolidarnośćMitstreiter und Ökonomen zum Finanzminister und damit zum Chefarchitekten der
wirtschaftlichen Transformation, der bereits damals international renommiert war, der in
mehreren westlichen Ländern studiert hatte und der die Hintergründe des sogenannten
deutschen Wirtschaftswunders besser kannte als vermutlich mehr als 95 Prozent der
deutschen Bevölkerung: Leszek Balcerowicz, der mit Anfang 40 nur deshalb noch kein
Professor geworden war, weil er bereits in der ersten Solidarność-Welle knapp zehn Jahre
zuvor führende polnische Ökonomen zusammengeführt und mit ihnen an Konzepten zur
Transformation des polnischen Wirtschaftssystems gearbeitet hatte.
Balcerowicz nahm angesichts der hohen Auslandsverschuldung von rund 40 Mrd. US-Dollar,
der völlig zerrütteten Staatsfinanzen und der nicht minder zerrütteten Währung unmittelbar
Kontakt zum Internationalen Währungsfonds auf. Binnen weniger Wochen stand der Plan
einer umfassenden Wirtschaftsreform, welche in den Folgejahren als „Balcerowicz-Plan“ in
Ost und West die Gemüter in ähnlicher Weise erregte wie heutzutage das „Troika-Diktat“ im
Zusammenhang mit der Dauerkrise in Griechenland. Gerade auch viele westliche Beobachter
kritisierten das polnische „Austeritätsprogramm“ scharf, denn die Kombination aus einer
weitreichenden Liberalisierungen der Märkte, einer strikt anti-inflationären Geldpolitik und
einer konsequenten Rückführung der staatlichen Budgetdefizite konnte aus Sicht der Kritiker
nur eine einzige Konsequenz haben: Polen würde angesichts der Nachfrageausfälle in einer
tiefen Depression versinken, die Armut der Bevölkerung würde sich in der Folge der
Haushaltskürzungen zwangsläufig ins Unerträgliche steigern, und zukunftsorientierte
Investitionen würden auf dem Altar dessen geopfert, was heute von vielen eine neoliberale
Marktideologie genannt wird und was damals unter dem ebenso abschreckenden Begriff des
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„Washington Konsensus“ firmierte; einem Begriff, hinter dem sich damals viele fachlich
versierte und noch viel mehr nicht versierte Politikbeobachter bereitwillig zusammenfanden,
um dem von ihnen diagnostizierten Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Damals wie heute wurde
ein Zielkonflikt zwischen einem Konsolidierungskurs vom Schlage des Balcerowicz-Plans auf
der einen Seite und einem fiskalisch wie monetär expansiven Wachstumskurs auf der anderen
Seite aufgebaut, so als ob es je ein Beispiel dafür gegeben hätte, dass ein Land mit zerrütteten
wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen im Wege eines fiskalischen und monetären
Expansionskurses einfach so aus seinen Problemen herausgewachsen wäre; und so als ob es
eine selbstverständliche Wahrheit wäre, dass ein Konsolidierungskurs immer und überall in
eine tiefe Depression münden müsse, so dass man immer nur die Wahl hätte zwischen einem
depressiven Konsolidierungskurs und einem wachstumsorientierten Expansionskurs, auf den
Politiker jederzeit „einschwenken“ könnten, sofern sie denn nur zu jenen gehörten, die mit
einem guten Willen ausgestattet sind.
Kein Wunder also, dass der Balcerowicz-Plan auch und gerade in Polen nicht unumstritten
blieb: Die in der Opposition auf fast schon rührende Weise geeinte Solidarność spaltete sich
angesichts der Regierungsverantwortung auf, und es wurde zeitweise sehr einsam um den
Finanzminister. Mazowieckis Nachfolger Bielecki ließ ihn zwar noch im Amt, aber bereits
Ende 1991 wurde er unter der Regierung Olszewski abgelöst. Einer seiner Nachfolger war
zugleich einer seiner schärfsten Kritiker: der Wirtschaftsprofessor Grzegorz Kołodko, der im
In- und Ausland unter teilweise großem Applaus westlicher Experten gegen die
depressionstreibende Austeritätspolitik des Balcerowicz-Plans wetterte und 1994 mit
vollmundigen Versprechungen, welche denen des neuen griechischen Finanzministers
Varoufakis nicht ganz unähnlich waren, selbst das Amt des Finanzministers übernahm – um
dann im Wesentlichen den 1990 eingeschlagenen Kurs beizubehalten, was natürlich auf
Druck der internationalen Finanzmärkte geschah, wie viele kundige Beobachter vermuteten
und wie noch mehr Feuilleton-Redakteure sicher wussten. Balcerowicz selbst wurde 1997
erneut Finanzminister und später Notenbankchef. Stets blieb er das Ziel vehementer Angriffe
auf seinen vermeintlich ideologischen Kurs, und es gab Zeiten, in denen er als der meist
gehasste Mann Polens galt.
Das Bemerkenswerte dabei ist aber: Ebenso wenig wie Kołodko wich irgendein Politiker in
Polen wirklich von dem Kurs ab, den Balcerowicz ab 1990 eingeschlagenen hatte. Dabei
schienen zu Beginn alle Kritiker Recht zu behalten, denn die Lage war tatsächlich dramatisch:
Das Bruttoinlandsprodukt sank nach offiziellen Statistiken um rund 30 Prozent und die
Arbeitslosigkeit explodierte nach offiziellen Angaben und erst Recht unter Einbeziehung der
verdeckten Arbeitslosigkeit. Die Inflationsrate sank nicht, sondern sie schoss im Zuge der
Preisliberalisierung auf zweistellige Monatsraten (!), und selbst im Jahre 1991 lag die
Jahresrate noch bei über 70 Prozent. Für die Kritiker war das ein klares Indiz dafür, dass nur
marktfundamentalistisch verbohrte Ideologen unter solch depressiven Bedingungen
fiskalische und monetäre Konsolidierung betreiben konnten und dass es ökonomischem
Harakiri gleichkam, sich in einem derartig wettbewerbsentwöhnten Umfeld zu einer so
umfassenden Preisliberalisierung hinreißen zu lassen. Und das sah man keineswegs nur in
Polen und erst Recht nicht nur in ökonomisch weniger versierten Kreisen so. Einer der
wenigen westlichen Ökonomen, die den Balcerowicz-Plan damals ohne Abstriche
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befürworteten, war der renommierte schwedische Ökonom und Osteuropa-Experte Anders
Åslund. Er wies schon früh darauf hin, dass der Rückgang des Bruttoinlandsprodukt zu einem
großen Teil eine statistische Illusion war, dass die zu beobachtende drastische Preisanpassung
unter den Bedingungen des monetären Überhangs die einzige Alternative zu einer
Währungsreform war und dass die Arbeitslosigkeit ein Indiz für Probleme war, die bereits
vorher bestanden und daher ursächlich nur bekämpft werden konnte, wenn man diese seit
langem bestehenden Problem im Rahmen einer neu etablierten marktwirtschaftlichen
Ordnung löste.
Åslund sollte Recht behalten: Nachdem der Balcerowicz-Plan ab dem 1. Januar 1990
umgesetzt wurde, stellte sich ausgerechnet im krisengeschüttelte Polen bereits im Jahre 1993
und damit im ersten aller Transformationsländer (inkl. der ehemaligen DDR) wieder
Wirtschaftswachstum ein – und zwar ganz ohne ein „Einschwenken“ der Politik auf einen
expansiven „Wachstumskurs“ und ganz ohne eine Abkehr von der konsolidierungsorientierten
„Depressionspolitik“ des Balcerowicz-Plans. Und was sich in den gut zwei Jahrzehnten
danach in Polen abspielte, sprengt so ziemlich alle Dimensionen dessen, was man sich damals
selbst als größter Optimist hätte vorstellen können: Den – angesichts der historischen
Verstrickung Deutschlands in die polnische Misere ohnehin stets unangebrachten –
Schmähbegriff der „polnischen Wirtschaft“ kennen junge Menschen heute gar nicht mehr;
dass polnische Bürger in den 1980er Jahren gehungert haben, wissen die wenigsten jungen
Leute im Westen heute noch; und Erzählungen darüber, dass es in den 1980er Jahren in
Deutschland umstritten war, ob man angesichts der katastrophalen Versorgungslage in Polen
die seinerzeit begehrten polnischen Weihnachtsgänse kaufen oder gerade nicht kaufen solle,
versetzt sie in ungläubiges Staunen. Aber umgekehrt gilt: Wer sich auch immer nur ein wenig
mit der jüngsten polnischen Geschichte befasst hat, kennt den Begriff des „polnischen
Wirtschaftswunders“. Heute kaufen wir keine Weihnachtsgänse mehr aus Polen, sondern
Autos und Flugzeuge!
Man könnte also geneigt sein, alles das als eine beispiellose Erfolgsgeschichte zu bezeichnen.
Denn in der Tat sind Superlative angesichts einer solchermaßen glücklichen Entwicklung
nicht unangebracht – und das selbstverständlich unter Ankerkennung der Tatsache, dass es in
der ganzen Zeit natürlich auch Probleme gegeben hat. Wie hätte es auch anders sein sollen?
Eines allerdings ist die polnische Erfolgsgeschichte nach 1989 nicht: Sie ist nicht einzigartig!
Einzigartig waren gewiss die oft dramatischen Bedingungen, die historische Vorgeschichte
seit der Neugründung Polens im Jahre 1918, die erneute Besetzung 1939, die abermalige
Aufteilung, Zerstörung und Wiederbesetzung im 2. Weltkrieg; schließlich der verbissene und
bisweilen spektakuläre Freiheitskampf der Polen nach 1945, welcher angesichts des Leids,
das sich die Polen damit oft selbst zufügten, bisweilen auch mit Kopfschütteln im Westen
beobachtet wurde, der die Polen am Ende aber zu den Vorreitern bei der Befreiung im Jahre
1989 machte.
Das alles war gewiss einzigartig. Aber die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte nach 1989 war es
nicht. Denn zur gleichen Zeit spielten sich auf diese und auf ganz ähnliche Weise rund um
Polen ähnliche Prozesse ab. Unter den unterschiedlichsten, aber immer unter schwierigsten
Bedingungen war eine jeweils ganz ähnliche Geschichte in mindestens sieben weiteren
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Ländern zu beobachten, die alle mitten in Europa lagen und die schließlich alle im Jahre 2004
Mitglieder der Europäischen Union wurden: In Estland, Lettland und Litauen sowie in
Slowenien musste man aus dem Nichts einen neuen Staat mitsamt einer neuen Währung aus
dem Boden stampfen, in Tschechien und der Slowakei war eine Sezession zu verkraften und
in Ungarn musste man lernen, dass der in den 1980er Jahren im Westen angesichts seines
pragmatischen
Umgangs
mit
der
marxistischen
Ideologie
bewunderte
„Gulaschkommunismus“ keineswegs schon der halbe Weg zur modernen Marktwirtschaft
gewesen war. In allen diesen Ländern war das Einkommensniveau bestenfalls vergleichbar
mit jenem Griechenlands, und das wohlhabendste unter allen diesen Ländern konnte sich
gerade einmal mit der damaligen DDR vergleichen. Die meisten anderen lagen weit darunter.
Dennoch hat man sich trotz aller Bedenkenträger unter den Beobachtern, trotz aller internen
Konflikte und Zweifel am Ende doch nicht beirren lassen. In allen diesen Ländern waren sich
die Verantwortlichen der Tatsache bewusst, dass ihnen und ihren Landsleuten allein die
Aufgabe zufiel, sich von dem zu befreien, was andere ihnen aufgezwungen hatten. Und das
waren Strukturen, die sie immer weiter abgehängt hatten von dem Maß an Freiheit und
Wohlstand, welches in ihren westlichen Nachbarstaaten inzwischen selbstverständlich
geworden war. Daher haben sie am Ende alle der Versuchung widerstanden, ihre Probleme
mit Staatsverschuldung und Gelddruckmaschinen lösen zu wollen und zu glauben, dass sie
aus den ihnen aufgezwungenen institutionellen Strukturen per expansiver Geld und
Fiskalpolitik einfach hinauswachsen könnten. Stattdessen haben sie die bittere Wahrheit
akzeptiert, dass sie nur im Wege der Reform dieser Strukturen vorankommen würden – und
das ungeachtet der Tatsache, dass ihnen auf internationaler Bühne Heerscharen von
Makroökonomen in teilweisen höchstrangigen wissenschaftlichen Zeitschriften im Rahmen
technisch anspruchsvollster Modelle empirischer wie theoretischer Art das Gegenteil
einzureden versuchten. Nicht wenige von ihnen haben den erfolgreichen Reformern ebenso
wie ihren wenigen verbliebenen wissenschaftlichen Begleitern vorgehalten, nicht auf der
Höhe der Zeit zu sein und keine Ahnung vom wissenschaftlichen „State of the Art“ zu haben.
Das muss einem alles bekannt vorkommen, und es ist allzu merkwürdig, dass kaum jemand
die Parallelen zur heutigen Situation sieht, wenn wir über die griechische Misere sprechen.
Dabei ist bekannt, dass Griechenland zwar einen eigentlich untragbaren Schuldenstand vor
sich herschiebt, dass dieser der griechischen Politik aber – ganz anders als fortwährend
behauptet – keineswegs die Luft zum Atmen nimmt: den Rettungsschirmen zum Dank, man
mag sie ja mögen oder nicht. Jedenfalls ist der Schuldendienst angesichts der vielfältigen EUHilfe keinesfalls erdrückend und niedriger als in anderen europäischen Ländern. Man möge
sich nur einmal vorstellen, dass man in Griechenland ab Jahre 2010 ein ähnlich ambitioniertes
und konsequentes Reformpaket umgesetzt hätte wie in Polen! Und bei dieser Vorstellung darf
man durchaus in Rechnung stellen, dass auch dort nicht alles nach Plan lief und zum Beispiel
die Privatisierung über Jahre im Strudel ideologischer und interessengeleiteter
Auseinandersetzung feststeckte. Und dennoch war man nach drei Jahren auf Wachstumskurs.
Wo wäre also Griechenland heute, hätte man dort ähnlich gehandelt wie in Polen, in Estland,
in Lettland und und und?
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Das ist zugegebenermaßen eine rhetorische Frage. Eine nicht rhetorische Frage ist dagegen
diese: Wo liegt der Unterschied zwischen den Transformationsländern damals und
Griechenland heute? Eines sollte zunächst einmal klar sein: Die Probleme waren damals wie
heute nicht makroökonomischer, sondern struktureller Art, und damit sind sie heute in
Griechenland ganz ähnliches gelagert wie seinerzeit in Mittel- und Osteuropa. Allerdings: Die
ehemals sozialistischen Länder haben es seinerzeit geschafft, auf einem neuen Fundament
Stück für Stück neue politische und ökonomische Institutionen zu errichten. Das ist in
Griechenland bis heute nicht einmal ansatzweise gelungen. Allerdings muss man sich hüten,
aus einem solch deprimierenden Befund auf irgendeine kollektive Unfähigkeit eines ganzen
Volks zu schließen. Warum sollten Griechen per se weniger fähig zu institutionellem Wandel
sein als andere? Natürlich sind sie das nicht, und damit sollte klar sein: Die Gründe liegen
tiefer. Tragischerweise liegen sie ausgerechnet dort, wo die Reformen ansetzen müssten: in
den Institutionen. Institutioneller Wandel entsteht aus kollektivem Handeln einer sehr großen
Zahl von Akteuren, und bei kollektivem Handeln verbietet sich der Rückschluss von einem –
guten oder schlechten – Ergebnis auf den Willen oder die Fähigkeit der einzelnen Akteure.
Das klingt akademisch, ist aber fundamental für das Verständnis der darunter liegenden
Probleme. Leider beinhaltet diese Einsicht aber auch, dass institutionellen Reformstaus wie
jener in Griechenland immer auch etwas Schicksalhaftes anhaftet, so traurig das ist.
Obwohl die Situation der Transformationsländer zunächst viel dramatischer erschien als
anderswo, hatte sie Eigenschaften, welche den institutionellen Wandel am Ende begünstigten.
Die Tatsache, dass die Transformationsländer schon angesichts ihres planwirtschaftlichen
Erbes kaum eine andere Option hatten, als einen grundlegenden institutionellen Wandel in die
Wege zu leiten, hat die Einsicht befördert, dass an strukturellen Reformen kein Weg vorbei
ging. Konsequenterweise stolperte ausgerechnet jenes Land, in dem man zuvor geglaubt hatte,
den Weg zur modernen Marktwirtschaft schon halbwegs gegangen zu sein, in eine ähnliche
Falle wie heute Griechenland. Man glaubte dort ganz ähnlich wie heute in Griechenland, mit
weniger grundlegenden Reformen auszukommen als beispielsweise in Polen. Dieses Land
war Ungarn, das Land, dessen „Gulaschkommunismus“ auch im Westen mit einer „Fastschon-Marktwirtschaft“ verwechselt wurde, das dann aber binnen weniger Jahre zusehen
musste, wie es von seinem mitunter belächelten nördlichen Nachbarn im Fortschritt des
institutionellen Wandels überholt wurde. In den übrigen Ländern trieb man den
institutionellen Wandel von Beginn an in der Überzeugung voran, genau jene Strukturen
überwinden zu wollen, innerhalb derer man nach 1945 vom Kern Europas weggetrieben
wurde.
Daraus und aus der Aussicht auf die Mitgliedschaft in der EU hatten sich Bedingungen
ergeben, die die Erfolgswahrscheinlichkeit des institutionellen Wandels entscheidend erhöht
hatten. Es war zwar keine Garantie für den Erfolg, aber es schaffte Voraussetzungen dafür,
dass vernünftigen Politikern wie Balcerowicz und vielen anderen in den anderen Ländern die
Arbeit erleichtert wurde und dass diese vernünftigen Politiker den vielen ungebetenen
Ratschlägen wirklicher und weniger wirklicher Fachleute widerstehen konnten. Schließlich
vermittelte es der Bevölkerung in den Transformationsländern den Eindruck, dass es ihre
Reform war, eine Reform, die dazu da war, sie nach Jahrzehnten der Unterdrückung in
Freiheit und Wohlstand zu führen. Trotz aller internen Auseinandersetzungen, die in einem
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solchen Prozess natürlich nicht ausbleiben konnten, wich man dort wohl genau deshalb nie
ernsthaft von dem eingeschlagenen Kurs ab – auch wenn man Politiker wie Balcerowicz für
alles verantwortlich machte, was nicht gelingen wollte.
Keine dieser ganzen Bedingungen liegt heute in Griechenland vor, und so darf es niemanden
wundern, dass die Bevölkerung Griechenlands einen ganz anderen Eindruck hat. Während die
Reformen in den Transformationsländern trotz aller Auseinandersetzungen immer als ein
Mittel zur Befreiung aus dem Einfluss einer fremden Macht gesehen wurden, sieht man in
Griechenland genau umgekehrt die Reformen selbst als ein Diktat fremder Mächte. Das ist
der Nährboden, auf dem das Gerede vom „Umschwenken“ auf eine „Wachstumspolitik“
gedeihen kann, mit deren Hilfe man allen Problemen einfach entwachsen könne, wenn es nur
die bösen fremden Mächte nicht anders wollten. Und sie, die fremden Mächte, sind die
Gläubiger, ihre Banken haben den Griechen alles angetan, was sie heute erdulden müssen und
ihnen allein fließt jeder Euro der Rettungspakete zu.
Vor diesem Hintergrund werden wir mehr als bisher an der Frage arbeiten müssen, was wir
zur Reformbereitschaft in Griechenland beitragen können, wie man die zweifellos
unumgänglichen Reformen zu Reformen der Griechen machen kann. Gerade in diesem Sinne
kann man sich mit Fug und Recht darüber streiten, ob ein Land überhaupt „von außen“ zum
Wandel seiner politischen und ökonomischen Institutionen zu bewegen ist. Klar ist zwar, dass
man nichts erzwingen kann und darf, will man seine demokratischen Werte nicht verraten.
Aber das wird leicht missverstanden. Denn man kann, darf und muss sogar jede Hilfe von
außen an Bedingungen knüpfen. Die alte liberale Weisheit lautet schließlich, dass die Freiheit
zu autonomen Entscheidungen immer verknüpft sein muss mit der Übernahme der
Verantwortung für seine Entscheidungen. Vor diesem Hintergrund musste von Beginn der
Rettungspolitik an klar gewesen sein, dass man sich dem Vorwurf aussetzen wird,
Griechenlands Souveränität infrage zu stellen, wenn man die Verantwortung für seine
Schulden auf die EU überträgt. Die einzige Alternative dazu wäre schon früh ein
Schuldenschnitt in Verbindung mit einer Entlassung Griechenlands aus der Währungsunion
gewesen. Das wollte die Politik nicht, und diese Entscheidung soll hier nicht das Thema sein.
Aber die Folgen dieser Politik schlagen dieser Tage mit großer Wucht auf uns zurück. Wenn
wir der Hoffnung auf einen doch noch gelingenden Wandel der politischen und
wirtschaftlichen Institutionen berechtigte Nahrung geben wollen, dann werden wir jedenfalls
in der einen oder anderen Weise dem altehrwürdigen Prinzip der Einheit von Handlung und
Haftung Raum geben müssen. Hierzu wäre es gerade wichtig, Griechenland ganz ähnlich wie
den mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten den berechtigten Eindruck zu
vermitteln, dass es ihre Reform ist, eine Reform, die sie aus freien Stücken zum Wohle ihrer
Bürger vorantreiben – selbstverständlich mit der solidarischen Unterstützung der übrigen EUStaaten, ganz so, wie es im Falle der Transformationsländer war. Aber unter Wahrung des
Prinzips der Einheit von Handlung und Verantwortung.
Daher wird eines mit Gewissheit nicht helfen: das Problem zu verkleistern, indem man immer
mehr frisches Geld in das schwarze Loch wirft, welches ein schwarzes Loch bleiben wird,
solange die Reformen nicht vorankommen. Das „Einschwenken“ auf einen Wachstumskurs
ist eine Illusion, zumindest, wenn man es mit institutionellen Strukturproblemen von solchen
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Ausmaßen wie in Griechenland zu tun hat. In dieser Hinsicht, und mindestens in dieser
Hinsicht, könnte der selbstbewusste Finanzminister Varoufakis einiges von seinem
ehemaligen polnischen Amtskollegen Balcerowicz lernen. Man kann es den Griechen nur
wünschen.
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