Pubertät und psychosoziale Anpassung (Auszug) Rainer K

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Pubertät und psychosoziale Anpassung (Auszug)
Rainer K. Silbereisen & Karina Weichold
In M. Hasselhorn & R. K. Silbereisen (Hrsg.), Enzyklopädie
Psychologie,
Serie
V
(Entwicklung),
II
Grundlegende
Veränderungen während des Jugendalters.
4.2 Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo
während der Adoleszenz
Eine Vielzahl von Studien hat sich mit den Konsequenzen abweichenden
Entwicklungstempos für eine Vielzahl von Aspekten psychosozialer Anpassung bei
Jugendlichen beschäftigt (für Reviews z.B.: Connolly, Paikoff, & Buchanan, 1999;
Weichold, Silbereisen, & Schmitt-Rodermund, in press; Silbereisen & Kracke, 1997).
Im folgenden sollen die wichtigsten Befunde unter der Berücksichtigung von
Geschlechtsspezifikazusammengefasst werden. Dabei sollen die Ergebnisse von Studien
auf das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern bezogen und somit dessen
Gültigkeit untersucht werden.
Bei Mädchen wurde frühe Reife in der Pubertät mit reiferem Verhalten in
Familieninteraktionen anhand von Beobachtungsstudien wie größerem Einfluss in der
Familie, mehr selbstsicherem Verhalten oder dem aktiven Aushandeln von
Kompromissen (Hauser et al., 1985; Weichold, Silbereisen, Schmitt-Rodermund,
Vorwerk & Miltner, in press) in Zusammenhang gebracht. Diese Verhaltensweisen
indizieren Fortschritte in der Individuation verglichen mit anderen Altersgleichen.
Besonders die Eltern frühreifer Mädchen begegnen den Autonomiebestrebungen ihrer
Kinder jedoch mit Restriktion, d.h. die Aktivitäten der Mädchen werden stärker
überwacht (Ruiselova, 1998), und Konflikte nehmen zu (Steinberg, 1988).
Darüber hinaus verfügen Mädchen mit früher Reife häufiger über Kontakte zu älteren,
devianten Peers (Magnusson, Stattin & Allen, 1985; Stattin & Magnusson, 1990)
verglichen mit Gleichaltrigen mit normativer oder verzögerter Reife. Der Kontakt zu
älteren Peers führt dazu, dass früh reifende Jugendliche verstärkt Möglichkeiten für die
Altersnorm verletzende Verhaltensweisen (Alkohol- und Drogenkonsum, Delinquenz)
ausgesetzt sind, beispielsweise an öffentlichen Trinkorten wie Diskotheken oder Clubs.
Mädchen und Jungen mit früher pubertärer Reife konsumieren früher Alkohol oder
Drogen und sind delinquenter als Altersgleiche (Magnusson et al., 1985; Aro & Taipale,
1987; Graber et al., 1997), besonders dann, wenn sie schon in der Kindheit Anpassungsprobleme hatten (Caspi & Moffitt, 1991) und einem Kontext mit entsprechenden
Rollenmodellen ausgesetzt sind (z.B. gemischt Pubertät und psychosoziale Anpassung
30geschlechtige Schulen Caspi, 1995). Darüber hinaus berichten Mädchen mit früher
pubertärer Reife häufiger romantische Beziehungen und sexuelles Interesse als andere
Mädchen gleichen Alters (Silbereisen, Kracke, & Nowack, 1992). Studien haben
versucht, potentielle Mediatoren der Beziehung zwischen früher körperlicher Reife und
sexuellen Kontakten zu identifizieren. Hier zeigte sich, dass die Konzentrationen
adrenerger Androgene und Testosteron einen Einfluss auf sexuelle Aktivität bei
Mädchen mit früher Reife haben (Udry et al., 1985; Tucker-Halpern, Udry, &
Suchindrian, 1997).
Neben hormonellen Mechanismen sind auch soziale Erfahrungen im Peerkontext
bedeutsam für die Erklärung früher sexueller Kontakte bei Mädchen mit früher
körperlicher Reife (älterer Freund, sexuell erfahrene Freundinnen; Stattin &
Magnusson, 1990; Billy & Udry, 1985).
Jungen mit früher pubertärer Reife haben besonders zu Beginn der Adoleszenz
häufigere Kontakte mit älteren bzw. devianten Peers (Silbereisen & Kracke, 1997).
Auch sie berichten frühere sexuelle Kontakte verglichen mit ihren Altersgenossen
(Silbereisen et al., 1992). Erklärt wird dieser Zusammenhang durch hohe TestosteronKonzentrationen, die entweder direkt sexuell motivieren (Udry et al., 1985) oder
vermittelt über die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale (Tucker-Halpern
et al., 1993) sowie das sexuelle Verhalten der Freunde (Smith et al., 1985) zu frühem
Geschlechtsverkehr führen.
Mädchen mit früher Reife zeigen neben externalisierten auch verstärkt internalisierte
Auffälligkeiten. Quer- und längsschnittliche Studien zeigen, dass Mädchen mit früher
Reife ein negativeres Körperkonzept, geringeren Selbstwert (Williams & Currie, 2000),
eher Essprobleme (Davies & Furnham, 1986; Wichstrom, 1995; Koff & Rierdan, 1993)
haben und verstärkt zu negativem Affekt neigen (z.B. Petersen & Crockett, 1985; Ge,
Best, Conger & Simons, 1996; Tschann et al., 1994) verglichen mit anderen
Gleichaltrigen. Erklärt werden diese Zusammenhänge durch den Einfluss hormoneller
Veränderungen, insofern, dass hohe Konzentrationen von Testosteron,
follikelstimulierenden Hormonen und dem Stresshormon Cortisol negative Stimmungen
induzieren (Susman et al., 1991; Buchanan et al., 1992).
Weiterhin erklärt die Unzufriedenheit mit dem eigenen (dick erscheinendem) Körper
depressive Verstimmungen bei frühreifenden Mädchen (z.B. Rosenblum & Lewis,
1999). In Studien, die sowohl Indikatoren für körperliche Entwicklung (z.B. BMI) als
auch psychologische Messungen des Körpergefühls nutzen, um depressive
Verstimmung bei Mädchen mit früher Reife vorher zu sagen, wurde deutlich, dass die
subjektive Unzufriedenheit, nicht aber der realistische Anteil des Körperfetts, der
primäre Prädiktor ist (Stice, Hayward, Cameron, Killen & Taylor, 2000). Anhand
längsschnittlicher Daten wurde außerdem deutlich, dass depressive Verstimmungen
besonders schwerwiegend bei den Pubertät und psychosoziale Anpassung 31 Mädchen
auftreten, die früh körperlich reifen und schon vor der Pubertät internalisierende
Symptome zeigten (Hayward, Killen, Wilson, & Hammer, 1997).
Für Jungen zeigt sich ein anderes Bild. Hier steht eine verzögerte pubertäre Reife
verglichen mit Altersgleichen in Zusammenhang mit einem negativem Körperkonzept
(Silbereisen & Kracke, 1997). Jungen mit später körperlicher Reife haben im
Peerkontext negative Erlebnisse (werden gehänselt), sind mit sich wenig zufrieden und
hoffen auf bald eintretendes Wachstum (Kracke, 1993). Überraschenderweise zeigen
Forschungsbefunde jedoch, dass nicht Jungen mit verzögerter sondern die mit früher
Reife trotz eines positiven Körperkonzepts (Blyth et al., 1982; Silbereisen & Kracke,
1997; o`Dea & Abraham, 1999) zu
depressiven Verstimmungen (Nottelmann et al., 1987; Ge et al., 2001) neigen. Dies
wird erklärt durch eine durch die frühen und schnellen hormonellen Veränderungen
bedingte Vulnerabilität für Probleme im Umgang mit stressreichen Lebensereignissen.
Längsschnittliche Befunde zeigen, dass sowohl frühere depressive Gestimmtheit als
auch stressreiche Lebensereignisse negativen Affekt bei frühpubertierenden Jungen
vorher sagt (Ge et al., 2001). Außerdem sind Jungen mit früher Reife, analog zu den
Mädchen, in ältere Peergruppen involviert (Silbereisen & Kracke, 1997) und haben
früher romantische Beziehungen (Susman et al., 1987; Udry et al., 1985), was ein
darüber hinaus erhöhtes Risiko für externalisiertes Problemverhalten (Alkohol, Drogen,
Delinquenz; Tschann et al., 1994; Kracke, 1993) erklärt. Bei Jungen, im Gegensatz zu
Mädchen, konnte anhand längsschnittlicher Untersuchungen nur geringe Effekte des
pubertären Entwicklungstempos auf die psychosoziale Anpassung im Erwachsenenalter
gezeigt werden, die sich auf Substanzkonsum begrenzen. Männer, die während der
Pubertät spät reiften, konsumieren exzessiver Alkohol und berichten größere
alkoholbezogene Probleme, was als eine verfestigte Kompensationsstrategie für
geringen Peerstatus interpretiert wird (Andersson & Magnusson, 1990).
Bezugnehmend auf das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern (Abb. 2) zeigt sich,
dass die bisherige Forschung zur Erklärung von Anpassungsproblemen bei
Pubertierenden auf das Zusammenspiel sexueller Geschlechtsmerkmale und sozialer
Erfahrungen fokussierte (meist durch die Untersuchung bivariater Zusammenhänge
bzw. Mediationsmodelle), jedoch kaum die Interaktion mit hormonellen und
insbesondere zentralnervösen Prozessen berücksichtigt. Vor dem Hintergrund, dass das
Gehirn während der Pubertät Veränderungen unterworfen ist, die funktionale Relevanz
zur Erklärung jugendlichen Problemverhaltens besitzen (vgl. Spear, 2000), sollten
zukünftige Studien untersuchen, biologische Indikatoren einzubeziehen. Bislang liegt
insgesamt zu wenig empirische Evidenz Pubertät und psychosoziale Anpassung 32 für
die komplexen kausalen Mechanismen vor, die die Effekte des pubertären
Entwicklungstempos auf die psychosoziale Anpassung während der Adoleszenz
erklären.
Hormonelle Veränderungen vermittelt über zentralnervöse Besonderheiten (z.B.
Verarbeitung von Informationen sowie Aktivierungen im Gehirn) können typische
Verhaltensweisen von Jugendlichen mit früher und später Reife durch eine besondere
Sensitivität für soziale Rollenmodelle erklären (vgl. Abb. 2). Miltner und Mitarbeiter
(2001) zeigen anhand von EEG-Daten, dass Mädchen mit früher Reife und verzögerter
Reife sensitiver gegenüber pubertätsrelevanten Informationen sind (reflektiert in der
neuronalen Aktivierung im präfrontalen Kortex). Bei Mädchen mit früher Reife
reflektierten die Aktivierungen Interesse, bei Mädchen mit verzögerter Reife hingegen
Scham und Rückzug.
Obwohl diese Befunde auf einer kleinen Stichprobe mit querschnittlicher
Datenerhebung basieren, geben sie doch erste Hinweise für eine bestehende Beziehung
zwischen sozialen Erfahrungen, der Funktion des Gehirns und Informationsverarbeitungsprozessen bei Jugendlichen mit nicht-normativem Entwicklungstempo.
Weitere Beispiele für (insgesamt seltene) längsschnittliche Studien zu Konsequenzen
von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo während der Adoleszenz vor
einem biopsychosozialen Forschungshintergrund sollen im folgenden genannt werden.
Die erste ist eine Studie von Udry (z.B. Halpern, Udry, Campbell, & Suchindrian, 1993;
Udry et al., 1985), die endokrine und psychische Messungen sowie psychosoziale Daten
über drei Jahren zur Analyse der Entwicklung des Sexualverhaltens männlicher
Jugendlicher nutzt. Im Rahmen dieser Studie konnte beispielsweise gezeigt werden,
dass ein Anstieg in den Testosteronkonzentrationen zwar sexuelle Aktivität direkt
fördert, jedoch für das Erleben des ersten Geschlechtsverkehrs soziale Variablen einen
größeren Einfluß besitzen.
Eine zweite Studie von Susman und Mitarbeitern (z.B. Susman et al., 1991) untersuchte
(ebenfalls längsschnittlich), inwieweit hormonelle Veränderungen während der Pubertät
die emotionale Befindlichkeit bei Jungen und Mädchen beeinflußt. Bemerkenswert ist
an dieser Studie, daß über die primären Geschlechtshormone hinaus über mehrere
Meßpunkte die Blutserumkonzentrationen vielfältiger Hormone, die mit körperlicher
Entwicklung in Verbindung stehen, ermittelt wurden. Das dritte Beispiel stammt aus der
kanadischen Forschungsgruppe um Tremblay. Er untersucht Entwicklungspfade zu
aggressivem Verhalten im Längsschnitt über Kindheit und Jugendalter und berichtet
Befunde basierend auf hormonellen und psychologischen Messungen sowie der Analyse
von Interaktionen in der Peergruppe. Beispielsweise konnte hier gezeigt werden, dass
Jungen, die in der Kindheit (6.-12. Lebensjahr) aggressiv waren, in der Pubertät höhere
Testosteron-Konzentrationen haben, Pubertät und psychosoziale Anpassung33 jedoch
nur dann, wenn sie innerhalb ihrer Peergruppe einen hohen sozialen Status innehaben.
Geringere Testosteronkonzentrationen bei in der Kindheit aggressiven Jugendlichen
stehen dem gegenüber mit sozialer Ablehnung in Beziehung. Diese Befunde zeigen,
dass die Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Achse zur Produktion von
Gonadenhormonen
während
der
frühen
Adoleszenz
durch
frühe
Verhaltensauffälligkeiten und kontextuelle Merkmale moduliert werden kann (vgl.
Tremblay, Schaal, Boulerice, Arseneault, Soussignan, & Perusse, 1997).
Bei den meisten Studien zur Beziehung zwischen hormonellen Veränderungen und
Verhaltensproblemen bei Pubertierenden wurden jedoch kaum Rückkoppelungen von
Verhalten auf neuronale oder endokrine Prozesse einbezogen. Diese Wechselwirkungen
sind klar belegt, z.B. bei Leistungssportlerinnen, werden jedoch im Rahmen
interdisziplinärer Studien nur äußerst selten konkurrierend gegenüber den Effekten
sozialer Beziehungen oder Erfahrungen getestet.
4.3 Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo
im Erwachsenenalter
Die empirische Forschung zu Konsequenzen von Unterschieden im pubertären
Entwicklungstempo ist dominiert von Querschnittstudien bzw. nur über wenige Jahre
angelegte Längsschnittstudien, die die Adoleszenz abdecken (z.B. Studien der
Forschungsgruppen um Wichstrom, Ge, Hayward, oder Susman). Nur einzelne
prospektive Längsschnittstudien ermöglichen, die Folgen von Unterschieden im
körperlichen Entwicklungstempo während der Pubertät für das Erwachsenenalter
abzuschätzen. Die bedeutendste dieser Studien von Magnusson (vgl. Stattin &
Magnusson, 1990) folgte 100.000 norwegischen Schülern vom 10. bis zum 30.
Lebensjahr. Stattin und Magnusson konnten zeigen, dass besonders eine sehr frühe
pubertäre Reife (z.B. Menarche vor dem 11. Lebensjahr) mit einer negativeren Prognose
für gelungene psychosoziale Anpassung im späteren Leben verbunden ist. Frauen, die in
der Pubertät sehr früh reiften, waren weniger erfolgreich im Berufsleben und formierten
früher eigene Familien durch Mutterschaft oder Heirat. Diese Effekte werden erklärt
durch frühe Kontakte zu älteren männlichen Peers, die ihrerseits schon arbeiten und
normabweichendes Verhalten zeigen. Durch frühe romantische Beziehungen und frühe
Mutterschaft haben Frühreife weniger Zeit und Motivation, in ihre Bildung zu
investieren und sind somit längerfristig weniger erfolgreich im Berufsleben als andere
Mädchen. Außerdem waren Frauen mit früher Reife häufiger als andere Altergleiche
Pubertät und psychosoziale Anpassung34 in offiziellen Registern zu krimineller
Auffälligkeit vertreten (Stattin & Magnusson, 1990;
Magnusson et al., 1985). Bei Jungen hingegen begrenzten sich die längerfristigen
Effekte von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo auf exzessiven
Alkoholkonsum und damit verbundene Probleme im Erwachsenenalter. Männer, die
während der Adoleszenz später als die Mehrheit körperlich reiften, hatten häufiger
Alkoholprobleme als andere Gleichaltrige, was eine Verfestigung von Verhaltensweisen
reflektieren soll, die im Jugendalter funktional waren, um den geringen Status unter
Peers zu kompensieren (Andersson & Magnusson, 1990).
Eine australische Längsschnittstudie untersuchte fast 6000 weibliche Zwillinge und
analysierte u.a. den Effekt von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo auf das
Eintreten der Menopause. Ein Prädiktor für das frühe Eintreten der Menopause war eine
(retrospektiv berichtete) späte Menarche, d.h. bei Frauen mit später körperlicher Reife
während der Pubertät ist die reproduktive Phase im späteren Leben am kürzesten, bei
ehemals Frühpubertierenden am längsten (Do et al., 1998).
Weiterhin wurden die Längschnittdaten der Oakland Growh Study von Jones und
Mussen genutzt, um Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen zwischen früh und spät
reifenden Jugendlichen im Erwachsenenalter zu analysieren (z.B. Mussen & Jones,
1958).
Das Studiendesign wurde von Livson und Peskin anhand der Reanalyse von Daten der
Berkeley Guidance Study repliziert (z.B. Livson & Peskin, 1980). Peskin zeigte, dass
Frauen mit einer frühen pubertären Reife im Alter von 30 Jahren verantwortungsvoll,
produktiv und zielgerichtet waren verbunden mit einer emotionalen Stabilität und
Integrität. Dem gegenüber zeigten Frauen mit verzögerter Reife während der Pubertät
eine geringere psychologische Integrität im Erwachsenenalter, d.h. sie waren weniger
frustrationstolerant bzw. weniger emotional stabil. Nach den Autoren sollen die
vielfältigen Anpassungsprobleme während der Adoleszenz bei frühreifen Mädchen
längerfristig die Entwicklung effektiver Bewältigungsstrategien gefördert haben, die
wiederum die weitere Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflusst hat (Peskin, 1973).
Für Jungen konnte gezeigt werden, dass auch im Erwachsenenalter ehemals früh
Pubertierende einen hohen sozialen Status inne haben. Sie werden als verantwortungsvoll, soziabel und selbst-kontrolliert, aber auch als rigide, humorlos und konformistisch
beschrieben. Männer mit einer späten Reife während der Pubertät waren dem gegenüber
im Alter von 30 Jahren impulsiv, selbstsicher, emotional stabil und offen für
Erfahrungen (Livson & Peskin, 1980). Ähnliche Befunde wurden 1984 von Ewert
anhand einer deutschen Stichprobe berichtet. Hier waren männliche Pubertät und
psychosoziale Anpassung35 Jugendliche mit später pubertärer Reife im Alter von 18
dominanter in sozialen Interaktionen, verantwortungsvoller und sensibler als ihre
Altersgenossen mit frühem Entwicklungstempo.
Zusammenfassend haben Unterschiede im Tempo der körperlichen Entwicklung
während der frühen Adoleszenz auch Konsequenzen für die psychosoziale Anpassung,
das Familien- und Berufsleben, Reproduktion sowie die Persönlichkeitsentwicklung im
Erwachsenenalter. Besonders bei Mädchen scheint eine frühe Reife den
Entwicklungsweg über die Adoleszenz hinaus zu beeinflussen. Über umfassende
biopsychosoziale Mechanismen der Vermittlung dieser Effekte weiß man jedoch
bislang wenig. Auch beziehen sich die vorliegenden Befunde meist auf Datensätze, die
vor Jahrzehnten erhoben wurden, und es liegen keine Studien vor, die Konsequenzen
über die dritte Lebensdekade hinaus systematisch untersucht haben. Folglich besteht
hier massiver Bedarf an entsprechenden Forschungsprojekten.
5 Ausblick: Schlussfolgerungen für zukünftige Forschung
Der Ausblick konzentriert sich auf zwei Punkte: Zum einen sollen resultierend aus
einem Abgleich von Modellvorstellungen und bisherigen Forschungen
Schlussfolgerungen für zukünftige Unternehmungen und Ziele in der
Pubertätsforschung gezogen werden. Zum anderen werden Hinweise für Prävention
abgeleitet.
Das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern (1994) (aus der Forschung zu sexueller
Entwicklung während der Adoleszenz) bietet ein heuristisches Modell des
Zusammenspiels zwischen hormonellen und zentralnervösen Veränderungen,
Sozialverhalten und Persönlichkeit zur Erklärung von Problemverhalten in der Pubertät
und Adoleszenz. Die Überprüfung der vollständigen Validität des komplexen Modells
ist bisher nicht erfolgt, vielmehr liegt eine Sammlung an Mosaiksteinen vor, die
Beziehungen und Wechselwirkungen innerhalb der Modellvorstellungen repräsentieren
können. Fehlstellen finden sich beispielsweise im Einbeziehen zentral- und autonomnervöser Aspekte von Verhalten und Emotionen, obwohl neuste Forschungsbefunde
bestätigen, dass altersspezifische Veränderungen in kortikalen Strukturen und
neuronalen Systemen mit für Jugendlichen typischen Verhaltensweisen (z.B.
risikoreiches Handeln, wie der Missbrauch von psychoaktiven Substanzen) in
Beziehung stehen. Hormonelle Veränderungen (insbesondere der Einfluss von
Gonadenhormonen auf Verhalten), die in aktuelle Forschungsprojekte einbezogen
wurden, zeigten dem gegenüber nur geringe Effekte auf das Verhalten Jugendlicher
(vgl. Spear, 2000). Letztlich sollte im Modell eine bidirektionale Pubertät und
psychosoziale Anpassung 36 Beziehung zwischen Hormonen und zentralnervösen
Aspekten bei Jugendlichen angenommen werden, denn beide Systeme interagieren und
modulieren z.B. motivationale Zustände. Ziel ist es, die Modellvorstellungen formuliert
vor unterschiedlichen forschungstraditionellem Hintergrund und empirische Befunde
zusammenzubringen. Die Integration unterschiedlicher Forschungsrichtungen scheint
insbesondere bedeutsam vor dem Hintergrund der Dissoziation von somatischer,
intellektueller und sozio-emotionaler Entwicklung während der Pubertät.
Sekulare Akzeleration, wie sie in den letzten Jahrzehnten für die Geschlechtsreife zu
beobachten war, betrifft nicht die kognitive und emotionale Entwicklung. Diese
unterschiedlichen Entwicklungsstände in verschiedenen Domänen mögen insbesondere
Anpassungsprobleme bedingen (z.B. basierend auf Überforderung durch die Umwelt).
Hier besteht eindeutiger Forschungsbedarf für die kommenden Jahre.
Modelle zu den Effekten fortschreitender körperlicher Reife oder Variationen im
Entwicklungstempo fokussieren ausschließlich auf Problemverhaltensweisen, kaum
aber auf normative/positive Entwicklungsergebnisse in der Pubertät (z.B. Autonomie
oder Individuation), obwohl der aktuelle Trend in der Psychologie die Erforschung
positiver Aspekte von Verhalten und Entwicklung anstrebt (vgl. Seligman &
Csikszentmihalyi, 2000).
Deshalb sollte zukünftige Forschung einerseits prüfen, inwieweit die beschrieben
Modelle auch für positive Entwicklungsergebnisse gültig sind, oder aber andere
Mechanismen angenommen werden sollten. Andererseits sollte untersucht werden, in
welchen Entwicklungsdomänen sich Jugendliche abweichenden Entwicklungstempos
sich von der Mehrheit unterscheiden und in welcher Beziehung die einzelnen
Verhaltensaspekte stehen. Darüber hinaus gibt es kein umfassendes biopsychosoziales
Modell, mit dem sowohl Ursachen als auch Konsequenzen von Variationen im
Zeitpunkt der körperlichen Entwicklung während der Pubertät erklärt werden. Auch hier
besteht dringender Bedarf zur Entwicklung und empirischen Überprüfung eines
umfassenden Modells, das über die Vorstellungen von Brooks-Gunn und Mitarbeitern
(1994)
hinausgeht.
Beispielsweise
wäre
es
sinnvoll,
psychosoziale,
evolutionstheoretisch basierte (Belsky et al., 1991), genetische (Comings et al.,2002)
und neuroendokrine Modellvorstellungen zur Ursachen von Unterschieden im Zeitpunkt
der körperlichen Reife dem Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern voran zu stellen
und somit Vorstellungen über konkrete Entwicklungspfade zu sammeln. Diese sollten
dann an einer längsschnittlichen Stichprobe getestet werden.
Hinsichtlich der Prävention von Problemen resultierend aus den biologischem
Veränderungen in der Pubertät erscheinen drei Aspekte von besonderer Bedeutung.
Erstens ist es wichtig, dass die Normalität sowohl körperlicher Veränderungen im
allgemeinen (z.B. Pubertät und psychosoziale Anpassung37 verbunden mit typischen
Veränderungen im Anteil des Körperfetts oder Berücksichtigung der Besonderheiten
kortikaler Verarbeitungsprozesse von Reizen bei Adoleszenten) als auch der großen
Variation im Zeitpunkt des Auftreten dieser Veränderungen zu betonen. Hier könnten
neue Schwerpunkte in der Sexualerziehung im Schulunterricht oder wissenschaftlich
fundierte medial verbreitete Informationen für Jugendliche und ihre Eltern hilfreich
sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Information und Aufklärung zu einem
frühen Zeitpunkt durchgeführt wird, sodass Jugendliche mit frühem Entwicklungstempo
nicht unvorbereitet den körperlichen Veränderungen gegenüberstehen und ihre
Entwicklung als abnormal erleben. Im übrigen hat sich bei der Implementation von
Programmen zu umfassender Sexualerziehung gezeigt, dass frühes Wissen über sexuelle
und körperliche Entwicklung in der Pubertät das Wissen bei Jugendlichen erhöht, ohne
das Alter des ersten Geschlechtsverkehrs herabzusetzen (Hofferth & Hayes, 1987).
Zweitens scheint es wichtig, dass Informationen verbreitet werden darüber, dass
pubertäre Veränderungen bei einigen Jugendlichen zu psychosozialen Problemen wie
depressiver Verstimmung, geringem Selbstwert oder Essproblemen führen kann.
Präventiv könnten besonders für Mädchen Ernährungsberatungen stattfinden sowie
generell in Familien und Schulen eine größere Screening-Awareness für
schwerwiegendere Probleme aufgebaut werden, die effektive Interventionen einleiten.
Interventionen scheinen besonders nützlich, wenn sie an den bekannten Einflußfaktoren
ansetzen, die psychosoziale Problemen während der Pubertät bedingen. Es liegen erste
Trainingsprogramme vor, die Mädchen vor der Pubertät
vermitteln, mit irrationalem Denken umzugehen (Haldeman & Baker, 1992). Solche
Trainings könnte besonders hilfreich sein bei der Prävention depressiver Gefühle
während der Pubertät (und insbesondere bei Mädchen mit früher pubertärer Reife),
indem gegen ein irrational negatives Körperkonzept (welches sich als primärer
Prädiktor für Depression bei pubertierenden Mädchen herausgestellt hat; vgl. Stice et
al., 2000) angegangen wird. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass auch
Hormontherapien beispielsweise bei Jungen und Mädchen mit stark verzögerter
körperlicher Reife, sich positiv auf das psychische Befinden
auswirken (z.B. bezogen auf Selbstkonzept; Schwab et al., 2001).
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