- Max Fuchs

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Erstelldatum 06.10.2015 10:08
MAX FUCHS
Texte zur Kunst und Ästhetik
Aufsätze, Berichte, Rezensionen
Wuppertal 2015
1
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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
3
Teil 1: Kunsttheorie und Ästhetik
Wozu Kunst?
5
Autonomie der Kunst
60
Die Formung des Menschen
79
Darwin und die Kunst
118
Einige Dinge, die man über Kunst und Ästhetik wissen könnte
122
Ethik und Ästhetik – Thesen
124
Kunst und Ästhetik
127
Künste wirken, aber wie?
173
Teil 2: Berichte, Rezensionen, Kontexte
Die documenta XI
178
Die documenta XII
184
Die documenta XIII
189
Die Wohlgesinnten (Jonathan Littell)
192
2
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Sind wir jemals modern gewesen (Thomas Mann)
197
Künste wirken, aber bei wem?
207
Kulturpädagogik und die Freiheit (Michel Foucault)
218
Der Schriftsteller und die Gesellschaft
233
Von der Notwendigkeit der Kulturpädagogik (Theaterpädagogik)
238
3
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Vorwort
Die in dieser Textsammlung zusammengestellten Texte aus den letzten Jahren befassen sich
mit unterschiedlichen Künsten und mit verschiedenen Aspekten von Kunst und Ästhetik. Es
handelt sich um Artikel, Vorträge, Rezensionen und Berichte, die in unterschiedlichen Zeitschriften veröffentlicht bzw. die zu unterschiedlichen Gelegenheiten gehalten wurden.
Sie ergänzen meine systematischen Überlegungen zur Kunst und Ästhetik (bzw. haben diese
vorbereitet), die etwa in den Büchern „Die Macht der Symbole“ (2008) oder „Kunst als kulturelle Praxis“ (2012) dargestellt worden sind.
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TEIL 1: Kunst und Ästhetik
Wozu Kunst?
Zur sozialen und individuellen Funktion und Wirkung von Kunst
Arbeitsmaterialien zum Modellprojekt „Schlüsselkompetenzen erkennen und bewerten“ der
BKJ (Stand 6/01, einige Abbildungen fehlen))
0. Abstract
1. Problemstellung
2. Kunst: Ein symbol- und zeichentheoretischer Zugang
3. Anthropologie der Sinne und der Künste – ein Ausblick
4. Der soziale Gebrauch der Künste – Kulturfunktionen
5. Der Mensch im Mittelpunkt: Kompetenzen als Teil der Persönlichkeit
6. Anhang: Einzelne Künste und spezielle Kulturpädagogiken – Hinweise
6.1 Allgemeines
6.2 Die Macht der Bilder
6.3 Theater als symbolische Form
6.4 Musik, Bildung und der Mensch
7. Literatur
Abstract
Der vorliegende Text hat zum Ziel, pädagogische Wirkungen einer künstlerischen Praxis zu
verstehen und beschreiben zu helfen. Es werden dazu Erkenntnisse aus unterschiedlichen
Wissens- und Reflexionsfeldern zusammengetragen. Insbesondere werden anthropologische,
philosophische und kunsttheoretische Aussagen zu dem Konzept der „Kulturfunktionen“ verdichtet, die wiederum – in Bezug auf den Einzelnen – als „Bildungsfunktionen“ gedeutet
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werden. Diese werden zu dem Konzept der Kompetenz in Beziehung gesetzt, das eine Schlüsselstellung bei der Frage der pädagogischen Wirksamkeit einnimmt. Denn der Kompetenzbegriff erfasst Bildung und Persönlichkeitsentwicklung aus der Sicht der Stärken, Fähigkeiten
und kreativen Möglichkeiten des einzelnen Menschen in seinem sozial-kulturellen Kontext.
1. Problemstellung
Die Ästhetikerin Annemarie Gethmann-Siefert (1995) beendet ihre „Einführung in die Ästhetik“ mit der Bekräftigung der „kulturellen Relevanz der Künste“. Damit meint sie deren unverzichtbare Rolle in einer spezifisch menschlichen Kultur“ (ebd., S. 268). Später präzisiert
sie diese Rolle als Aufgabe bei der „Gestaltung der Natur zum Zweck der Einrichtung des
Menschen in einer menschlichen, ihm gemäßen Welt.“ (ebd.)1. Kunst hat also eine Kulturfunktion, die mit einer oft oberflächlich verstandenen Rede von ihrer Autonomie eher überdeckt wird2. Diese hier genannte Kulturfunktion, die Kunst als „Kulturmacht“ übernehmen
muss, wird später ausdifferenziert und um weitere Kulturfunktionen ergänzt. Der Grundgedanke dieses Textes lässt sich jedoch hieran festmachen: Es geht mir darum, in einer tour
d’Horizon – also eher skizzenhaft und essayistisch – das Feld der Kunsttheorien zu durchmessen, um weitere Anhaltspunkte zu finden, die als Nachweis für die Erfüllung der Kulturfunktionen von Kunst gelten können3. Diese Unternehmung ist in zweierlei Richtung relevant: Im
Hinblick auf den Einzelnen ergibt sich die Frage nach den Bildungswirkungen eines Umgangs
mit Kunst und einer ästhetischen Praxis. Dahinter steckt die Idee, dass gesellschaftliche Kulturfunktionen je individuell gelebt und realisiert werden müssen. Da Bildung als subjektive
Seite der Kultur betrachtet werden kann, werden (soziale) Kulturfunktionen zu (individuellen)
Bildungsfunktionen. Eine pädagogische Wirkungsforschung hat daher die Aufgabe, diese
möglichen Kunst-Wirkungen zu erforschen.
Im Hinblick auf die Gemeinschaft hängt die Legitimierung einer gesellschaftlichen Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Kunstsystems u. a. davon ab, dass der Nachweis der
kulturellen Relevanz der Künste gelingt. Dies muss insbesondere die Kunst- und Kulturpolitik
interessieren, die ständig auf der Suche nach überzeugenden Gründen für ein finanzielles Engagement von Öffentlicher Hand und Privaten sind (Fuchs 2001). Der Schwerpunkt des vor-
Damit sagt Gethmann-Siefert mit anderen Worten, dass Kunst eine Rolle bei der „kulturellen Verfasstheit des
Menschen“ spielt; vgl. Fuchs 1999.
2
Zu diesem schwierigen Topos und seiner politischen Wirkungsgeschichte siehe Nipperdey 1994 und Bollenbeck 1994. Die philosophische Grundlegung erfasst in der „Kritik der Urteilskraft“ I. Kant (1890) unter dem
Stichwort: Zweckmäßigkeit ohne Zweck.
1
6
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liegenden Textes betrifft die erstgenannte (individuumsbezogene) Fragestellung. Daraus erklären sich auch einzelne Abschnitte. Ich diskutiere Kunst als spezifische „symbolische
Form“ im Sinne von Ernst Cassirer (1953/54; 1990). Dies heißt insbesondere, dass die Anthropologie der Künste berührt wird. Diese anthropologische Orientierung bringt es mit sich,
dass Fragen der Menschenbilder relevant werden. Man kann heute geradezu eine anthropologische Wende in unterschiedlichen Disziplinen und Diskursen feststellen (die freilich nicht
immer unter diesem Label zu finden sind). So stellten UNO/UNESCO in den letzten Jahren
ihre Programmatik unter das Motto „Das Subjekt im Mittelpunkt“, weil erkannt worden ist,
dass es letztlich die einzelnen Menschen sind, die die abstrakten Politikvorschläge in ihrer
täglichen Lebenspraxis umsetzen müssen, sollen diese Programme nicht scheitern (DUK
1999; Our Creative Diversity 1995). Im UNO-Kontext entstanden daher auch hochreflektierte
Anthropologieentwürfe – etwa von A. Sen und M. Nussbaum (1993) und ihrer Arbeitsgruppe
zur Lebensqualität -, da nur durch eine präzisierte Vorstellung dessen, was Menschsein ausmacht, vertretbare Kriterien etwa bei Verteilungsfragen in der Entwicklungshilfepolitik zu
gewinnen sind. Dass Humanwissenschaften ein reflektiertes Menschenbild benötigen, liegt
auf der Hand. Aber auch in Feldern, in denen bislang ganz andere Ansatzweisen dominierten,
rücken Fragen des Menschenbildes in den Mittelpunkt des Interesses. Neben der Managementlehre (Woll 1994, Matthiesen 1995) ist es etwa die Soziologie, bei der nicht nur der
Mensch, sondern insbesondere das spezifische Bild des Menschen interessant wird. So wird
zunehmend das verbreitete Konzept des Menschen als „rationales Entscheidungswesen“ als
unzulänglich gesehen, da die Relevanz der Emotionen, des Willens und der Einstellungen als
mindestens ebenso bedeutungsvoll für das alltägliche Handeln betrachtet werden wie die Rationalität des Menschen (Wahl 2000). Hier ist eindeutig eine Entwicklung hin zu einem komplexeren Menschenbild festzustellen, das sehr viel realitätsnäher ist als die bisherigen Konstrukte. Insbesondere in Hinblick auf meine kunstbezogene Fragestellung sind solche komplexen Menschenbilder die Voraussetzung dafür, die Relevanz der Kunst in Bezug auf den
Menschen überhaupt in den Blick nehmen zu können.
Allerdings stellt sich dann sofort – gerade in Deutschland – ein neues Problem. Im Zuge der
Postmoderne ergab sich nicht nur eine Rehabilitation des Ästhetischen gegenüber der Vernunft: Dem Ästhetischen wurde sogar – als „dem Anderen der Vernunft“ – der Vorrang gegeben4. Diese Tendenz hat gerade in Deutschland eine lange Tradition. Denn im Zuge eines
kultur- und zivilisationskritischen Diskurses seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde politisch,
3
Weitere Ausführungen zur Kunst, auf die ich mich hier stütze, finden sich in meinen Büchern Fuchs 1994,
1999 (Symbole) und in Fuchs/Liebald 1995.
4
Zur Bilanzierung siehe das Themenheft „Postmoderne“ des Merkur, Heft 9/10 1998.
7
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epistemologisch und anthropologisch die Aufklärung als Ursache für menschenunwürdige
Zustände bewertet – mit dem Höhepunkt in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno (1971). Als Gegenbewegung quer durch das gesamte Geistesleben entstand die
Romantik, wobei vernunftorientierte Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ die „Dialektik
der Romantik“ entgegenstellten. Ein wichtiges Beispiel ist etwa die polemische Kampfschrift
„Die Zerstörung der Vernunft“ von Georg Lukacs (1983/84). Da die Künste und das Ästhetische in diesem Romantik-Diskurs im Mittelpunkt stehen, sind sie auch in das Zentrum eines
hochgradig ideologischen Streites geraten (Klinger 1995). Dies hat zur Folge, dass alle unsere
Begriffe und Kategorien, die eine philosophische oder kunsttheoretische Relevanz haben,
nahezu hoffnungslos in ihrer Semantik von diesem ideologischen Streit überlagert werden.
Wer heute daher versucht, reale Wirkungen und Funktionen von Kunst in Bezug auf Gesellschaft und Einzelnen zu untersuchen, steht vor der fast aussichtslosen Lage, diese Bedeutungsschichten entwirren zu müssen.
Im folgenden versuche ich, zumindest einige Zugangsmöglichkeiten aufzuzeigen und Werkzeuge bereitzustellen, die in diesem Prozess hilfreich sein könnten5.
2. Kunst: Ein symbol- und zeichentheoretischer Zugang
Eine erste Annäherung an Kunst gewinne ich im Kontext der Philosophie der symbolischen
Formen von Ernst Cassirer (1990; vgl. auch Langer 1979). Cassirer arbeitet die Relevanz des
Symbols für den Menschen – und nur für ihn – heraus, wobei das „Symbol“ eine Verbindung
zwischen einem (sinnlich wahrnehmbaren) Gegenstand, Ding oder Prozess und einer vom
Menschen geschaffenen „Bedeutung“ erfasst. Symbole sind von unterschiedlichster Art:
Werkzeuge und Waffen, Worte und Bilder, Sprache und Geld begleiten die Menschwerdung,
so dass Cassirer verschiedene „symbolische Formen“ als Weltzugangsweisen unterscheiden
kann6: Mythos, Sprache, Religion, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Technik. Jede
dieser symbolischen Formen ist notwendig, weil zwar jede das Ganze in den Blick nimmt,
dies aber jeweils auf spezifische Weise tat (Cassirer spricht von verschiedenen „Brechungswinkeln“ – vgl. Fuchs, 1999). Symbolische Formen sind unterschiedlich nah am Menschen
bzw. am Gegenstand, auf den sie sich beziehen. Bei Künsten insgesamt gibt es eine vergleichsweise große Nähe zum Subjekt und dessen innerer Befindlichkeit. Allerdings nicht in
5
Ich knüpfe hierbei an (auch) mentalitätsgeschichtlich orientierte Studien wie der zur Geschichte der IchKonzepte (Fuchs 2001) an.
6
Ähnlich auch Goodman 1990.
8
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der oft vorgestellten simplen Verständnisweise von Kunst als bloßem individuellen Gefühlsausdruck, sondern als Ausdruck „verallgemeinerter Gefühle“: In der künstlerischen Expressivität finde ich mich mit meiner eigenen Emotionalität als Teil des Gattungswesens Mensch
wieder. Die Partikularität des Individuums wird im Erleben der Allgemeinheit der Gattung
aufgehoben7. Ich komme darauf zurück.
Das Symbol ist als zweistellige Relation (zwischen Artefakt und Bedeutung) eingeführt worden. Ich greife zur Ausdifferenzierung dieser Relation auf ein semiotisches Zeichenmodell
zurück, das sich als nützliches Werkzeug gerade im Hinblick auf Wirkungen und Funktionen
von Kunstwerken und -prozessen erweist8. Man stelle sich ein Kunstwerk (Bild, Roman, Musikstück, Tanz, Theateraufführung etc. vor). All dies sind zunächst sinnlich fassbare Dinge
und Prozesse: Man kann sie sehen, hören, riechen, vielleicht sogar fühlen und schmecken. Die
„syntaktische Dimension“ erfasst die Art und Weise der ästhetischen Gestaltung, die
Formsprache, die Gestaltungsmittel. Der oben vorgestellte Bedeutungsaspekt, das also, was
als Interpretation auf dieses Artefakt bezogen wird, geht in der „semantischen Funktion“ auf.
Diese unterteilt man gelegentlich in Semantik i.e.S. und Sigmatik, wenn man eine Abbildrelation, also ein dargestelltes Objekt, auf das sich das Kunstwerk bezieht, identifizieren kann.
Nun fallen Kunstwerke nicht vom Himmel – sie werden hergestellt. Einige Definitionen von
Kunst verlangen zudem, dass nur eine rezipierte Kunst als solche bezeichnet wird: Die
„pragmatische Dimension“ bringt explizit die Menschen – Produzenten und Rezipienten – ins
Spiel.
Es ist offensichtlich, dass diese Unterscheidung verschiedener semiotischer Funktionen bloß
analytisch ist: Denn der Mensch nimmt Kunst durch die Brille angeeigneter Bedeutungsstrukturen wahr, die wiederum abhängig sind von den verwendeten Stil- und Gestaltungsmitteln.
Schematisch stellt sich die Situation dar wie in Abb. 1.
So einfach dieses Schema auch ist: es lassen sich bestimmte kunsttheoretische Sachverhalte
und Ansätze daran erläutern. So kann man in der kunsttheoretischen Debatte eine Verschiebung feststellen – von einer eher objektivistischen Sichtweise, die ausschließlich das Kunstwerk und seine immanente Gestaltung betrachtet, über eine größere Betonung der Rolle des
Künstlers – auch als Autorität für die Deutung seines eigenen Werks – bis zur Dominanz des
In diesen Kontext gehört auch der Gedanke, dass jeder einzelne Mensch – auf besondere Art – die gesamte
Gattung repräsentiert. Bei Lukacs heißt es: „In der ästhetischen Kartharsis gelangt das partikuläre Alltagsindividuum zum Selbstbewusstsein der Menschgattung. Die Kunst wird zur Erinnerung der Menschheit, zum sich
objektivierenden, weltschaffenden, geschichtlichen Gedächtnis.“ (Lukacs 1972; vgl. auch Holz 1996 ff.). So
ähnlich auch der Musiker und Psychologe Holzkamp bei seiner Beschreibung von Musikwirkungen; s. u.
8
Semiotik ist inzwischen ein verbreitetes Instrumentarium in der Kunstanalyse; vgl. etwa Fischer-Lichte 1988,
Schmieder 1980 sowie die Schriften von Umberto Eco zur Literatur und insgesamt zur Kulturanalyse; siehe auch
Fuchs 1999.
7
9
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Publikums, der Rezeption: Das Kunstwerk entsteht diesen Ansätzen zufolge geradezu erst in
den Köpfen der Rezipienten.
Damit wäre eine Subjektorientierung gegeben, die sich etwa an der Konjunktur von Kategorien ablesen lässt, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen: etwa seine ästhetische Erfahrung oder das „Erlebnis“ im Umgang mit Kunst. Anders gehen solche Ansätze vor, die
den ästhetischen Gegenstand in den Mittelpunkt stellen. Diese versuchen, mit unterschiedlichsten Methoden (informationstheoretischen, phänomenologischen etc.) diesen Gegenstand
präzise so zu beschreiben, dass eine „Ontologie des Ästhetischen“ entsteht. 9
Abb. 1: Semiotik des Kunstwerks
Semantik:
Bedeutung, Interpretationen
Syntax:
Gestaltungsmittel
Formensprache
Kunstwerk oder
-prozess
(physikalischer Träger)
Sigmatik:
Bezugsmotiv,
Gegenstand (falls
vorhanden)
Pragmatik
Produzent
Rezipient
Die jüngste Entwicklung – sehr deutlich etwa in den Cultural Studies – erweitert den Rezipienten-Ansatz um die Einbeziehung des sozialen und kulturellen Kontextes: Hier untersucht
man sehr stark die soziale und kulturelle Prägung der Rezipienten als Basis ihres Kunstzugangs und ihrer ästhetischen Praxis (Hepp/Winter 1997; Hörning/Winter 1999) (Abb. 2).
Abb. 2: Subjekt, Objekt und die Kunst
gesellschaftlicher
Kontext
ästhetische Syntax
9
Es gibt unzählige kunsttheoretische Ansätze; vgl. etwa die Textsammlung Henrich/Iser 1997 sowie Pochat
1986 und 1983. Zwischen Subjekt und Werk vermittelnde Positionen gehen etwa davon aus, dass es auf evolutionärem Weg zu einer Art Homologie zwischen der Naturgeschichte menschlicher Rezpetionsvermögen und
sachbezogener („ontologischer“) Strukturbildung gekommen ist; so etwa H.H. Holz in seiner Philosophie der
Bildenden Kunst.
10
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Subjekt
(schafft „Bedeutung“)
ästhetischer
Schein
ästhetischer
Gegenstand/Prozess
der Rezeption
subjektbezogene Kategorien:
 Sinnlichkeit
 ästhetische Erfahrung
 Geschmack
 Leib
 Anschauung
 Erlebnis
Ontologie des
Ästhetischen
Im Hinblick auf die unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit den Künsten befassen, lassen
sich grob folgende Zuordnungen treffen:

Die speziellen Kunstwissenschaften (also Musik-, Tanz-, Theater- etc.-wissenschaft) haben einen Schwerpunkt in der immanenten Betrachtung der Kunstwerke und der Entwicklung der Sparten.

Die Psychologien der Künste untersuchen – gelegentlich auch in historischer Perspektive
– die subjektiven Aneignungs- und Rezeptionsweisen.

Ästhetik wird – oft – als philosophische Reflexionstheorie der Kunst betrachtet.

Kultur- und Kunstsoziologie untersuchen den sozialen Gebrauch der Künste; sie sind die
genuinen Wissenschaften von den „Kulturfunktionen“ der Künste. Aufgabe der Kultursoziologie ist u. a. die Untersuchung des spezifischen Feldes, in dem sich der jeweilige
Kunstbetrieb entfaltet.

Die Pädagogiken (der Kunst-Sparten) befassen sich mit (Bildungs-)Funktionen und Wirkungen der Künste.

Noch relativ neu ist eine Zivilisationsgeschichte der Künste, die in historischer Perspektive sowohl die immanente Entwicklung der Künste, als auch ihren Bezug zu sozialkulturellen Entwicklungen der Gesellschaft darstellt (Abb. 3). 10
10
Vgl. etwa Fischer-Lichte 2000, Klein 1992 oder Kaden 1993.
11
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Abb. 3: Kunst, Kultur, Bildung
Theorien der Künste
Kulturfunktionen
(in der Geschichte)
Theorien der Kunstpädagogiken
(Musik, Tanz, ...)
Bildungsfunktionen
Teil des FELDES (i.S. von P. Bourdieu):
System von Akteuren und ihren Beziehungen (Künstler, Vermittler, Nutzer, Staat, Verbände, Einrichtungen, Zeitschriften ...)
3. Anthropologie der Sinne und der Künste – ein Ausblick
Die anthropologische Dimension lässt sich – so wie die Überschrift dieses Abschnittes es tut –
in zwei Bereiche aufteilen: die Sinne und die künstlerische Dimension des Menschen.11
Die Sinne – Sehen, Hören etc. – sind mit spezifischen Organen des Menschen verbunden.12
Sie erfassen je spezifische Gegebenheiten und Facetten eines Gegenstandes (gerne auch: sie
(re-)konstruieren diese) in einem aktiven Prozess.
Ohne dies hier weiter ausführen zu wollen, gilt auch für die Sinne die von Plessner (1976 im
Kontext seiner These von der exzentrischen Positionalität des Menschen) ausgearbeitete
Überlegung, dass der Grundmodus des menschlichen Lebens seine Reflexivität ist: Der
11
Dies entspricht der Doppelbedeutung von aeisthesis: Wahrnehmung schlechthin und Kunstwahrnehmung.
Baumgarten als Begründer der Ästhetik als philosophischer Disziplin hat sich um beides bemüht: die Rehabilitation der Sinne und der Wahrnehmung, aber auch um eine Grundlegung eines einheitlichen Begriffes von Kunst,
der die bis dahin – z.T. bloß „mechanischen“ – Künste („artes“ i. S. des Mittelalters) unter einen einheitlichen
Begriff packt. Trotzdem ist das Selbstverständnis, zu einem allgemeinen Kunstbegriff zu gehören, bis heute nicht
gleichmäßig ausgeprägt: Unter „Kunst“ wird oft genug nur die Bildende Kunst gezählt, und auch die Musik und
die Literatur wollen stets gesondert genannt werden. Der Begriff der „performing arts“, der neben Theater auch
Tanz und die Musik erfasst, hat sich in Deutschland bislang nicht durchgesetzt.
12
Vgl. das Handbuch „Vom Menschen“ (Wulf 1997), das entsprechende Abschnitte zu der Natur- und Kulturgeschichte der Organe und ihrer Leistungsfähigkeit im historischen Wandel enthält.
12
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Mensch sieht, hört, spürt, riecht etc. einen Gegenstand oder Prozess; gleichzeitig erlebt er sich
selbst als Sehenden, Hörenden, Spürenden etc.13
Abb. 4: Reflexivität und Gegenstandsbezug der Sinne
KONTEXT: Kultur und Soziales
Subjekt mit
Organen/Sinnen:
 Auge/Sehen
 Nase/Riechen
 Haut/Fühlen
 Zunge/Schmecken
 Ohr/Hören
Objekt mit
Gegenstandsqualitäten:
 Visuelles
 Akustisches
…
…
…
Reflexivität der Sinne
Künstlerische Aktivitäten
Diese sinnlichen Prozesse werden in ästhetisch-künstlerischen Kontexten auf besondere Weise „kultiviert“. Es ist Aufgabe einer Kunsttheorie und Kunstwirkungsforschung, die „Besonderheit“, die Alltagswahrnehmung/Praxis von künstlerischer/ästhetischer Wahrnehmung/Praxis unterscheidet, präziser zu fassen.
Spätestens an dieser Stelle ist zudem darauf hinzuweisen, dass das verwendete Persönlichkeitsmodell die eingangs angesprochene Komplexität erfüllen muss, es also Sinnlichkeit und
Verstand, Gefühl und Fantasie, Werte und Wille berücksichtigt. Im Vorgriff auf den später zu
erläuternden Kompetenzbegriff lässt sich dies modellieren wie in Abb. 5 (in Anlehnung an
Graphiken in Erpenbeck/Heyse 1999).
Abb. 5: Persönlichkeit, Bewusstheit und Reflexivität
„Reflexivität“ dürfte der zentrale Lebensmodus des Menschen sein. Selbst die später aufgeführten Prozessmerkmale menschlicher Lebendigkeit wie Selbstorganisation, Selbststeuerung etc. (Gerhardt 1999) setzen Reflexivität voraus.
13
13
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bewusstes Verhältnis zu Geschichte und Zukunft
(Zeitkompetenz)
Wissen
Fähigkeiten
Fantasie
Willen
Fertigkeiten
bewusstes Verhältnis zu Gesellschaft und Natur
(u. a. Sozialkompetenz)
Erfahrungen
bewusstes Verhältnis zu sich
(Selbstkompetenz)
Im Hinblick auf die Anthropologie der Künste will ich nur zwei Hinweise geben:
Eine erste Hypothese erklärt die Entstehung und Funktion des Ästhetischen mit dem Bewusstwerden der Risiken des Überlebens: Der Mensch braucht ein Medium, das ihm die Bewältigung seiner Emotionen ermöglicht (Neumann 1996). Eine zweite Hypothese stammt von
Gehlen (1950). Dieser deutet die Freude des Menschen an „schönen“ Signalen so, dass es
solche Signale waren, die er als instinktgebundenes Wesen zwanghaft mit bestimmten festgelegten Handlungen befolgen musste. Befreit von Instinktzwängen erkennt er zwar noch die
Signale, muss sie jedoch nicht mehr zwanghaft befolgen: Er erlebt sich in seiner Freiheit –
und freut sich. Ästhetischer Genuss ist also letztlich nicht gegenstandsbezogen, sondern der
Mensch feiert in seiner Freude am „Schönen“ den Gewinn von Freiheit und damit letztlich
sich selber.14
Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass die heutige Trennung von Ästhetik, theoretischer Philosophie/Erkenntnislehre und Moralphilosophie ein junges Ergebnis des sich ausdifferenzierenden philosophischen Systems ist und schon gar nicht eineindeutig mit – ebenfalls
als deutlich unterscheidbar angenommenen – Bereichen im menschlichen Hirn korrespondiert. Vielmehr ist von einer Einheitlichkeit sowohl des psychischen Apparates als auch der
Philosophie auszugehen, bei der kognitive, emotionale, volitive und motivationale Aspekte
14
So auch die Psychologie des Ästhetischen, die folgende Funktionen des Schönen aufführt: das Schöne erfreut
und beglückt, erleichtert Orientierung, bereichert Verhalten und Handeln, erinnert und schafft Rückbindungen
(Schurian 1986).
14
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sich ständig durchmischen. Dies gilt insbesondere für die Frühzeit des Menschen. Hier darf
man von Anbeginn an von einer Gleichursprünglichkeit eines theoretischen, moralischen und
ästhetischen Verhaltens zur Welt ausgehen. So schreibt der Anthropologe Leroi-Gourhan:
„Die ästhetische Sensibilität des Menschen hat ihre Ursprünge in den tieferen Bereichen der
viszeralen und muskulären Sensibilität, in der Hautsensibilität, in den Sinnen des Riechens/Schmeckens, Sehens und Hörens, und schließlich auch im intellektuellen Bild, dem
symbolischen Reflex des gesamten Empfindungsgeflechtes.“
Und:
„Noch die reinste Kunst ist stets in tiefsten Schichten verankert, sie taucht nur mit der Spitze
aus jenem Sockel aus Fleisch und Blut hervor, ohne den sie nicht wäre.“ (Zitiert nach Schurian 1986, S. 188).
Den erstgenannten Gedanken – ästhetische Expressivität als Mittel zur Stressbewältigung –
kann ich nutzen, um einige weitere Elemente der Philosophie der symbolischen Formen in
Hinblick auf Kunst zu präzisieren. Die Bewältigung von Emotionen lässt sich als Schaffen
von Ordnung – dieses Mal im Inneren des Menschen – begreifen. Dies ist kompatibel mit der
Ordnungsfunktion symbolischer Formen in der Außenwelt: Götternamen z. B., so eine frühe
Studie von Cassirer (1956), schaffen eine künstlich hergestellte Ordnung in der chaotischen
Welt der Naturereignisse. Sie sind Mittel der Benennung, der Repräsentanz, der Beschwörung, der Beeinflussung. Sie strukturieren das Verhältnis des Menschen zur Natur und in der
Gemeinschaft. Der Mensch braucht Ordnung und Struktur, und er braucht sie im Hinblick auf
den zweiten oben genannten Gedanken, um nämlich Freiheit zu realisieren (Cassirer 1961).
Künstlerische Tätigkeit schafft eine solche Ordnung. Ein Kunstwerk oder -prozess ist Kosmos, ist gesetzmäßig gestaltete Ganzheit. Auch andere anthropologische Grundgesetze gelten
– z.T. geradezu vorbildlich – für Kunst; ich liste einige auf:

der Prozess von Aneignung und Vergegenständlichung der menschlichen Wesenskräfte;

der Prozess kumulativer Entwicklung, der dadurch zustande kommt, dass nachfolgende
Generationen auf den (vergegenständlichten) Kenntnisstand der vergangenen Generationen aufbauen können („soziales und kulturelles Gedächtnis“);

der Prozess der Reflexivität, der in jeder Entäußerung und Objektivierung des Inneren des
Menschen dieses für sich und andere kommunikabel macht.
Auch der Symbolcharakter, so wie er oben dargestellt wurde, ist in Kunstwerken offensichtlich:

die Verbindung von sinnlich wahrnehmbaren Dingen/Prozessen und einer Bedeutung,

die dazu führt, das dargestellte, aber nicht vorhandene Objekt präsent zu machen und/oder
15
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
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abstrakten Ideen eine gegenständliche Repräsentanz zu geben.
Niklas Luhmann, auf den noch zurückzukommen ist, charakterisiert das Kunstsystem
dadurch, dass dort mit Kunstwerken kommuniziert wird.15 Die oben vorgestellten Grundideen
bestätigen diesen Ansatz: Kunstwerke sind Medien der Kommunikation des Menschen mit
sich und mit anderen. Sie sind Gestaltung von Raum und Zeit – freilich je nach Kunstsparte
auf unterschiedliche Weise.
Kunstwerke sind verdichtete Stellungnahmen zur Welt. Denn in keinem künstlerischen Prozess wird bloß etwas abgebildet16, sondern jede Form von „Abbildung“ enthält eine Bewertung und oft auch eine Aufforderung zum Handeln. Es sind also – bezogen auf die Persönlichkeit – alle Dimensionen angesprochen:

Erkennen und Bewerten,

Kognition und Emotion,

Fantasie und Wollen.
Auch die kommunikativen Dimensionen, die in der Theorie von Watzlawik entwickelt werden, sind unschwer – zumindest als heuristisches Frageraster – an Kunstwerken zu studieren,
nämlich die Frage danach, wie

Darstellen,

Appellieren,

Beziehungen herstellen
im Einzelnen funktioniert.
15
Auch das ist ein relevanter Ansatz: von den Arten der Kommunikation in der Gesellschaft auszugehen, also
ästhetische, moralische, politische etc. Kommunikation zu unterscheiden; vgl. Plumpe 1993. In diesen Kontext
gehört die allgemeine Theorie der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme; vgl. umfassend Luhmann 1997, Kap. 5 sowie speziell bezogen auf Kunst Luhmann 1995.
16
Selbst diejenige ästhetische Kategorie, die die Widerspiegelung am ehesten zu suggerieren scheint, der Begriff
der „Mimesis“, geht ursprünglich auf das handelnde, also bereits gestaltete, darstellerische Nachahmen von Mimen in der griechischen Polis zurück.
16
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Man sieht:
Die unterschiedlichen Theorien der Künste, die im Laufe der Zeit entwickelt worden sind,
lassen sich in ihren Grundideen auf sehr basale und elementare anthropologische und symboltheoretische Prinzipien zurückführen.
Machen wir einen Sprung in die aktuelle Ästhetik-Diskussion, so zeigt sich, dass sich aktuelle
künstlerische Probleme genau an der Ausformung jener „klassischen“ Prinzipien festmachen.
Ich gebe einige Beispiele:

Gerade die Kunst ist – zumindest in den letzten 200 Jahren – in ihrem Selbstverständnis
der Ort der Entwicklung von Neuem, der Auseinandersetzung mit Tradition geworden, so
dass ein Widerspruch – durchaus im Sinne der Dialektik als Bewegungsgesetz und Motor
verstanden – derjenige von Bekanntheit und Innovation ist.

Der Kosmoscharakter von Kunstwerken bedeutet, dass eine Strukturierung insbesondere
von Raum und Zeit geschieht, so dass der Widerspruch zwischen Offenheit und Geschlossenheit zentral wirksam wird.

Die Materialität des Kunstwerkes wird in den „flüchtigen“ Kunstformen, die nur im Augenblick entstehen – also etwa Tanz, Theater, Musik –, besonders zu diskutieren sein,
aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die aktuelle Medienentwicklung, die Entstehung von Kunstwerken in Rechnern und Netzen, hat Virtualität zum Prinzip, so dass sich
hier das Problem „Fiktionalität und Virtualität versus Materialität“ verschärft stellt. Im
Zuge der Postmoderne stellen sich als ästhetische Grundfragen etwa die folgenden:
-
die Auflösung von Stilen zu Gunsten von Bricolage, was insbesondere die Frage des
historischen Bewusstseins und seiner Vergegenständlichung in der Kunst stellt;
-
die Frage nach der Referenz, also die Thematisierung der sigmatischen und semantischen Funktion bzw. die These von der Verselbständigung der Zeichen ohne Referenz;
-
Fragen der Konstruktion – als Schaffung von Neuem, als kreativem Akt – und ihr
Verhältnis zur Dekonstruktion. Zugleich kehren archaische Denkmotive zurück: etwa
der Mythos (gegen Vernunft);
-
und immer wieder die Frage danach, ob eine Kunstproduktion in der Warengesellschaft nicht doch von der Logik der Warenförmigkeit so überlagert wird, dass genuine
Kunst- (als Kultur-)funktionen nicht mehr erfüllt werden.17
17
In diesen Kontext gehört auch die harsche Kritik des Kulturgeschichtlers Jost Hermand, der in der Entwicklung elitärer Ismen in den Künsten (serielle Musik, Absurdes Theater, PopArt) wenig demokratische Kunstformen sieht, die sich vor allem dem Wunsch verdanken, Aufmerksamkeit auf dem Markt zu erzielen; vgl. Hermand 1990, S. 278ff.
17
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Im Hinblick auf die Frage nach den Wirkungen lässt sich diese anthropologische und symboltheoretische Skizze insofern auswerten, als Kunst als symbolische Form identifiziert wird und
somit all jene Funktionen erfüllt, die jede symbolische Form erfüllt. Die Beweisbarkeit dieser
These steht und fällt daher mit der Überzeugungskraft der Philosophie der symbolischen
Formen.
Anthropologie ist jedoch nicht bloß spekulative philosophische Anthropologie, sondern auch
ganz handfest empirische Sozial- und Kulturanthropologie und Ethnologie. Hier lassen sich
abstrakte anthropologische Funktionen, so wie sie oben beschrieben wurden, am konkreten
Fall studieren.
Cassirer (1990) bezeichnet als „Kultur“ die Sinne aller symbolischen Formen. Funktionen
dieser symbolischen Formen sind daher Kulturfunktionen. Ein Teil der Kulturfunktionen
kann also anthropologisch und symboltheoretisch begründet werden. Die Konkretisierung im
Hinblick auf historisch-konkrete Gegebenheiten, ihre Ausdifferenzierung und gegebenenfalls
neue Kulturfunktionen liefert allerdings erst eine soziologische Betrachtungsweise.
4. Der soziale Gebrauch der Künste: die Kulturfunktionen
Die anthropologische Sichtweise liefert – wie gesehen – eine Reihe fundamentaler Kulturfunktionen. Ich gebe hier einen erweiterten Katalog solcher Kulturfunktionen an und werde
im Anschluss daran zeigen, wie sie auf der Grundlage ausgewählter soziologischer Theorien
begründet werden können. Kulturfunktionen sind etwa die folgenden:

Entwicklung von Zeitbewusstsein im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft,

Entwicklung von Raumbewusstsein,

Identitätsbildung von Personen und Gruppen,

Herstellung und Aushalten von Pluralität,

Angebot von Deutungen und Deutungsmustern, Weltbildern,

Symbolisierung von Gemeinschaftserfahrungen,

Angebote für Lebensführungen und Lebensbeschreibungen (Biographie),

Angebot von Lebensstilen (i. S. der aktuellen Lebensstilsoziologie und im weiten Sinne
von Rothacker),

De-Legitimation von Prozessen in den gesellschaftlichen Bereichen der Politik, des Marktes, der Gemeinschaft, des Rechts etc.,
18
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
Reflexivität je aktueller Formen von Sittlichkeit und Moral,

Selbstbeschreibung von Einzelnen, Gruppen, Gesellschaften, Zeitabschnitten, Selbstbeobachtung,

Angstbewältigung angesichts gesellschaftlicher oder individueller Risiken,

Integration.
Neben anthropologischen Argumentationen zu Gunsten dieser Funktionen führen soziologische Begründungen weiter. Insbesondere liefern soziologische Systemtheorien Aufschlüsse.
Richard Münch (1991) und Niklas Luhmann beziehen sich beide auf die Systemtheorie von
Talcot Parsons, entwickeln sie aber sehr unterschiedlich weiter. Aufschlussreich ist die folgende Grafik (Abb. 6) von Münch (in Anschluss an das AGIL-System von Parsons):
Die Grafik ist auf den ersten Blick sicherlich unübersichtlich. Das Grundprinzip ist ein Vierfelder-Schema, das eine Aufteilung des sozialen Systems („die Gesellschaft“) in vier relevante Subsysteme (Wirtschaft, Politik, Soziales, Kultur) vornimmt. Jedes dieser Subsysteme hat
eine spezifische Funktion sowohl in Beziehung auf das Ganze der Gesellschaft als auch zu
den anderen Subsystemen. Außerdem hat jedes Subsystem – verbunden mit der jeweiligen
Spezialaufgabe – ein eigenes zentrales Medium, das eine subsystemspezifische „Sprache“
schafft:
Wirtschaft: Geld; Politik: Macht; Soziales: Solidarität; Kultur: Sinn.
Die Spezialfunktionen sind
Wirtschaft:
Adaptation
Politik:
Goal attainment
Soziales:
Integration
Kultur:
Latent pattern maintenance
Es ergibt sich daher Abb. 7
Abb. 7:
G
A
I
L
19
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Abb. 6: Die Interpenetration der gesellschaftlichen Subsysteme
(entfällt)
Quelle: Münch 1991, S 371
20
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Für das Subsystem Kultur, das das Kunstsystem, aber auch Religion, Bildung und Wissenschaft enthält, ist SINN-Kommunikation der zentrale Prozess mit dem Ziel, (verborgene)
Wertstrukturen und Orientierungsmuster in der Gesellschaft zu erhalten. Im Hinblick auf andere Subsysteme sind es vor allem Prozesse der Legitimation und Delegitimation, die das
Kultursystem kommuniziert.
Nun hat man reichlich Kritik geübt an dem Kulturbegriff von Parsons: zu starr, zu konservierend, zu schablonenhaft, zu einheitlich. Die Dynamik moderner Gesellschaft mit ihrer Pluralität könne wenig auf diese Weise modelliert werden. Richard Münch versucht daher seit Jahren, die Ansätze von Parsons auf die Situation entwickelter Gesellschaften anzupassen. Für
unsere Zwecke will ich festhalten:

Aufgabe des Kultursystems ist die Kommunikation von Sinn.

„Sinnhaftigkeit“ ist daher auch ein Kriterium für die Beschreibung und Bewertung der
Prozesse in Politik, Wirtschaft und Sozialem.

Das spezifische Kommunkationsmittel im Kunstsystem sind Kunstwerke und -prozesse
(die zu dem Sinn-Diskurs beitragen).

Sie nehmen als L (im Sinne des AGIL-Schemas) die Welt, also „AGI“, in den Blick in der
bewertenden Perspektive der Legitimation der Subsysteme Wirtschaft, Politik und Soziales.

Das Kultursystem selber ist vielfältig abhängig von den anderen Subsystemen (der Begriff
dieser Wechselwirkung ist der der Interpenetration).
Luhmann bringt zusätzlich weitere Erkenntnisse in unsere Überlegungen ein. Ich will hier nur
drei anführen:

der Gedanke der Autopoiesis und der Selbstorganisation,

der Gedanke der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung,

der Gedanke der Kontingenz.
Die Funktionen der Subsysteme i. S. von Luhmann gibt folgende komprimierte Übersicht an
(Abb. 8).
21
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Abb. 8: Beobachtung sozialer Systeme und kommunikativer Wirklichkeiten
Quelle: Krause 1999, S. 36
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Ein weiterer Soziologe, Pierre Bourdieu (1994, 1987, 1996, 1999) lehrt uns nicht nur, neben
den humanisierenden Wirkungen der Künste ihre segmentierenden Wirkungen zu studieren.
Daneben ist das Konzept des Feldes hoch relevant, weil es die Genese und Funktionsweise
der Interaktions- und Kommunikationssysteme – wie etwa, Literatur, Musik, etc. – zu verstehen lehrt (Jurt 1995).
Neben diesen eher sach- und fachbezogenen Ansätzen sind es in großer Zahl Soziologen, die
sich mit den globalen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft (Stichwort: Zeitdiagnose) auseinander setzen. Dies hat eine Tradition, die bereits rund um 1900 mit den großen Würfen zur
Bewertung der Moderne einen Höhepunkt hat: u. a. von Max Weber, Georg Simmel, Emile
Durkheim. Für die heutige Situation liste ich verbreitete „Soziologische Gegenwartsdiagnosen“ (Schimank/Volkmann 2000) auf:

Zweite Moderne und Risikogesellschaft (Ulrich Beck)

Kommunikationsgesellschaft (Richard Münch)

Lebenswelt- und Zivilgesellschaft (Jürgen Habermas)

Erlebnisgesellschaft (Gerhard Schulze)

Multioptionsgesellschaft (Peter Gross)

Systemtheorie der Gesellschaft (Niklas Luhman).
Aus Frankreich kommen die Analysen /Diagnosen von Bruno Latour, Jean Baudrillard, Alain
Tourraine und Pierre Bourdieu. Aus Großbritannien kommen Anthony Giddens, Zygmunt
Baumann und Ralf Dahrendorf; und aus den USA James Coleman, Amitai Etzioni, George
Ritzer, Samuel Huntington und Richard Sennett.
Ein anderes Überblicks-Buch (Kneer/Nassehi/Schroer 1997) unterscheidet (mit großen Überschneidungen) die postmoderne, multikulturelle, schamlose, funktional differenzierte, individualisierte, postindustrielle, Disziplinar-, Welt-, Zivil-, Risiko-, Markt-, Erlebnis- und Informations- und Mediengesellschaft. Kein Mangel also an umfassenden Gesellschaftsdiagosen.
Bereits ein oberflächlicher Blick zeigt: Es geht um die zunehmende Erkenntnis von der Ambivalenz der Moderne und der Zumutungen der Moderne an das Individuum. Diese Traditionslinie ist überraschend alt. Bereits Rousseau hat Mitte des 18. Jahrhunderts für einen europaweit wahrgenommenen Paukenschlag mit seiner Preisschrift von Dijon (1750) gesorgt:
Dass die Wissenschaften und Künste eben doch nicht „zur Läuterung der Sitten“ beigetragen
haben. „Zerrissenheit“ wird zur Signatur der Moderne – und entsprechend die Wiederherstellung von Ganzheit das Gegenprogramm. Gegen die Topoi der Moderne (Vernunft und Öffentlichkeit) werden Sinnlichkeit, Privatheit und Subjekt gesetzt. Cornelia Klinger (1995) be23
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schreibt in ihrer Studie, wie der Entwurf ästhetischer Gegenwelten gegen die „kalten Skeletthände“ rationaler Ordnung (Max Weber) in der Romantik vorgedacht und im Diskurs der
Postmoderne zu einem neuen Höhepunkt gelangten. Und natürlich gehört zur Dialektik der
Geschichte, dass der humanistische Aufschrei gegen Deformationen der Aufklärung – die
ihrerseits von humanistischen Idealen einer Befreiung von der Repressivität der damaligen
politischen und ideologischen Verhältnisse des aufgeklärten Absolutismus getragen war –
immer wieder auch in repressiven Tendenzen bis hin zum Faschismus endeten.
Die Künste spielen in diesem Diskurs geradezu die zentrale Rolle. Denn sie waren die Hoffnungsträger, die das „Andere der Vernunft“ als das wahrhaft Humane verkörpern. Und trotzdem waren es gerade die Künste, war es die Ästhetisierung des Politischen, die mit zu den
oben angesprochenen Niederungen der romantischen Gegenbewegung zur Aufklärung geführt
haben. An dieser Stelle helfen daher globale Zeitdiagnosen nicht mehr weiter. Hier müssen
wir in die einzelwissenschaftliche Detail-Analyse der einzelnen Kunstsparten eintreten.
5. Der Mensch im Mittelpunkt: Kompetenzen als Teil der Persönlichkeit
Der Mensch im Mittelpunkt – auch in diesem Text. Die kulturelle Relevanz der Kunst bezieht
sich auf ihre Bedeutsamkeit für den Menschen. Dies meint insbesondere, dass es keine „Autonomie der Kunst“ geben kann, die sich gegen die „Autonomie des Menschen“ stellt: Kunst
hat ihre Bedeutsamkeit nur, insofern sie eine Bedeutung für den Menschen hat. Doch woran
macht man dieses Bedeutsamkeit fest? In soziologischer Hinsicht ist zu diesem Zweck das
Konzept der Kulturfunktionen entwickelt worden, bei denen man zum einen zeigen kann,
dass ihre Erfüllung notwendig für das Gemeinwesen ist; und bei denen man zeigen kann, dass
und wie die Künste sie erfüllen. Doch „der Mensch“ ist nicht nur die soziale Gesellungsform,
sondern auch der Einzelne.18 Hierzu wurde eingangs bemerkt, dass auch Kulturfunktionen je
individuell gelebt werden müssen. Im Hinblick auf individuelle Subjektivität – hier verstanden als individuell mögliche Gestaltungsfähigkeit – kann man davon ausgehen, dass sie durch
Partizipation an der gesellschaftlichen Subjektivität – als gesellschaftlich vorhandener und
praktizierter Steuerungsfähigkeit des Ganzen – entsteht; zumindest setzt letztere einen Maßstab für die erstgenannte. Dieses Denkmodell gilt auch für Kulturfunktionen: bezogen auf das
Individuum lassen sie sich als Bildungsfunktionen verstehen. Damit wäre zugleich ein Kon18
Die Formulierung soll nicht die übliche Entgegensetzung von Einzelnen und Gemeinschaft suggerieren: Gesellschaftlichkeit ist ebenso Grundbedingung des Individuums, wie Individualität der Modus ist, in der Gesellschaft gelebt wird. Zum ersten siehe Holzkamp 1979, zum zweiten siehe Gerhardt 2000.
24
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zept gegeben, mit dessen Hilfe sich Kunstwirkungen auf den Einzelnen beziehen lassen können. Bevor wir diesen Gedanken weiter vertiefen, sollte diese spezifische „Individualisierungsthese“ getestet werden.
„Bildung“ erfasst die wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt (Fuchs 2000). Zu ihr
gehört die Entwicklung eines bewussten Verhältnisses des Menschen zu sich, zu seiner natürlichen und sozialen Umwelt, zu seiner Geschichte. Vergleicht man diese Begriffsbestimmung
mit den Kulturfunktionen, so fällt sofort die Übertragungsmöglichkeit auf. Entwicklung von
Raum- und Zeitbewusstsein, die Bildung von Identität, die Reflexivität seines moralischen,
theoretischen und ästhetischen Verhaltens, das Entwerfen von Bildern von sich: all dies sind
lediglich Paraphrasierungen des Topos von der „Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu
sich und zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt“.
Die „Angebote an Deutungsmustern und an Lebensführungen“ bringen den anthropologischen Tatbestand zum Ausdruck, den Plessner als erstes beschrieben hat: Eben auf Grund des
Verlustes einer selbstverständlichen Mitte des Lebens muss der Mensch dieses bewusst führen. Der Mensch ist sein eigener Regisseur, Drehbuchautor oder Steuermann – auch wenn
lange Zeit machtvolle gesellschaftliche Instanzen (Kirche, Parteien etc.) ihm diese „Last“ eigenverantwortlicher Entscheidungen abgenommen haben.19
Kunst hat also in Bezug auf den Einzelnen Bildungsfunktionen. Dabei ist es gleichgültig, von
welchem Punkt des semiotischen Vierecks man diesen Subjektbezug zu denken beginnt: Die
„Bedeutung“ (Semantik), die Formensprache (Syntax), die Herstellung einer Abbildungsrelation (Sigmatik): all dies ist letztlich Menschenwerk, ist Konstruktion – so hat es Kant als erster umfassend durchdekliniert, und so sagen es alle aktuellen Varianten des Konstruktivismus.
Selbst Konzeptionen, die – anders als der Radikale Konstruktivismus (Glasersfeld 1996) –
noch eine Realität zulassen (z. B. evolutionäre Ansätze), gehen von der Aktivität der Subjekte
aus bei der Erschaffung entsprechender psychischer Regulationstrukturen. Doch was ist dieses „Subjekt“? Wie muss man sich die „Apparatur“ oder die „Architektonik“ der Persönlichkeit vorstellen? Lassen wir kurz einige Modellvorstellungen Revue passieren. Die inzwischen
klassische Dreiteilung der Philosophie in theoretischen Philosophie, praktische Philosophie
und Ästhetik legt nicht nur eine Dreiteilung der Tätigkeitsformen (theoretische, moralische
und ästhetische Tätigkeit) – neben dem praktischen Handeln – nahe, sondern ebenso eine
19
Eigentlich ist das eine Grundbestimmung menschlicher Existenz. Gleichzeitig schafft sich der Mensch jedoch
Institutionen und Rituale, die die Last zu vieler Einzelentscheidungen zugunsten standardisierter Formen mildern, also – im Sinne von A. Gehlen – die Funktion der „Entlastung“ übernehmen. Offensichtlich wird hierbei
eine Balance angestrebt: Ein zu große Standardisierung führt zur Entmündigung, zu wenig führt zu Überlastung
und Verzweiflung. Dass das individuelle Leben eine eigenständige Gestaltungsaufgabe ist, setzt ein entwickeltes
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Dreiteilung der Rationalitätsformen: theoretische, moralische und ästhetische Rationalität
(Welsch 1998). Damit ist ein breites Spektrum menschlicher Lebendigkeit erfasst. Philosophische und einzelwissenschaftliche Konzepte, die von Rationalität ausgehen, sind gut entwickelt
– bis hin zur öffentlichen Ehrung durch die Vergabe des Nobelpreises (an G. Becker und seinen rational-choice-Ansatz, der weit über die Ökonomie Geltung beansprucht; Nida-Rümelin
1994). Diese „logozentrische“ Verständnisweise des Menschen hat im „Abendland“ eine reiche Tradition, da das griechische Denken zurecht als Entwicklung „vom Mythos zum Logos“
(Nestle) verstanden wird: Der Mensch ist das denkende, begründende und rational entscheidende Wesen. Diese Notwendigkeit zur Begründungspflicht von Entscheidungen ist in der Tat
eine unverzichtbare zivilisatorische Errungenschaft, auf die nicht verzichtet werden kann.
Doch zurecht wird darauf hingewiesen, dass trotz aller Weite des Rationalitätsbegriffs weite
Bereiche – möglicherweise die entscheidenden – ausgeklammert werden. Ich erläutere dies
anhand einiger ausgewählter Texte.
Der Mensch ist nicht nur denkender, rational entscheidender Verstand20, sondern er ist zugleich Leib, hat – trotz aller Kulturbestimmtheit – seine Verwurzelung in der Natur, ist also
auch Naturwesen. Dies wurde immer wieder vergessen – etwa erkennbar daran, dass die Sinnlichkeit – verstanden als naturnähere Disposition – immer wieder gegenüber der „edleren“
Vernunft rehabilitiert werden musste. Der Mensch ist auch Körper und Leib, dies hat man im
Anschluss an Plessner in der phänomenologischen Philosophie (v. a. Merleau-Ponty) ausgearbeitet.21 Der Mensch spürt, und vermutlich spürt er, bevor er rational agiert. Ulrich Potthast
(1998) hat diese Grundidee zu dem Konzept einer „lebendigen Vernünftigkeit“ ausgearbeitet:
Der Mensch ist nicht vollständig als rationales Wesen zu begreifen. Diese irrige Sicht hat
vielmehr dazu geführt, dass mit der Naturseite, also der spürenden Seite des Menschen auch
seine ökologischen Bezüge zur Natur vernachlässigt wurden – mit all den Folgen, die nunmehr zu bewältigen sind. Offenbar ist die Frage des Menschenbildes überhaupt nicht zweitrangig, wenn dieses die Art des Eingreifens des Menschen in die Natur – auch in die eigene
am Beispiel der Gentechnologie – orientiert. Dieser Aspekt ist eng verbunden mit der (ebenfalls vernachlässigten) Dimension der Emotionalität, des „in etwas involviert seins“ (so Agnes
Heller). Emotionalität beinhaltet den Prozess des Bewertens kognizierter Sachverhalte, ist
Konzept von Individualität voraus. Man setzt die Zeit der Entstehung eines solchen Konzeptes mit der Renaissance an; vgl. Fuchs 2001.
20
Gerade in deutscher Tradition wäre Verstand und Vernunft zu unterscheiden. Ich verzichte an dieser Stelle
darauf.
21
Inzwischen ist die Literatur zu dieser Dimension reichhaltiger. Ich nenne nur zwei Autoren: Foucault untersucht die Geschichte des Körpers als Disziplinierungsgeschichte; Bourdieu liefert mit seinem Habitus-Konzept
eine Grundlage, um verstehen zu können, wie Handlungsanforderungen und Normen buchstäblich verinnerlicht
und inkorporiert werden.
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also eine wertende Beziehung zur Welt (Goleman 1997, de Sousa 1997, aber auch Holzkamp
1983).
Ein dritter, inzwischen vernachlässigter Bereich (neben dem Spüren und der Emotionalität),
der zumindest bis in die Anfangsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte,
ist der Aspekt des Willens. Die Skepsis gegenüber dieser Persönlichkeitsdimension ist sicherlich erklärbar durch den geschichtlichen Missbrauch („Triumph des Willens“), allerdings
nicht gerechtfertigt. In psychologischer Hinsicht ist der Wille im Kontext von Motivationskonzeptionen als Motor des Handelns unverzichtbar. In philosophischer Perspektive ist der
Kontext der (Willens-)Freiheit von zentraler Bedeutung: „Freiheit ist das Vermögen, einen
Zustand von selbst anzufangen“, so Kant, wobei Willensfreiheit das innere Vermögen und
Handlungsfreiheit das äußere Vermögen beschreibt. Und auch im künstlerischen Kontext ist
der Wille – als Gestaltungswille Teil der Kreativität – systematisch unverzichtbar (Erpenbeck
1993).
Der Mensch steht also in einer komplexen Vielfalt von Beziehungen der Welt und sich selbst
gegenüber: Erlernen, Bewerten, Erleben, Streben, Entscheiden, Kontrollieren, Behalten. Es
entstehen durch (tätige) Habitualisierung Kenntnisse, Einstellungen, Charaktereigenschaften,
Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheiten, Temperaments- und Gefühlseigenschaften.
Im folgenden will ich – im Anschluss an Erpenbeck/Heyse 1999 – zur Konzeptionalisierung
des Subjektbezugs künstlerischer Prozesse den Begriff der Kompetenz in den Mittelpunkt
stellen. Die folgende Abbildung (Abb. 9) zeigt, dass die oben vorgestellten Dimensionen des
Bildungsbegriffs (bewusstes Verhältnis zu sich etc.) sehr gut mit dem Kompetenzbegriff erfasst werden können.
27
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Abb. 9
Quelle: Erpenbeck/Heyse 1999, S. 158
28
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Abbildung 10 präzisiert diesen Gedanken im Hinblick auf das Konzept der Schlüsselkompetenzen.
Es hat im Umgang mit diesem Konzept inzwischen eine gewisse Verbreitung gefunden,
Schlüsselkompetenzen – als außerfachliche Kompetenzen – in Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenzen zu unterteilen. Die Abbildung zeigt, wie zwanglos diese Unterteilung auf
das hier zu Grunde liegende Bildungskonzept bezogen werden kann.
Abb. 10: Schlüsselqualifikation und Bildung: Ein Vergleich
Schlüsselqualifikationen:
Bildung:
Kompetenzbereiche
wechselseitige Verschränkung von Mensch
und Welt; das meint u. a.
Selbstkompetenz:
bewusstes Verhältnis zu sich
 kompetenter Umgang mit sich selbst, d.h.
Umgang mit dem Selbstwert
 Selbstmanagement
 reflexiver Umgang mit sich selbst
 bewußte Entwicklung eigener Werte und
eines Menschenbildes
 die Fähigkeit zu beurteilen und sich
selbst weiterzuentwickeln
Sozialkompetenz:
 Teamfähigkeit
 Kooperationsfähigkeit
 Konfliktfähigkeit
 Kommunikationsfähigkeit
bewusstes Verhältnis
 zu anderen
 zu Geschichte und Zukunft
 zur Natur
Methodenkompetenz:
„Metawissen“
 das geplante zielgerichtete Umsetzen von
Fachwissen, d. h. analysieren (systematisches Vorgehen)
 Erarbeiten von kreativen, unorthodoxen
Lösungen (neben den Gleisen gehen)
 Strukturieren und Klassifizieren von neuen Informationen
 in den Kontext setzen, Zusammenhänge
erkennen
 kritisch hinterfragen, um Innovationen zu
erreichen
 abwägen von Chancen und Risiken.
Erpenbeck/Heyse (S. 159) nehmen die folgende Unterteilung vor, die sie auch ihren empirischen Untersuchungen zu Grunde legen (Abb. 11).
29
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Abb. 11
Quelle: Erpenbeck/Heyse 1999, S. 159
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Damit ist zugleich ein wichtiger Schritt im Hinblick auf eine definitorische Bestimmung des
Kompetenzbegriffs getan. „Kompetenzen“ werden an der Stelle in die pädagogischpsychologische Diskussion eingebracht, an der man von den äußeren Qualifikationserwartungen (v. a. der Wirtschaft, aber auch der Politik) übergeht zu einer subjektorientierten Sichtweise, wenn also der Aspekt der „Autonomie“ im wörtlichen Sinne der Selbstgesetzgebung in
den Vordergrund tritt. Der Begriff der „Selbstgesetzgebung“ wird allerdings in den letzten
Jahren weniger verwendet. Stattdessen hat der Begriff der Selbstorganisation Karriere gemacht. Diese Karriere ist durch neuere Erkenntnisse in unterschiedlichen Einzeldisziplinen
befördert worden, so dass das „Prinzip Selbstorganisation“ inzwischen einen grundlegenden
Status in Human-, Sozial- und Naturwissenschaften erhalten hat. In der Literatur wird immer
wieder auf drei Quellen des Gedankens der Selbstorganisation hingewiesen:

die Neurobiologie (am Anschluss an Maturana/Varela)

in der Physik (Prigogine, Haken)

in der allgemeinen Systemtheorie (Kybernetik 2. Ordnung; von Foerster).
Die Systemtheorie Luhmanns und der Radikale Konstruktivismus (v. Glasersfeld) – beide
inzwischen in vielen Disziplinen angewandt – haben diese Grundgedanken extensiv weiter
entwickelt.
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass keineswegs die Akzeptanz des Prinzips der
Selbstorganisation zwangsläufig zur Akzeptanz bestimmter erkenntnistheoretischer oder antiontologischer/antirealistischer Überzeugungen führt. Es hat sich vielmehr selbst im Kreis der
Konstruktivisten ein harter Meinungsstreit zwischen unterschiedlichen Schulen ergeben, obwohl die Bezugsautoren dieselben sind.
Die Hervorhebung des Selbst im Topos der Selbstorganisation liegt auf der Linie der oben
angesprochenden Kritik an der zu starken Hervorhebung der Rationalität bei der Bestimmung
des menschlichen Lebens. Bei den unterschiedlichen Begriffen, die das Ich kennzeichnen (u.a.
Ich, Selbst, Subjektivität, Individualität, Identität) ist das „Selbst“ derjenige Begriff, der durch
Selbstbezüglichkeit entsteht: Das Leben wird – in all seinen Dimensionen – zunächst einmal
durch das eigene Erleben des Lebens charakterisiert. Dies ist auf unhintergehbare Weise mit
jedem Lebensprozess verbunden: Der Mensch denkt nach – und erlebt sich selbst als Denkenden; er nimmt sinnlich wahr – und nimmt sich selbst als denjenigen wahr, der dies tut. „Leben
ist der umfänglichste und gleichwohl in sich reichhaltigste Begriff für den Zusammenhang, in
dem wir sind. Verglichen mit ihm sind die Begriffe des Seins, der Wirklichkeit oder der
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Welt abstrakt; was sie bedeuten, können wir bezeichnenderweise nur vom Leben her bestimmen. Entsprechendes gilt für die schon konkreter, d. h. sinnlich gefassten Termini des Kosmos, des Universums oder der Physis, also der Natur. Ihnen gegenüber hat das Leben den
Vorteil innerer Anschaulichkeit.“ (Gerhardt 1999, 148). Konsequent bestimmt daher Volker
Gerhardt (2000) nicht nur „Individualität“ als das bestimmende Moment der Welt- und
Selbstverhältnisse des Menschen, sondern er dekliniert systematisch dessen Dimensionen in
ihrer Selbstbezüglichkeit durch (1999): Selbsterkenntnis, Selbstständigkeit, Selbstherrschaft,
Selbstbestimmung und Selbstzweck, Selbstbewusstsein, Selbststeigerung, Selbstverantwortung, Selbstbegriff, Selbstgesetzgebung, Selbstverwirklichung. Und natürlich gehört auch
Selbstorganisation in diesen Kreis der Selbstbezüglichkeiten. Ich weise hier auf diesen umfassenderen philosophischen Kontext hin, weil dadurch deutlich wird, dass Selbstorganisation
tatsächlich zu einem grundlegenden Bestimmungsmoment menschlicher Lebendigkeit wird,
mehr noch: es scheint sich sogar um ein grundlegendes Strukturprinzip der Natur zu handeln,
dessen systematische Nutzung in bewussten Gestaltungsprozessen rund um das menschliche
Leben geradezu das Comenius-Prinzip der Didaktik wieder aufleben lässt: Die Natur zur
Lehrmeisterin des Lebens zu machen.
An anderer Stellte habe ich gezeigt, dass mit Herder nicht nur bewusst wird, dass „Kultur“ als
menschliche Weise der Existenzsicherung auf sehr unterschiedliche Weise realisiert werden
kann – weshalb „Kultur“ nur als Pluralitätsbegriff (Kulturen) – sinnvoll wird. „Kultur“ erfasst
auch die Tatsache des Gemachtseins, so dass bei ihrer Begriffsbestimmung die Kontingenz
menschlichen Machens in Rechnung gestellt werden muss: Das Tätigkeits-Ergebnis ist nie
vollständig voraussehbar, es kann immer auch völlig anders ausfallen als geplant. Erpenbeck/Heyse (1999, S. 157) bestimmen als „Ort“ der Selbstorganisation „Handlungen, deren
Ergebnisse auf Grund der Komplexität des Individuums, der Situation und des Verlaufs (System, Systemumgebung, Systemdynamik) nicht oder nicht vollständig voraussagbar sind.“
In meinen Worten: Es ist die Kontingenz der Handlungen, die sie dem Prinzip der Selbstorganisation zugänglich macht. Und: Kultur als tätiger (kontingenter) Prozess wird wesentlich
durch dieses Prinzip bestimmt. Das überrascht nun nicht, insofern „Kultur“ die Spezifik
menschlicher Lebendigkeit erfasst und Selbstorganisation ein zentrales Prinzip dieser Lebendigkeit ist.
Man betrachte vor diesem Hintergrund erneut Abb. 9, die die Bestimmung des Begriffs der
„Handlungskompetenzen“ in Abb. 11 konkretisiert:
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1. Kompetenzen erfassen Werte, Erkenntnisse/Wissen, Verhaltensweisen (oder Kompetenzen werden von Willen fundiert, durch Werte konstituiert, als Fähigkeiten disponiert,
durch Erfahrungen konsolidiert und auf Grund von Willen realisiert.“ (S. 486).)
2. die im handelnden Umgang des Menschen mit sich und der Welt benötigt, aber auch manifestiert werden.
Inhalte von Kompetenzen sind also Wissen, Werte und Willen, so dass die Frage nach Aneignungsformen solcher Inhalte entsteht, wobei Tätigkeit und Handeln sowohl bei der Aneignung, aber auch als Orte der Wirksamkeit relevant werden.
Dabei liegt sowohl bei der Vermittlung von Kompetenzen als auch bei ihrer diagnostischen
Erfassung das Prinzip der Handlungsorientierung nahe; Kompetenzen sind als Qualitäten
der Handlungsorientierung in den Handlungen erkennbar. Sie gehören zum dispositionellen
System der Persönlichkeit: Theorien der Kompetenzen sind Teil einer Theorie der Persönlichkeit, Kompetenzmessung ist daher Teil einer Persönlichkeitsdiagnostik und Kompetenzentwicklung ist Entwicklung der Persönlichkeit.“ (ebd.)
Vor dem Hintergrund der oben vorgestellten Überlegungen zur Binnenstruktur der Persönlichkeit lässt sich das folgende Schema (Abb. 12; so etwa bei Faulstich 1997, S. 166, ergänzt
um die Dimension des Willens) aufstellen.
Abb. 12
Aspekt
Bereiche
I
fachlich
I
L
sensomotorisch
emotional
affektiv
kognitiv
volitiv
methodisch
A
L
sozial
A
reflexiv
sensomotorisch:
affektiv:
kognitiv:
volitiv:
beachten, handhaben, ausführen, beherrschen
aufnehmen, reagieren, werten, verantworten
kennen, verstehen, bewerten, anwenden
wollen, anstreben, entscheiden.
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Wir brauchen also Bilder und Modellvorstellungen der Persönlichkeitsstruktur, wenn wir
Kompetenzentwicklungen erfassen wollen. Ich erinnere daran, dass die Freudsche Systematik
von Ich/Es/Überich ein solches Modell ist. In früheren Zeiten waren Schichtenmodelle der
Persönlichkeit verbreitet, bei denen es einen hierarchischen Aufbau von eher naturnahen Bestandteilen bis zu elaboriert-kultivierten Bestandteilen der Persönlichkeit gab. In der berühmten Bedürfnispyramide von Maslow finden sich immer noch solche Modellvorstellungen.
Wie komplex aktuelle kunstpsychologische Modelle vorgehen, zeige ich am Beispiel von
Walter Schurian. Dieser zeigt an dem gerade für künstlerische Prozesse zentralen Feld der
Wahrnehmung, wie differenziert vorzugehen ist. Ästhetische Erfahrung knüpft natürlich an
Sinneswahrnehmungen an. Doch bereits Klaus Holzkamp (1973) hat in seinen Studien zur
„Sinnlichen Erkenntnis“ gezeigt, wie wenig empiristische tabula-rasa-Konzeptionen erklären
können, sondern dass vielmehr Wahrnehmung bereits durch Begriffe und Vorbegriffe gesteuert wird, begleitet durch sofort vorhandene Prozesse der Bewertung und des Auswählens. Wie
stark die konstruktiven Akte bei diesen Prozessen sind, kann man schon daran erkennen, dass
alleine auf Grund der Konstruktion des Gehirns dieses sich zu einem erheblichen Teil ausschließlich mit sich selbst und seinen Aktivitäten (ca. 90%) im Vergleich zu Außenwahrnehmungen befasst. Und auch diese Außenwahrnehmungen präsentieren eine derart chaotische
Fülle von Signalen, dass es geradezu ein Wunder ist, dass und wie in jedem Augenblick durch
strengste Selektion ein kohärentes Bild – und dies auch noch in einem dynamischen Ablauf –
entsteht. (Roth 1997, v. a. Kap. 11).
Kunstbezogene Wahrnehmung ist also ein äußerst komplexer Akt, der zudem hochgradig
kognitiv auch deshalb ist, weil der Wahrnehmungsgegenstand eine sinnliche Präsentation reflexiver Prozesse ist: Der Modus ästhetischer Anschauung und Wahrnehmung ist die Wahrnehmung/Rezeption anschaulicher Unanschaulichkeit auf Grund des inkorporierten Reflexionsgehaltes von Kunstwerken (Holz 1997, Bd. 3; vgl. auch 6.2 in diesem Text).
Angesichts dieser Komplexität des Wahrnehmungsvorgangs wundert darum auch die Vielschichtigkeit des Wahrnehmungskonzeptes nicht, von dem Schurian ausgeht (Abb. 13).
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Abb. 13: Vielschichtigkeit, Interaktionsweisen und psychische Tätigkeit
Ebenen der Vielschichtig- Interaktionsweise
psychische Tätigkeit
keit
Evolutiv-symbolische Ebene
Überbewusstsein
Selbstreflexive Ebene,
Bewusstsein
Reflexive Ebene,
Organismische Ebene
Verlangen
Verhalten
Handeln
Zelluläre Ebene
Organelle Ebene
Reaktion
Empfindung
Dissipative Ebene
Quelle: Schurian 1986, S. 93
Damit ist die Frage nach dem systematischen Ort einer Zertifizierung von Kompetenzen benannt: es geht dabei um die Bestätigung von Befunden, die auf der Basis der Persönlichkeitsanalyse gewonnen wurden. Als Methode einer solchen Analyse entwickeln Heyse/Erpenbeck
überprüfte Selbsterzählungen der Befragten nach lebens- und berufsbiographisch angelegten
Leitfadengesprächen. Kurz: Sie entwickeln das Konzept der Kompetenzbiographie im Dreieck von Biografie, Lerngeschichte und Kompetenzerwerb (S. 200 ff.).
6. Kunst, Persönlichkeit und Kompetenzen:
Zu ihrem systematischen Zusammenhang
Kunst wurde als „Kulturmacht“ bestimmt, so dass es sinnvoll ist zu fragen, ob und wie sie die
allgemeinen Kulturfunktionen erfüllt.
Kulturfunktionen wurden aus der Sicht des Einzelnen als Bildungsfunktionen identifiziert,
Bildung wiederum als Entwicklung der Persönlichkeit beschrieben.
Kompetenzen wiederum wurden als Teil der Persönlichkeit erkannt. Es ergibt sich daher der
folgende systematische Zusammenhang (Abb.14)
35
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Abb. 14: Kulturfunktionen, Bildungsfunktionen und Kompetenzen
Symbolische Formen:
KUNST, Religion, Wissenschaft
erfüllen
Gesellschaft:
Einzelner:
Persönlichkeit
(Wissen, Wille, Werte,
Sinnlichkeit)
KULTURFUNKTIONEN
BILDUNGSFUNKTIONEN
KOMPETENZEN
(Sozial-, Selbst-, Methodenkompetenzen
 vermittelt im tätigen Umgang mit
Künsten, durch künstlerische Praxis
 gemessen mit Methoden der Persönlichkeitsdiagnostik
Die Fähigkeit zur Zertifizierung von Bildungswirkungen setzt daher Kenntnisse in folgenden
Bereichen voraus, die zugleich Curriculum-Bausteine der Multiplikatorenfortbildung sein
können:

pädagogische Kunstwirkungen,

Persönlichkeitstheorie,

Erwartungen der Wirtschaft,

Verfahren der dialogischen Persönlichkeitsdiagnostik (d. h. gemeinschaftliche Ermittlung
von Entwicklungsfortschritten).
Anknüpfungspunkte für die einzelnen Curriculum-Bausteine sind dabei:

Die Erwartungen der Wirtschaft im Hinblick auf Schlüsselqualifikationen sind in Abb.10
zusammengefasst. Sie lassen sich zwanglos unter den Rubriken Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz zusammenfassen. Diese Untergliederung ergibt sich auch auf völlig anderem systematischen Weg.
36
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
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Persönlichkeitsdiagnostische Verfahren (auf der Grundlage spezifischer Persönlichkeitstheorien) gibt es einige. Das Verfahren der Kompetenzbiographie ist ein Vorschlag, der
psycholgische und (qualitative) soziologische Verfahren integriert.

Bei den zu erwartenden pädagogischen Kunstwirkungen kann man auf die Fülle von Wirkungsbehauptungen („Lernziele“) in der Kulturpädagogik und die vereinzelten Wirkungsstudien zurückgreifen.
6. Anhang
Einzelne Künste, spezielle Kulturpädagogiken: Hinweise
6.1 Allgemeines
Ich knüpfe an die anthropologischen Überlegungen zur Sinnlichkeit des Menschen und die
Theorien zur Kunst – etwa im Kontext der Philosophie der Symbolischen Formen – an. Der
Fokus der Überlegungen bleibt der Mensch und seine Entwicklung. Zu dieser Perspektive
stelle ich im folgenden einige Materialien zusammen, die zwar höchst unvollständig sind, die
aber vielleicht zum Weiterdenken anregen. Als Leitlinie meiner Überlegungen soll gelten, die
Unterschiedlichkeit der künstlerischen Praxen auf der Basis gemeinsamer Grundideen zu
formulieren. Zu diesen Gemeinsamkeiten zählen insbesondere anthropologische Ansätze
(Plessner, Cassirer) sowie ein ausformuliertes Konzept von Bildung.
Als Hintergrundfolie für die Diskussion der Wirksamkeit der verschiedenen Künste gebe ich
einen Katalog von Wirkungsbehauptungen (Lernzielen) wieder (Fuchs/Liebald 1995, S.
94ff.):
1. Religiöse, ästhetische, politische, abbildende Funktion von Kunst.
2. Darstellung und Produktion kultureller (und/oder sozialer) Ungleichheit.
3. Kommunikative, edukative, kulinarische, epistemologische und tautologische Funktion
des ästhetischen Gegenstandes.
4. Ermöglichung von Kontingenzerfahrungen.
5. Appellativer Charakter.
6. Ethische Funktionen (immer wieder von Anbeginn an bis heute).
7. Informationsfunktion.
8. Mimetische Funktion.
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9. Selbstreflexivität der menschlichen Gattung (z.B. Theater als Spiegel der Gesellschaft,
Shakespeare).
10. Anlass zur Kontemplation und/oder Überhöhung; auratische Funktion.
11. Anlass für Gefühl der Erhabenheit.
12. Emanzipation (von F. Schiller bis H. Glaser).
13. Weltweisen – Wahrnehmung.
14. Die Herstellung von Distanz zur Gegenwart, u. U. in gesellschaftskritischer Absicht (Verschiedene: von Adorno bis zur Postmoderne).
15. Gewinnung von Erkenntnis (sehr viele, z. T. sehr unterschiedliche Autoren, z. B. Gadamer, Welsch).
16. Alternative zu diskursiver und begrifflicher Erkenntnis (z. T. sehr verschieden Autoren, z.
B. Nietzsche und Adorno).
17. Kunst als Teil eines sinnvollen Lebens (Verschiedene).
18. Kunst als Antizipation, als Möglichkeitsraum (Block; Musil).
19. Sinnhaftigkeit unserer Erfahrung erfahren (M. Seel).
20. Explorative und erkundende Haltung entwickeln als sehr spezifische Erkenntnisleistung .
21. Ökonomische Funktionen wie Kapitalverwertung, Verbesserung der Verwertungsbedingungen, Leistungssteigerung, Desintegration in Betrieben, Marketinginstrument.
22. Verändertes Sehen (bzw. Hören usw.) lehren.
23. Wahrnehmungsschulung (v. Hentig), Sinnlichkeit entwickeln (Zacharias).
24. Repräsentationsfunktion von Herrschern, Klassen, Staaten; Geschichtsaufarbeitung beziehungsweise -klitterung.
25. Kunstförderung als Modernitätsbeweis.
26. Funktionales Äquivalent für Religion, innerweltliche Erlösung (m. Weber, P. Bürger).
27. Geringe Wirkung moderner Kunst auf Einstellungen der Rezipienten (Adorno).
28. Läuterung, um schlechte Welt besser ertragen zu können; Kompensation; Absorption revolutionärer Energien (u.a. O. Marquardt).
29. Entfaltungsort von Subjektivität und Gestaltungswollen.
30. Negative moralische Wirkungen (am Beispiel von Flaubert und Baudelaire).
31. Möglichkeit des interesselosen Wohlgefallens, von Zweckmäßigkeit ohne Zweck, von
allgemeinem Wohlgefallen ohne Begriff (Kant).
32. Auslösen von Empfindungen /z. B. Lyotard).
33. Widerspiegelung a) von innerem Gefühlsleben (Ausdruck-Ästhetiken) b) von gegenständlicher Welt, wie sie ist oder sein soll (sozialistischer Realismus, Welsch).
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34. Unterhaltung, hedonistische Funktion.
35. Welt als Welt des Menschen wieder erkennen (Hegel).
36. Steigerung des nationalen Selbstbewusstseins.
37. Selbstbewusstsein der Menschengattung (Lukacs).
38. Kompensation der Modernisierungsprozesse.
39. Stärkung der Sittlichkeit durch Gestaltung der Sinnlichkeit; Förderung der ästhetischen
Individualität (Mayrhofer/Zacharias).
40. Kompensatorische, kognitive, bewusstmachende, befreiende, utopische realutopische
Funktion (J. Zimmer).
41. Exploration des Möglichen (v. Hentig).
42. Etwas sichtbar machen, was von sich aus nicht zu sehen ist (Theater: etymologisch von
sehen, schauen).
43. Erzeugung von Wohlgefallen durch Wiedererkennen.
44. Eröffnung des außergewöhnlichen Bereichs völliger Funktionslosigkeit (R. Bubner).
45. Heilende Wirkung; Katharsis-Funktion.
46. Stimulanz des Lebens, Alarmsystem der Gesellschaft, Sonde der Wirklichkeitsforschung.
47. Deckung des Bedarfs nach Bildern.
48. Erfüllung eines anthropologischen Grundbedürfnisses (nach Ästhetik/Kunst).
49. Vermittlung von Erkenntnissen und Impulsen in Form von Genüssen im Theater (B.
Brecht).
50. Genuss der Aktivitäten des Rezipienten, die das Kunstwerk ihm abfordert; Selbstbestätigung, Selbstverwirklichung, Orientierung.
51. Wiederherstellung der durch kapitalistische Produktionsweise erzeugten Entfremdung und
Zerstückelung rationaler Erfahrung im ästhetischen Bild (Lukacs).
52. Nicht Vehikel, sondern Artikulationsort menschlicher Emanzipation inmitten feindlicher
Realität (Adorno).
53. Prodesse et delectare (Horaz).
54. Ausbreitung von Vernunft und Tugend.
55. Kunst als Sprache von Gefühlen (Ausdruckstheorien der Ästhetik (. a. v. Kutschera)
56. Kunst als seelische Vorbereitung für neue Formen des Lebens; Speicher für menschliche
Werte der Vergangenheit.
57. Kulturelles und soziales Gedächtnis.
58. Kunst als optimale Beanspruchung unseres informationsverarbeitenden Systems.
59. Erwirtschaftung von Einnahmen oder sogar von Gewinnen.
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60. Herstellung von Identität (einer Person, Gruppe, Stadt, Region, Staat, Kontinent).
61. Herstellung von Urbanität.
62. Möglichkeit zur Selbstinszenierung bestimmter Milieus – auch als Herstellung von gruppenbezogener Integration.
63. Herstellung ästhetischen Vergnügens durch Erkenntnis der schönen Form (Ransom)
und/oder Erkenntnis der schönen Gestaltung (Vivas) und/oder Empfinden der Neuheit und
des Wiedererkennens (Wellek/Warren) und/oder Nachdenken und Empfinden eines losgelösten Systems und/oder Entziffern eines zweiten Codes.
64. Für Literatur-Produzenten: Hervorbringen einer Welt als eigenem Wert; für Rezipienten:
Ergreifen der Möglichkeit, die Welt anders wahrzunehmen (Jauß).
65. Stillung von Innovationsbedarf in der Gesellschaft (neben Wissenschaft).
66. Modellbildung durch Wissenschaft, Spiel und Kunst (Lotman).
67. Realisierung der epochenspezifischen sozialen Wirklichkeitsmodelle in eigenem „Sinnsystem“ (Iser).
68. Negation und Utopie: Kritik der Gesellschaft durch bloße Existenz von Kunst (Adorno).
69. Ermöglichung besonderer Unmittelbarkeit des Ausdrucks beim Künstler, des Miterlebens
bei Rezipienten; Umgang mit Themen, die sonst nicht ohne Angst und Schuld erlebt werden könnten; Befriedigung und Lösung von Wünschen (Psychoanalyse – F. Wyatt).
70. Selbstverwirklichung des Menschen.
71. Integrales (hedonistisch-individualistisches, kognitiv-reflexives und moralisch-soziales)
Erleben; Integration von Werterfahrung, Sinnerfahrung und Selbsterfahrung (S. J.
Schmidt).
72. Umgang mit Kunst als symbolische Kulthandlung: Zeremoniell, ein Tanz zum Lobpreis
von etwas anderem; selbstverschuldete Unmündigkeit, Selbstentmachtung der Vernunft.
73. Imaginäres Probehandeln, entlastet von Risiken den Alltag und macht daher freier. Erneuerung der Wahrnehmung des Lebens gegen Gewohnheit, Erstarrung, Verflachung. Ziel.
Ergriffenheit.
74. Schaffung von Möglichkeitsräumen.
75. Zu Naturästhetik: Konfrontation mit etwas, das keiner Intention entsprungen ist. Es ist
sinnvoll, etwas ohne Sinn (wie die Natur) zu betrachten (M. Seel).
76. Aneignung von Kunst als Teil unserer Lebenspraxis, nicht-auratischer Umgang mit
Kunstwerken (P. Weiß).
77. Ermöglichung von „zerstreuter Rezeption“ statt kontemplativer Versenkung (W. Benjamin).
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78. Kunst in bürgerlicher Gesellschaft: Gegenwelt gegen zweckrational organisierte Gesellschaft aufbauen ( P. Bürger).
79. Bereitstellung eines Mittels zur Selbstaneignung (G. Selle).
80. Ungleiche Wirkungen und Erfahrungen auf Grund einer ästhetischen Erfahrung, die a)
subjektive Verarbeitung ästhetischer Wahrnehmungsergebnisse und b) Verarbeitung objektiver Wahrnehmungstrends aus der Soziallage des einzelnen ist (G. Selle).
81. Funktionen im Bereich der Sozialstruktur (soziale Ungleichheit), des humanen Lebens,
der kulturellen Ungleichheit und der politischen Gestaltung und Partizipation.
82. Kunst als Sinn- und Orientierungslieferantin, als Verbindungsmöglichkeit von Menschen,
als Erhöhung des lokalen Kreativitätspotentials, als Förderin von Urbanität, als Aufwertung von Stadtteilen, als Bewahrerin des Kulturerbes, als Verbesserung des Stadtimages,
als Touristenattraktion; als Teil der kommunalen Wirtschaftsförderung, als Wirtschaftspotential, als Arbeitsplatzbeschaffung.
83. Kunst als Kitt der Zwei-Drittel-Gesellschaft.
84. Stillung der romantischen Sehnsucht nach unhintergehbarem „Erlebnis“ (T. Eagleton).
85. Kunst als Kulturindustrie betrügt Massen um das, was sie ständig verspricht; erfüllt Herrschaftsfunktionen; ist Individualitätsillusion (R. Erd).
86. Roman ist Widerspiegelung insofern, als „Homologie“ zwischen Struktur des Romans
und Bewusstseinsstruktur in Gesellschaft besteht (L. Goldmann).
87. Erkenntnis der Struktur der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit durch Ästhetik (Busch).
88. Immanente Kritik der Entfremdungen der Lebenswelt (Paetzold).
89. Kunst als ästhetischer Filter für Wahrnehmung, um Realität zuerkennen und zu erfragen
(R. Barthes).
90. Produktivkraft; Orientierung inmitten von Not, Krieg, Entbehrung, Zerstörung; Ausgleich
(wie Religion) und Entwurf eines Gegenmodells (Schurian).
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6.2 Die Macht der Bilder
Susanne Langer (1979) unterscheidet repräsentative, v. a. ikonische von diskursiven smbolischen Formen. Bilder und ihre Rolle im menschlichen Leben müssen daher auf ihre Wirkungsweise untersucht werden. Ich gehe dabei in die Frühzeit des Menschen zurück, da hier
eine basale Funktionsbestimmung von Bildern möglich ist.
Bilder und das frühe Menschsein
Fels- oder Höhlenbilder lassen sich bis 8000 v. d. Z. nachweisen22. Sie finden sich in allen
Teilen der Erde – und wurden an einigen Stellen der Erde bis ins 20. Jh. angefertigt. Schon
früh lässt sich die Verwendung von Farbe nachweisen. Natürlich gibt es Kulturfunde wie
Waffen, Werkzeuge oder Beerdigungsstätten, die weitaus länger in die Vergangenheit zurück
reichen. Die Entwicklung des Menschen mit all seinen Vorstufen und Nebenzweigen dauerte
einige Millionen Jahre. Das „Tier-Mensch-Übergangsfeld“ (Heberer) zwischen Pliozän und
Pleistozän wird mit 10 Millionen Jahren angegeben – und spätestens der Fund von Ötzi zeigt,
dass Datierungsversuche über bestimmt Aspekte der Menschheits- und Kulturentwicklung
sehr rasch bei neuen Funden revidiert werden müssen. Die folgende Eingangspassage der
Propyläen-Weltgeschichte dürfte jedoch unbestritten sein: „Der Mensch aber wurde geboren,
als er zum ersten Mal etwas „Unnatürliches“, etwas Künstliches schuf, als er einen natürlich
vorkommenden Gegenstand zu einem Artefakt umformte, zu einen erdachten, planvoll gestalteten menschlichen Produkt“ (Rust in Mann/Heuß 1991, S. 157). Ab diesem Moment „scherte
er aus den biologisch-natürlichen, „gesetzmäßigen“ Entwicklungsabläufen aus und lebte unter
künstlich geschaffenen Bedingungen“ (ebd. S. 159).
Dieser Kulturprozess der Selbstschöpfung des Menschen beschleunigt sich in dem Maße, in
dem der Mensch neue Mittel der Naturgestaltung entwickelt: Die Eroberung der Natur ist zugleich die Selbstschöpfung des Menschen als kulturell verfasstem Wesen. In diesem Kontext
spielt die bildhafte Darstellung eine entscheidende Rolle. Im folgenden werde ich einige Bestimmungsmomente dieser frühen Bildpraxis entwickeln.
1. Ein erster Aspekt ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass wir heute, vielleicht 10.000
Jahre nach ihrer Herstellung, mit Hilfe der Bilder überhaupt Überlegungen zu ihrer Funktion und ihrer Wirkungsweise anstellen und so ein Stück (Kultur-)Geschichte rekonstruieren können. Bilder sind nämlich Teil eines sozialen bzw. kulturellen Gedächtnisses (Maurice Halbwachs). Sie konservieren einen kulturellen Entwicklungsstand und gestatten so
22
Mann/Heuß 1991, Bd. 1, v. a. die Abschnitte Plessner: Conditio Humana; Heberer: Die Herkunft der Menschheit; Rust: Der primitive Mensch. Es handelt sich um die Entwicklung des modernen Menschen seit der letzten
Eiszeit.
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die Herstellung eines bewussten Verhältnisses zur Geschichte des Menschen, sogar noch
grundsätzlicher: Sie sind vitale Zeichen dafür, dass der Mensch Geschichte hat und dies
bewusst erlebt. Zur Erinnerung: Eine aktuelle Bestimmung des Begriffs von Bildung versteht unter dieser die Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu sich, zu seiner natürlichen und sozialen Umgebung, zu seiner Vergangenheit und Zukunft. Mit dieser Geschichtsfunktion, die das Bild erfüllt, realisiert sich also ein entscheidender Aspekt von
Bildung. Der etymologische Zusammenhang von Bild und Bildung ist also kein zufälliger,
sondern ein inhaltlicher. Als paradox mag man bewerten, dass ausgerechnet ein Medium,
das in seiner Darstellung die Zeit festhält, eine entscheidende Rolle bei der Gewinnung
eines Zeitbewusstseins spielt. Diese Rolle zähle ich zu den Kulturfunktionen, also zu
solchen Bedingungen, die in einer Gemeinschaft erfüllt sein müssen, wenn sie Bestand
haben soll.
2. Die Höhlenbilder sind Darstellungen überlebensrelevanter Situationen (vgl. Holzkamp
1978, v. a. den Beitrag „Kunst und Arbeit“). Die ikonisch-symbolische Präsentation ist
Teil des Alltages, und es ist ein existentiell bedeutsamer Teil. Kunst hat also auf dieser
Stufe der menschlichen Entwicklung eine unmittelbar einsichtige Überlebensfunktion. Es
gibt gerade keine Kluft zwischen Alltag und Kunst. Bevor man darüber all zu sehr erstaunt ist – denn immerhin ist die erneute Herstellung dieser Einheit ein wichtiges programmatisches Ziel aller Avantgarden seit über 100 Jahren -, sollte man daran denken,
dass die Trennung von Kunst und Alltag, die uns heute oft genug als selbstverständlich erscheint, in dieser heutigen Form gerade mal 200 Jahre alt ist und mit dem sozialen und politischen Gebrauch der von Schiller und Kant ausgearbeiteten „Autonomie“ zu tun hat
(Bollenbeck 1994).
3. Die Darstellungsweise der Höhlenbilder ist z. T. äußerst stilisiert. Es ist offensichtlich
kein Naturalismus, es ist etwa nicht der konkrete Büffel der letzten Jagd, sondern ein
höchst stilisierter, geradezu abstrakter Büffel. Auch dies lässt sich aus der Funktion des
Bildes erklären: Nämlich eine allgemeine – und allgemeingültige – Jagdszene darstellen
zu wollen, weil nur eine solche für zukünftige Jagden auch Relevanz beanspruchen kann.
Der dargestellte Büffel ist daher der Büffel schlechthin, ist die visuelle Darstellung einer
Abstraktion, einer theoretischen Kategorie. Die Jagdszene wiederum enthält dadurch verallgemeinertes Wissen über das Jagen. Und dieses Wissen ist wesentliches Wissen, das
auch nur stilisiert angemessen dargestellt werden kann. Dies kann man sich etwa dadurch
verdeutlichen, dass eine Fotografie mit ihren vielen konkreten Einzelheiten völlig ungeeignet für diesen Zweck der Erfahrungsvermittlung wäre, eben weil sie zu sehr von den
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entscheidenden Bildelementen ablenkt. Nur die verdichtete und sparsame künstlerische
Form leistet dies.
4. Überleben als Mensch ist nur über die Gestaltung der Umweltbedingungen möglich. „Gestaltung“ ist eine Form von Herrschaft und Macht. Der Mensch muss Ordnungsprinzipien
des zu gestaltenden Bereichs kennen bzw. entwickelt haben. Zu diesem Zweck entwickelt
er „symbolische Formen“ (Ernst Cassirer)23. Das Bild als symbolische Form ist in dieser
Perspektive Mittel der Ordnung, der Macht, denn es enthält Macht-Wissen. Den in der
Überschrift hergestellten Zusammenhang von Bild, Mensch und Macht gibt es also schon
bei dem ersten Auftreten des Bildes. Er ist vermutlich auch eine ursprüngliche Motivation
zur Bildherstellung.
5. Die Macht über die äußere Natur lässt sich nur herstellen als Gemeinschaftsaktion des
Stammes, der Herde oder der Gens. Viele der Jagdszenen zeigen Menschen in unterschiedlichen Funktionen, etwa als Jäger und Treiber. Diese Bilder geben also eine frühe
Form von Arbeitsteilung wieder, sie sind Abbilder der sozialen Organisation der Gemeinschaft. Auch dies ist eine wichtige Kulturfunktion, die jede stabile Gemeinschaft braucht:
Eine Form der Symbolisierung von Gemeinschaftserfahrung als Grundlage für die Entwicklung einer sozialen Identität.
Doch geht es nicht nur um „objektive“ und notwendige Funktionsaufteilungen einer gelingenden Jagd, sondern es geht auch um die soziale Hierarchie in der Gruppe: Wer ist der
Anführer, wer trägt Waffen, wer ist bloß Treiber – und wer nimmt überhaupt nicht teil?
Neben dem offiziellen Lehrplan des Bildes als Bildungsmittel in der Jagdunterweisung
gibt es also einen heimlichen Lehrplan, der eine gewisse soziale Hierarchie als sachlich
begründet und „selbstverständlich“ darstellt. Bilder wirken als Machtmittel also auch in
die Gruppe hinein, sie sind frühe Mittel des „ideologischen Klassenkampfes“.
Als Zwischenbilanz kann man festhalten, dass nicht nur viele wichtige Kulturfunktionen mit
Bildern realisiert werden: Bilder sind zugleich eine Einheit von Erkenntnis/Wissen, Handlungsanleitung (Ethik/Moral) und Ästhetik. Daran zu erinnern ist gerade heute relevant. Denn
es gehört zur Geschichte der Moderne, dass eine als analytische Trennung menschlicher
Funktionsbereiche (in Erkennen, moralisches Bewerten und ästhetisches Gestalten) im Laufe
dieser Geschichte zu einer „ontologischen“ Trennung so geführt hat, dass man heute wieder
23
Ernst Cassirer (hier 1990) entwickelt seine Anthropologie/Kulturphilosophie geradezu entlang dieser Dialektik
zwischen Ordnung und Freiheit mit der Quintessenz: Der Mensch kann nur auf der Basis von Ordnung seine
Freiheit entwickeln und leben.
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erhebliche Anstrengungen unternehmen muss, Erkenntnistheorie, Moralphilosophie und Ästhetik zusammen zu denken.24
In (reform-)pädagogischer Formulierung heißt dies: die Einheit von Kopf, Herz und Hand ist
wieder herzustellen.
Zur Reflexivität des Sehens und der Bilder
Offensichtlich braucht der Mensch Bilder zum Überleben. Es sind Bilder von sich und seiner
Lebenswelt. Bilder sind also Mittel der Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexivität. Genau dies
scheint notwendig zum Menschsein zu gehören: Der Mensch ist dasjenige Wesen, das sich
immerzu – und offenbar ausschließlich – über sich selber verständigen muss. „Dass Selbsterkenntnis das höchste Ziel philosophischen Fragens und Forschens ist, scheint allgemein anerkannt,“ so beginnt Ernst Cassirer (1990) seinen „Versuch über den Menschen“. Bilder sind
also auch eine praktische Form von Philosophie „avant le lettre“. Ihre ikonische Präsentationsform erzwingt eine anschauende Zugangsform. Es ist also ein Augenblick – ein Blick der
Augen -, mit dem die Totalität des Bildes erfasst wird, und dieses wiederum erfasst auf spezifische Weise eine Totalität des Gegenstandes.25 Zu dieser Totalität des Gegenstandes – und
dies führt zu einer entscheidenden, vielleicht der wichtigsten anthropologischen Erkenntnis –
gehört der Betrachter selbst. Das Bild als eine distanzierte Betrachtung einer Situation, in der
sich die urzeitlichen Betrachter selber befunden haben und wieder befinden werden, ist also
die gleichzeitige Verkörperung von Involviertheit und Distanz. Es hat bis in die zwanziger
Jahre des 20. Jahrhunderts gedauert, bis die Philosophie diesen Mechanismus angemessen
erklären konnte. Helmut Plessner (1970, 1983, 1965), Biologe und Philosoph, hat dies mit
seinem Konzept der „exzentrischen Positionalität“ geleistet: Der Mensch unterscheidet sich
vor allem dadurch wesentlich von den anderen Arten und Gattungen, dass er – virtuell oder
fiktiv – aus seiner Mitte heraustreten und sich selber zum Gegenstand von Betrachtungen machen kann. Jedes andere Lebewesen lebt selbstverständlich – aber unbewusst – in seiner Mitte. Nur der Mensch sieht sich bewusst in seinen Lebensvollzügen, hat Geschichte und Zukunft
und verfügt nicht mehr über eine instinktgesteuerte Selbstverständlichkeit des Überlebens: Er
muss sein Leben führen. Diese Distanz zu sich selber ermöglicht also Reflexivität, ermöglicht, dass er sich auf vielfältige Weise zum Gegenstand unterschiedlichster Betrachtungen
machen kann.
24
Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik siehe etwa Wulf/Kamper/Gumbrecht 1994.
Man informiere sich einmal in einem etymologischen Wörterbuch über das komplexe semantische Feld der
Worte „sehen“ und „schauen“.
25
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„Reflexivität“ meint dabei nicht nur kognitives Überlegen oder diskursive Erörterung, sondern sie ist zugleich Grundmechanismus seiner Sinnlichkeit: Auch das Sehen, Hören, Fühlen,
Schmecken und Riechen sind reflexiv.
Auf besonders komplexe Weise ist das Sehen, speziell das Sehen von Bildern, reflexiv:
a. Beim Sehen nimmt der Mensch nicht bloß visuell einen Gegenstand wahr. Er nimmt sich
selbst auch als Sehenden wahr.
b. Insbesondere betrachtet sich der Mensch selbst beim Handeln: Er ist also zugleich Subjekt
und Objekt des Sehens, eine Rückkopplung, die wiederum u. a. zur erheblichen Verbesserung seiner Steuerungsfähigkeit führt.
c. Beim Sehen von Bildern gilt nicht nur diese doppelte Reflexivität: Er hat es zugleich mit
einem Gegenstand zu tun, der selber eine reflektierte Stellungnahme zur Welt enthält. Sehen von ästhetisch gestalteten Bildern ist also mitnichten simple Wahrnehmung, sondern
Auseinandersetzung mit einer spezifischen Reflexionsleistung. Und immer wieder begegnet er in diesen Prozessen der Wahrnehmung/Reflexion sich selbst: Er sieht – durchaus in
Hegelschem Sinne – seine individuelle Existenz „aufgehoben“ in der Kulturleistung der
Gattung Mensch. Auch die individuellste Versenkung in ein Bild führt daher zur sozialen
Integration, insofern das Bild als Menschenwerk gesehen wird und daher nach menschlicher Erfahrung in diesem Bild gefahndet werden kann. Zudem ist das Bild – ob nun gegenständlich oder nicht – eine abgeschlossene Ganzheit, ein gestalteter kleiner Kosmos,
der im Hinblick auf Ordnungsprinzipien befragt werden kann. Bilder sind also wichtige
Mittel einer reflexiven Stellungnahme zu sich und seiner Beziehung zur Welt26. Sie sind
symbolische Ordnungs- und Machtmittel nach draußen in Richtung äußere Natur und
nach innen in Richtung soziale Gemeinschaft.
Eine anthropologische Erklärung der Entstehung des „Ästhetischen“ (s. o.) zeigt zudem,
dass Bilder entschieden Macht- und Ordnungsmittel auch gegenüber der inneren Natur
des Menschen sind. E. Neumann erläutert – wie gesehen – mit hoher Plausibilität, wie der
Mensch mit der durch seine exzentrische Positionalität erzeugten Bewusstheit feststellen
muss, dass er von Fress-Feinden oder anderen natürlichen Gefahren umgeben ist: Er lebt
(schon lange vor Ulrich Becks Analyse der Moderne) in einer „Risikogesellschaft“ – und
In der Entwicklung der Malerei sind es G. Braque („Die Sinne lügen“) und vor allem Paul Cézanne, bei denen
eine Einbeziehung der theoretischen Reflexion des Sehens in den Prozess der Bildentwicklung selbst stattgefunden hat, was sie zu Gründervätern des späteren Kubismus hat werden lassen. In jedem Fall macht sie ihre „reflektierte“ Malerei zu denjenigen Vertretern der bildenden Kunst, die aus philosophischer bzw. soziologischer
Sicht besonders gerne analysiert werden, etwa von Merleau-Ponty (vgl. Boehm 1994) bzw. Gehlen 1986. Insbe26
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er bemerkt dies. Die Folge wäre Angst und Panik, wäre letztlich Verrücktheit, würde er
nicht sofort eine Möglichkeit entwickeln, seine Panik zu bearbeiten und schließlich zu beherrschen: Und dieses Mittel ist ästhetische Expressivität, ist gestaltete Bewegung, sind
gestaltete Töne, ist die plastische oder zeichnerische Gestaltung. Ästhetische Praxis ist also auch dort, wo sie nicht unmittelbar überlebensrelevant scheint, also dort, wo sie keine
Gebrauchsgegenstände herstellt, Waffen schmiedet oder Feste gestaltet, ein symbolisches
Mittel der Ordnung.
6.3 Theater als symbolische Form
Insofern Theater die oben genannten Kulturfunktionen erfüllt, ist eine individuelle Involviertheit in das Theater zugleich die Realisierung theatraler Bildung. Doch nun zur symbolischen
Form Theater. Als eine Grundlagentheorie für kulturelle Bildung wurden oben die Anthropologien/Kulturphilosophien von Plessner und Cassirer eingeführt. Offensichtlich realisiert das
mimetische, also nachahmende Spiel als bereits früh in der Menschheitsgeschichte auftauchende Handlungsform nahezu maßgeschneidert die „exzentrische Positionalität“: Menschen
schlüpfen in Rollen und zeigen sich und anderen bestimmte Handlungsabläufe, oft in vielfältigen Wiederholungen (Rituale). Sie machen damit für sich Situationen und Emotionen erlebbar und kommunizierbar. Sie treten aus der unmittelbaren Lebenssituation heraus und „schauen“ auf sich selbst (so wie es die griechische Wortbedeutung von „Theater“ nahelegt). 27 Diese
Form von Mimesis unterscheidet sich von der „anschauenden Reflexion“ im Umgang mit
einem Bild, bei dem bewusst in stilisierter Form die Zeit stillgestellt ist. Hier handelt es sich
um körperhafte Präsenz im zeitlichen Ablauf. Es ist also kein Wunder, dass Helmut Plessner
(1982, S. 146ff) nicht bloß eine „Anthropologie“ des Schauspielers geschrieben hat, sondern
auch derjenige war, der nach dem zweiten Weltkrieg die soziologische Rollentheorie in
Deutschland eingeführt hat. Denn es ist kein bloß metaphorischer Sprachgebrauch, den Prozess der Sozialisation mit dem Theaterbegriff der „Rolle“ zu konzeptionalisieren, sondern
genau dies ist wörtlich zu nehmen (Goffman: „Wir alle spielen Theater“).28 Es ist eben notwendig, die Unmittelbarkeit des eigenen Ich zu verlassen und sich im Sinne einer Perspektivverschränkung mit den Augen anderer zu sehen, wenn man eine persönliche Identität entwickeln will.
sondere scheint der Begriff der Bildrationalität von Gehlen ertragreich bei dem Verständnis von Bildern zu sein;
vgl. auch die Auseinandersetzung in Holz 1990ff.
27
Vgl. hierzu Wulf 1997, insbes. die Artikel „Theater“ (E. Fischer-Lichte), „Ritual“ (Wulf) und „Mimesis“
(Wulf).
28
Hierzu gibt es aus marxistischer Sicht jedoch auch Kritik: Kirchhoff-Hund 1978.
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Das Theater liefert in jüngster Zeit weitere Erklärungsmöglichkeiten für gesellschaftliche
Prozesse. So spricht man – eben aufgrund der gewachsenen Relevanz der Postmoderne und
der Betonung der Oberfläche und des Scheins – zunehmend von einer „Inszenierung der eigenen Person oder des öffentlichen Lebens“. Die Stadt wird als „Bühne der Sichtbarkeit“ verstanden, bei der bewusst gestaltet wird29, was man zeigen will und was nicht.
Generell spielt in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft „Theatralität“ eine zunehmend wachsende Rolle. Hier ist die Postmoderne nur ein letzter kräftiger Akzent: „Dass theatralisches Gebaren durchaus zum Instrumentarium gesellschaftlicher Kommunikation gehört,
ist eine über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hinweg zu betrachtende Erscheinung.
Beschneidungsriten, zirzensische Spiele, Gottesdienste, Prozessionen, Festumzüge, Aufmärsche, militärische Manöver und Paraden, „Haupt- und Staatsaktionen“, Demonstrationen, Parteitage: Die Inszenierung von Festen, die Architektur, die Stadtgestaltung, ja: das Verständnis
allen sozialen Handelns nach Maßgaben des Theaters – oft allerdings in der negativen Bewertung von Verstellung und Manipulation – prägt das Selbstbild der Gesellschaft seit langem“.30
In dieser Situation war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der umfassenden Inszenierung
aller lebensweltlichen Bereiche, so wie sie in jüngster Zeit registriert wird. Bill Clinton gilt in
diesem Zusammenhang als erster US-Präsident, dessen Politik – in ihrer Präsentation und in
ihren Inhalten – nur noch über ihre Inszenierungsqualität und ihre Akzeptanz beim Publikum
gesteuert wird.
Theatrale Bildung erhält hier geradezu gesellschaftskritische Bedeutung, denn es ist die spezifische Symbolkompetenz des Theaters, die helfen kann, öffentliche Inszenierungen zu durchschauen.
6.4 Musik, Bildung und der Mensch
Auch bei der Musik sind unterschiedliche Zugänge möglich, so wie sie das „semiotische
Viereck“ nahelegt:

Die pragmatische Dimension als Umgang des Menschen mit Musik wird in Musikpsychologie und -soziologie untersucht, wobei gerade die Musiktherapie vielleicht die wichtigsten Einblicke in die Wirkung von Musik auf den Menschen gestattet.
29
Als kritische Anwendung auf die (Kriminalisierung von) Jugend siehe Breyvogel 1998. Vgl. auch Meyer
1992.
30
Kröplin: Theatralität als gesellschaftliches Phänomen im 19. Jahrhundert. In: Andraschke/Spaude 1992, S.
85ff. Zur „performative turn“ in den Kulturwissenschaften siehe Fischer-Lichte 2001.
48
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Die Syntax als Studium der Formensprache ist – etwa als „systematische Musikwissenschaft“ – weit entwickelt, da gerade in der Musik und Musikwissenschaft eine immanente
Sichtweise dominiert.

Ein offenes Problem ist daher die Frage nach der Semantik in ihren beiden Dimensionen:
zum einen im Hinblick auf eine gegenständliche Referenz, was – mit berühmten Ausnahmen etwa von Lautmalereien (z. B. in „Peter und der Wolf“) – eine kleine Rolle spielt;
zum anderen im Hinblick auf die „Bedeutung“, so wie sie in der „Musikalischen Hermeneutik“ untersucht wird. Hauptstreitpunkt ist hier die Frage danach, ob Musik überwiegend oder sogar ausschließlich Ausdruck menschlicher Emotionen ist („Gefühls- oder
Ausdrucksästhetik“). Hier spielt Eduard Hanslick mit seiner Forderung nach einer Formalästhetik im neuen musiktheoretischen Diskurs eine entscheidende Rolle („Der Inhalt
der Musik sind tönend bewegte Formen“).
Eine Betrachtung von Musik, die das Werk in den Mittelpunkt stellt, kann – vor dem Hintergrund der hier vorgestellten (Cassirerschen) Kulturphilosophie – alle anthropologischen
Grundgesetze an der Musik zu verifizieren versuchen:

das musikalische Werk als Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte,

die auf diese Weise kommunikabel und kumulativ weiter entwickelt werden können

Musik als Stellungnahme zu sich und seinem Verhältnis zur Welt

und vor allem: Musik als strukturierter Kosmos, als Ordnung in Raum und Zeit.
Da also selbst die (objektive) Form als Moment von Ordnung in ihrer anthropologischen Bedeutung von Cassirer herausgehoben wurde – und die Ausdrucksästhetik ohnehin auf die
Emotionalität des Menschen verweist, will ich bei meinen Anmerkungen zur Musik auch hier
wieder einen subjektorientierten Standpunkt einnehmen, Musik also aus der Perspektive des
Menschen und seiner musikalischen Praxis betrachten. An dieser Stelle erweist sich die
„Anthropologie der Musik“ von Wolfgang Suppan (1984) als ausgesprochen hilfreich. Bereits
seine Kapitelüberschriften lassen die Passfähigkeit seiner Aussagen zu den hier formulierten
Grundvorstellungen erkennen:
„Musik ist Teil der Symbolwelt des Menschen: Mitteilung, Kommunikation, Interaktion“,
darunter „Musik als Sprache der Sinne“, sowie „Musik als Gebrauchsgegenstand und als Teil
seiner biologischen und kulturellen Evolution“.
"Die Aufbereitung der Fakten/Materialien in Kapitel C dieses Buches (in dem zahlreiche ethnologische, medizinische etc. Forschungs-Ergebnisse gesammelt sind; M. F.) wollte zeigen,
daß Musik nicht zufälliges Dekor oder Ornament lebenswichtiger Vollzüge des Alltags sei,
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sondern an sozial wichtige Verrichtungen geknüpft ist: An Riten und Zeremonien, an Kult
und Gottesdienst, an Politik und Rechtswesen, an die Heilung von Kranken; um meditative
Trauerzustände zu erreichen; bei körperlicher und geistiger Arbeit; im Zusammenhang mit
Erotik, Sexualität, Gebot, Initiation, Totenbestattung, Klage, Kampf, Jagd, Krieg; um Tanz
und Ballett, gesprochenes und gesungenes Theater, Poesie, Puppenspiel deren spezifischen
Qualitäten zu garantieren." (Suppan 1984, S. 190 f.).
Auch für Musik gilt das allgemeine anthropologische Gesetz, dass selbst im höchst Individuellen stets die Allgemeinheit des Gattungswesens zu erkennen ist. Hans Heinz Holz entwickelt diese Gedanken in Anschluss an Lukacs (und Hegel) am Beispiel der Bildenden Kunst.
Der Musiker und Psychologe Klaus Holzkamp überträgt dies auf die Musik:
„So gesehen sind in vorfindlicher Musik stets auf irgendeine Weise Möglichkeiten zur Bewältigung, Gestaltung, Steigerung subjektiver Befindlichkeit historisch kumuliert. Im Vollzug der
musikalischen Bewegung hebt sich in meinem Befinden das Wesentliche, Überdauernde, Typische gegenüber deren bloßen Zufälligkeiten und Zerstreutheiten meines Befindens heraus....
Meine eigene Befindlichkeit tritt mir in der Musik in überhöhter, verallgemeinerter, verdichteter Form entgegen, ohne daß dabei die sinnlich-körperliche Unmittelbarkeit meiner Betroffenheit reduziert wäre... . Ich mag aber über die Musik... eine neue Distanz zu meinen aktuellen emotionalen Lebensäußerungen gewinnen, wobei diese Distanz nicht nur "kognitiver" Art
ist, sondern ihre eigene unverwechselbare Erfahrungsqualität gewinnt: Als "innere Ruhe",
Übersicht, Gelassenheit, bis hin zur kontemplativen Versunkenheit als Gegenpol zu musikalischer Extase. In jedem Fall gewinne ich aber über die Musik eine neue Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber den Anfechtungen und Wirrnissen des Naheliegenden - ändere ich durch
meine Ergriffenheit von Musik, die mir keiner wegnehmen oder ausreden kann, mich selbst,
meine Lebendigkeit, meine widerständige Präsenz in dieser Welt, quasi in reiner und gesteigerter Form erfahre, bin ich – mindestens vorübergehend – weniger bestechlich und nicht
mehr so leicht einzuschüchtern." (Holzkamp 1993, S. 70)
Ich will diese Grundgedanken, die im Kern das aussprechen, was (musikalische) Bildung
ausmacht, durch einige längere Zitate aus der aktuellen Diskussion – speziell um die Neue
Musik – ergänzen. Ich greife etwa auf Helmut Lachenmann zurück, der „bedeutendste Komponist seiner Generation“ (so der Klappentext in Lachenmann 1996) und ein profunder Theoretiker der Musik:
„Musik, wie Kunst überhaupt, denkt – über jede unmittelbare kulturelle Dienstleistung hinaus
– in jedem Werk fundamental über sich selbst neu nach.
Diese Erfahrung kann man an historischer Musik weithin verdrängen und unterschlagen, weil
man an deren Klangerscheinung schon gewohnt ist und weil sie so zum unreflektierten, unangefochtenen Kulturmobiliar gehört. Aber in Neuer Musik kann man solcher Verunsicherung
nicht ohne weiteres ausweichen – und dies führt zum Dauerkonflikt mit der allgemein dominierenden Bequemlichkeit und ist letztlich der Grund für solche Entfremdung und schlimmer
noch: für Interesselosigkeit, und ist doch zugleich das entscheidende Gütezeichen von Musik
in einer Gesellschaft, die sich gedankenlos an ihre Gewohnheiten anklammert und sich die –
falsch verstandene – Tradition als warme Bettdecke über den Kopf zieht, und die in einem
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ganz bestimmten gegebenen kulturellen Klima unfähig ist zu erkennen, dass die Lebendigkeit
von Kunst in nicht anderem beruht als in ihrer Möglichkeit der Provokation.
Provokation, das heißt: Ausbruch aus eingeschliffenem Hörverhalten und zugleich Angebot
an die Wahrnehmung; Angebot, anders zu hören, im Hören übers Hören nachzudenken, sich
immer von neuem dem Ungewohnten zu öffnen, sich ihm auszusetzen und sich damit auseinanderzusetzen.
Damit ist Kunst keineswegs „definiert“, wohl aber wird so an einen wesentlichen Aspekt von
Kunst erinnert, mit dessen allgemeiner Verdrängung die Schwierigkeiten Neuer Musik in der
Öffentlichkeit direkt zusammenhängen.
Die allgemeine Interesselosigkeit, Kern des Problems „Neue Musik“, ist zu einem großen Teil
nichts als mangelnde Aufklärung in diesem Sinn. Der Hunger, gerade auch der Jugend, nach
einer Kunst, in der sie ihre Situation, wie auch immer vermittelt, wiedererkennt, ist da. Der
Missbrauch dieser Aufnahmebereitschaft durch kommerziell orientierte Interessen ist heute
größer und gefährlicher als irgendwann früher. Neue Musik, Kunst allgemein, kann durch ihr
bloßes Irgendwo-Vorhandensein dem kaum entgegenwirken.“ (Lachenmann 1996, S. 335)
Der Grundgedanke, auf den es mir an dieser Stelle ankommt, ist die Hervorhebung der Reflexivität des Hörens, wobei der Reflexionsprozess über das Hören selber erfolgt. Ebenso wie
ich eine dreifache Reflexivität des Sehens unterschieden habe, lässt sich dies beim Hören tun:
Ich höre, erlebe mich selbst als Hörenden und höre in einer komponierten Musik eine reflektierte Stellungnahme zum Hören und zur Welt.
Hören von Musik ist also Sinnlichkeit, ist Auseinandersetzung mit Vorstellungen anderer vom
Hören, ist Auseinandersetzung mit verallgemeinerter Emotionalität und führt geradezu
zwanglos von Sinnlichkeit und Emotionalität zur Auseinandersetzung mit Ordnung:
„Wir trauen offenbar also den Kindern, als den Entdeckenden und Lernenden schlechthin, und
zwar durchaus als lustvolle Erfahrung der eigenen Möglichkeiten, tatsächlich das zu, was wir
Erwachsenen, wo es uns selbst zugemutet wird, als unbequem verdrängen und dem wir uns in
der Kunst so gern bequem verschließen: nämlich die Erfahrung der Horizont-Erweiterung und
der eigenen Veränderbarkeit. Solche Erfahrung, vollends in der Kunst, ist unbequem für uns
Erwachsene, weil sie uns an die eigene Verfestigtheit und zugleich an die eigene Verantwortung erinnert, solche Verfestigtheit zu überwinden, den Kopf aus dem Sand zu ziehen und den
Blick auf den Spiegel unserer Wirklichkeit auszuhalten, einer Wirklichkeit, die – vom Menschen verursacht – nun diesem selbst offenbar zur Bedrohung geworden scheint, einer Wirklichkeit, vor der wir uns in der Kunst immer wieder in die Utopie eines scheinbar intakten
Welt- und Menschenbildes flüchten und uns verzweifelt daran klammern.
In der Musik, die, wenn sie die Bezeichnung Kunst verdient, auf ihre Weise an solche Kräfte
und Möglichkeiten des Menschen über dessen ästhetische Erfahrung gemahnt, bedeutet dies
wahrnehmungstechnisch etwas sehr Einfaches und zugleich doch Schwieriges: nämlich den
scheinbaren Umweg des Erlebnisses zum Gemüt über das Denken und übers Bedenken. Noch
pragmatischer eingeengt: den scheinbaren Umweg zur ästhetischen Empfindung über die Bewusstmachung der im Werk wirkenden Strukturen, das heißt: der im Werk wirkenden immanenten und übergreifenden Zusammenhänge; das Erlebnis von musikalischem Ausdruck also
nicht bloß als irrational empfundenem Gemüts-Reiz unseres Sensoriums, sondern Ausdruck
als Resultat einerseits von neu zu Grunde gelegten Regeln, andererseits aber auch als Resultat
der Überwindung von bereits vorgegebenen Spielregeln.“ (Lachenmann 1996, S. 163)
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Lachenmann entwickelt geradezu parallel zu dem Begriff des sehenden (bewussten) Sehens
von Imdahl ein Konzept des hörenden Hörens, wenn er Hören als „Abtastvorgang (bezeichnet), welcher Rückschlüsse auf die im Werk wirkenden Bauprinzipien und darüberhinaus auf
die zu Grunde liegende expressive und ästhetische Haltung ermöglicht...“. (S. 166).
Abb. 15
Sinnesart
Sehen
Hören
Wahrnehmungsgegenstand
Sichtbares/
Optisches
Hörbares/
Akustisches
Reflexivität 1
Reflexivität 2
Reflexivität 3
sich sehend erle- sich selber (ganz Sehen einer visuben
oder teilweise)
ellen Stellungsehen
nahme (Kunstwerke)
sich hörend erle- sich selber hören Hören einer muben
sikalischen Stellungnahme
(Komposition)
Sehen und Hören gehören zu den (privilegierten) „höheren“ Sinnen, die man daher auch bis
hin zur Kunstförmigkeit kultiviert hat. Riechen, Schmecken und Tasten – die ersten beiden als
„chemische Sinne“ – sieht man eher am triebhaft-naturnahen Wesenskern des Menschen, zumal die Zivilisationsgeschichte hier zu einem Verlust ursprünglicher Funktionen geführt hat;
Beispiel Nase/Riechen: Witterung einer drohenden Gefahr, Suche nach kopulationsbereiten
Sexualpartnern, Aufspüren von Nahrung.
Inzwischen können massive Lebensgefahren von diesen Sinnen nicht mehr aufgespürt werden
(Ozonloch, Vergiftung von Lebensmitteln, Krankheiten); und es hat sich zudem eine Unlust
in ihrem Gebrauch ergeben (Peinlichkeit und Scham gegenüber biologischen Gerüchen, als
aufdringlich empfundene Körpernähe; vgl. Artikel „Nase“ und „Mund“ (beide von Mattenklott) und „Haut“ (O. König) in Wulf 1997; siehe auch Burdach 1988).
Vielleicht mag es zur Beruhigung beitragen, dass nach wie vor durch Geruch, Geschmack und
Tastempfindungen erhebliche körperliche Reaktionen ausgelöst werden, die die Kochkunst
und die Parfümindustrie weidlich nutzen, so dass sich auch hier die Naturseite des Menschen
heftig zu Worte meldet (siehe die Kulturgeschichte dieser Sinne, etwa Corbin 1984).
Musik über einen anthropologischen Zugang zu verstehen, heißt dann auch, sich mit den subjektbezogenen Kategorien des Genusses, des Erlebens, der musikalisch(-ästhetischen) Erfahrung auseinander zu setzen. Darauf stützen sich – zurecht – vorliegende Kataloge zur Begrün52
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dung musikalischer Bildung, die die Rolle von Musik bei der Bildung, Humanisierung, Kultivierung, Entwicklung und Sensitivität, in ihrer human-biologischen Notwendigkeit, als Mittel
der Sinnsuche etc. durchdekliniert (vgl. etwa Kaiser 1995).
Da in solchen Lernzielkatalogen und bei der theoretischen Erfassung von Musik insgesamt
die Nähe zur Emotionalität in der Musik hervorgehoben wird, gebe ich eine Übersicht von H.
Rösing (Bruhn/Oerter/Rösing 1993, S. 580/1) wieder (Abb.16).
Bei Rolle (1998) finden sich solche Vorstellungen zwar auch, doch reicht die von ihm ausgewählte Kategorie der „ästhetisch-menschlichen Erfahrungen“ erheblich weiter:
a. „Ästhetische Erfahrungen sind vollzugsorientiert. Sie unterscheiden sich von nichtästhetischen unter anderem dadurch, dass wir sie zwar machen, nicht aber haben können.
Von musikalischen Erfahrungen in diesem ästhetischen Sinne zu reden, ist nur sinnvoll,
wenn wir damit auf den Erfahrungsprozess abheben. So weit wir das sedimentierte Erfahrungswissen, Erfahrung als Resultat, meinen (in dem Sinne, dass jemand musikalische Erfahrung hat), ist es besser, von nicht-ästhetischer musikbezogener Erfahrung zu sprechen.
b. Ästhetische Erfahrungen machen wir in der Auseinandersetzung mit einer sinnlich wahrnehmbaren materialen Grundlage, nämlich insofern diese ästhetisch wahrgenommen wird.
Ästhetisch-musikalische Erfahrungen haben stets auditive Wahrnehmungsprozesse zur
Grundlage. Nicht-ästhetische (sondern theoretische) Erfahrung im Umgang mit Musik
zeigt sich dagegen beispielsweise in der analytischen oder klassifizierenden Tätigkeit eines Musikwissenschaftlers.
c. Erfahrungen haben immer einen Subjekt-Bezug, weil sie immer die Erfahrungen von jemandem sind. Ästhetische Erfahrungen haben darüber hinaus reflexiven Charakter, insofern ich in ihnen immer auch eine Erfahrung mit mir mache. Erfahrungswissen ist Wissen,
das für mich bedeutsam ist. In ästhetischen Erfahrungen wird diese persönliche Bedeutung
thematisiert. Ästhetische Erfahrung ist durch eine Ichaffiziertheit gekennzeichnet, die als
ästhetisch genussvoll erlebt wird.
d. Nicht-ästhetische Erfahrung kann sich als nützlich erweisen, insofern das von ihr hervorgebrachte Wissen eine handlunsorientiertende Funktion gewinnt. Die vollzugsorientierte
ästhetische Erfahrung ist nicht in dieser Weise instrumentalisierbar. Gleichwohl ist ästhetische Erfahrung wirksam, insofern sie bisherige Einstellungen bestätigt oder verunsichert
und damit Neuorientierungen provoziert. Dass ästhetisch-musikalische Erfahrungen
selbstzweckhaft vollzogen werden, bedeutet nicht, dass sie keinen Bezug zum Leben hätten.“ (Rolle 1998, S. 79 f.).
Insbesondere spielen ästhetische Erfahrungen bei der Gewinnung eines Selbst- und Weltverhältnisses eine Rolle, sind also Moment der (anthropologisch als notwendig erwiesenen)
Selbstbeschreibung des Menschen in seinem sozialen und natürlichen Kontext.
Musik ist daher – wie jede andere künstlerische Praxis – Arbeit an sich selbst, Arbeit insbesondere am individuellen Sinn, was vor allem heißt: Bewertung individueller und gesellschaftlicher Lebensumstände und Rückbezug auf eine übergeordnete Ganzheit („Integration“)
bzw. ein globaleres (Lebens-)Ziel. Dies tun auf ihre Weise alle symbolischen Formen. Daher
ist es nützlich und sinnvoll, die Unterteilung von Susanne Langer (1979) zu übernehmen.
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Diese unterscheidet auf der Basis von Ernst Cassirer „diskursive“ und „präsentative Formen“,
Abb. 16: Musik und Emotion
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wobei sie die Musik „als echtes Symbolsystem“, allerdings ohne feststehende Konnotation,
bezeichnet (S. 235): Musik ist unvollendetes Symbol, eine sinnhaltige Form ohne konventionellen Sinngehalt (S. 236). Musik – macht Züge von Welt und personalem Leben zugänglich,
so wie jede symbolische Form, allerdings anders als diskursive Sprache, so auch der Symboltheoretiker Nelson Goodman (1990, 1997; vgl. Pothast in Musik & Ästhetik, Heft 10/April
1999, S. 101ff).
Vor diesem Hintergrund erhalten Ergebnisse aus einer sorgfältigen qualitativen Studie von
Mollenhauer u. a. (1996) eine weitere Begründung. Ich gebe aus der Zusammenfassung dieser
Studie einige hier relevante Aussagen (verkürzt) wieder:
1. „Ästhetische Bildung“ ist Teil der Auseinandersetzung des Menschen mit „Welt“, ist
Moment der Weltaneignung.
2. Diese Auseinandersetzung erfolgt – im Produktiven und Rezeptiven – stets tätig: „Ästhetische Erfahrung“ heißt also in dieser Hinsicht: seine eigene Symbolisierungsfähigkeit erfahren als produktiven Umgang mit den bisher erworbenen Anteilen des Selbst, in Relation zu dem bildnerischen und musikalischen Material, das kulturell überhaupt zur Verfügung steht.“ (S.254)
3. Auf der Basis der These von der „exzentrischen Positionalität“ (Plessner) dokumentiert
das ästhetische Produkt Differenzerfahrung: Ästhetische Erfahrung ist also auch eine Erfahrung mit den anthropologischen Vorgaben, die das Subjekt in seinem Organismus vorfindet“. (S. 255)
4. Ästhetische Erfahrung ist sozial im Sinne eines individuellen Bezugs zum Allgemeinen
(zur „Gattungsnormalität“, wie Lukacs und Holz, aber auch Holzkamp sagen; s.o.), wobei
auch die Differenz zwischen Individuell-Besonderem und Seelisch-Allgemeinem präsent
bleibt.
5. Diese Differenzerfahrung kann kritisch-emanzipatorisch gewendet werden (siehe auch das
Holzkamp-Zitat).
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Autonomie der Kunst
Systematische und historische Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff
1. Zur Aktualität der Thematik
Wenn ein großer Kulturverband aus dem Theaterbereich auf seiner Hauptversammlung ausdrücklich in einer Resolution formuliert, Theater sei Kunst und sonst nichts und dies mit der
bedrohlichen Bemerkung verstärkt, dass jeder, der etwas anderes sage, nichts von Theater
verstünde, dann muss man durchaus einmal darüber nachdenken, warum dies so formuliert
wird, welches das Ziel dieser Formulierung ist und auf welche historischen und systematischen Zusammenhänge man mit einer solchen Formulierung anspielt.
Das Ziel dieser Formulierung ist relativ leicht aus dem Kontext zu erschließen: Es geht um
den Versuch, die reichhaltige Theaterlandschaft in Deutschland zu erhalten und weiteren Kürzungen der öffentlichen Hand entgegenzutreten. Dies ist selbstverständlich eine legitime Aufgabe eines kulturellen Fachverbandes. Aus dem Kontext erschließet sich auch schnell, dass
man sich mit der Formulierung, Theater sei nichts anderes als Kunst, nicht bloß gegen die im
Moment grassierende Ökonomisierung aller Lebensbereiche wendet, die auch vor dem Kulturbereich nicht Halt macht, sondern man wendet sich auch gegen Versuche, Kultur- und
Kunsteinrichtungen im Rahmen einer Argumentation mit Begriffen wie „Daseinsvorsorge“
oder „Grundversorgung“ vor dem Zugriff einer ökonomischen Denkweise und sparwütiger
Politiker zu schützen und eine öffentliche Förderung des Theaterbereichs auch zukünftig aufrechtzuerhalten.
Möglicherweise ist es gerade angesichts der historischen Tradition in Deutschland nicht sonderlich bemerkenswert, dass man glaubt, dies mit einer Einordnung des Theaters in den
Kunstkontext erreichen zu können. Denn Kunst, so die hier vermutlich gemeinte, allerdings
nicht explizit ausgesprochene Bedeutung dieses Begriffes, ist „autonom“, was hier etwa meinen könnte: nicht weiter begründungsbedürftig und so eigenständig, dass weitere Legitimationen für eine Förderung nicht nur nicht nötig sind, sondern möglicherweise das „Wesen“ des
angesprochenen Gegenstandsbereichs, der „Kunst“, sogar beschädigen könnten. So selbstverständlich diese Formulierung gerade in deutscher Tradition also erscheint, so lohnt es sich
doch, über diese unterstellte Selbstverständlichkeit nachzudenken. Denn man muss nur die
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Grenzen Deutschlands überschreiten, um zu erleben, dass in anderen Ländern der Hinweis auf
eine vorgebliche „Autonomie“ keineswegs ausreicht, um Finanzierungsfragen zu lösen. Wie
ist es also zu der These von der „Autonomie der Kunst“ gekommen? Was ist damit gemeint?
Was bedeutet in diesem Zusammenhang überhaupt „Kunst“ und wieso ist die Autonomiebehauptung finanziell so ertragreich? Dies sind sehr viele und zum teil schwierige Fragen, von
denen ich im folgenden nur zwei aufgreife und auch dort nur andeutungsweise einige Antworten versuchen will.
Eine erste Assoziation könnte die unterschiedlichen Erscheinungsformen dessen, was unter
Kunst subsummiert wird, Revue passieren lassen. Wenn man sich etwa ganz traditionell und
im Einklang mit dem Alltagsverständnis ein Gedicht vorstellt, ein Bild, eine Skulptur, ein
Konzert, eine Choreographie oder eine Theateraufführung, dann gelangt man schnell zu der
Überlegung, dass bei all diesen künstlerischen Manifestationen Menschen beteiligt sind, die
damit ihren Lebensunterhalt bestreiten! Man denkt daran, dass man es unter Umständen mit
Betrieben und Kultureinrichtungen unterschiedlicher Größe zu tun hat, die aus der Bereitstellung dieser künstlerischen Produkte nicht bloß Einnahmen, sondern manchmal sogar einen
Gewinn erzielen wollen und können. Allerdings denkt man in diesem finanziellen Zusammenhang sicherlich auch daran, dass viele der Einrichtungen einen erheblichen Zuschuss zu
ihren Betriebskosten brauchen.
Spätestens hierbei fällt auf, dass es zwar bei der Rede von Kunst natürlich und in erster Linie
um den künstlerischen Prozess oder ein Kunstwerk geht, dass aber dieses Kunstwerk auf vielfältige Weise in gesellschaftliche und auch in ökonomische Zusammenhänge eingebettet ist,
bis es seinen Weg von seinem künstlerischen Produzenten bis zu dem Rezipienten gegangen
ist. „Kunst“ hat es also natürlich mit künstlerischen Artefakten oder Prozessen zu tun, doch ist
Kunst auch ein sozialer Prozess, ein ökonomischer Prozess, ein Prozess der Kommunikation.
Es geht um Personen und Einrichtungen, um ökonomische Abläufe, um politische Rahmenbedingungen und um spezifische Professionalitäten, die der Erwerbstätigkeit dienen, so dass
man es nicht vermeiden kann, dass sich alle relevanten Wissenschaften mit Kunst befassen (
Abb.).
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zuständige Fachdisziplinen
Politikwissenschaften
Medienwissenschaft
Kommunikationswissenschaft
Ökonomie
politische
Medien
Medien
Kommunikation
Wirtschaftsfaktor
Die KÜNSTE als.....
Kulturtheorien
Sprachen
Teil der Kultur
Bildungsmittel
Sprachwissenschaften
SEMIOTIK
Symboltheorien
Tätigkeiten
Mittel sozialer
Stukturierung
Seinsbereich
(Ontologie)
Bildungstheorien
Soziologien: Kultur-,
Bildungs-,
Kunstsoziologien
(Tätigkeits-)
Philosophie/
Psychologie
Philosophie/spezielle
Ästhetiken
Theater als Kunst hat natürlich auch mit diesem komplexen Kunst-Kontext zu tun: Es ist ein
sozialer, ein politischer und ein ökonomischer Prozess und kann damit auch in einer sozialen,
politischen und ökonomischen Perspektive betrachtet werden. Die These, Theater sei Kunst
und sonst nichts, führt also gerade nicht zur Beendigung der Debatte, sondern man kann wegen der Vielperspektivität von Kunst dann auch bei dem Theater anfangen mit einer vielperspektivischen Diskussion.
Der systematische Ertrag dieser ersten Assoziationskette besteht darin, dass sich aus der Einordnung einer künstlerischen Aktivität gleich welcher Art unter die Rubrik „Kunst“ nicht sofort eine plausible Erklärung der Sonderstellung des betreffenden Bereichs ergibt, sondern
vielmehr dadurch vielfältigste Diskurse eröffnet werden, bei denen die Frage der „Autonomie“ sich gerade nicht von selbst beantwortet. Man könnte nun zwar sagen, dass all die ge62
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nannten Bereiche relevant sind, aber die ästhetische Dimension diejenige sei, bei der primär
an den Aspekt der Autonomie zu denken ist und sich so das gewünschte (politische) Ziel
ergibt. Man wird sehen.
Dass man sich gegen eine Ökonomisierung des Kunstbereichs wehrt, ist einsichtig. Denn eine
Unterordnung unter das ökonomische Verwertungsprinzip, was auch heißt: unter den Zwang
zur Gewinnmaximierung, würde sofort zum Ende eines jeden künstlerischen Experiments
führen. Doch wieso wehrt man sich dagegen, ein Teil der „Daseinsvorsorge“ bzw. der
„Grundversorgung“ zu sein? Beide Begriffe haben zwar durchaus eine problematische Geschichte bzw. führen zu Assoziationen, die dem Kulturbereich unangemessen sind, so dass
man sehr genau über die Bedingungen ihrer Anwendbarkeit nachdenken muss.31 Doch wird
man beiden Begriffen nicht bestreiten können, dass sie sich mit existenziellen Fragen des
menschlichen Lebens („Dasein“) befassen. Gerade wenn man einer anthropologischen Begründung der Notwendigkeit von Kunst für das menschliche Leben nicht abgeneigt ist 32 – und
eine solche liegt etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Kinderrechtskonvention oder dem Pakt für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte, aber auch vielen Positionierungen aus dem Feld der Künste und natürlich auch aus dem Theaterbereich (vgl. etwa
Deutscher Bühnenverein 2003) zugrunde –, dann fällt es schwer, die Beziehung von Kunst zu
einer solchen anthropologischen Konnotierung der genannten Begriffe als kunstfeindlich oder
der Kunst wesensfremd zu verstehen. Ich werde an späterer Stelle darauf zurückkommen und
zu zeigen versuchen, dass Kunst ihre humane und gesellschaftliche Relevanz in der Tat nur
dadurch erreicht, dass sie eine Kulturmacht ist. Aber wieso vermuten die Verfasser in der
oben angeführten Resolution, dass ein Verweis auf die „Autonomie der Kunst“ ein stärkeres
Argument für die Erhaltung einer öffentlichen Förderung darstellt als eine Argumentation, die
Kunst einordnet in einen anthropologischen und kulturellen Kontext, was sogar soweit geht,
dass man in einem weiten Kulturbegriff (also etwa der Kulturbegriff der Unesco) die Gefahr
sieht, dass er „Kunst aushöhle“? Es lohnt sich daher, der Frage nachzugehen, was denn „Autonomie“ im Zusammenhang mit Kunst bedeuten könnte.
Zu dem Begriff der Daseinsvorsorge siehe meinen entsprechenden Aufsatz in „Politik und Kultur“, Ausgabe
2/04, „Grundversorgung“ habe ich bei einer Veranstaltung zur Kulturentwicklungsplanung der LHS Dresden am
30.06.04 kritisch analysiert (Der Text „Grundversorgung kulturelle Bildung“ steht als download – wie alle anderen hier genannten Texte von mir – auf der Homepage der Akademie Remscheid (www.akademieremscheid.de)
zur Verfügung.
31
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2. Was ist „autonom“ an der Kunst?
Eine Übersicht
In einer ersten Annäherung gibt die Übersetzung der beiden aus dem Griechischen stammenden Wortbestandteile dieses Kunstwortes einen Aufschluss über seine mögliche Bedeutung.
So steckt in dem ersten Wortbestandteile (auto) das Wort „selbst“ und in dem zweiten Wortbestandteil (nomos) das Wort „Gesetz“. In der Tat ist „Selbstgesetzgebung“ ein verbreitetes
Übersetzungsangebot für Autonomie, wobei zu diesem Wortfeld auch Unabhängigkeit, Freiheit und vor allem Willensfreiheit gehören. All diese Begriffe, die in Verbindung mit dem
Wort „selbst“ stehen (man kann noch Selbsterkenntnis, Selbständigkeit, Selbstbestimmung,
Selbstverantwortung oder Selbstverwirklichung nennen; vgl. Gerhardt 1999), gehören zu dem
Bedeutungsskontotext von „Subjektivität“: dass man nämlich selbst die Regeln gibt, nach
denen man handelt. Der Gegensatz von Autonomie ist daher Fremdgesetzgebung, ist „Heteronomie“.
Man hat es also mit Regeln und Gesetzen zu tun, wobei die entscheidende Frage darin besteht, wer diese Regeln und Gesetze erlassen hat. Regeln und Gesetze kann man befolgen
oder man kann gegen sie verstoßen. Stets geht es jedoch um das Handeln des Menschen. Die
philosophische Disziplin, die sich mit richtigem oder falschem Handeln des Menschen befasst, ist die Praktische Philosophie, ist also Ethik oder Moralphilosophie bzw. politische Philosophie.
Mit dieser Überlegung ist bereits eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Der Begriff der Autonomie stammt nicht primär aus der philosophischen Ästhetik oder der Kunsttheorie, sondern
es ist ein Begriff der Praktischen Philosophie. Natürlich hat jeder philosophische Autor das
Recht, Begriffe aus einem speziellen Bereich im übertragenen Sinne auch in anderen Feldern
zu verwenden. Man möge sich allerdings daran erinnern, wie viel Aufwand etwa Kant investiert hatte, um zu einer Architektur der Philosophie zu gelangen, die einigermaßen trennscharf
auf der Grundlage dreier „Vermögen“, nämlich der Fähigkeit zu erkennen, der Fähigkeit, Lust
und Unlust zu empfinden und dem Begehrungsvermögen zu unterscheiden, die drei Disziplinen Erkenntnistheorie, Ästhetik und Moral-Philosophie als eigenständige Teildisziplinen der
Philosophie entwickelt hat.
Mit Kant beginnt bei vielen Philosophiehistorikern die ausgereifte Philosophie der Moderne
(vgl. aus einer unüberschaubaren Literaturmenge Schönrich/Kato 1996). Er ist auch und gerade bei unserer Fragestellung der Autonomie der entscheidende Philosoph, weil er im ersten
32
An anthropologischen Zugängen zur Kunst ist kein Mangel. Für einen Überblick siehe Fuchs 1999, wo insbe-
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Teil seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) die sogenannte „Autonomie-Ästhetik“ begründet
hat. Alle drei genannten philosophischen Teil-Disziplinen sind bei ihm im Subjekt und seinen
„Vermögen“ verankert, wobei Kant auch der entscheidende Denker ist, der zu einer Bedeutungsumkehrung des Subjektbegriffs beigetragen hat. Bis zu dieser Zeit war das Subjekt das
Unterworfene in einer engen Bedeutungsverbindung zu Zwang und Demütigung. Kant bleibt
zwar bei diesem Bild, bei dem sich das Subjekt unten befindet, nur wird es jetzt zum Tragenden der gesamten Konstruktion. Das Subjekt ist nunmehr in völliger Umkehrung der bisherigen Bedeutung das Aktivitätszentrum, das sich seine eigene Welt konstruiert, das sich seine
Gesetze des Handelns vorgibt und das auch maßgeblich über die ästhetischen Werturteile und
deren Maßstäbe entscheidet: Das Individuum, das spätestens seit der Renaissance zunehmend
an Bedeutung gewonnen hat, wird nun zum handlungsmächtigen Subjekt (Fuchs 2001). Die
Freiheit des Subjekts ist in dieser philosophischen Konzeption nicht bloß eine Spezialfrage
der Moral-Philosophie, sondern Grundprinzip der gesamten Philosophie.
Ich weise an dieser Stelle nur darauf hin, dass der Gedanke der Freiheit bis heute eine entscheidende Rolle in Ästhetik-Konzeptionen spielt. So verankert etwa Gehlen das Konzept der
Schönheit im Erleben von Freiheit (der Loslösung aus der Naturgesetzlichkeit der Evolution).
Andere Autoren bewerten die Künste und die ästhetische Erfahrung deshalb so hoch, weil hier
generell die Möglichkeiten menschlichen Weltzugangs ausgelotet und erweitert werden können: Kunst wird zum Musterbeispiel der Selbsterfahrung des Menschseins. Gerade für das
Theater wird hier eine unersetzbare Möglichkeit gesehen: Modelle unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten zur Anschauung zu bringen (vgl. neben zahllosen Theatertheorien allgemein für alle Künste meinen Text „Ethik und Kulturarbeit“, 2003).
Diese philosophiegeschichtliche Erinnerung erbringt einen weiteren systematischen Ertrag:
„Autonomie“ ist zunächst einmal ein Begriff der Praktischen Philosophie und erfüllt in dem
subjektorientierten Philosophiegebäude von Kant eine Querschnittsfunktion für alle philosophischen Teildisziplinen. Dieses ist möglich aufgrund der zentralen Rolle des Subjekts in der
Philosophie Kants: Wer im Sinne von Kant von Autonomie spricht, geht von einem handelnden und wertenden Subjekt aus, das sich selber die Regeln seines Handelns oder Wertens gibt.
Ich komme später darauf zurück. Doch welches sind die „handelnden Subjekte“ im Kontext
der Kunst und welche Dimensionen von Kunst lassen sich außerdem noch identifizieren?
sodnere auf Plessner und Cassirer Bezug genommen wird. Vgl. auch Frey 1994 sowie Wulf 1998.
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„Kunst“ ist ein ausgesprochen komplexes Geschehen. Man mag daher von einem einfachen
Strukturmodell des Kunstprozesses ausgehen: Es gibt KünstlerInnen, die in einem künstlerischen Prozess etwas gestalten. Der Kunstwerkbegriff ist zwar sowohl im Zuge der realen
Entwicklung der Künste als auch in den kunsttheoretischen und philosophischen Reflexionen
über diesen Prozess oft angegriffen worden, doch ist er im Zusammenhang dieses Textes immer noch brauchbar.
Im Hinblick auf eine Annäherung an „Kunst“ können wir somit die drei Komponenten künstlerisches Subjekt, künstlerische Tätigkeit und künstlerisches Objekt (Kunstwerk) unterscheiden und jeweils die Frage nach der Autonomie stellen. In der Tat führt selbst diese einfache
Ausdifferenzierung des Komplexes Kunst zu sinnvollen Untersuchungsrichtungen:

Man kann sich mit der Genese des Künstlerberufes beschäftigen und danach fragen, unter
welchen Umständen der Beruf des Musikers, des Komponisten, des Malers, des Schauspielers, des Schriftstellers, des Regisseurs oder Dichters etc. entstanden ist, aus welchen
Berufen sich diese künstlerischen Berufe entwickelt haben und wie und warum sie ihre
Eigenständigkeit gewonnen haben (vgl. Ruppert 1998). Autonomie der Kunst heißt unter
dieser Perspektive: Autonomie des künstlerischen Berufs.

Man kann danach fragen, unter welchen Bedingungen sich die verschiedenen künstlerischen Tätigkeiten als besondere Tätigkeitsformen (die gegebenenfalls von Menschen mit
speziellen Berufen ausgeübt werden) entwickelt haben. Autonomie der Kunst heißt unter
dieser Perspektive: Autonomie der künstlerischen Tätigkeiten.

Man kann danach fragen, unter welchen Bedingungen die Ergebnisse der künstlerischen
Tätigkeit einen besonderen Status erhalten (z.B. „Aura“) und in einer besonderen Weise
präsentiert werden. Autonomie der Kunst heißt unter dieser Perspektive: Autonomie des
Kunstwerks.
Der Kunstprozess besteht jedoch nicht nur in der Herstellung von Kunstwerken, sondern es
müssen diese auch verteilt (Kunstvermittlung, Distribution) und schließlich auch rezipiert
werden. In einer semiotischen Sichtweise ist dies die pragmatische Dimension eines Umgangs
mit dem Zeichenkomplex Kunstwerk.

Man kann danach fragen, ob die Kategorie der Autonomie in irgendeiner Weise sinnvoll
auf den Prozess der Kunstvermittlung angewandt werden kann.
66
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
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Man kann danach fragen, ob der Prozess der Kunstrezeption in einer Weise stattfindet,
dass man von seiner „Autonomie“ sprechen könnte.
Wenn man berücksichtigt, dass all diese Prozesse der Kunstherstellung, der Kunstvermittlung
und der Kunstrezeption nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern unter konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen, dann ist es unmittelbar einsichtig, dass diese Prozesse zum Gegenstand der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen werden
können: Natürlich sind in erster Linie die spartenbezogene Kunstwissenschaften (mit historischer und systematischer Perspektive) und die philosophische Ästhetik gefragt. Es ergeben
sich allerdings auch sinnvolle Fragestellungen für die Ökonomie, die Soziologie, die Politikwissenschaft oder die Psychologie. Da die Künste außerdem Gegenstand der Bildungsarbeit
sind, interessieren sich auch die Erziehungswissenschaften für diese Prozesse. Auch hier ist es
bekannt, dass „Autonomie“ (man spricht hier lieber vom Eigenwert oder Eigensinn der künstlerischen Tätigkeit) eine Voraussetzung für gelingende künstlerische Bildungsarbeit ist.
Man könnte nun in der Tat in einer umfangreicheren Arbeit alle genannten Komponenten und
Aspekte des komplexen Geschehens Kunst untersuchen.33 Ich will hier nur einige Hinweise
zu zwei ausgewählten Aspekten geben: Zunächst will ich einige Hinweise zur sozialen Einbettung des Kunstprozesses im historischen Verlauf geben, sodann werde ich diese soziale
Einbettung ausblenden und in einer ästhetischen Annäherung die Frage nach einer möglichen
Bedeutung von „Autonomie“ stellen.
3. Kunst im sozialen Kontext
Die These von der Autonomie der Kunst war nicht bloß immer wieder ein Gegenstand einer
wertfreien Nachforschung ihrer historischen Genese und ihrer systematischen Bedeutung im
Rahmen der Ästhetik oder den Theorien der Künste. Sie war auch immer wieder eine Herausforderung für Künstlerinnen und Künstler, die sich mit ihrer Kunst bewusst in soziale und
33
Zu allen Kunstsparten gibt es hochentwickelte wissenschaftliche Disziplinen, Lehrstühle, Zeitschriften und
Fachliteratur, die über alle genannten Fragestellungen ausführlich informieren und die leicht zugänglich sind. Es
gibt sogar inzwischen wuchtige Begründungen dafür, dass all diese Disziplinen – man zählt sie heute zu den
„Kultur(!)wissenschaften“– für unsere Gesellschaft und ihre Selbstauslegung unverzichtbar sind (Steenblock
1999; zur „Kulturfunktion“ der Selbstdeutung – auch und gerade durch die Künste – siehe meine beiden Texte
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politische Prozesse einmischen wollten und die die von der Autonomiethese unterstellte
Trennung von Kunst und Leben bewusst nicht mit vollziehen wollten. Insbesondere war es
immer wieder die Avantgarde, die Kunst und Leben zusammenbringen wollte und die von
daher das Verständnis einer autonomen Kunst nicht teilte.34
In einer materialistischen Perspektive gehört Kunst zum ideologischen Überbau der Gesellschaft und ist daher abhängig von der materiellen Basis. Materialistische Untersuchungen zur
Geschichte der Kunst versuchten daher immer wieder, diese Abhängigkeit der Kunst von den
Produktionsverhältnissen nachzuweisen. Im Gegenzug hierzu bestanden anti-materialistische
Denker auf der Priorität des geistigen Lebens.35 Es liegt auf der Hand, dass diese beiden konträren Positionen über den Status der Kunst zu unterschiedlichen Konzeptionen von Kulturpolitik führen müssen.
Diese nicht vermittelbare Entgegensetzung eines lebensdistanzierten Idealismus und eines
mechanistischen Materialismus hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, in welcher Weise
und in welchen Abhängigkeiten sich das System der Künste historisch-konkret entwickelt hat.
Eine wichtige Rolle spielte nicht nur die materialreiche „Sozialgeschichte der Kunst und Literatur“ von Arnold Hauser, sondern auch das Alternativprogramm zum 13. Deutschen Kunsthistorikertag im Frühjahr 1972, das damals junge und kritische Kunsthistoriker - heute alles
etablierte und angesehene Lehrstuhlinhaber - aus Protest gegen die erstarrten Rituale ihrer
Zunft organisierten (Müller u. a. 1972). Ich zitiere aus dem Vorwort:
„Die Vorstellung von der „Autonomie der Kunst“ hat sich nicht überlebt. Alle Versuche der
Künstler selbst, aus dem Rahmen, den sie setzt, auszubrechen, sowie alle Theorien über
„Kunst als Ware“ können nicht verstellen, dass Kunst in unserer Gesellschaft noch immer
vorwiegend „autonom“ gesehen wird - auch dort, wo der Begriff nicht ausdrücklich fällt -,
und dass der Warencharakter der Kunst ihr autonomes Wesen nicht auflöst, sondern gerade
zur Voraussetzung hat; autonome Aura und Marktwert der Kunst bedingen einander noch
heute.... Ist also von Autonomie in der spätmittelalterlich-frühbürgerlichen Geschichtsphase
noch nicht explizit die Rede, so weist doch die Entwicklung der in der Renaissance zu ihrer
„Kulturfunktionen der Künste“ (2003) und „Das Interesse der Moderne an sich selbst“ (2004), beide auf der
ARS-Homepage.
34
Hierzu nach wie vor erkenntnisfördernd die Schriften von Peter Bürger, insbesondere seine „Theorie der
Avantgarde“ (1974) und seine „Kritik der idealistischen Ästhetik“ (1983). Bemerkenswert ist das Kapitel über
die „Geschichtlichkeit des Kunstbegriffs“ in Pracht u.a. 1987.
35
Ein gutes Beispiel für Dialektik ist Stephan George, der sehr strikt seine Position des aristokratischen l’art
pour l’art entwickelt und quasi generalstabsmäßig dafür gesorgt hat, dass sie politisch und ökonomisch an Einfluss gewinnt: Mit Kunstautonomie ließ sich immer schon gut Politik betreiben.
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autonomen Form „befreiten“ Kunst als die Phase des Werdens auf die Entwicklung in der
Moderne hin.“(a.a.O., S.7).
Im Sinne dieses Zitats untersuchen die Autoren, wie sich im Schoße der Feudal- Gesellschaft,
also insbesondere in Abhängigkeit von Hof und Kirche, nach und nach die künstlerische Produktion sowohl in der Literatur, aber vor allem im Bereich der bildenden Kunst aus der Enge
der Auftragsvergabe und Kontrolle der genannten Instanzen löst. Es entsteht allmählich ein
Kunstmarkt, bei dem der Künstler als identifizierbarer Autor und Schöpfer seines Werkes
namentlich in Erscheinung tritt und nicht mehr nur für konkrete Auftraggeber – etwa für das
reich gewordene Bürgertum – sondern auch für einen entstehenden anonymen Markt herstellt.
Mit erheblichen Unterschieden in den einzelnen Kunstsparten und durchaus in einer Konkurrenz zueinander entstehen die künstlerischen Berufe in einem ersten Schritt dadurch, dass sie
sich aus den mittelalterlichen mechanischen artes herauslösen. Künstler sind damit nicht mehr
dem Zwang unterworfen, ihre Produkte gemäß präzise vorgegebener Regeln, die die Zunft
streng kontrolliert, herzustellen. Es entsteht der Künstler als Schöpfer, der sich die Regeln
selbst gibt (in einer späteren Phase: das Genie)
Wir haben es also mit parallel laufenden Prozessen zu tun, die in den einzelnen Sparten (Musik, Literatur, Malerei, Architektur) höchst ungleichzeitig verlaufen und bei denen eine Loslösung aus dem Einflussbereich von Hof und Kirche, die Entwicklung eines einflussreichen
Bürgertum, die Entstehung eigenständiger künstlerischer Berufsbilder, die Entwicklung spezifischer Kultureinrichtungen und die Genese von Kulturmärkten ein interdependentes Beziehungsgeflecht bilden.
Mitte des 18. Jahrhunderts datiert die Entstehung einer eigenständigen philosophischen Disziplin Ästhetik als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung (Baumgarten) und gleichzeitig entsteht das Konzept eines einheitlichen Kunstbegriffes, der die bislang getrennt behandelten
Bereich Literatur, Musik und Malerei zusammenfasst.
Es gibt die These, dass die Entstehung sowohl eines einheitlichen Kunstbegriffes als auch
einer philosophischen Disziplin Ästhetik, die sich generell mit der Gesamtheit der Künste und
ihren Gemeinsamkeiten befasst, mit der Ausdifferenzierung des Systems der Künste zu tun
hat: Man wollte zumindest auf geistiger Ebene eine Ordnung schaffen, die in der sozialen
Ausdifferenzierung der Sparten nicht mehr so ohne weiteres sichtbar war. Dabei fiel es den
Akteuren durchaus schwer, ihr eigenes spezielles Arbeitsfeld unter einen Allgemeinbegriff
„Kunst“ einzuordnen. Und selbst wo dies akzeptiert wurde, investierte man erhebliche Energien, um zu einer Rangordnung über den Wert der unterschiedlichen Künste zu gelangen (vgl.
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etwa den Laokoon von Lessing und die heftige, bis heute anhaltende Diskussion). Dabei geht
es nicht nur um rein ästhetische Fragen, welche Kunstsparte etwa das Leiden besser darstellen
könne, sondern es geht immer auch um die Platzierung im ökonomischen Feld.
Etwa 30 Jahre nach Lessing entwickelte Herder seinen weiten Kulturbegriff, den er brauchte,
um die Vielzahl der von ihm beschriebenen menschlichen Lebensformen zu erfassen. Der
Kulturbegriff war hier ein Begriff der Unterscheidung, der zugleich die Einheit in der Vielfalt
ausdrückte. Erst Jahre später wird Schiller dieses Konzept von Kultur und den Allgemeinbegriff von Kunst aufeinander beziehen.
Es gibt also durchaus eine Berechtigung, nicht nur die Frage der Einbeziehung des Theaters
unter „Kunst“ zu diskutieren, sondern es ist auch die Beziehung von „Kunst“ und „Kultur“
durchaus ein interessantes Untersuchungsfeld. Allerdings liegen die hierfür entscheidenden
Diskussionen etwa 200 Jahre zurück. Gerade die Geschichte des Theaters ist im Hinblick auf
ein Selbstverständnis als „Kunst“ äußerst vielschichtig. Während etwa Literatur als Gattung
relativ früh sich unstrittig unter den einheitlichen Kunstbegriff einordnen konnte (hier ging es
literaturintern eher darum, was innerhalb der Literatur den höchsten Rang hat: dramatische
Literatur, Lyrik oder – wie allerdings erst im 19. Jahrhundert – der Roman), stand der Kunstcharakter des Theaters immer wieder zur Diskussion. Es ist in unserem Kontext durchaus interessant, dass die (ästhetische) Frage nach dem Kunstcharakter aufs engste mit dem Theater
als sozialer und kultureller Erscheinung und mit seiner gesellschaftlichen Funktion zu tun hat.
Dies kommt etwa in der „Kurzen Geschichte des deutschen Theaters“ von Erika FischerLichte (1993) darin zum Ausdruck, dass die Autorin – entsprechend der von ihr identifizierten
Veränderung der gesellschaftlichen Funktionen – für die unterschiedlichen Etappen der Theatergeschichte unterschiedliche methodische historiographische Ansätze wählt: Mentalitätsgeschichte, Sozialgeschichte, Kulturgeschichte etc.
Wie wenig man die sozialen und ökonomischen Ausdifferenzierungsprozesse von der künstlerischen und ästhetischen Entwicklung trennen kann, hat Pierre Bourdieu (1999) am Beispiel
der Genese des literarischen Feldes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rund um die Person von Gustave Flaubert gezeigt. Diesem ist es nämlich gelungen, mit Hilfe neuer ästhetischer Prinzipien des Romans ein relativ autonomes soziales (und ökonomisches) LiteraturFeld zu konstituieren.
Neben diesem feldtheoretischen Ansatz von Bourdieu hat Luhmann (1995) eine Soziologie
der Kunst geschrieben, in der er ebenfalls darstellt, wie sich in der historischen Genese ein
„autopoietisches System“ Kunst entwickelt hat, das gemäß seiner soziologischen Systemtheo70
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rie selbstreferentiell (also durchaus „autonom“), d.h. nach eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, funktioniert.
Heute ist Kunst- und Kultursoziologie eine eigenständige soziologische Disziplin; zudem gibt
es in allen Kunstsparten materialreiche sozialgeschichtliche Darstellungen ihrer Genese, so
dass die Annahme eines von der Gesellschaft strikt abgekoppelten geistigen Seinsbereichs
„Kunst“ kaum noch vertreten wird: Kunst wird von Menschen gemacht und sie wird unter
konkreten Bedingungen, also unter sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen gemacht, auf die sie wiederum auf eine oft nicht unmittelbar erkennbare Weise
Einfluss nimmt. „Autonomie in der Kunst“ bedeutet dann, dass sich im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft ein relativ selbständiges Sub-System gebildet hat, ebenso
wie sich andere relativ selbstständige Subsysteme (Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft, Politik
etc.) gebildet haben. „Relative Autonomie „ bedeutet dabei nicht eine hermetische Abriegelung gegenüber anderen Subsystemen, sondern – im Sinne der Soziologie nach Parsons - vielfältige Interpenetrationen, also wechselseitige Beeinflussungen und Interdependenzen.
Zu einer solchen soziologischen Betrachtungsweise von Kunst gehört auch die Berücksichtigung der Entstehung dessen, was der Literaturwissenschaftler Peter Bürger „das Betriebssystem der Kunst“ oder was der amerikanische Kunsttheoretiker Danto „art world“ nennt: die
Künste benötigen für ihre gesellschaftliche Wirksamkeit bestimmte Institutionen. So braucht
die Kunstform Theater ein Theatergebäude, für Bücher braucht man Bibliotheken, für die
bildende Kunst (und auch für andere Artefakte der Kultur) hat man entsprechende Museen
eingerichtet. Der Ausbau einer umfangreichen Kunstlandschaft in Deutschland hatte dabei
sehr viel mit dem Bürgertum zu tun, das über kulturelle Mittel versucht hat, soziale und politische Hegemonie zu gewinnen bzw. seinen Ausschluss aus der politischen Steuerung zumindest kulturell zu kompensieren (vgl. Nipperdey 1988). Gerade die autonome Kunst konnte
offenbar diese soziale und politische Funktion erfüllen.
Man kann zwar in einer abstrakten Betrachtung die Kunstformen von ihren Realisierungsbedingungen trennen und die Künste rein immanent in einer ästhetischen Zugangsweise untersuchen, wenn man dabei nicht vergisst, dass die Künste ohne die zugehörigen Einrichtungen
nicht existieren können. Dies gilt in besonderer Weise für die Kulturpolitik, für die die Kunsttheorien und die Ästhetik relevantes Basiswissen liefern, die aber nicht so tun darf, als ob es
um Tanz, Theater, Literatur oder bildende Kunst oder Musik „an sich“ ginge. Kulturpolitik
muss vielmehr die politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sicher-
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stellen, damit die Künste sich in ihrer grundgesetzlich gesicherten Autonomie entfalten können.
4. Autonomie der Kunst als ästhetischer Begriff
Die zentralen Begriffe, mit denen Kant den Grundstein für seine (und viele folgenden) Autonomieästhetik(en) legte, sind „interesseloses Wohlgefallen“ und „Zweckmäßigkeit ohne
Zweck“. Ich will an dieser Stelle nicht die Notwendigkeit skizzieren, warum Kant diese Begriffe eingeführt hat; sie haben etwas mit der Architektur seines philosophischen Gesamtgebäudes zu tun. Bei beiden Begriffen hat er allerdings auf eine intensive kunsttheoretische Diskussion in Deutschland, aber vor allem in Frankreich und in England zurückgreifen können.
Annemarie Gethmann-Siefert (1995) stellt in ihrer „Einführung in die Ästhetik“ zwei grundsätzliche Paradigmen einander gegenüber: Kunst als Erkenntnis, für die Kant der Hauptvertreter ist, und Kunst als Handeln, bei denen der Weg von Schiller (immerhin einer der einflussreichen Kant-Schüler) über Schelling zu Hegel führt. Die Autorin arbeitet heraus, dass und in
welcher Weise die Kantsche Ästhetik letztlich theologische Ursprünge hat: Es geht um eine
uneigennützige Liebe, um eine Interesselosigkeit des Wohlgefallens, wobei das Kunstschaffen des Genies (!) in Analogie zur Schöpfung Gottes gesehen werden muss:
„Dem genialen Künstler wird die Möglichkeit zu erkannt, die Vollkommenheit der Welt in der
Schönheit seines Produktes aufscheinen zulassen.... Der die Freiheit des Handelns charakterisierende Begriff der Autonomie wird daher aus der Bestimmung menschlichen Handelns auf
ein Ding, auf die Kunst, übertragen. Das Kunstwerk erscheint als der aktive Part, denn es
lässt uns die Welt neu und ursprünglich sehen, da es sich nicht den Gesetzen der Realität unterordnet, sondern die Gesetze des Neuvollzugs... gegen die Realität aus sich selbst schöpft.“
(146)
Obwohl Kant sich mit seiner Philosophie durchaus in die Gestaltung der Welt einmischen will
(nicht umsonst spielen seine politischen Schriften, etwa die Schrift „Vom ewigen Frieden“,
heute in der völkerrechtlichen Diskussion eine wichtige Rolle), entwickelt er seine philosophischen Grundlagenwerke quasi vom Reißbrett. Man kann dies sofort etwa dann feststellen,
wenn man die „Kritik der Urteilskraft“ neben die „Vorlesungen über die Ästhetik“ von Hegel
legt, der natürlich als philosophischer Systematiker zwar auch mit einem Willen zur Vollständigkeit alle Fassetten von Kunst analysiert und systematisch aufeinander bezieht, aber diese
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systematischen Erörterungen immer wieder auf die Geschichte der Künste bzw. auf die Kunstentwicklungen in anderen Teilen der Welt bezieht.
Für Gethmann-Siefert ist Hegel der wichtigste Repräsentant der Position „Kunst als Handeln“, was bedeutet:
„Die Kunst ist ein Produkt des Menschen für den Menschen. Ihr Ziel ist die Bildung des Menschen zur Vernunft und Freiheit, zu einem geglückten Leben. Die Autonomie der schönen Gestalt ist - mit Schillers Worten - He-Autonomie, eine den Dingen geliehene Autonomie, die
Freiheit anschaulich werden lässt; eine dem fiktionalen Handeln eingebildete Freiheit, die
zum Gebrauch moralischer Freiheit stimuliert.“ (247).
Kunst ist in diesem Verständnis ein Weltdeutungsangebot (253).
Ihr Fazit:
„Es geht um die Frage nach der Relevanz der Kunst für den (die) Menschen, um die Bestimmung ihrer unverzichtbaren Rolle in einer spezifisch menschlichen Kultur.
Diese These von der kulturellen Relevanz der Kunst ist die gemeinsame Basis jeglichen Umgangs mit der Kunst..... Die kulturelle Aufgabe der Kunst liegt im Bereich der Humanisierung
der Natur, und zwar dient die Kunst dabei nicht allein der Bearbeitung der Natur zu Lebenszwecken, sondern der Gestaltung der Natur zum Zweck der Einrichtung des Menschen in einer menschlichen, ihm gemäßen Welt. Grundvoraussetzung dieser Bestimmung der geschichtlich-gesellschaftlichen Funktion der Kunst ist die Annahme, dass der Mensch, der sich durch
Arbeit in der Natur gegen die Natur durchsetzt, nicht nur die Überlebenschance des Individuums und der Gattung sichert. Durch seine Fähigkeit zu freier Gestaltung und in der Ausbildung einer Tradition der Weltdeutung, in der die Kunst eine konstitutive Rolle (die Ausbildung einer Welt-Anschauung) übernimmt, wird menschliches Überleben gesichert.“ (268).
Ich schließe mich dieser Sichtweise von Kunst an, weil sie die humane Dimension von Kunst,
nämlich ihre Relevanz für das Leben des Menschen und damit ihre kulturelle Bedeutung, betont. Diese Sichtweise von Kunst ist unmittelbar anschlussfähig an die eingangs angedeutete
anthropologische Begründung für eine Notwendigkeit von Kunst für das menschliche Leben
und sie liefert zugleich eine geeignete theoretische Basis für die Kulturpolitik. (Fuchs 1998).
Wenn in dieser vorgestellten Konzeption von Kunst Kant gegen Hegel ausgespielt erscheint,
so bedeutet dies nicht, dass Kunst nur in einer vordergründigen Instrumentalisierung und
Zweckbindung ihre Berechtigung hat. Man kann vielmehr zeigen, dass gerade in der Loslösung von gesellschaftlichen Zweckbindungen und vordergründig eingebrachten Funktionali73
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sierungen sich auch die von der Autorin in den Mittelpunkt gestellte Bildungswirkung von
Kunst entfaltet. Der Gedanke von Kant, den Schiller ins Politische gewendet hat, ist nach wie
vor richtig und wird auch in aktuellen Ästhetikkonzeptionen berücksichtigt36: Nur in einer
handlungsentlasteten Situation kann sich der Mensch in ästhetischer Weise auf die Natur und
vor allem auf künstlerische Prozesse und Gegenstände so einlassen, dass die Wirkung einer
Ausdehnung von Wahrnehmungs- und Bewertungsmöglichkeiten der Welt sich einstellt. In
aktuellen Kunsttheorien hebt man insbesondere den Aspekt hervor, dass die Menschen Kontingenz erfahren können, was heißt, dass sie erkennen und erleben, dass alles auch ganz anders sein könnte, als es ist. Es geht um die Kompetenz des Denkens in Kategorien der Möglichkeit, das zu einer Befreiung von der normativen Kraft des Faktischen führen könnte.
„Autonomie“ ist also in dieser Hinsicht immer noch ein wichtiges Charakteristikum im Umgang mit Kunst. Gerade in Hinblick auf die subjektive Seite der Produktion und Rezeption
lässt sich eine solche Autonomie anthropologisch begründen, denn offenbar braucht der
Mensch zur „Kultivierung“ seiner Menschlichkeit immer wieder Augenblicke einer Handlungsentlastung, auch um „Freiheit“ als Spezifikum seiner Existenz erleben zu können. Sehr
schön bringt diese Dialektik von Funktionalität und Autonomie der Kunstkritiker der ZEIT,
H. Rauterberg, zum Ausdruck, den ich daher mit einem längeren Zitat zu Wort kommen lassen will:
"Kunst ist überflüssig", behauptete ein vorwitziges Transparent auf der documenta 5, und
vielleicht muss man tatsächlich einräumen, dass wir sie nicht brauchen, zumindest nicht für
irgendetwas Unverzichtbares. Letzte Wahrheiten sucht man in ihr vergeblich - anders als
Schiller hoffte, wird in der Kunst nicht alle Entfremdung aufgehoben; anders als Adorno und
Heidegger behaupteten, ist sie keine höhere Art der Welterkenntnis. Und wer nie ins Museum
geht, ist kein schlechterer Mensch als der stete Kunstgänger.
Dies Eingeständnis klingt ernüchternd und könnte doch entlastend wirken. Erlöst von allen
Selbstzwängen der Artokratie, dürften sich die Künstler endlich darauf besinnen, wovon und,
mehr noch, wofür sie eigentlich frei sind. Schnell stellte sich dann heraus, dass die Kunst sehr
unterschiedlichen Funktionen zu folgen vermag: Sie kann ein schönes Sonntagsvergnügen
sein oder - mit Kant - "die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördern". Sie
kann einen Freiraum für das Unangepasste bieten, kann schmücken, politisieren, amüsieren
Ich habe in einigen Texten den aktuellen Diskussionsstand in der philosophischen Ästhetik – auch in Hinblick
auf die praktischen Zwecke der Kulturpolitik und Kulturpädagogik – gesichtet: z. B. in Kunst und Ästhetik –
Neuere Entwicklungen (2003) und in Wozu Kunst? (2001), alle mit zahlreichen Literaturhinweisen auf der ARSund z. T. auf der Kulturrats-Homepage.
36
74
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oder nur sich selbst zum Thema machen. Gerade in dieser Unvorherbestimmtheit liegt ihre
große Chance. Doch wird sie von vielen Künstlern leichtfertig vergeben. Sie folgen den
Marktregeln und legen sich fest auf ein Thema, eine Machart, einen Stil. Wohl deshalb wirken
viele Werke konstruiert, fahl und dünnblütig.
Kunst aber ist nur, was uns als Kunst vorkommt. Sie kommt uns als Kunst vor, wenn sie uns
etwas bedeutet. Und sie bedeutet uns etwas, wenn sie uns berührt, uns packt oder ansticht,
wenn sie selbst in ihrem Schweigen etwas sagt. Bei aller Nähe aber muss sie unnahbar bleiben, sie muss unsere Neugier wecken, ohne sie zu stillen. Erst in diesem unlösbaren Wechselspiel wird sie unsere moralische, soziale und religiöse Fantasie beflügeln. Künstler vermögen
es, uns "sehen zu lassen, dass es Unsichtbares im Sichtbaren gibt", wie Jean-François
Lyotard schreibt. Sie können unsere Lust am Denken im Konjunktiv wecken, können in uns die
Vorstellung reifen lassen, dass die Welt einst anders war und dass sie anders werden könnte.
Welche Form, welches Material die Kunst dafür wählt, ob sie in Schönheit glänzt oder mit
Hässlichkeit alle Harmoniebedürfnisse durchkreuzt, ob sie Genuss bietet oder Zumutung verordnet, ist gleichgültig.“ (H. Rauterberg: Was soll uns diese Kunst?, Die ZEIT Nr. 24,
6.6.2002).
Allerdings ergibt sich aus der kulturellen Relevanz des Theaterspiels, aus seiner Bedeutung
auch im Alltag des Menschen, durchaus eine Gefahr für das Theater als Kunstform. Möglicherweise geht diese Gefahr davon aus, dass in der Gesellschaft gezielt Theatralität eingesetzt
wird – etwa in der Politik –, so dass „Inszenierung“ (Rollenspiel ohnehin) zu einem zu entschlüsselnden Alltagserlebnis wird. Fischer-Lichte spricht von einer „Theatralisierung des
Lebens“ und einer „Entgrenzung des Theaters“. Möglich ist aber auch eine Entgrenzung der
Theaterwissenschaft, die gerade (etwa rund um das von Fischer-Lichte geleitete DFGForschungsprojekt zur Perfomativität) theatrale und theaterwissenschaftliche Zugangsweisen
als allgemeine kulturwissenschaftliche Methoden durchsetzen will. Wo das ganze Leben als
„Theater“ angesehen wird, hat es eine ausgewiesene Kunstform Theater schwer, zumal – im
Hinblick auf die Autonomie – die notwendige „Exterritorialität“ des Kunsterlebnisses als Voraussetzung für eine Handlungsentlastung dann nicht mehr vorhanden ist. So gesehen ist dann
nicht der „weite Kulturbegriff“ eine Gefahr für das Theater, sondern vielmehr eine Überdehnung des „engen Kulturbegriffs“ auf die Kultur schlechthin.37
75
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5. Schlussbemerkung
Die Rede von der „Autonomie der Kunst“ kann nicht die Unterstellung einer rein geistigen,
von materiellen Realisierungsbedingungen abgetrennten Entwicklung der Künste bedeuten.
Vielmehr sind die Künste in enger Verbindung mit sozialen, ökonomischen und politischen
Entwicklungen der Gesellschaft entstanden. Auch heute sind die Künste als relativ autonomes
Subsystem vielfach mit den anderen Subsystemen der Gesellschaft verbunden.
Sinn macht die Autonomiethese dort, wo es um die Handlungsentlastung des Menschen, um
die Abwehr von eindimensionalen politischen und ökonomischen Vereinnahmungen geht. All
dies kann jedoch in seiner Komplexität nur schwer auf die These, irgendetwas „sei Kunst und
nichts anderes“ gebracht werden: Die ästhetische Verwendung des Autonomietopos ist nicht
so ohne weiteres auf die Kulturpolitik zu übertragen. In einem politischen Verwendungszusammenhang, wo es um Geld, Strukturen, Richtlinien und Regeln geht, wo es um Bestandssicherung und berufliche Existenzen geht, kann man möglicherweise (in Deutschland) noch
eine Weile einige politische Scharmützel mit einer solchen Argumentation gewinnen, was
allerdings voraussetzt, dass man nicht allzu genau über reale Geschichtsverläufe und aktuelle
Wirkungen und durchaus auch Funktionen von Kunst nachdenkt. Man macht daher mit einem
solchen Gebrauch den nach wie vor wichtigen Begriff der Autonomie zu einem ideologischen
Konzept und zerstört ihn dadurch letztlich. Man tut dies auch ohne Not, denn ein realistischer
Blick sowohl auf die anthropologische Notwendigkeit von Kunst als auch auf ihre aktuellen
Kulturfunktionen liefert genügend Argumentationspotential für eine Politik, die überhaupt
noch an rationalen Begründungen interessiert ist. Der „weite Kulturbegriff“, der diese humane
Relevanz von Kunst zur Grundlage hat und auf ihre Unverzichtbarkeit hinweist, höhlt daher
gerade nicht den Kunstbegriff aus, sondern setzt ihn – philosophisch und wissenschaftlich
redlich und nachvollziehbar – in sein Recht. Kunstpolitik kann daher heute – zumal in internationaler Perspektive – nur im Rahmen einer Kulturpolitik betrieben werden, die sich den
weiten Kulturbegriff zu eigen gemacht hat. So verstehe ich auch den derzeitigen Präsidenten
des Deutschen Bühnenvereins, Klaus Zehelein, wenn er sagt:
„Wir müssen aus der Perspektive argumentieren, dass das Theater eben kein sozial isoliertes
Kunstbiotop ist, sondern dass Theater eingebunden ist in ein soziales Netz und in diesem Netz
entscheidend zur Entwicklung sozialer, kreativer, kultureller Kompetenzen beiträgt, die ent-
37
So etwa auch D. Brandenburg: Vom Nutzen und Nachteil des Theaters in der Mediengesellschaft. Die Deutsche Bühne 4/2003, S. 18ff., hier: S. 20.
76
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wickelt werden müssen in einer Stadt, in einer Region, in einem Land“. (Deutsche Bühne
7/2003, S. 25).
Literatur
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Fuchs, M.: Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe. Eine Einführung in Theorie, Geschichte, Praxis. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998.
Fuchs, M.: Mensch und Kultur. Anthropologische Grundlagen von Kulturarbeit und Kulturpolitik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999.
Fuchs, M.: Persönlichkeit und Subjektivität. Historische und systematische Studien zu ihrer
Genese. Leverkusen: Leske + Budrich 2001.
Fuchs, M.: Wozu Kulturpolitik. Deutscher Kulturrat. www.kulturrat.de/Diskussion. 2001
Fuchs, M.: Wozu Kunst? 2001. www.akademieremscheid.de/Publikationen
Fuchs,
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www.akademieremscheid.de/Publikationen. 2003
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www.akademieremscheid.de Publikationen
Fuchs, M.: Kultur als Daseinsvorsorge? In: Politik und Kultur Nr. 01/04, Januar/Februar
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Gerhardt, V.: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam 1999.
Gethmann-Siefert, A.: Einführung in die Ästhetik. München: Fink 1995.
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77
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Wulf, Chr. (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel:
Beltz 1997.
78
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Februar 2004
Die Formung des Menschen
Künste wirken – aber wie?
– Eine Skizze von sozialen Wirkungen der Künste und ihrer Erfassung –
Abstract
Künste wirken – dies weiß eigentlich jeder, der aktiv oder rezipierend mit ihnen umgeht.
Doch wird eine unbelastete Diskussion der Frage, wie man diese Wirkungen erfassen kann, in
Deutschland durch eine hochideologische Verständnisweise von „Kunstautonomie“ oft genug
verstellt. Hat man das damit verbundene Denkverbot überwunden, überhaupt nach Wirkungen
der Künste zu fragen, dann erschließen sich überraschend viele Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Annäherung an die Wirkungsfrage. Der vorliegende Text stellt in einer tour
d’horizon eine Fülle von Theorien und Konzepten vor, die bei einer systematischen Untersuchung sozialer Wirkungen von Kunst genutzt werden können.
1. Zur Einordnung des Textes
Die Frage nach der Wirksamkeit ist heute in aller Munde. Nicht bloß bei Medikamenten, sondern auch bei politischen Reformen, bei Modellprojekten oder Gesetzen fragt man danach,
was eigentlich bleibt. Hätte man gerne einen solchen Erfolg, dann spricht man von dem Ziel
der „Nachhaltigkeit“, seit einigen Jahren einer der Top-Begriffe in der politischen Sprache.
Diese Frage nach der Wirksamkeit gilt auch für die Künste. SchauspielerInnen wären gerne
insofern „wirksam“, als es sich in ihrer Berühmtheit und „Prominenz“ niederschlägt. Schriftsteller sind nicht unempfindlich gegenüber Verkaufszahlen ihrer Werke. Und geradezu penetrant ist die „Wirksamkeit“ von Fernsehsendungen, die sich an dem scheinbar konkurrenzlosen
Indikator „Einschaltquote“ ablesen lässt.
Im Hinblick auf die Künste sind heute zwei Dimensionen von Wirksamkeit gefragt: Es geht
um die Wirksamkeit bei dem Einzelnen, der sich – rezeptiv oder produktiv – künstlerisch betätigt. Hierbei geht es um die Entwicklung der Persönlichkeit in ihren verschiedenen Facetten:
dem Kognitiven und dem Emotionalen, der Kreativität oder der Kompetenz zu sozialen Kon79
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takten etwa. Es geht zum anderen um die Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein. Also etwa
um die Frage, ob die Künste hilfreich bei der Sicherung eines tugendhaften Lebens in der
Stadt seien. Platon lässt bekanntlich Sokrates in seinem Dialog mit Adeimantos im „Staat“ die
Ansicht entwickeln, dass die Gefahr, die von vortragenden Künstlern ausgeht, so groß ist,
dass man diese tunlichst aus der Polis zu verweisen habe. Gnade fand – als Teil der „musischen Bildung“ – vor allem die Musik als tugendstärkende Kraft. Was für Platon und seine
Zeitgenossen noch selbstverständlich war und was über die Jahrhunderte hinweg immer wieder in politischen Utopien (wie etwa Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung) aufgegriffen wurde, ist heute in Zweifel geraten: die Meinung, dass Künste so notwendig für die Entwicklung der Menschen und für eine (humane) Gestaltung der Gesellschaft seien, dass es deshalb eine öffentliche Verantwortung und Förderung für sie geben müsse.
Zu dieser Problematik liefert der vorliegende Text einen weiteren Baustein. Er ordnet sich
dabei ein in einen längerfristigen Arbeitschwerpunkt.
In früheren Texten habe ich zum einen Theorien der Künste und Konzeptionen von Ästhetik
ausgewertet in Hinblick darauf, inwieweit Theorien des ästhetischen Handelns und der Künste
überhaupt die Frage zulassen und vielleicht sogar beantworten, dass und wie eine solche pädagogische oder politische Wirksamkeit möglich ist (u.a. Kunst und Ästhetik 2003; Wozu
Kunst? 2002). Ich habe zudem versucht, Methoden vorzustellen und zu entwickeln, in denen
im Rahmen einer pädagogischen Diagnostik individuelle Bildungswirkungen ermittelt werden
können (Bildungswirkungen, 2002). Mir scheint, dass es zu dieser individuumsbezogenen
Frage hinreichend überzeugende Literatur gibt, die sie positiv beantwortet.
Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der sozialen oder sogar politischen Wirksamkeit.
Leicht ist es dort, wo sich Wirkungen in Mark und Pfennig ausdrücken lassen, also bei der
ökonomischen Dimension von Kunst. Schwieriger wird es dort, wo man Veränderungen bei
den Einstellungen, bei Wahrnehmungsformen und Werthaltungen sucht. Geht man historisch
an diese Fragestellung heran (so wie in meinem Text „Kulturfunktionen der Künste“; 2003),
dann lassen sich erhebliche Wirkungen (nachträglich!) belegen, etwa in Hinblick auf die Genese von nationalen Identitäten mittels der jeweiligen „Nationalliteratur“. Schwieriger wird
die Frage nach der aktuellen Wirksamkeit.
Der vorliegende Text stellt sich die Aufgabe, zwar diese Frage auch nicht eindeutig beantworten zu wollen, aber immerhin in einer tour d’horizon einige relevante Disziplinen danach zu
befragen, ob und wie man entsprechende Antworten bekommen könnte. Ein methodischer
Kniff, eine solche Frage überhaupt sinnvoll stellen zu können, besteht darin, „Kunst“ umzuetikettieren bzw. einzuordnen in entsprechende disziplinäre Begriffe. So lässt sich etwa
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zwanglos und mit guten philosophischen Bezugsautoritäten Kunst als „Medium“ begreifen, so
dass man das ganze Arsenal der Medienwirkungsforschung zumindest als „tool-box“ für eine
soziale Kunst-Wirkungsforschung zur Verfügung hätte. Man wird sehen, wie weit ein solches
Vorgehen trägt. Da aber auch eine Wirkung in das Soziale und Politische hinein nur über den
Einzelnen funktioniert, stelle ich zunächst einige Überlegungen zur Funktionsweise der
menschlichen Psyche zusammen (die sich z. T. schon in den oben genannten Texten finden).
In Kategorien verbreiteter Erkenntnis-Konzeptionen handelt es sich dabei um einen „gemäßigten Konstruktivismus“, der die Existenz einer realen Außenwelt zugesteht, jedoch von der
Notwendigkeit konstruktiver Eigentätigkeit des Menschen zum Aufbau „seiner“ Welt ausgeht.
2. Der Mensch im Mittelpunkt seiner Welt
Der Mensch und seine Verbindung zur Außenwelt wird über ein einfaches, aber folgenreiches
Schema konzeptionalisiert:
Abb. 1
Subjekt
Mittel
Objekt
Darin kommt die anthropologische Erkenntnis zum tragen, dass der Mensch wesentlich mittelverwendendes Wesen ist: Das „Mittel“ (= Medium!) trennt und verbindet zugleich Subjekt
und Objekt. Ein weiterer Aspekt dieser Grundbefindlichkeit des Menschen ist seine aktive
Auseinandersetzung mit der Welt, wobei man unterschiedliche Aktivitäts- und Tätigkeitsformen unterscheiden kann.
Abb. 2
81
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Arbeiten
Spielen
Kommunizieren
politisches Handeln
Tätigkeiten
Konsumieren
soziales Handeln
künstlerische Tätigkeiten
Lernen
Diese Ausdifferenzierung der Tätigkeitsarten legt es nahe, dass man sofort ein Bündel relevanter Bezugsdisziplinen ins Auge fassen kann, bei denen man nach der Wirksamkeit der
jeweiligen Tätigkeit auf die Persönlichkeit fragen könnte:
Abb. 3
82
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Tätigkeitsbereiche
zuständige
Wissenschaften
praktisch gegenständliche
Tätigkeit / Arbeit
Arbeitspsychologie
Spielen
Spielpädagogik
Lernen
Lernpsychologie
künstlerische
Tätigkeiten
Theorien künstlerischer
Tätigkeit/kulturelle
Bildungstheorie
politische
Aktivitäten
politische Psychologie
soziales Handeln
Wissenssoziologie
Massenpsychologie
Medienkontakte
Kommunikationsforschung
Medienwirkungsforschung
Konsumieren
Werbepsychologie
Wirtschaftspsychologie
Sowohl die Logik der Tätigkeiten als auch die „Logik“ bzw. Struktur des Objekts haben Einfluss auf die Ausgestaltung der Persönlichkeit, der psychischen (und körperlichen) Ausstattung des Subjekts. Die folgenden drei Abbildungen modellieren dies.
83
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Abb. 4
WIRKLICHKEITSKONSTRUKTION
durch den Menschen
vorhandene Inhalte 1:
cognitive maps
Vorurteile
Wissen
Gefühlsstrukturen
Wünsche
Ziele
Habitus
Einstellungen
Werte/Normen
Ergebnis:
aktueller
Wahrnehmungsinhalt
Die formale
Dimension/tools:
Prozesselemente





Denken
Beurteilen
Strukturieren
Deuten
Empfinden





Fantasie
(Einbildungskraft)
Denkformen
(Wahrnehmen)
Formen von
Emotionalität
Urteilsformen
Deutungsmuster
vorhandene Inhalte 2:
ganzheitliche Wirklichkeitskonstruktionen
 Weltbilder/Selbstbilder/Weltanschauungen
(aus Philosophie,Religion,Medien)
 Ideologien
 Wirklichkeitskonstruktionen
 Vorbilder
LEIB/KÖRPER; Naturseite
des Menschen; Einflüsse durch
Hormone etc.
Entwicklung/
Biografie/
Lebenslauf
handelnde Gestaltung des individuellen Lebens
Auseinandersetzung
mit Naturgesetzen,
Sozialem
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Abb. 5
3/03
visuelle Umwelt;
Bildende Kunst,
Städte und
Landschaften,
Texte/Lesen
akustische Umwelt;
Musik, Stadt- und
Hausgeräusche,
eigene Stimme
Oralität
Hören
Sehen
Geruchswelten
Riechen
Sprechen
Das gesprochene Wort,
Sprachformen,
Oralität
Tasten
Schmecken
Der Mensch im
gestalteten Raum, der
Raum als Gestalter des
Menschen:
Architektur,
Stadtplanung, Natur etc.
Der Körper in Bewegung;
Tanz, Sport,
Fortbewegung etc.
der körperliche Habitus
Theater
85
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Abb. 6
2/03
Der Mensch in der Welt
Welt/Umwelt, u.a.:
- gestaltete Umwelt
Beziehungen zur Welt, u.a.:
- sinnliches Wahrnehmen
- Erkennen
- Lernen
- Bewerten
- Gestalten
- Arbeiten
- Strukturieren
- Ordnen
- Verteilen
- Sprechen
- sich bewegen
- Produktionsverhältnisse
- politische Ordnung
- Alltagsformen
- Wertebasis
- Medienwelten
- Tauschpraxen
- Ideologien
- Vergegenständlichungen
geistiger Traditionen
(Kirchen etc.)
- Praxisformen
individuelle
Geschichte des
Menschen, u. a.:
- Mentalitäten
- Kunstbetrieb
- Biographie
- Traditionen
- Bildungsweg
- Familie
- Heimat
- Erfahrungen
- Schicksalsschläge
- Habitualisierungen
- Kommunikationsformen
- Sprachwelten
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Stellt man die Tätigkeit in den Mittelpunkt, so lässt sich speziell die künstlerische Tätigkeit/Praxis modellieren wie folgt:
Abb. 7
Dimensionen der künstlerischen Tätigkeit
externe soziale Dimension:
Kunst als gesellschaftliche
Erscheinung
psychologische
Dimension:
kognitive, emotionale
und kooperativ-soziale
Entwicklung inklusive
Aneignung des Selbst
interne soziale Dimension:
Kunst als sozialer Prozess/
künstl. Tätigkeit als
sozialer (Gruppen-)Prozess
künstlerisch-ästhetische
Tätigkeit
gegenständliche Dimension 1:
Kunst als praktischgegenständliches Verhalten
gegenständliche Dimension 2:
Kunst als Aneignungsform
von Wirklichkeit
Im Hinblick auf die Einwirkungen der Gesellschaft auf das Subjekt ist es nützlich, „die Gesellschaft“ nach dem verbreiteten Parsonsschen Schema aufzuteilen in Subsysteme
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Abb. 8
Politik
Wirtschaft
- politisches Handeln
- ökonomischer Tausch/Markthandeln, u.a.:
- Konsum
- Produktion
- Arbeit
politische
Sozialisation
ökonomische Sozialisation/
Integration
SUBJEKT
Sozialisation
Soziales
- soziales Handeln in
unterschiedlichsten
Gruppen
Enkulturation
Kultur
- religiöse Tätigkeit
- Handeln in
Wissenschaft und
Philosophie
- künstlerische Praxen
Denselben Sachverhalt stellt – unter Berücksichtigung der Konzeptionen der Mentalitätsforschung – Abb. 9 dar
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Kollektive Identitäten/Mentalitäten
Ein Produkt der Gesellschaft, der Kultur, der Persönlichkeit
Soziale Variablen
Räumliche
Strukturen
Wirtschaft
Soziale
Differenzierungen
und
Stratifizierungen
Politik
Religion/Ideologie
Massenmedien
Familie
Erziehung
Bildung
Kulturelle Variablen
Kulturmuster, Kulturnormen,
Kulturstandards, Kulturwerte,
Kultursymbole
Historische
Ereignisse und
Erfahrungen,
Traditionen
Aktuelle
Ereignisse und
Erfahrungen,
Sozialkultureller
Wandel,
Modernisierung
Persönlichkeitsvariablen
Kollektive Identitäten/Mentalitäten
Habitus
Selbstbewusstsein/Selbstrealisierung
Selbstdefinition/Selbstkonstruktion
Psychische Manifestationen des Habitus/der Mentalität
Handlungen
Kommunikation
Denk- und Gefühlsstile
Prozesse
Expressionen
Produkte
Symbolisierungen
Selbst- und
Zugehörigkeitsbewusstsein
Quelle: Hahn 1999
89
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3. Unterschiedliche Sichtweisen der Künste
Wie oben angedeutet, lassen sich die Künste auf ganz unterschiedliche Weise betrachten. Man
kann sie als spezifische menschliche Tätigkeiten (Musizieren, Malen etc.) oder in Hinblick
auf Ergebnisse dieser Tätigkeiten („Kunstwerke“) auffassen. Man kann sie zudem aus der
Sicht der Entfaltung der psychischen Kräfte des Einzelnen betrachten (Musik-, Kunst- etc.
psychologie). Unter anderen geben sich so die folgenden Auffassungsweisen:
I. Die Künste als symbolische Formen (i.S. von Ernst Cassirer)
Ernst Cassirer (1990; vgl. Fuchs 1999) entwickelt seine Kulturphilosophie/Anthropologie als
Philosophie der symbolischen Formen, die jeweils unterschiedliche Zugangsweisen des Menschen zur Welt sind. Künste als Symbolsysteme aufzufassen ermöglicht die unterschiedliche
Symboltheorien auf Künste anzuwenden (vgl. Fuchs, Die Macht der Symbole, 1999).
II. Kunst als Teil der Kultur
Künste sind Teil der Kultur, wenn „Kultur“ die spezifisch menschliche Ausprägung des Lebens charakterisiert (Fuchs 1999). Ist dies aber so, dann erschließt man sich die Fülle von
Kulturtheorien (Ashcroft 1998, Nünning 2001, Schnell 2000) für die eigene Fragestellung.
Insbesondere kommen die cultural studies (Hörning/Winter 1999, Hartley 2002) ins Blickfeld,
die integrative Konzeptionen von Kultur, Politik und Medien anbieten.
III Kunst als Kommunikation
Der Kommunikationsbegriff hatte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts seine Blütezeit.
Insbesondere waren Lehrstuhlbezeichnungen wie „Visuelle“ oder „Auditive Kommunikation“
keine Seltenheit.
IV Künste als (Massen-)Medien
Bei einzelnen Kunstformen (Film, Musik, Literatur) ist die massenhafte Verbreitung wesensmäßig angelegt. Die „technische Reproduzierbarkeit“ (Benjamin) macht es zudem möglich,
auch eher auf Unikate angelegt Künste massenhaft zu verbreiten, ebenso wie es die technische
Kommunikation ermöglicht, Aufführungen der performativen Kunstformen (Tanz, Theater)
einem großen Publikum zugänglich zu machen.
90
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V. Künste als (soziologische) Medien
Eine solche Verständnisweise findet sich etwa in soziologischen Systemtheoreien (Parsons,
Münch, Luhmann).
Es ergibt sich das folgende Strukturbild (Abb. 10)
Abb. 10
zuständige Fachdisziplinen
Politikwissenschaften
Medienwissenschaft
Kommunikationswissenschaft
Ökonomie
politische
Medien
Medien
Wirtschaftsfaktor
Kommunikation
Die KÜNSTE als.....
Kulturtheorien
Sprachen
Teil der Kultur
Bildungsmittel
Sprachwissenschaften
SEMIOTIK
Symboltheorien
Tätigkeiten
Mittel sozialer
Stukturierung
Seinsbereich
(Ontologie)
Bildungstheorien
Soziologien: Kultur-,
Bildungs-,
Kunstsoziologien
(Tätigkeits-)
Philosophie/
Psychologie
Philosophie/spezielle
Ästhetiken
In einzelnen systemtheoretischen Ansätzen (Luhmann, Parsons, Münch) wird das Kunstsystem (etwa das Literatursystem) ausführlich gemäß der Logik der jeweils übergreifenden soziologischen Systemtheorie behandelt. Ähnliches gilt für Bourdieu (1999) und seine Konzeption des Feldes.
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VI. Künste in einer funktionalen Sicht
Auch die Kunsttheorie hat in den letzten Jahren die Frage möglicher sozialer Funktionen von
Kunst wieder aufgegriffen. Die ausführlichste Behandlung dieser Frage dürfte in Kleimann/Schmücker 2001 zu finden sein.
Dort stammt auch Abb. 11 her.
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Abb. 11: Funktionen der Kunst
generelle Funktionen
potentielle Funktionen
konstitutive
Funktion
nichtkonstitutive Funktion
kunstinterne
Funktionen
kunstästhetische Funktion
ästhetische
Funktionen
Traditionsbildungsfunktion(en)
Innovationsfunktion(en)
Reflexionsfunktion(en)
Überlieferungsfunktion(en)
kunstexterne Funktionen
kommunikative Funktionen
dispositive
Funktionen
expressive
Funktion(en)
appellative
Funktion(en)
emotive
Funktion(en)
Motivationsfunktion(en)
konstative
Funktion(en)
Distanzierungsfunktion(en)
therapeutische
Funktion(en)
Unterhaltungsfunktion(en)
soziale Funktionen
kognitive
Funktionen
mimetischmnestische
Funktionen
dekorative
Funktionen
Identitätsbildungsfunktion(en)
Distinktionsfunktion(en)
Schmuckfunktion(en)
Illustrationsfunktion(en)
Status
Erkenntnisdokumentaindizierende
funktion(en)
rische FunktiFunktion(en)
on(en)
kultische
Erinnerungsfunktion(en)
Funktion(en)
ethisch-explorative Funktion(en)
politische Funktion(en)
religiöse Funktion(en)
(sonstige) weltanschauliche
Funktion(en)
geselligkeitskonstitutive
Funktion(en)
ökonomische
Funktion(en)
Schmücker in Kleimann/Schmücker 2001, S. 28
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Das Schema ist insofern aufschlussreich, als es aus einer kunsttheoretischen Sicht – also vom
Kunstprozess her – die hier vorgenommene Zugangsweise zur Wirkungsfrage stützt. Denn die
hier unterschiedenen Möglichkeiten, Kunst aufzufassen, finden sich alle als spezifische Funktionen von Kunst wieder, so dass der nächste Schritt nahe liegt, die jeweils zuständigen Disziplinen (wie etwa Kommunikations- oder Medienwissenschaft) auf ihren Sachstand in der
Wirkungsforschung zu befragen.
4. Künste als Medien – Kunstwirkungen als Medienwirkungen
Der Mensch ist ein mittelverwendendes Wesen. Diese anthropologische Bestimmung ist
durchaus weitreichend. Zum einen erfasst sie die Tatsache, dass die Nutzung und vor allem
vorsorgliche Herstellung von Werkzeugen aufs engste mit der Anthropogenese verbunden
sind. Zum anderen taugt sie ebenfalls zur Bestimmung der Natur der wissenschaftlichen Tätigkeit als elaboriertester Form menschlicher Tätigkeit, insofern als die mögliche Reichweite
wissenschaftlicher Erkenntnisse von den je vorhandnen Mitteln (Methoden, Forschungsweisen, Untersuchungsmitteln) abhängig gedacht werden kann. Die Medien in ihrer allgemeinsten Bestimmung als Mittler zwischen und Vermittlung von Subjekt und Objekt, aber auch als
Mittel der Subjekt-Subjekt-Beziehung schaffen sowohl den notwendigen „sozialen Kitt“ wie
die Verbindung des Menschen mit der Welt. In diesem allgemeinsten Sinne ordnen sich die
Künste in das System der symbolischen Formen von Ernst Cassirer ein.
Aber auch die Medien- und Kommunikationswissenschaft im engeren Sinne kann die Künste
leicht in ihren Zuständigkeitsbereich integrieren. Dies liegt in der – in deutscher Tradition
etwas überraschend klingenden – sozialen Natur der Künste. Es definieren sich nämlich nicht
nur die performativen Künste wie etwa das Theater („Theater findet statt, wenn ein Schauspieler eine Rolle für ein Publikum spielt!“) über eine soziale Beziehung: auch bei den eher
individualistisch scheinenden Künsten wie Literatur oder Bildender Kunst lautet eine allgemeinste Bestimmung, dass man von einem Kunstcharakter dieser Praxisformen eigentlich erst
dann sprechen könne, wenn die Werke öffentlich werden. Dieses systematische Bestimmungsmoment von Kunst findet eine Begründung in ihrer Entstehung. Ebenso wie sich Tanz
als Ästhetisierung von Bewegungen aus sozialen kultischen Ereignissen von sozialen Gruppen entwickelt, haben Bilder (etwa die Höhlenmalereinen) neben kultischen (also per se sozialen) auch erkenntnissichernde und handlungsleitende Funktionen. Selbst nachdem diese
Funktionen zum Erliegen kamen, weil andere Medien sie offenbar besser erfüllen konnten,
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wurden diese spezifischen sozialen Funktionen abgelöst durch andere soziale Funktionen: Der
Zurschaustellung von Macht oder der Schaffung sozialer Symbole. Selbst die Unterhaltungsfunktion, die von Anbeginn die künstlerische Praxis begleitet, ist meist sozial gedacht: Denn
Feiern, Genießen und Entspannen haben in so vielen Fällen einen sozialen Charakter, dass
man es schon als Besonderheit herausstellen muss, wenn Menschen sich in die Einsamkeit der
Kontemplation zurückziehen. So ist es also nur konsequent, wenn das Funkkolleg Kunst die
Geschichte der Bildenden Kunst anhand ihrer religiösen, ästhetischen, politischen und abbildenden Funktion darstellt. Vor diesem historischen und systematischen Hintergrund wird
deutlich, wie stark unser Blick auf die Kunst durch eine eigentümliche Ideologie ihrer Autonomie verstellt ist, die jegliches Fragen nach dem sozialen Wirken fast als Sakrileg betrachtet.
Künste (und ihre Vorformen) haben etwas mit Erkenntnissicherung, mit Wissensspeicherung,
mit Handlungsanleitung (und natürlich auch mit Kult, Religiösität und Unterhaltung) zu tun.
Diese Erkenntnis passt zu der Grundidee der ambitionierten mehrbändigen Geschichte der
Medien von Werner Faulstich, der die Entwicklung von Medien entlang der Leitlinien ihrer
Steuerung- und Orientierungsfunktion untersucht. Nicht nur, dass er die Notwendigkeit
solcher Funktionen als selbstverständlich für jede soziale Gruppe unterstellt: Er erklärt die
Entwicklung der Medien, ihr Irrelevantwerden oder die Entstehung neuer Medien damit, wie
das jeweilige Medium diese Funktionen zu erfüllen imstande war. Damit ergibt sich für ihn
eine engste Verwobenheit von Medienentwicklung und Gesellschaftsgeschichte.
Wer einen weiten Medienbegriff verwendet, braucht Unterteilungen. Auf Helge Pross geht
die häufig benutzte Aufteilung zurück, die folgende Formen unterscheidet:
primäre Medien: Leiblichkeit, menschliche Elementarkontakte, nonverbale Sprache wie Körperhaltung, Geste etc.
sekundäre Medien: bei diesen verwendet der Sender bereits technische Geräte (Flaggensignale, Grenzsteine etc.).
tertiäre Medien: Sender und Empfänger verwenden bei der Kommunikation technische Geräte.
Faulstich verwendet eine Unterscheidung in
Menschmedien: z. B. Tanz, Theater
Gestaltungsmedien: z. B. Architektur und Bildende Kunst
Schreibmedien: Von der Höhlenmalerei, der Verwendung von Wand oder Tafel bis zur modernen Schriftkommunikation.
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Die drei Medientypen sind dabei durchaus als chronologische Ordnung zu verstehen, wobei
vorhandene Medien zwar nicht abgelöst, aber doch nach und nach verdrängt werden und dabei auch einen Wandel ihrer Funktionen erfahren haben. Dabei sieht Faulstich die Entwicklung so, dass ein sich herausbildender „Kunstcharakter“ dem Mediencharakter – etwa bei der
Entwicklung von kultischen Bewegungen zur Kunstform Tanz – mit dem Verlust des Mediencharakters einherging. Diese These macht natürlich nur Sinn, wenn man ein entsprechendes
Verständnis von Kunst zugrundelegt, das zumindest ein Herauslösen aus dem unmittelbaren
Alltagsleben und eine Ästhetisierung der jeweiligen Praxisform bedeutet. Hierbei wird deutlich, dass sogar die Definition dessen, was „Kunst“ ist, nicht ohne die soziale Einordnung
dieser Tätigkeitsform geschehen kann. Das Vorgehen von Faulstich macht Sinn, wie man es
unschwer bei einer Lektüre entsprechender Geschichten der Künste bestätigt findet: Die gegenwärtige Verwendung von „Kunst“ steht am Ende eines Prozesses, in dem (soziologisch)
„Künstler“ entstehen, in dem auf der philosophischen Ebene „Kunst“ als Sammelbezeichnung
für bis dahin deutlich unterschiedene Praxisformen eingeführt wird (Baumgarten) und sich
eine Spezialdisziplin Ästhetik herausbildet. Diese Genese des Kunstcharakters verläuft dabei
sehr unterschiedlich in den einzelnen Kunstsparten (und dauert bis heute an, wenn man sich
etwa an die Diskussion des Kunststatus der „angewandten Künste“, etwa der Architektur,
erinnert).
Die Funktionen, die Faulstich untersucht, decken sich dabei sowohl mit den Kunstfunktionen
in Abb. 11 als auch mit den vier Grundfunktionen des Funkkollegs: Er untersucht die Speicherfunktion, die Repräsentationsfunktion, die kultisch-kommunikative Funktion, die publizistische Funktion, die Unterhaltungsfunktion, die Herrschafts- und Kontrollfunktion. Der
Wandel der Gesellschaft entspricht dabei – wie erwähnt – einem Wandel in der Funktionalität
bestimmter Medien und ist daher verbunden mit einem Wandel ihrer Bedeutung.
Auch die Künste – als Medium aufgefasst – haben soziale Funktionen (auch als Ursache für
ihre Entstehung, Verbreitung und Nutzung), die sich jedoch im Laufe der Zeit verändern können. So gibt es einen generellen Wandel vom Kultischen zum Profanen, vom Alltäglichen
zum Besonderen. Die gilt speziell für die Künste. Sie starten mit einem kultischen Charakter,
erhalten irgendwann einen Unterhaltungswert, erleben ihre Ästhetisierung und geraten (im
Zuge der Erklärung ihrer „Autonomie“) in die Situation einer sich zunehmend im Hinblick
auf Nutzergruppen beschränkenden Ausstrahlungskraft.
Generelle Leitlinie der Medienentwicklung ist dabei der Grad ihrer Funktionalität als Steuerungs- und Orientierungsfunktion. Wenn der Wechsel in den Medien damit erklärt werden
kann, dass herkömmliche Medien diese Funktionen immer schlechter erfüllen und daher von
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neuen Medien verdrängt werden, dann wird man sich diesen Prozess auch in seiner Anwendung auf die Künste (als Medien) vorstellen müssen: Kann es sein, dass die Künste ihre Funktionalität (welche?) verlieren, etwa weil ein erneuter „Strukturwandel“ zu einem Relevanzverlust führt?
Die funktionale Betrachtung der Künste als Medien führt also zu einer Fragestellung, die heute durchaus im Kunstbereich diskutiert wird: Bei der Frage nach der sozialen Funktion muss
man in den Blick nehmen, für welche Gruppe diese Funktion Relevanz hat. Viele heutige
Kultureinrichtungen (Theater, Kunstverein, Museum) sind in großer Zahl im 19.Jahrhundert
entstanden und hatten sehr viel mit der Entwicklung der bürgerlichen Identität zu tun (Nipperdey). Das Bürgertum hat sich daher auch als Träger- und Nutzergruppe verantwortlich für
seine Kultureinrichtungen gefühlt, da diese Orte der (politischen) Öffentlichkeit waren. Damit
ist „Öffentlichkeit“ als eine weitere Kategorie ins Spiel gekommen, die spätestens seit Habermas’ Untersuchungen unter der Perspektive ihres Strukturwandels aufmerksam verfolgt
wird (s.u.). Die Möglichkeit eines erneuten Strukturwandels der Öffentlichkeit – etwa unter
dem Einfluss der modernen elektronischen Massenmedien – muss in Erwägung gezogen werden, wobei dann die Frage nach der zukünftigen Relevanz der Kunst- und Kulturorte in der
veränderten Öffentlichkeit gestellt werden muss.
Als Kriterien für (politische) Öffentlichkeiten (und damit auch als mögliche Messlatten der
Relevanz der Künste) gibt Neidhardt (1994. die folgenden an:
A) Die Öffentlichkeit soll offen für alle Gruppen, für alle Meinungen von kollektiver Bedeutung sein: Transparenzfunktion.
B) Öffentlichkeitsakteure sollen mit Meinungen anderer diskursiv umgehen: Validierungsfunktion.
C) Öffentliche Kommunikation erzeugt öffentliche Meinung: Orientierungsfunktion.
Es liegt auf der Hand, dass hiermit einige relevante Aspekte auch für Kunstangebote angesprochen werden, wobei die Kunst- und Kultursoziologie eine Vielfalt an empirischen Befunden liefert, ob und wie etwa ein Publikum – und welches – erreicht wird (hier ist an Bourdieu
zu erinnern), wie ein Kunstdiskurs in der Gesellschaft stattfindet oder ob und wie eine Meinungsbildung über Kunstrezeption erfolgt.
„Publikum“ und „Meinungsbildung“ als zentrale Kategorien einer Soziologie der Öffentlichkeit sind also durchaus relevante Aspekte im Hinblick auf die Frage nach der Relevanz der
Künste. Dies betrifft – insbesondere im Rahmen unseres Vorgehens, Künste als Medien zu
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betrachten – die Frage ihrer Wirksamkeit, für die wir nunmehr einen Blick in die Medienwirkungsforschung werfen.
Medienforschung
Jedes Einführungsbuch in die Kommunikations- oder Medienwissenschaft enthält Kapitel
über Medienwirkungen (Merten 1999, Merten u.a. 1994, Kübler 1994; siehe auch Jäckel
1999). In den letzten Jahren hat sich dabei – unter dem starken Einfluss von radikalkonstruktivistischen Ansätzen – die Frage nach dem „Wirklichkeitsbild“ und seiner Beeinflussung/Konstruktion durch die Medien in den Vordergrund geschoben. Ich kann und will
hier keinen Überblick über die ausufernde Forschung und Debatte über Medienwirkungen,
sondern nur einige Hinweise geben, die für meine Zwecke relevant sein könnten.
(Beabsichtigte) „Wirkungen“ könnte man u.a. als Realisierung von „Funktionen“ verstehen.
Kübler (1994, S. 72ff) unterscheidet die folgenden Funktionen der Massenkommunikation:

Speicherfunktion und kulturelle Wertschätzung

Kulturfunktionen der Medien; hiermit meint der Autor den Einfluss technischer „Transportmedien“ (Buchdruck, Filmtechnik, Radiotechnik etc.) auf die (ästhetische) Entwicklung der Kunstsparten

Welt- und Wirklichkeitsvermittlung

Unterhaltungsfunktion

Informationsfunktion

Selektions- und Strukturierungsfunktion (i. S. von Wirklichkeitsbildern)

Orientierungsfunktion

Integrationsfunktion

Kritik- und Kontrollfunktion

Sozialisationsfunktion
Selbst eine flüchtige Durchsicht dieser Funktionen lässt ihre Relevanz für die Künste erkennen.
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Ziele von Kommunikation
Beobachtbare
Kommunikationsstimuli
Prädispositionen
Situation der
Kommunikation
Freie Kommunikation
(allgem. Überredbarkeit)
Eigenschaften des
Inhalts:
Gebundene Kommunikation
Interne
Mediatisierungsprozesse
Einstellungsänderungen
Meinungsänderungen
Inhalt:
Gegenstand - Inhalt der
Argumentation
Appelle
Argumente
Stil
Gegenstand: ("topic-bound")
Appelle ("appeal-bound")
Argumente ("argument-bound")
Stil ("style-bound")
Eigenschaften des
Kommunikators:
Beobachtbare Effekte der
Kommunikation
Aufmerksamkeit
Veränderungen im
Wissen
Kommunikator:
"communicator-bound"
Rolle
Zugehörigkeit
Ziele
Verständnis
Eigenschaften des
Mediums:
Veränderungen im
emotionalen Bereich
Medium:
direkte vs. indirekte
Kommunikation
Art der
Bedeutungsvermittlung
(optisch - akustisch)
"media-bound"
Annahme
Situative Bedingungen:
Situation:
Soziales Feld
Sanktionen (pos./neg.)
"situation-bound"
Verhaltensänderung
Das Grundmodell der Wirkungsforschung (Hovland/Janis 1979, S. 225; entnommen aus Burkart 2002, S. 469)
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Eine Medienwirkungsforschung könnte sich nunmehr damit befassen, inwieweit diese Funktionen als intendierte Wirkungen erfüllt oder ob auch unbeabsichtigte Wirkungen erzielt worden sind.
Der Trend in der Wirkungsforschung zeigt dabei in eine Richtung, die sich von monokausalen
und linearen Wirkungsverläufen verabschiedet (wobei in der öffentlichen Wirkungsdiskussion
– etwa bei dem Thema „Gewalt in und durch Medien“ – sich diese monokausale Sicht doch
immer wieder durchsetzt). Man erkennt die Konstruktivität des Rezipienten an, was gelegentlich bis hin zu einer Bewertung der Realität bzw. der Medieninhalte als völlig bedeutungslos
ausgedehnt wird. Im Hinblick auf die Dimensionen der Persönlichkeit sind folgende Spezialisierungen denkbar:

Wirkungen auf Wissen und kognitive Strategien

Wirkungen auf Wahrnehmungsformen und Deutungsmuster

Wirkungen auf Emotionen und Motivationen

Wirkungen auf Wertehaltung und Einstellungen

Wirkungen auf den Körper

Wirkungen auf das Verhalten.
Man wird diese Frage in Verbindung bringen mit entsprechenden (sozial-)psychologischen
Disziplinen wie etwa der Vorurteils- oder Einstellungsforschung. Allerdings hat die Sicherheit der Ergebnisse mit dem sprunghaft gewachsenen Forschungsaufwand nicht notwendig
zugenommen. Relativ präzise lassen sich empirisch Nutzerquoten feststellen. Doch stößt die
Forschung recht schnell auch hier an ihre Grenzen, da nicht klar ist, mit welcher Intensität der
Nutzer das Medium genutzt hat. Auch deshalb gab es in der Medienwirkungsforschung eine
Veränderung in der Fragestellung danach, wie die unterschiedlichen Nutzer mit ihren Medien
umgehen. Auch ergab sich eine (medien)-biographische Wende, die die Evolution des individuellen Medienverhaltens in den Blick nahm.
Einfache Ergebnisse sind also nicht zu erwarten, auch wenn eine starke Strömung in der Forschung davon ausgeht, dass zum einen eine Selektion danach stattfindet, wie schon vorhandene Überzeugungen gestützt werden, die rezipierten Inhalte also assimiliert werden in vorhandene Wirklichkeitsbilder. Andere Forscher stellen fest, dass Anregungen und Informationen
aus Medien zwar genutzt, aber subjektiv zu einem Wirklichkeitsbild integriert werden (bei
dem bestimmte Ursprünge seiner Elemente nicht mehr leicht identifiziert werden können).
Für die Medienwirkungsforschung zieht man inzwischen das Resumé, dass immer noch die
unterstellten Modelle vom Menschen unzureichend sind und zu simple Vorstellungen von
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„Wirkung“ unterstellt werden. Eine eher negative Bewertung der Resultate führt jedoch nicht
zu einer Absage an die Wirkungsforschung schlechthin, sondern zur Ermutigung zur Entwicklung komplexerer Modelle.
Was bedeutet dies für die Frage nach den Kunstwirkungen?
Nutzerstudien – etwa das Zählen des Publikums – gibt es natürlich auch im Kunstbereich. Mit
Film, Musik und Literatur gibt es zudem einen großen Überschneidungsbereich mit modernen
Massenmedien. Es gibt sogar in der Medienwirkungsforschung und im Kontext der cultural
studies eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich mit diesen Formen der „Massenkünste“
befassen (etwa als Teil der „populären Kultur“). Allerdings sind die Ergebnisse auch nicht
konkreter als in der „normalen“ Medienwirkungsforschung. In anderen Kunstbereichen –
Tanz, Theater, Bildende Kunst – hat man m. W. solche Studien noch nicht angestellt. Die
seinerzeit umfassendste Zusammenstellung aus dem Bereich „Kulturevaluation“ findet sich in
Fuchs/Liebald 1995.
Fazit dieses Abschnittes ist also:
1. Es ist sinnvoll und legitim, Künste als Medien zu betrachten
2. Damit werden die an anderer Stelle historisch (Fuchs: Kulturfunktionen 2003) bzw. systematisch aus Kunsttheorien (Kleinmann; siehe Abb. 11) gewonnenen sozialen Funktionen, die Kunst haben kann, erhärtet und bestätigt.
3. Das Spektrum möglicher Ansätze einer Wirkungsforschung wird erweitert. Allerdings:
4. Es sind die Ergebnisse der Medienwirkungsforschung eher ernüchternd.
5. Auch für eine Kunstwirkungsforschung muss dasselbe gelten wie für die Medienwirkungsforschung: Nur mit hinreichend komplexen Modellierungen des rezipierenden Menschen wird man akzeptable Ergebnis erhalten. Bis dahin sprechen Plausibilitätsargumente
und Einzelbelege dafür, dass im Grundsatz Wirkungen erzielt werden – sofern ein Publikum erreicht wird.
Michael Jenne (1977) hat die Auffassung von „Musik als Kommunikation“ durchdekliniert
und kommt zu folgendem Fazit:
„Musik muss zunächst als ein autonomes System menschlicher Kommunikation erkannt werden. Sie kann im Dienst der Unterdrückung und der Befreiung stehen; durch sie vermag sich
individuelle Entfaltung oder auch Abstumpfung zu vollziehen; Musik kann der Selbstverwirklichung des Menschen dienen, der Differenzierung seiner Empfindungen, der Kritikfähigkeit
und der kreativen Souveränität im Umgang mit Denkmustern und Normen – oder auch der
Entmündigung des Individuums, seiner manipulativen Steuerung, der ideologischen Verengung seines Bewusstseins.
Musik ist damit im technischen Zeitalter, also in ihrer beliebigen instrumentalen – produktiven wie rezeptiven – Verfügbarkeit, mehr denn je zu einem Machtfaktor geworden. Die
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Macht freilich ist ihrerseits mitbedingt durch die Qualität der kommunikatorischen Grundtendenzen, die Einstellungen und Verhalten des einzelnen prägen. Gewiß sind diese Zusammenhänge in der Musik aufgrund ihrer außerbegrifflichen, immanenten Sinnstruktur schwerer
erkennbar als etwa im sprachlichen Kommunikationssystem. Vor dem Hintergrund einer
Theorie kommunikatorischer Qualitäten, von denen die sozialen Steuerungsmöglichkeiten
abhängen, wird jedoch die Unhaltbarkeit der Diskrepanz deutlich, die nicht nur den Stand der
bildungspolitischen, sondern auch der sozialwissenschaftlichen Diskussion in diesem Bereich
kennzeichnet: Die Diskrepanz zwischen der intensiven Zuwendung von Bildungsforschung,
Bildungsplanung und Bildungspolitik zum Bereich sprachlich-begrifflicher Differenzierung
und Sensibilisierung und der Vernachlässigung des musikalisch-außerbegrifflichen Bereichs
der Sozialisation, der damit weitgehend den auf irrationale Affirmation und Trivialisierung
gerichteten Einflüssen anheimfällt.“ (Jenne 1977, S. 177f.).
Damit ergibt sich die Frage, welche Konzepte sich finden lassen, die diese Prozesse zu erfassen gestatten.
5. Deutungsmuster, Mentalität, Habitus, Geschmack
Medien (und somit auch die Künste) wirken vielfältig auf den Menschen: zum einen als Informationsmedien, wobei dies im Gebrauch der Künste wohl der seltenere Fall ist. Vor allem
wird man sie zur Unterhaltung und/oder als Mittel der Reflexion, des Kennenlernens neuer
Sichtweisen, der Überprüfung der Bewertung von Lebensstilen etc. wählen. Bei all diesen
Gebrauchsformen geht es weniger um Wissen und Information, sondern eher um die normative, motivationale und emotionale Seite des Menschen. Möglicherweise ist es noch nicht einmal die Absicht des Kunstnutzers, einen Lebensstil zu überprüfen und zu bewerten, sondern
einfach ein Bedürfnis nach „kultivierter“ Unterhaltung, Entspannung oder ästhetischem Genuss. Insofern in diesem Prozess der Kunstbegegnung nun etwas Evaluatives oder Emotionales geschieht, dann eher beiläufig, en passant. Es ist also eher ein „informelles Lernen“, so
wie es im Rahmen der Sozialisation und Enkulturation geschieht.
Die Soziologie befasst sich durchaus auch mit dieser Frage, wieso die Menschen so fühlen,
denken und handeln, wie sie es tun. So gibt es spezielle Forschungszweige – oft kaum abgrenzbar von den entsprechenden Schwerpunkten der Entwicklungspsychologie –, die sich
mit kognitiver, sprachlicher, emotionaler, motivationaler, moralischer, politischer oder geschlechtspezifischer Sozialisation befassen und dabei die „gängigen“ Theorien verwenden
(Lerntheorie, Behavionismus, Psychoanalyse etc.).
Die klassische Grundsatzfrage zwischen „angeboren“ und „erworben“ scheint inzwischen –
verstärkt durch neurowissenschaftliche Forschungen – in dem Kompromiss eine Lösung zu
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finden, dass eine gegebene genetische Ausgangsposition nach dem Modell der Formatierung
(als der gesellschaftlichen Prägung) einer Computerfestplatte (als dem „Angeborenem“) von
Umwelteinflüssen geformt wird: Kultur, Soziale Kontexte und natürlich auch die Medien
spielen hierbei eine wichtige Rolle. Ebenso verschiebt sich unter Nutzung der Neurowissenschaften der Akzent bei der Erklärung menschlichen Verhaltens eindeutig weg von Kognition
hin zum Emotionalem als zentraler Steuerungsinstanz. Bestätigt sich dies, spricht dies für eine
erhebliche Relevanz künstlerischer Aktivitäten, die nach einhelliger Lehrmeinung in diesem
Bereich ihre zentrale Wirksamkeit entfalten.
Nun kann in diesem Text nicht die unüberschaubare Fülle von Themen und Befunden wiedergegeben werden (ersatzweise sei für die Entwicklungspsychologie auf Fend 2000, für die
Persönlichkeitstheorie auf Percin 2000 und für die Sozialisationsforschung auf Hurrelmann/Ulich 1996 verwiesen).
Ich will an dieser Stelle zwei Konzepte herausgreifen, den „Habitus“ und das „Deutungsmuster“.
Ein „Deutungsmuster“, so Bollenbeck (1994, S. 19) in seiner Studie, die sich mit der Genese
und Wirksamkeit zweier spezifischer Deutungsmuster befasst, „leitet Wahrnehmungen, interpretiert Erfahrenes und motiviert Verhalten. Diese individuelle Sinngebung vollzieht sich
persönlich, ist aber keineswegs unvergleichbar, denn Deutungsmuster meint von außen angeeignete, vorgefertigte Relevanzstrukturen, die man nicht auswählt, sondern eher übernimmt.“
Es geht also um einen Prozess „symbolischer Vergesellschaftung, bei dem das Individuum in
seinem sozialen Kontext komplexe Bedeutungen von Begriffen durch einen handelnden Umgang damit erwirbt“. Das Konzept des „Deutungsmusters“ vermittelt also Individuum und
Gesellschaft, und zwar an der Stelle, an der nach der Genese des Bildes/des „Wissens“ von
der sozialen Wirklichkeit im Einzelnen gefragt wird. Man kann es also der Wissenssoziologie
oder Ideologietheorie zuordnen.
Ein weiterer relevanter Begriff stammt aus dem Theoriengebäude von Pierre Bourdieu: Der
Habitus: „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit auch vergessene Geschichte ist
der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ Er ist ein
„System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, eine „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ (alle Definitionen nach Krais/Gebauer 2002, S.
5f.). Die Tradition des Habitus-Begriffes reicht bis zu Aristoteles zurück. Bei Bourdieu spielt
etwa der Kommentar einer Arbeit des Kunsthistorikers Panofsky über scholastische Architektur eine Rolle (später gesondert publiziert in seiner „Soziologie der symbolischen Formen“).
Von dort aus führt der Weg über Thomas von Aquin zu Aristoteles: Der Habitus als Resultat
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von Gewöhnungshandlungen, so wie sie etwa bei der Aneignung von Sitten und Gebräuchen
ein wichtige Rolle spielen („hexis“). Es ist ein „nicht-intellektuelles Vermögen zur Hervorbringung von Handlungen“ (Krais/Gebauer 2002, S. 29), quasi die Einverleibung und dann
auch Verkörperung eines Sozialen im Individuum.
Es ist also kein Zufall, dass insbesondere die Studien der körperbezogenen Aktivitäten des
Menschen (Tanz und Sport) größtes Interesse an diesem Konzept haben.
Die Begriffe „Deutungsmuster“ und „Habitus“ stammen aus unterschiedlichen Theorietraditionen, so dass ein Vergleich heikel ist. Denn stets definieren die theoretischen Kontexte den
Einzelbegriff mit. Trotz dieser Bedenken wird man jedoch das Deutungsmuster als Teil des
Habitus sehen können, der sehr viel weit reichender und komplexer die Persönlichkeitsstruktur als Ganzes – einschließlich der körperlichen Bewegungsformen – erfasst.
Beide Konzepte haben Relevanz in Hinblick auf die Beschreibung der Wirkung von Künsten:
Künste liefern Deutungsmuster als Wahrnehmungs- und Bewertungsformen von Wirklichkeit.
Ein Habitus kann entstehen durch eine regelmäßige Praxis in den Künsten (was für KünstlerInnen und ihre intensive Auseinandersetzung mit ihrer Sparte ohnehin gilt).
Das Subjekt sieht sich also vielfältigen sozialen Einflüssen ausgesetzt, die jeweils dafür sorgen, dass es in diesem Sozialen auch agieren kann. Es muss sich an bestimmte Spielregeln
halten, soll aber auch immer wieder versuchen, ein reflexives Verhältnis zu diesen Regeln
und Einflüssen zu gewinnen und diese sogar zu gestalten. Die beiden folgenden Graphiken
(Abb. 13 + 14) versuchen, die Fülle dieser sozialen Einflussfaktoren aufzuzeigen, entsprechende wissenschaftliche Konzepte zu benennen und disziplinäre Zuordnungen vorzunehmen.
Man sieht, dass sich gleich eine ganze Reihe von Disziplinen mit dieser Beeinflussbarkeit des
Einzelnen befasst, so dass die Frage der sozialen Wirksamkeit von Kunst in Hinblick auf diese vorgestellten Einflussfaktoren, Konzepte und Wissenschaften präzisiert werden kann. In
jedem Fall ist man nicht so hilf- und mittellos, wie es in der kulturpolitischen Diskussion gelegentlich erscheint.
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Abb.13
MF 03/04
Konzepte zur Erfassung der sozialen Einflüsse auf den Einzelnen
SOZIALPSYCHOLOGIE
Deutungsmuster
P
O
L
I
T
I
S
C
H
E
Ö
K
O
N
O
M
I
E
Einstellungen
Präferenzen
soziales, kulturelles
Gedächtnis
(Assmann)
Mentalitäten
Klassenbewusstsein
kollektives
Gedächtnis
(Halbwachs)
Weltbild
inkl. Religion,
Philosophie,
geistige Welt
Der MENSCH
in der sozialen Gruppe
ges. Stimmung
Krisenerfahrung
Anomie
Geschmack
Zeitgeist
Ethos
(z. B. im Beruf)
soziale, kulturelle,
nationale Identität
K
U
L
T
U
R
W
I
S
S
E
N
S
C
H
A
F
T
E
N
Sozialcharakter
Charaktermaske
Rolle
SOZIOLOGIE
Die Konzepte und die Realitäten, die sie erfassen, beziehen sich
auf bestimmte Zeiten und Epochen
auf bestimmte soziale Gruppen, z. B. das Klassenbewusstsein
auf den politischen oder sozialen Standort
auf den jeweiligen geographischen Ort
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6. Zur Wirksamkeit der Künste im sozialen Zusammenhang – ein Modell
Die in diesem Abschnitt im Mittelpunkt stehende Graphik (Abb. 14) versucht, Akteure und
Einflüsse im sozialen Wirkungsgeschehen zu skizzieren. Es werden unterschieden:
Die (traditionellen) Künste, wobei sowohl die Produzenten als auch die dazugehörigen, z. T.
kulturwirtschaftlich organisierten Vermittlungsformen zusammengefasst werden (also etwa:
Bildende Künstler und der Kunsthandel). Natürlich spielen bereits in diesem Verhältnis zwischen „Produzenten“ und „Verwertern“ vielfältige soziale Einflüsse eine Rolle, die die Produktionsmöglichkeit der KünstlerInnen entschieden beeinflussen (Moden, Kritikerurteile Geschmack, Geschäftsstrategien etc.). Bourdieu konzeptionalisiert diese komplizierte Beziehung
im Rahmen seiner Theorie des „künstlerischen (z.B. literarischen, musikalischen etc.) Feldes“.
Daneben – obwohl nicht trennscharf abgrenzbar – gibt es die eher auf einen breiten Publikumsgeschmack ausgerichtet populäre Kulturproduktion mit den Massenmedien Kino, Zeitschriften/Zeitungen, populäre Musik, Bestseller-Literatur etc. Bei diesem Bereich liegt es auf
der Hand, wie stark die Kunstproduktion hier von sozialen (v.a. ökonomischen) Regeln beherrscht wird. Immerhin leisten Sendungen, die „Superstars“ suchen, einen gewissen Einblick
in Entscheidungsprozesse in diesem Feld.
All diese Produktionsformen wirken mittelbar und unmittelbar auf ein Publikum:
Unmittelbar dort, wo sofort das Publikum erreicht wird, mittelbar dort, wo Meinungsmacher in den Medien (z. T. auch im eigenen kulturellen Bereich) ihre Geschmacksurteile mehr
oder weniger erfolgreich öffentlich machen. Auch Entscheidungsträger in der Politik spielen
angesichts des Strukturwandels der Politik (hin zu „Politainment“) eine wichtige Rolle.
Die „Bevölkerung“ wiederum splittet sich – ganz so, wie es die Kultursoziologie von P.
Bourdieu analysiert – in ein hochdifferenziert strukturiertes „Publikum“. Meinungs- und
Trendforscher untersuchen regelmäßig dessen Geschmacksorientierungen, so dass in keinem
Fall ein lineares Wirkungsverhältnis entsteht, sondern man von komplizierten dialektischen
wechselseitigen Beeinflussungsprozessen ausgehen. muss.
Natürlich ist dieser Teilbereich einer „kulturellen Öffentlichkeit“ nicht nur eingebettet in die
allgemeine Öffentlichkeit, sondern auch vielfach in einer Wechselbeziehung zu Entwicklungen im Bereich der Ökonomie, des Sozialen, des Politischen und den anderen kulturellen Feldern (Religion, Wissenschaft), ganz so, wie es das AGIL-Schema der soziologischen Systemtheorie beschreibt.
Abb. 14
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MF 03/04
Mittelbare und unmittelbare Einflussmöglichkeiten der Künste und Medien
ein Wirkungsmodell
Kulturelle Öffentlichkeit
KULTURVERBÄNDE
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E
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ik
unmittelbare Wirkung
auf Publikum
Politische Redaktion/Feuilleton/
inklusive Kritik
Meinungsbildende Medien
mittelbare
Wirkung auf
Publikum
Medienstars
Meinungsführer
Entscheider in Politik und
Wirtschaft
mittelbare
Wirkung
Demoskopie/
Werbung
Rückw irkung des
Publikums-Geschmacks
Bevölkerung
strukturiert nach Milieus,
Lebensstilen,
Einflussgruppen etc.
Prägung von:
- Geschmack
- Einstellungen
- Zeitgeist
- Weltbild
- kulturellem Gedächstnis
POLITIK
ÖKONOMIE
-
sozialen Gesellungsformen
Identitäten
Bew usstseinsformen
Wahlentscheidungen (politisch + Konsum)
SOZIALES
andere KULTURBEREICHE
(Wissenschaft, Religion etc.)
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7. Evaluation in der Kulturpolitik
Am Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es im Zuge der Einführung des
Neuen Steuerungsmodells in der öffentlichen Verwaltung und damit auch in Kultureinrichtungen, die in öffentlicher Trägerschaft betrieben wurden, erste Überlegungen zur Evaluation
in der Kulturpolitik. Der überwiegende Teil der damaligen Überlegungen betraf die einzelne
Einrichtung oder das einzelne Projekt. Allerdings bezog man durchaus auch komplexere Aktivitäten ein. In einer Pilotstudie für das damalige Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Fuchs/Liebald 1995), die sich mit „Wirkungen von Kunst und Kulturpolitik“ auseinandersetzte, wurden Grundlinien eines „kulturverträglichen“ Evaluationsverfahrens entwickelt, das später – etwa bei der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung – auch in die
Praxis umgesetzt wurde (BKJ 1998). Der Bogen wurde dabei von der Evaluation pädagogischer Wirkungen bei dem Einzelnen (ein Thema, das als „pädagogische Diagnostik“ im Rahmen des BKJ-Projektes „Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung“ wieder aufgegriffen wurde) über die Evaluation einzelner Einrichtungen bis – wie erwähnt – zur Evaluation
ganzer Politikprogramme gespannt. Neben Ansätzen, die ausschließlich ökonomische oder
andere quantitative Aspekte (Nutzerstudien) erfassten, gab es dabei durchaus weiter reichende
Ansätze. Einige will ich hier erwähnen:

Ein erster wichtiger Schritt in der Kulturpolitikevaluation ist die Beschreibung des zu erfassenden Systems. Hierzu gibt es inzwischen im Kontext des Europa-Rates eine ganze
Reihe von Länderberichten, die die Struktur der jeweiligen nationalen Kulturpolitiken
darstellen.

Einen weiteren wichtigen Ansatz liefert die UNESCO, die seit 1998 zwei Weltkulturberichte vorgelegt hat. Hierbei geht es u. a. um eine zahlenmäßige Erfassung von Produktion, Distribution und Konsum im kulturellen Bereich. Eine wichtige Frage ist dabei die
Festlegung von aussagekräftigen Indikatoren. Neben einer zahlenmäßigen Erfassung der
Auflage von Zeitungen und Büchern wird etwa auch die Analphabetenrate in den einzelnen Ländern – zur Kennzeichnung der basalen Kulturtechnik Lesen – dargestellt.

Ein ähnliches Beispiel findet sich in der Schweiz, wo das Statistische Bundesamt für jede
Kunstsparte sowohl Produktions-, Distributions- und Konsumindikatoren entwickelt hat.
Diese Bemühungen ordnen sich ein in die Entwicklung einer Kulturstatistik.

Das seinerzeit bemerkenswerteste Beispiel einer Evaluation im Bereich der Kulturpolitik,
das neben ökonomischen und Nutzerdaten auch pädagogische und soziale Wirkungen mit
einbezog, war eine Pilotstudie aus Großbritannien (F. Bianchini: Social Impact of the
Arts, 1993), in der ein weites Forschungsdesign beschrieben wurde.
109
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Hier die Schlüsselkategorien:
1. Selbstbildung und Verbesserung von Fertigkeiten:

Verbesserung der Kommunikation

Ermutigung zur Selbst-Bildung

Verbessern und Vergrößern der Wahlentscheidungen bei Lebensentscheidungen.
Indikatoren:

Bewertung der Veränderungen in der Karriere der Teilnehmer

Bewertung der persönlichen Effektivität vor und nach dem Kunst-Projekt

Bewertung der Entwicklung beruflicher sozialer Fertigkeiten

Bewertung der erhöhten Nutzung kultureller Angebote.
2. Identität und Unterscheidbarkeit:

Verbesserung der individuellen oder Gruppenidentität

Bestätigung lokaler Besonderheiten

Ermutigung zu kritischer Loyalität zum eigenen Beruf
Indikatoren:

Gewachsene Anzahl sozialer Transaktionen und Kommunikationen innerhalb der Projektgruppe

Veränderungen im Sozialverhalten

Veränderungen in der Nutzung sozialer Räume vor und nach einer KunstVeranstaltung.
3. Phantasie und Selbst-Ausdruck:

Verbesserung des kreativen Potentials

Diskussion von Träumen und Hoffnungen
Indikatoren:

Veränderungen im kreativen Ausdruck der Teilnehmer

Verbesserung der Problemlösefertigkeiten

Erfolge bei der Überwindung von Depressionen.
4. Physisches und soziales Wohlbefinden:

Verbesserung der Lebensqualität

Verschönerung öffentlicher Räume

Entdeckung der Geschichte von Menschen und Plätzen.
Indikatoren:

Gesundungsraten von Patienten
110
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
Zufriedenheit von Patienten und Pflegepersonal

Wahrnehmung der Umgebung.
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5. Sozialer Zusammenhang und wechselseitiges Verständnis

Unterstützung inter-ethnischer Kontakte

Schaffung einer gemeinsamen Basis von Menschen verschiedenen Alters, verschiedener sozialer Klassen etc.

Ausdehnung des individuellen sozialen Netzes.
Indikatoren:

Muster sozialer Netzwerke

Werthaltungen gegenüber anderen Kulturen

Bewusstheit gegenüber anderen Kulturen.
6. Organisationsgrad der kulturellen Infrastruktur:

Verbesserung des Selbstvertrauens von Gruppen

Schaffen von Bedingungen für Partnerschaften zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor
Indikatoren:

Gründung neuer Organisationen

Veränderungen im Selbstvertrauen
7. Erziehung und Bildung

Verbesserung von Bildungsprogrammen

Ermutigung zu eher altruistischem, kooperativen, umweltsensiblen Lebenshaltungen

Verbesserung der politischen Bürgertugenden

Anregung einer öffentlichen Diskussion von Fragen von öffentlichem Interesse.
Indikatoren:

Beobachtungen von Lehrern

Veränderungen der Resultate der Schüler und Studenten

Veränderungen in der Mitgliedsstärke von Parteien, Interessensgruppen und Initiativen.
8. Visionen und Inspiration:

Erweiterung des mentalen, kulturellen, politischen und sozialen, räumlichen und geographischen Horizonts

Handeln als Katalysator für sozialen und politischen Wandel

Entwerfen von Zukunftsbildern.
Indikatoren:
111
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
Gründung neuer politischer oder Bürgerinitiativen

Veränderung von Mustern des kulturellen Konsums und des Sozialverhaltens

Überblicke über Veränderungen von Erwartungshaltungen von Bürgern gegenüber der
Politik.
Aus dieser Pilotstudie entstand ein reales Evaluations-Projekt, dessen Ergebnisse inzwischen
publiziert wurden (F. Matarasso: Use or Ornament. The Social Impact of Participation. Comedia 1997/2000). Der Ansatz der Studie ging davon aus, dass selbst bei den inzwischen
reichlich untersuchten ökonomischen Dimensionen kultureller Aktivitäten die Frage der
Geldströme dominierte und tieferliegende – ebenfalls ökonomisch hochrelevante – Fragen
nach der Entwicklung sozialer und persönlicher Ressourcen („Humankapital“) nicht berücksichtigt wurden. Daneben wurde der eigentliche Zweck der Künste („the real pupose of the
arts“, S. V) überhaupt nicht berührt, nämlich zu einer stabilen, vertrauensvollen und kreativen Gesellschaft beizutragen (ebd.).
Vor diesem Hintergrund werden sechs Themen identifiziert:
1. Persönliche Entwicklung: Selbstvertrauen, Selbst- und Fremdbilder, soziale Kompetenzen, etc.
2. Sozialer Zusammenhalt: Entwicklung von Partnerschaft und Kooperation, Zusammenbringen von Alt und Jung, neue Freundschaften, interkultureller Dialog.
3. „Community Empowerment“, Selbstbestimmung: Selbstorganisation und Interessensvertretung, politische Beteiligung
4. Lokales Image, lokale Identität: Stärkung des Engagements bei lokalen Projekten
5. Kreativität: Erproben neuer Dinge, Entwicklung neuer Ideen und Sichtweisen, Entwicklung des Wunsches nach Kreativität.
6. Gesundheit und Wohlergehen: Beiträge zur Gesundheitserziehung
Daneben wurden weitere politische Ziele formuliert, untersucht und es wurde belegt, dass sie
erreichbar waren.
Die Ergebnisse:

Partizipation an den Künsten hat sozialen Nutzen

Die sozialen Wirkungen sind komplex, aber zu verstehen

Sozialer Nutzen kann gemessen und geplant werden.
112
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Daraus wurden kulturpolitische Schlussfolgerungen gezogen, die sich etwa auf die Planung
von Kultur- und Kunstprojekten (Einbeziehung partizipativer Aspekte von Anfang an) beziehen.
Insgesamt ergab sich eine Liste (Abb. 15) mit 50 belegten sozialen Wirkungen.
Abb. 15
50 Social Impacts of Participation in the Arts
The Study shows that Participation in the Arts can
1. Increase people’s confidence and sense of self-worth
2. Extend involvement in social activity
3. Give people influence over how they are seen by others
4. Stimulate interest and confidence in the arts
5. Provide a forum to explore personal rights and responsibilities
6. Contribute to the educational development of children
7. Encourage adults to take up education and training opportunities
8. Help build new skills and work experience
9. Contribute to people’s employability
10. Help people take up or develop careers in the arts
11. Reduce isolation by helping people to make friends
12. Develop community networks and sociability
13. Promote tolerance and contribute to conflict resolution
14. Provide a forum for intercultural understanding and friendship
15. Help validate the contribution of a whole community
16. Promote intercultural contact and co-operation
17. Develop contact between the generations
18. Help offenders and victims address issues of crime
19. Provide a route to rehabilitation and integration for offenders
20. Build community organisational capacity
21. Encourage local self-reliance and project management
22. Help people extend control over their own lives
23. Be a means of gaining insight into political and social ideas
24. Facilitate effective public consultation and participation
25. Help involve local people in the regeneration process
26. Facilitate the development of partnership
27. Build support for community projects
28. Strengthen community co-operation and networking
29. Develop price in local traditions and cultures
30. Help people feel a sense of belonging and involvement
31. Create community traditions in new towns or neighbourhoods
32. Involve residents in environmental improvements
33. Provide reasons for people to develop community activities
34. Improve perceptions of marginalised groups
35. Help transform the image of public bodies
36. Make people feel better about where they live
37. Help people develop their creativity
38. Erode the distinction between consumer and creator
39. Allow people to explore their values, meanings and dreams
40. Enrich the practice of professionals in the public and voluntary sectors
41. Transform the responsiveness of public service organisations
42. Encourage people to accept risk positively
43. Help community groups raise their vision beyond the immediate
44. Challenge conventional service delivery
45. Raise expectations about what is possible and desirable
46. Have a positive impact on how people feel
47. Be an effective means of health education
48. Contribute to a more relaxed atmosphere in health centres
49. Help improve the quality of life of people with poor health
50. Provide a unique and deep source of enjoyment
Quelle: F. Matarasso: Use or Ornament. The Social Impact of Participation in the Arts. London: Comedia 1997/2000
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Noch ein Wort zu den Methoden. Das Forschungsteam besuchte in 12 Städten (von kleineren
englischen Ortschaften über Großstädte wie Nottingham bis hin zu Metropolen wie London
und New York) zwischen 50 und 100 Kulturprojekte und fertigte Fallstudien auf der Basis
unterschiedlicher Befragungstypen an, u.a. fragebogengestützte Interviews, offene Interviews,
Gruppendiskussionen. Beobachter mussten Projekte anhand vorgegebener Indikatoren bewerten. Ein Methodenhandbuch zur Evaluation sozialer Wirkungen von Kunstprojekten ist in
Vorbereitung.
8. Schlussbemerkungen
Die Frage nach der Wirksamkeit der Künste lässt sich sinnvoll stellen. Zwar gibt es gerade in
Deutschland mit seiner unseligen und hochideologischen Diskussion um „Kunstautonomie“
selbstverordnete Denkverbote. Doch brechen diese angesichts des anwachsenden Legitimationsbedarfs nach und nach zusammen. Die Autonomie der Künste ist dabei natürlich ein wichtiges Bestimmungsmerkmal einer künstlerischen Praxis, die diese von zweckrationalem Handeln im „normalen“ Alltag unterscheidet. Meine These ist, dass es gerade die Entlastung von
Effizienz und pragmatischer Wirksamkeit ist, die die Handlungsform Kunst so wirkungsvoll
macht.
Man kann also sinnvoll danach fragen, was die Künste im Hinblick auf die Entwicklung der
Persönlichkeit des Einzelnen leisten. Dass sie hier wichtige Wirkungen erzielen, dürfte unstrittig sein.
In diesem Text ging es daher primär um soziale Wirkungen. Hier gibt es – mit Ausnahme der
inzwischen unstrittigen ökonomischen Wirksamkeitsstudien im Kulturbereich – einen erheblichen Forschungsbedarf. Dieser Text wollte hierbei einige Anregungen geben, in welcher
Richtung gefragt bzw. nach geeigneten Methoden gesucht werden kann. Überraschenderweise
konnte ein hochprofessionelles Feld, nämlich das der Medienwirkungsforschung, identifiziert
werden, in das sich unsere Fragestellung zwanglos einordnen lässt.
Kunst als Kommunikation, vielleicht sogar als Massenkommunikation eröffnet zudem einen
soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskurs, nämlich dem nach der (Rolle der
Künste in einer) politischen Öffentlichkeit. Ein Blick in die Geschichte dieses Begriffs zeigt,
dass die Künste bei der Entstehung dieser Öffentlichkeit sogar eine wichtige, vielleicht sogar
die entscheidende Rolle gespielt haben. Damit sind wir bei hochrelevanten Fragestellungen
gelandet. Denn wenn wir danach fragen, welcher Typus des sich zur Zeit gravierend verändernden Staates überhaupt Interesse an der öffentlichen Förderung einer Kunst und Kultur
114
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haben soll, dann wird man sofort auf die Frage nach der gewünschten Funktion von Kunst in
diesem Staat gestoßen. In einem demokratischen Staat stellt ein gut funktionierendes Kunstsystem eine wichtige Diskursarena dar, in der die Reflexion der Entwicklung des Gemeinwesens auf Dauer gestellt ist. Ich glaube nicht, dass man – im Interesse der Legitimität unserer
politischen Ordnung – es sich leisten kann, solche Diskursarenen zu dezimieren. Denn die
weiteren Alternativen zum Kunstsystem, in denen ebenfalls öffentliche Belange öffentlich
diskutiert werden könnten, sind so reichlich nicht (mehr) gesät.
Stimmt man dieser Überlegungen zu, dann ergibt sich hieraus eine Forderung an die Kulturbetriebe und die Kulturförderung. Ganz so, wie es die oben vorgestellte britische Studie belegt, ist dann die Partizipation, ist eine möglichst umfassende Teilhabe am kulturellen
Leben unabdingbar.
Hier schließt sich dann auch der Kreis. Denn mit der Forderung nach umfassender kultureller
Teilhabe ist man bei demjenigen Schlüsselbegriff gelandet, der in allen internationalen
Grunddokumenten verwendet wird: In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso wie in der Kinderrechtskonvention oder dem Pakt für ökonomische, soziale und kulturelle
Entwicklung.
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116
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2000.
117
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Darwin und die Kunst – Hinweise und Einfälle
Vier narzisstische Kränkungen hat der Mensch sich selbst zugefügt, Kränkungen also, die
empfindlich sein bisheriges Bild von sich selbst und seiner Rolle in der Welt verändert haben.
Kopernikus war der erste in dieser Reihe, als er zeigte, dass die Erde mitnichten im Zentrum
des Alls steht, sondern vielmehr ein durchschnittlicher Trabant einer eher kleinen Sonne in
einer Nebenlage des Weltalls ist. Freud zeigte, dass es keineswegs die Vernunft ist, die das
Leben des Menschen steuert, sondern meist schamhaft verschwiegene Körperregionen die
entscheidende Impulse für sein Verhalten geben. Bourdieu schließlich setzte sich zum Ziel,
die Kunst zu entmythologisieren, insbesondere die idealistische Autonomietheorie von Kant:
Nicht autonom, nicht abgehoben vom Alltag, nicht verbunden mit der Entwicklung zur Humanität ist sie seinen Studien zufolge, sondern effektivstes Mittel des Machterhalts und der
Aufrechterhaltung ungerechter sozialer Verhältnisse. Und natürlich Darwin. Als er sein
Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“ vor 150 Jahren veröffentlichte, haben andere schon
sehr viel grobschlächtiger als er seine Ergebnisse publikumswirksam veröffentlicht. Ein
enormer Publikumserfolg war es dann doch. Man sprach nunmehr von Zuchtwahl und Auslese, vom Kampf ums Dasein und dass es besondere Merkmale, Eigenschaften und Fähigkeiten
waren, die dem Tüchtigsten das Überleben sicherten. Dreizehn Jahre später legt er nach: Die
Anwendung seiner Theorie auf die Entwicklung des Menschen. Seither ist es nicht mehr zu
ignorieren: Nicht ein Schöpfungsakt nach dem Ebenbild Gottes (imago dei) stand am Beginn
des Menschen, sondern eine lange Entwicklungsgeschichte, bei der sich irgendwann sogar
gemeinsame Vorfahren des Menschen mit den haarigen Freunden auf den Bäumen fanden. Er
selbst sah seine Theorie zunächst nicht in Widerspruch zur Religion, hat sich vom Christentum dann aber doch getrennt. Doch was hat all dies mit Kunst zu tun?
Mehrere Fragen sind sinnvoll zu stellen: Gibt es eine Entwicklungsgeschichte der Disposition
des Menschen zu ästhetischem Gestalten und zu ästhetischer Erfahrung? Lassen sich vielleicht sogar Vorläufer eines Sinnes für Schönheit bei den vormenschlichen Vorfahren finden?
Hat die ästhetische Kompetenz dem Menschen Entwicklungsvorteile verschafft, spielten sie
also eine Rolle bei dem berühmten „Survival of the Fittest“? Aber wozu muss uns das interessieren? Zunächst einmal: Mit diesen Fragen rücken gleich zwei der oben erwähnten narzisstischen Kränkungen in die Nähe der Künste und des Ästhetischen. Offenbar ist dieses Feld besonders wichtig – oder besonders anfällig für Kränkungen, weil wir uns hier zu viel in die
Tasche lügen. Bei der tagespolitischen Erläuterung, warum Künste wichtig sind (auch: wes118
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halb Kulturförderung daher sein muss) verwenden wir oft anthropologische Argumente:
Kunst gehört zum Menschsein dazu, ohne Kunst ist menschliches Leben unvollständig, Kunst
ist ein Lebensmittel, es gab keine menschliche Gemeinschaft ohne Kunst, es gab Kunst immer
und überall, insbesondere ist sie schon bei den Anfängen der Menschheit zu finden. All dies
sind Argumente, die die Kunst in Beziehung zur menschlichen Natur setzen. Es sind z. T.
entwicklungsgeschichtliche Argumente, wie sie auch die philosophische Anthropologie verwendet. Also ist die Frage nach der Verbindung zur Evolutionstheorie zunächst einmal sinnvoll. Doch wie soll man dies erforschen? Zum einen hat man Artefakte aus der Frühzeit (Höhlenmalereien, Kultstätten, geschmückte Waffen und Werkzeuge, Skulpturen etc.). Zum anderen behilft man sich mit der (ethnologischen) Untersuchung von Menschengruppen, die sich
heute noch auf einer früheren Entwicklungsstufe befinden. Doch eines ist in jedem Fall notwendig: Die Abkehr von unserem gerade mal 200 Jahre alten Kunstbegriff. Wenn wir in Hinblick auf eine Entwicklungsgeschichte von Kunst und Ästhetik nach „Kunst“ fragen, dürfen
wir nicht an auratische Kunsterlebnisse, an endlose Debatten über Kunstautonomie und an
Gefahren einer Instrumentalisierung denken oder an Kunsttempel, wie sie v.a. im 19. Jahrhundert entstanden sind. Wenn wir Antworten auf die genannten Fragen wollen, müssen wir
Kunst als Teil des Lebens (ganz so, wie es die Avantgarde immer wollte) verstehen, müssen
die Frage klären, welche Überlebensrelevanz ästhetischer Ausdruck hatte und hat? Sind wir
bereit, diesen Preis der Entideologisierung unseres Kunstdiskurses zu zahlen, werden wir
durchaus reihhaltig belohnt. Erinnern wir uns erst einmal an einige Vorschläge aus der Anthropologie (G. Frey: Anthropologie der Künste, 1994). Von Arnold Gehlen stammt die Überlegung, dass die Idee der „Schönheit“ in der Musik sich auf frühzeitliche Warnsignale vor
Fressfeinden in einer Horde zurückführen lässt. So gab es auch dann noch diese akustischen
Signale, als der Mensch schon längst in der Lage war, seine Umgebung bewusst zu kontrollieren, so dass er nicht mehr instinktmäßig die Flucht beim Ertönen dieses Signals ergreifen
musste. Vielmehr erinnerte er sich an diese Zeiten zwanghaften Verhaltens und genoss nunmehr seine Freiheit, nicht mehr reagieren zu müssen. Es ist also durchaus die Kantsche Theorie einer Befreiung von einem Handlungszwang bei Kunst erleben und es ist eine Freude nicht
primär an dem Signal selbst, sondern an sich selbst als freiheitlich handelndem Subjekt. Eine
andere These wurde ebenfalls von einigen Wissenschaftlern begründet: Im Zuge seiner Entwicklung entwickelte der Mensch ein bewusstes Verhältnis zu sich und seiner Umgebung.
Helmut Plessner schlug den Begriff der exzentrischen Positionalität vor: Dass der Mensch
nämlich die Fähigkeit entwickelte, quasi virtuell neben sich zu treten und sich selbst zum Gegenstand von Betrachtungen zu machen. Im Zuge dieses Bewusstwerdens erkannte der
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Mensch, dass er in einer feindlichen Umgebung mit zahlreichen Fressfeinden lebte. Angst ist
die Folge einer solch bedrohlichen Situation und Angstbewältigung demzufolge die notwendige Aufgabe. In dieser Situation entwickelte sich – durchaus als Entwicklungsvorteil – die
Fähigkeit zu expressivem Ausdruck von Gefühlen: Ästhetische Gestaltung von Emotionen
konnte diese sichtbar machen – für den Menschen selber, aber auch für die Gruppe. Kunst
war also ein Bindemittel für die Gemeinschaft und zugleich eine Möglichkeit, innerste Erfahrungen zu kommunizieren. Ähnliches lässt sich bei den Höhlenbildern vermuten: Sie fanden
sich offensichtlich an kultischen Orten. Man konnte sie zudem für die Unterrichtung der
Nachwachsenden nutzen: Der Symbolcharakter von Kunst beinhaltet, Nichtvorhandenes zu
vergegenwärtigen, also Ort und Zeit zu beherrschen. Daher nimmt Ernst Cassirer die Künste
in seinen Katalog symbolischer Formen auf und beschreibt sie aufgrund ihrer Überlebensrelevanz als unverzichtbar für das menschliche Leben. Es ist also heute zum einem die Anthropologie, es ist die Verhaltensforschung, es ist die Ethnologie, die Belege dafür beibringen, dass
es eine enge Verbindung von Darwin und Kunst gibt. Auch die Philosophische Ästhetik geht
an der Relevanz eines entwicklungsgeschichtlichen Zugangs zur Kunst nicht vorüber. So befasste sich der anerkannte Ästhetiker Wolfgang Welsch mit „Animal Aesthetics“ auf dem
XVIth International Congress on Aesthetics 2004 in Rio de Janeiro (Text leicht zu googlen)
und suchte nach Wurzeln menschlicher Kunst noch vor der Kulturgeschichte des Menschen.
Natürlich stellte er klar, dass er keinen Picasso unter den Säbelzahntigern sucht. Ausführlich
beschreibt er, dass Darwin sein zentraler Impulsgeber war. In der Tat befasst sich dieser immer wieder mit der Tatsache, dass Konzepte von „Schönheit“ gerade bei der Auswahl von
Sexualpartnern im Tierreich eine Rolle spielen: Die „schönen“ Männchen signalisieren Kraft
und Energie (K. Richter: Die Herkunft des Schönen. 1999). Welsch spricht in diesem Zusammenhang von „nichtästhetischer“ und „vorästhetischer“ Schönheit. Interessant auch der
folgende Aspekt: Der Kampf zwischen den Männchen verläuft nunmehr unblutig als CastingShow, bei der der Schönere siegt.
Doch bleibt auch bei dieser Erklärung eine Lücke, weil sich nicht alle ästhetischen Präferenzen eindeutig mit einem Fitness-Vorsprung der Träger der schönen Merkmale in Verbindung
bringen lassen. Eine enge Evolutionstheorie, die sehr kurzschlüssig nur unmittelbar erkennbare Entwicklungsvorteile gelten lässt, erklärt zwar manches, doch bleiben unerklärte Reste: Es
gibt offensichtlich einen Überhang an ästhetischer Gestaltung über die unmittelbare Nützlichkeit hinaus. An dieser Stelle führt Welsch die Neurowissenschaften ein – und stößt auf die
wichtige Rolle des Vergnügens im menschlichen Leben. Liegt Horaz mit seiner Funktionsbeschreibung von Kunst des delectare und prodesse, des Nutzens und Vergnügens, also auch
120
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nach 2000 Jahren Wissenschaftsgeschichte immer noch richtig? Welsch sagt ja. Doch hilft
hier das Werk einer interessanten Seiteneinsteigerin, der amerikanischen Ethnologin und
Ethologin Ellen Dissanayake weiter (hier: What is Art for? 2002). Ihre zentrale Idee enthält
Kap. 4 des genannten Buches „Making Special“. Dahinter steckt der Ansatz, dass es zum einen in der Tat einen Überschuss an ästhetischer Gestaltung gibt, der über eine enge Funktionalisierung von Kunst hinausgeht. Sie kann jedoch zumindest einen Teil dieses Überschusses
erklären: Mit ästhetischer Expressivität wird besonderen wichtigen Ereignissen oder Dingen
eine Bedeutung verliehen. Ästhetik wird so zu einer Unterstützung des kollektiven Gedächtnisses, der Hervorhebung überlebensrelevanter Ereignisse, der Stiftung von Gemeinschaft
rund um bestimmte kultische Handlungen. Jagdfeste, Beerdigungen, Ritualen oder besonders
wichtige Personen: Bei allem hebt eine ästhetische Inszenierung deren Bedeutung aus dem
Alltag heraus.
Dieser kurze Streifzug durch ein Feld, das man heute etwa in dem Ansatz einer „evolutionären Ästhetik“ behandelt, bringt eine vielleicht überraschende Erkenntnis: Man muss die engen
Grenzen eines eurozentrischen Kunstverständnisses zunächst einmal verlassen (gerade Ellen
Dissanayake wird nie müde, auf die erkenntnisverhindernde Wirkung hinzuweisen, die die
200-jährige Ideologiegeschichte von „Kunst“ für sie hatte). Dann aber wird man reichhaltig
fündig und kann entwicklungsgeschichtlich viele Funktionen von Kunst belegen, die wir im
alltäglichen politischen Gebrauch oft und zurecht für ihre Legitimation verwenden: Künste
sind identitätsstiftend, erkenntnisfördernd, sie leisten einen Beitrag zur Selbstreflexion von
Einzelnen und Gruppen. Künste stärken die emotionale Seite und bieten „ganzheitlich“ Entwicklung- und Erkenntnisimpulse. Sie tun dies in einer einmaligen Verbindung von Nützlichkeit und Genuss. Sie haben eine Alltagsrelevanz, wie man sie kaum vermutet und wie man sie
nicht erfahren kann, wenn man eine – oft auch noch nur halb verstandene – Autonomiebehauptung wie eine Monstranz vor sich herträgt.
Ein solch weiter Begriff von Kunst, der dann auch nicht zulässt, Kunst aus Afrika weiterhin
bloß als Folklore oder Volkskunst zu begreifen (wie noch lange Zeit bei Kunstmessen geschehen) ist auch notwendig in der internationalen Zusammenarbeit. So hagelte es zahlreiche
Proteste bei der ersten Weltkonferenz zur künstlerischen Bildung 2006 in Lissabon, weil die
UNESCO zur Kunst lediglich die traditionellen europäischen Kunstformen zählen wollte
(Musik, Bildende Kunst, Theater): KollegInnen aus Afrika und Asien bestanden dagegen darauf, dass in einigen Ländern Stelzenlaufen oder Haare flechten für sie sehr viel relevantere
Kunstformen seien. 150 Jahre nach Darwins „Entstehung der Arten“: Ein guter Anlass also,
auf die Lebensrelevanz von Kunst hinzuweisen.
121
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Einige Dinge, die man über die Künste und die Ästhetik/Kunsttheorie wissen sollte
1. Gerade im Kontext von „Kunst und Ästhetik“ stellt sich das Problem, dass es sich um
moderne Begriffe handelt, die gerade erst 200 Jahre, z. T. erst 150 Jahre alt sind. Für den
größten Teil der menschlichen Geschichte und den größten Teil der Erde macht ihr modernes Verständnis keinen Sinn: Sie sind beide aufs engste mit der westlichen Moderne
verbunden.
2. Man muss zudem gerade die Geschichte der letzten 200 Jahre als permanenten Versuch
verstehen, vorhandene Konzepte von Kunst bzw. Ästhetik als falsch oder unzureichend
nachzuweisen. Man muss daher mit einer Vielzahl von (z.T. einander widersprechenden)
Definitionen und Begriffsbestimmungen rechnen. Es gibt zudem keine Entwicklung in
dem Sinne, dass ältere Verständnisweisen von „Ästhetik“ bzw. „Kunst“ verschwinden.
3. Die Diskurse über Ästhetik (als philosophischem Versuch, sich über Begriff, Gegenstandsbereich und dessen „Wesen“ zu einigen), über die Künste und die reale Entwicklung der Künste sind zwar nicht völlig unverbunden, sollten jedoch eher als unabhängig
voneinander betrachtet werden. Es handelt sich zudem um unterschiedliche Professionen,
die jeweils Ästhetik, Kunsttheorie oder Kunst betreiben: Wer das eine beherrscht, ist nicht
automatisch Experte für das andere.
4. Auch in dem Feld der Künste und der ästhetischen Reflexion ist in mehrfacher Hinsicht
mit Konkurrenz und einem Kampf um Deutungshoheit zu rechnen: Zum einen konkurrieren verschiedene Verständnisweisen sowie verschiedene berufliche Zugänge (philosophisch, soziologisch, ökonomisch, psychologisch, kunstwissenschaftlich etc.) miteinander.
Gesamtgesellschaftlich konkurriert „Kunst“ zudem mit anderen Sinnstiftungsinstanzen
wie Wissenschaft oder Religion. Beide Konkurrenzsituationen sind sogar eine wichtig
Antriebsquelle für die jeweilige Entwicklung.
5. Gerade in praxisbezogenen Diskursfeldern wie (Kultur-)Politik und (-)Pädagogik sind oft
historisch widerlegte Verständnisweisen von Ästhetik und Kunst zu finden. Viele Legitimationsfiguren für beides speisen sich von Ideen über „Kunst“, die mit der Kunstentwicklung der letzten 150 Jahre nichts zu tun haben (kunstreligiöse Vorstellungen, Argumente
der idealistischen Autonomieästhetik etc.).
122
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6. Ein enges westlich-modernes Verständnis von „Kunst“ grenzt den Großteil ästhetischer
Produktivität der Menschen aus. So gilt für die ästhetische Praxis zum allergrößten Teil
der klassische Satz von Horaz des prodesse et delectare (des Nützens und Erfreuens). Der
Gedanke der Autonomie ist für den größten Teil der künstlerischen Praxis sehr fremd. Allerdings macht dieser Gedanke der Autonomie Sinn, wenn man das Feld der Künste als
zunehmend „autonomer“ werdenden Teil der modernen Gesellschaft betrachtet (ebenso
wie andere Felder im Zuge der Modernisierung ihre relative Autonomie gewinnen).
7. Ästhetik, Kunsttheorie und die reale Entwicklung der Künste stehen immer wieder in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. So konkurrieren die einzelnen Kunstwissenschaften mit der Philosophie um das Deutungsrecht. Zum anderen versuchen immer wieder Künstlerl/innen, sich von den normativen Vorgaben beider Disziplinen zu befreien
(Danto spricht in diesem Zusammenhang von Entmündigung der Kunst durch die Philosophie). Im Gegenzug werden „Künstlerlästhetiken“, also Reflexionen von Künstler/innen
über ihre eigene Praxis, von Ästhetikern und Kunstwissenschaftlern häufig gering geschätzt.
8. Die Ästhetik ist in der Moderne nicht nur entstanden: Sie ist – zumindest in bestimmten
Zeitabschnitten – geradezu zu der philosophischen Leitdisziplin geworden. Dies hat z. T.
seinen Grund darin, dass die Vernunft als Zentralkategorie fragwürdig wurde und man
daher „das Andere der Vernunft“ thematisierte. Z. T. hat es aber auch damit zu tun, dass
gerade die Ästhetik der Selbstvergewisserung des (bürgerlichen) Subjekts und seiner Fähigkeit zur Selbst- und Weltaneignung diente.
Annäherungen an die Begrifflichkeit:
Die Ästhetik reflektiert die ästhetischen Welt- und Selbstverhältnisse des Menschen. Sie ist
Teilgebiet der Philosophie.
In den ästhetischen Welt- und Selbstverhältnissen nimmt der Mensch das jeweilige Objekt in
Hinblick auf Gestalt- und Formqualitäten wahr und bewertet diese. Insbesondere spielten in
diesem Prozess Aspekte der Nützlichkeit und Funktionalität höchstens eine nachrangige Rolle. Als Objekte einer solchen Betrachtungsweise kommt alles in Betracht.
Künste sind spezifische Gestaltungsprozesse und ihre Ergebnisse, wobei das, was als „Kunst“
zählt, Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist.
123
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Thesen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik
Es liegt in der Natur philosophischer Reflexionen, zu keinem allseitig akzeptierten Ende zu
kommen. Meinungsstreit ist das Wesen der Philosophie. Doch was machen Pädagogik und
Politik, die handeln müssen? „Der Handelnde hat immer Unrecht!“ sagt Friedrich Dürrenmatt.
Dies ist so, weil aus einer Fülle von Handlungsmöglichkeiten nur eine einzige ausgewählt
wird, obwohl für die dann abgelehnten Handlungsmöglichkeiten ebenfalls gute Gründe sprechen. Dies ist auch der Fall angesichts einer Fülle von Ethikkonzeptionen. Der Angreifbarkeit
des konkreten Vorschlages bewusst, will ich trotzdem einige allgemeine Thesen zu einem
Verständnis von Ethik formulieren, so wie es für die Pädagogik anwendungsfähig ist:
1. Basis sowohl des Ästhetischen als auch des Ethisch-Moralischen ist die Anthropologie, ist
eine Auffassung des Menschen als kulturell verfasstes Wesen in seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität, insbesondere in seinen produktiven und destruktiven Möglichkeiten.
2. Dazu gehört, dass der Mensch Selbst- und Weltverhältnisse entwickelt, die theoretische,
ethisch-moralische und ästhetische Anteile haben. Diese unterschiedlichen Anteile lassen
sich zwar analytisch trennen, treten jedoch in der Praxis immer zusammen auf und finden
letztlich im handelnden Subjekt eine Integration: Das Leben, insbesondere das menschliche Leben ist Ausgangs- und Endpunkt moralphilosophischer und ästhetischer Reflexion.
Solche Selbst- und Weltverhältnisse sind etwa die symbolisch-kulturellen Formen in der
„Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer, nämlich Sprache, Kunst und
Wissenschaft, Mythos und Religion, Wirtschaft, Politik und Technik.
3. Die Bedürftigkeit des einzelnen Menschen und die – entwickelbare – leibliche Ausstattung auf der einen Seite und die sozial-kulturellen (sittlichen) Kontexte, in die der Mensch
eingebettet ist, auf der anderen Seite, sind gleichermaßen „Bedingungsfelder“ seiner Entwicklung, die sich zudem wechselseitig konstituieren: So leistet der Einzelne einen Beitrag zur Ausgestaltung des Sozial-Kulturellen, adaptiert, verändert, entwickelt es und trägt
es weiter. Dieses Soziokulturelle wiederum ist eine entscheidende Enwicklungsbedingung
für sein individuelles Werden. Das Ich und der/das Andere stehen also nicht (nur) einander gegenüber, so dass man nach der Vorrangigkeit des einen oder anderen fragen könnte:
Beide konstituieren sich wechselseitig.
124
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15.05.16
4. Insbesondere entstehen in diesem individuellen Entwicklungs- und aktiven Aneignungsprozess die Wert- und Norm-Orientierungen des Einzelnen durch eine Habitualisierung
der je vorhandenen Sittlichkeit („Üblichkeit“), die in all seinen Welt- und Selbstbeziehungen (Nr. 3) eine Rolle spielen: Diese enthalten nämlich stets eine wertende Beziehung zur
Welt. In seinem Bildungsprozess entwickelt der Einzelne dann ein bewusstes Verhältnis
zu dieser vorliegenden Norm- und Wertewelt und wird diese akzeptieren oder verändern
wollen.
5. Es lassen sich – analytisch – ästhetische und moralisch-ethische Werte unterscheiden.
Diese sind wesentlich Bestandteil der Persönlichkeit und eng verbunden mit dem Volotiven und Motivationalen: Der Mensch erkennt, bewertet, fühlt sich motiviert (oder nicht)
etwas zu tun oder zu lassen.
6. Die Berücksichtigung individueller („Glück“), sozial-kultureller („Sittlichkeit“) und globaler Aspekte ist gleichermaßen anzustreben.
7. Daraus ergibt sich, dass man dreierlei braucht:

eine Vorstellung des individuell guten, sinnhaften, glücklichen Lebens (Lebenskunst; Ethik des guten Lebens, Individualethik)

einen funktionierenden Nahraum, dessen Sitten und Gebräuche („Üblichkeiten“) sowohl „Heimat“ als auch normative Einengung sind (Sozialethik)

ein faires Verfahren, weitgehend universell gültige und akzeptierte Regelungen herbeizuführen, eben weil vor dem Hintergrund der Globalisierung nur ein ethischmoralischer Minimalkonsens sowie ein zivilgesellschaftliches Verhandlunsprozedere
bei Meinungsverschiedenheiten eine friedvolle Gestaltung des Zusammenlebens ermöglichen (moral-philosophischer Universalismus).
Die an Aristoteles orientierte kommunitaristische Zugangsweise ermöglicht die Reflexion des sozial-kulturellen Kontextes („Sittlichkeit“). Die aktuelle Individualethik stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt („Lebenskunst“). An Kant orientierte universalistische Ansätze versuchen, Werte und Normen in größter Allgemeinheit verhandelbar zu machen (z.B. die Diskursethik). Eine praxisbezogene Ethik
kann daher nur als Integration dieser drei genannten Ansätze entwickelt werden.
8. Der gemeinsame anthropologische Bezug von Ethik und Ästhetik führt quasi zwangsläufig zu dem Begriff von Bildung. Bildung als eine bewusste Form der Lebensgestaltung,
als Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu sich, zur sozialen und natürlichen Umwelt, zur Zeit lässt sich ohne Mühe als Pointierung dessen darstellen, was eine Anthropologie im Sinne von Plessner und Cassirer als das spezifisch Menschliche ausweist. Die besondere Qualität der (menschlichen) Welt- und Selbstverhältnisse bringt eine ästhetische
und eine moralische Dimension mit sich, so dass – in der Logik dieses Gedankens wenig
verwunderlich – im gebildeten und sich bildenden Subjekt Ethik und Ästhetik zusammenlaufen (müssen): Das Subjekt steht im Mittelpunkt ästhetischer und moralischer Praxis,
125
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steht im Mittelpunkt der Selbst- und Weltgestaltung. Das gebildete Subjekt muss äußere
Ansprüche der Community bzw. der universellen Moral mit individuellen Ansprüchen an
das eigene Leben vermitteln, muss Erkennen, Bewerten, Urteilen und Fühlen integrieren.
Die Prozesshaftigkeit dieser sich immer wieder stellenden Anforderungen kommt in der
Rede von „Bildung als nichtabschließbarem Prozess“ zum Ausdruck.
9. Ethik und Ästhetik als philosophische Spezial-Disziplinen sind in diesem Prozess relevant. Zwar handelt jeder immer schon ästhetisch oder ethisch-moralisch. Doch wenn Bildung das Bemühen um Bewusstheit der Lebensvollzüge wesentlich mit einschließt, dann
gehört hierzu auch das Bewusstmachen der Voraussetzungen und Folgen moralischer und
ästhetischer Urteile und ihres kohärenten Zusammenhangs im Leben des Einzelnen. Und
hierbei haben die Reflexionen über die Logik dieser Beurteilungsprozesse, so wie sie die
verschiedenen Ästhetik- und Ethik-Konzeptionen anbieten, ihren Nutzen und ihre Berechtigung in der Kulturpädagogik: als Reflexionstheorien des ethisch-ästhetischen Handelns.
Dabei muss die Offenheit der individuellen Entscheidung für bestimmte Konzeptionen
von Ethik bzw. Ästhetik gewahrt bleiben, da sich kaum ein archimedischer Punktfinden
lässt, von dem aus sich eine letztgültige Entscheidung über „wahr“ und „falsch“ einzelner
Theorien treffen ließe.
Aus einer praktischen Sichtweise ist daher notwendig, was aus der Sicht der philosophischen
Grundlagenforschung eher schwierig ist: Die gleichzeitige Relevanz der drei sich ansonsten
bekämpfenden Ethik-Ansätze zu behaupten. Der gemeinsame Bezug auf den Menschen, seine
Bestimmungsmerkmale, Bedürfnisse und Chancen macht zudem die Integration von Ethik
und Ästhetik denkbar. Denn beiden geht es um individuelle Dispositionen, die in allen Weltzugangsweisen (kulturell-symbolische Formen) zu finden sind. Sie überschneiden sich zum
einen dort, wo die moralische Urteilsbildung darauf angewiesen ist, Gegebenheiten und Verläufe genau wahrzunehmen (aisthesis), Handlungsmöglichkeiten zu (er)kennen („Möglichkeitsdenken“ in der Kulturarbeit), und vielleicht sogar probehandelnd ausführen zu können.
Eine Überschneidung ist andererseits dort zu finden, wo wahrgenommene Dinge und Prozesse
zwar auch ästhetisch, aber eben auch ethisch-moralisch bewertet werden, wo moralische
Überzeugung in der ästhetisch-kulturellen Praxis entstehen, ebenso wie die Motivation zu
moralischem Handeln.
126
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Januar 2003
Kunst und Ästhetik
Neuere Entwicklungen
Abstract
In diesem Text werden einige Grundzüge der Ästhetik und der Theorie der Künste vorgestellt.
Grundlage ist die Unterscheidung von Subjekt, künstlerischer Tätigkeit und Objekt, mit der
eine erste grobe Ordnung in die unterschiedlichen Ansätze zur Theorienbildung gebracht werden kann. In diesem Sinne stehen in Bezug auf das Subjekt der Begriff der ästhetischen Erfahrung und in Bezug auf das Objekt der Begriff des Kunstwerks im Mittelpunkt der Ausführungen. Es werden zudem einige neuere Arbeiten zu diesen Themenkomplexen vorgestellt.
Inhalt:
Anlass und Struktur der Arbeit
Was ist Kunst? Wann ist Kunst?
Das Subjekt
Das Objekt
Künstlerische Tätigkeiten
Der Begriff des Symbols
Anmerkungen und Literatur
127
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1. Anlass und Struktur der Arbeit
Wenn der künstlerische Leiter einer der bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst
davon spricht, dass es der Kunst nach wie vor um die „...Erarbeitung und Entwicklung von
Interpretationsmodellen für die verschiedenen Aspekte heutiger Vorstellungswelten...“ (Enwezor 2002, S. 40) geht, dann spricht er von „Kulturfunktionen“, die diese Kunst – immer
noch – erfüllen soll. Ähnliche Aussagen gibt es von VertreterInnen der Literatur, des Theaters, der Musik oder des Tanzes. Man erwartet also nach wie vor in den Künsten, dass sie den
Gesellschaften immer wieder Möglichkeiten verschaffen, sich selbst den Spiegel vorzuhalten,
Lebensstile zu reflektieren, Identitätsangebote zu produzieren und Orientierungen bereitzustellen, die eine Verortung in Raum und Zeit ermöglicht. Dies gilt selbst dann, wenn in einer
postmodernen oder dekonstruktivistischen Sicht all diese Konzepte und Vorstellungen radikal
in Frage gestellt werden – eben auch als spezifisches Deutungsangebot, dass nämlich die heutige Gesellschaft mit solchen Konzepten nicht mehr zu begreifen ist (Zima 1994, 1997, 2000).
In der Geschichte der Menschheit entstanden als „Medien“ einer solchen Selbstgestaltung,
Selbstreflexion und Weltaneignung Religion und Mythos, aber auch Wissenschaft und Kunst.
Ernst Cassirer (1990) nennt diese Hervorbringungen menschlichen Geistes symbolischkulturelle Formen und ihre Gesamtheit „Kultur“. In dieser Hinsicht steht also die Kunst
durchaus in Konkurrenz zu anderen Sinngebungsinstanzen, so dass die Skepsis von Enwezor,
ob und wie die zeitgenössische Kunst diese Aufgabe der Integration noch erfüllen kann, verständlich wird. Und tatsächlich zeigt die Geschichte, dass nicht alle symbolisch-kulturellen
Formen zu jeder Zeit gleichmäßig in Anspruch genommen worden sind. Vielmehr geraten
bestimmte Formen immer wieder in Verdacht, ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können.
So wurde der Mythos abgelöst durch Wissenschaft und Religion, die Religion wiederum erlebte in der Säkularisierung des 19. Jahrhunderts einen Prozess der Entwertung. Und seit einigen Jahren ist der Glaube an die Wissenschaft stark beschädigt. Verständlich ist daher die
Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Kunst bei Enwezor, weil die Art und Weise, wie sie
diese die genannten Funktionen erfüllt, ebenfalls ins Gerede gekommen ist. Zum Teil lag das
sicherlich an innerkünstlerischen Entwicklungen, zum Teil hatte es mit der generellen Infragestellung von Sinngebungsangeboten zu tun. Es ist also zu fragen, wie die Künste die genannten Kulturfunktionen überhaupt erfüllen können.
Gleichgültig, wie Kunst letztlich definiert oder verstanden wird, geht es darum, etwas zur
Anschauung oder zu Gehör zu bringen, etwas den Sinnen zu präsentieren, das wahrgenommen werden kann. Der etymologische Rückbezug der Ästhetik auf aisthesis – Wahrnehmung
128
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15.05.16
– bleibt in jedem Fall relevant, selbst dort, wo Kunst die Wahrnehmung als Grundmodus ihrer
Funktionsweise in Frage stellt.1 Doch wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Sinne
längst nicht mehr die untrügerische Quelle von Wissen durch Wahrnehmung sind, für die man
sie einmal gehalten hat. Die Sinne trügen und lügen – und sind zudem leicht zu manipulieren.
Auch dies ist daher ein Anlass, sich mit der Funktionsweise der Künste auseinander zu setzen.
Selbstzweifel an der eigenen Darstellungskraft und Wirksamkeit waren zudem immer schon
starke Motoren zur Weiterentwicklung der Künste. Dies ging – gerade in der jüngeren Zeit –
soweit, den Kunstbegriff bzw. zentrale ästhetische Kategorien total in Frage zu stellen. Auch
hat die Konjunktur der Ästhetik in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts („Postmoderne“) ihr
selbst nicht unbedingt gut getan. Es könnte jedoch sein, dass nach dem Ende dieser Denkweise als Modeerscheinung2 nunmehr eine Bilanz gezogen werden kann, die die zutreffenden
Erkenntnisse der radikalen Vernunftskritik der Postmoderne einbezieht. Mir scheint, dass die
Entwicklung der Künste, so wie sie etwa auf der documenta XI präsentiert wurden, Anlass zur
Annahme einer solchen Synthese gibt. Zudem sind in den letzten Jahren einige interessante
Texte zur Ästhetik erschienen, die sich erneut um die Klärung von ästhetischen und kunsttheoretischen Grundbegriffen bemühen.
Im folgenden will ich aus einem (kultur-)politischen und einem (kultur-)pädagogischen Interesse heraus einige systematische Überlegungen zur Kunsttheorie und Ästhetik vorstellen.3
Ich gehe dabei nicht von einem vermeintlichen Nullpunkt aus, sondern argumentiere auf einer
anthropologischen Basis, die oben bereits mit dem Namen von Ernst Cassirer – ich könnte
noch Helmut Plessner dazufügen – verbunden ist (Fuchs 1999, Frey 1994). Demnach muss
der Mensch aktiv seine Beziehung von Welt gestalten (er muss sein Leben führen, so Plessner). Und hierbei gestaltet er sich selbst. Eine anthropologische Perspektive lässt sich an alle
Momente des ästhetisch-künstlerischen Prozesses anlegen. Neben der grundsätzlichen Frage
danach, welche Rolle Kunst bei der Anthropogenese gespielt hat, kann man etwa nach den
Ursprüngen des Ästhetischen sowohl auf der Seite des Subjekts als auch auf der Seite des
gestalteten bzw. wahrgenommenen Gegenstandes fragen (Abb.1).
129
Document1
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Abb. 1:
Anthropologie des Ästhetischen
Anthropologie* des Subjekts (Marx: Geschichte der fünf Sinne)
 Anthropologie der Sinne**
 Auge
 Ohr
 Nase
 Tastsinn
 Geschmack
 Anthropologie der sinnlichen Wahrnehmung/Erfahrung/Erkenntnis
 Anthropologie des Körpers/Leibes
 Anthropologie des Schönen
 Anthropologie ästhetischer Produktivität:
Herstellungslust, Formungslust
 Anthropologie der Urteilskraft
 Anthropologie des Symbolgebrauchs

Anthropologie der gestalteten Umwelt
 Häuser
 Städte
 Gegenstände, Dinge, Prozesse

Anthropologie des Designs und des
Schmucks von Alltagsgegenständen
Anthropologie der Kunstobjekte

*Anthropologie, d.i.u.a.: Psychologie, Biologie, Natur- u. Kulturgeschichte, Philosophie
** inkl. (Kultur-)Geschichte der Sinne
Diese Gegenüberstellung von Subjekt und einem Gegenüber („Objekt“) wird vermittelt durch
seine Aktivität, durch Tätigkeit. Auf sehr allgemeine Weise lässt sich – quasi als Grundmodus
des Seins in der Welt – dies durch das folgende Schema darstellen4
Abb. 2
Subjekt
Tätigkeit
Objekt
Für die Zwecke dieses Textes taugt dieses allgemeine Schema, um nicht nur den Text zu
strukturieren, sondern um eine erste Ordnung in Ästhetik-Konzeptionen zu finden: So gibt es
Ansätze, Kunst aus der Sicht des Subjekts, des Objekts („Kunstwerk“) oder der künstlerischen
Tätigkeit zu begreifen. Zahlreiche ästhetische oder kunsttheoretische Kategorien lassen sich
diesen drei Grundkategorien zuordnen (Abb. 3) und spielen daher in denjenigen ästhetischen
Ansätzen, die Subjekt, künstlerische Tätigkeit bzw. Objekt in den Mittelpunkt stellen, jeweils
eine unterschiedlich bedeutsame Rolle.
130
Document1
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MF 6/02
Abb. 3
Annäherungen an die Ästhetik
aus der Perspektive von Subjekt, Tätigkeit und Objekt
Zentrale Kategorien
bzw. Ästhetikansätze
SUBJEKT
(eher Kant)
TÄTIGKEIT
OBJEKT
(eher Hegel)
















aisthesis i. S. von sinnlicher
Erkenntnis
ästhetische Erfahrung
ästhetische Wahrnehmung
ästhetische Bewertung/ ästhetische Urteilskraft
Katharsis
Geschmack
ästhetisches Verstehen
Sinne (Auge, Ohr, Nase, Mund,
Tastsinn)
ästhetische Rationalität
zwischen Subjekten: ästhetische
Kommunikation
Spüren, Leib,
Erfahren von Gegenständlichkeit
Menschen im Raum (Stadt,
Haus), d. h. Relevanz von Architektur und Stadtplanung





künstlerisch-ästhetische Praxis:
Rezeption
Produktion
Formung, Gestaltung (Poiesis)
Konstruktion
Bewegung in gestalteten Räumen
Dichten, Musizieren, etc. als
symbolische Tätigkeiten
„symbolische Arbeit“ (Willis)




das KUNSTWERK
Geschichte der Künste
(Kunst-, Literaturetc. -geschichte)
Verkörperung/
Vergegenständlichung
ästhetische „Ontologie“
Baukultur; geformte Gegenstände
Design, angewandte Kunst
131
Document1
Es ist nun möglich, jedes dieser Strukturelemente von Kunst (als Tätigkeit) in den Mittelpunkt
von ästhetischen Überlegungen zu stellen: Ich will es hier überblicksweise tun und in den
später folgenden Abschnitten vertiefen. Dabei verwende ich ein einfaches semiotisches
Grundmodell (Fuchs 2000).
Abb. 4
Sigmatik (gegenständlicher Bezug)
Syntax
(Formsprache, Gestaltungsqualitäten)
Zeichen
Semantik
(begrifflicher Bezug,
Bedeutung)
Pragmatik
(tätiger Umgang mit
dem Zeichen)
Bezogen auf ein Kunstwerk (Objekt) sieht die Anwendung dieses Grundmodells aus wie
folgt (Abb.5). Diese Abbildung berücksichtigt über die einfachen Strukturmomente hinaus
noch die Tatsache, dass Kunstproduktion und -rezeption in einem gesellschaftspolitischen
Kontext stattfinden, der vielfältig diese Prozesse der Produktion bzw. Rezeption prägt.
Nimmt man die künstlerische Tätigkeit als Ausgangspunkt – und sieht diese in einem historischen Prozess – dann lässt sich im zeitlichen Ablauf das folgende Schema konstruieren
(Abb. 6), das zeigt, wie künstlerische Kompetenzen und Dispositionen immer wieder durch
Tätigkeit in „Werken“ vergegenständlicht werden, die wiederum Grundlage für die Entwicklung von (neuen) Kompetenzen und Dispositionen bei anderen Menschen sind.
132
Document1
Abb. 5 Semiotik der Kunst
Gesellschaftlich-kultureller Kontext: ästhetische Kommunikation,
Gegenständliche Umgebung
Relevanz von Sujets
eher objektive
Dimension von Kunst
Sigmatik
(gegenständliche Referenz)
ges. Reservoir
ges. Genese
Kunstwerk oder -prozess
Syntax
und
(Formensprache)
Funktion
von
Form und Gestalt
z. B. Ikonographie
Semantik
Hermeneutik
(„Bedeutung“)
an Bedeutungen
Kunstherstellung u. -gebrauch
Pragmatik
Produktion
künstl. Prozess
Psychologie u. Soziologie
des Künstlers
Distribution
(Kunstvermittlung,
-kritik, -markt)
Kunstdiskurs
ökon. Funktionen von Kunst
Rezeption (Gebrauch);
Wirkungen auf
Subjekt
eher
subjektive
Dimension
von Kunst
Psychologie und Soziologie
des Kunstgebrauchs
ökonomische, politische, kulturelle etc. Rahmenbedingungen
133
Document1
Abb. 6: Entstehung und Wirkung von Kunst im zeitlichen Ablauf zusammen mit jeweils „zuständiger“ Fachdisziplin
Soziologie und Sozialgeschichte
der Kunst und der Sinnlichkeit des Menschen (historische Anthropologie)
gesellschaftliche
Grundlage eines
Umgangs mit
Kunst und Ästhetik
einzelne
Kunstwissenschaften
Kunst und Ästhetik in Persönlichkeitstheorien
subjektive Disposition zur
Kunst/Ästhetik
genetische Erbschaft für ästhetisches Handeln (Fähigkeit zum Umgang mit Bildern
und Tönen, mit
Form und Gestalt,
Symbolkompetenz)
künstlerischästhetische Tätigkeit
(produktiv und rezeptiv)
Theorien künstlerischästhetischer Tätigkeit,
ästhetische Handlungstheorien,
Pädagogik der Künste
Werk
Prozess
Rückwirkung
auf Mensch
und Gesellschaft
Wirkungstheorien
Anthropologie, Biologie und Psychologie der Kunst
134
Document1
Das künstlerisch aktive Subjekt ist dabei gleich dreifach mit „Objekten“ konfrontiert, nämlich
durch Erkennen, Gestalten und Rezeption. Unter Nutzung klassischer ästhetischer Kategorien
lässt sich dies modellieren wie folgt (Abb. 7):
Abb. 7: Tätigkeitsformen im künstlerischen Prozess: Erkennen – Gestalten – Rezipieren
Urbild
ErkenntnisMittel
Subjekt
(Katharsis)
GestaltungsMittel
zu gestaltendes
Material
Poiesis
Mimesis
(ästhetische)
Erkenntnismittel
aisthesis:
rezeptive
ästhetische
Erfahrung
künstlerisches
Objekt
Das Subjekt im Mittelpunkt kann also erkennendes, produzierendes oder kunstreproduzierendes Subjekt sein. Geht man hingegen von der Tätigkeit aus, so lassen sich Dimensionen wie in Abb. 8 unterscheiden.
Zusammenfassung: Kunst lässt sich sinnvoll aus der Sich der Strukturelemente von Tätigkeit,
also im Hinblick auf das aktive Subjekt, die künstlerische Tätigkeit und das entstehende Werk
(Produkt oder Prozess), betrachten. Es ist letztlich eine Frage der persönlichen Überzeugung,
was im Mittelpunkt von Kunsttheorie steht. Letztlich wird jedoch jede umfassende Kunsttheorie alle Teile des Prozesses in den Blick nehmen müssen.
135
Document1
Abb. 8: Dimensionen der künstlerischen Tätigkeit
externe soziale Dimension:
Kunst als gesellschaftliche
Erscheinung
psychologische
Dimension:
kognitive, emotionale
und kooperativ-soziale
Entwicklung inklusive
Aneignung des Selbst
interne soziale Dimension:
Kunst als sozialer Prozess/
künstl. Tätigkeit als
sozialer (Gruppen-)Prozess
künstlerisch-ästhetische
Tätigkeit
gegenständliche Dimension 1:
Kunst als praktischgegenständliches Verhalten
gegenständliche Dimension 2:
Kunst als Aneignungsform
von Wirklichkeit
2. Was ist Kunst? Wann ist Kunst?
Die klassische Frage danach, was Kunst ist, hat sich inzwischen in die Frage danach verschoben, wann Kunst ist. Was bedeutet dies und warum ist dies geschehen?
Lange Zeit diskutierte die westliche Philosophie die Frage, was eigentlich ein Kunstwerk zum
Kunstwerk macht. Ich will nur am Rande darauf hinweisen, dass diese Diskussion in jeder der
heutigen Kunstsparten für sich gesondert geführt wurde, bis Baumgarten im 18. Jahrhundert
nicht nur Ästhetik – basierend auf dem Wahrnehmungsbegriff – als philosophische Teildisziplin konstituierte und zugleich einen einheitlichen Kunstbegriff geschaffen hat, der Bilder
und Texte, Skulpturen und Musikstücke gleichermaßen als „Kunst“ erfasste. Dies war bis
dahin nicht üblich gewesen. Das Ringen um den Kunststatus (Eagleton 1994) hatte etwa mit
den Vorstellungen über Bildung zu tun: Musik gehörte als eher mathematische Disziplin – im
Verständnis von Pythagoras – zu den klassischen Fächern der mittelalterlichen Universität;
Malerei und Bildhauerei waren dagegen lange Zeit rein handwerkliche Künste (vgl. Hauser
1972). Die Frage nach „Kunst“ ist zudem verbunden mit der Stellung des Künstlers als
Schöpfer eines Werkes in der Gesellschaft; ein Verständnis, das sich erst im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägt hat (Ruppert 1998). Diese sozialgeschichtliche Perspektive, die einen Ästhetik- und Kunstdiskurs, wie wir ihn heute kennen, lediglich
250 Jahr zurückverfolgen kann, schließt natürlich nicht aus, dass über einzelne Fragen, die
heute zum Ästhetikdiskurs gehören, seit Jahrhunderten diskutiert wurde, etwa über die Frage
der Schönheit (Scheer 1997, Plumpe 1993).
136
Document1
Lange Zeit versuchte man, in den Gestaltqualitäten – also in objektiv erfassbaren und als zeitlos verstandenen Merkmalen – eines „Kunst-„Objekts das „Wesen der Kunst“ zu finden. Der
entwickelste Ansatz einer solchen objektivistischen Ästhetik ist sicherlich die informationstheoretische Ästhetik, wie sie in Deutschland prominent von Max Bense vertreten wurde (vgl.
die Theoriensammlung Henrich/Iser 1982). Nach wie vor ist die Suche nach und die Identifikation von objektiven Gestaltqualitäten eine wichtige Aufgabe der Kunstanalyse und Bestandteil jeglichen Kunstverstehens. Allerdings geschieht dies heute weniger in einer philosophischen Ästhetik, sondern vielmehr in den einzelnen Kunstwissenschaften.5 Doch hat die Entwicklung der Künste selbst dazu geführt, dass eine derart „objektive“ Bestimmung von Kunst
immer schwieriger wurde: Man kann geradezu als Motor der Entwicklung der Künste den
Versuch sehen, den jeweils vorfindlichen Kunstbegriff zu sprengen. Eine entscheidende Etappe in diesem Prozess war – etwa in der Bildenden Kunst – der schrittweise Verlust des Gegenständlichen im späten 19. Jahrhundert bis zu den ready-mades von Marcel Duchamp, bei
denen lediglich eine kleine Manipulation an Industrieprodukten vorgenommen wurde und die
dadurch zu „Kunstwerken“ erklärt wurden. Spätestens an dieser Stelle wurde deutlich, was
eine Sozialgeschichte bzw. eine sozial sensible, eher immanente Kunstgeschichte ebenfalls
herausgebracht hat: Das Verständnis dessen, was „Kunst“ eigentlich ist, hängt sehr stark davon ab, was ein sozialer Kontext für Kunst hält. Es ist also bei der Definition von Kunst eine
Verschiebung festzustellen, die vom Kunstwerk über den produzierenden Künstler nunmehr
bei den soziokulturellen Kontexten landet. Der us-amerikanische Kunsttheoretiker Danto
(1984) hat diese Auffassung umfassend ausgearbeitet: Ohne eine sozial-historische Einordnung ist das jeweils vorfindliche Kunstverständnis nicht nachzuvollziehen. Die Studien von
Pierre Bourdieu (hier v.a. 1999 und 1987) zeigen zudem, wie sehr die Definition dessen, was
Kunst ist, mit Macht und Einfluss zu tun hat. Man wusste zwar immer schon – nicht zuletzt
aus den Biographien von KünstlerInnen, die sich mit neuen Ansätzen bei Kritik, Publikum
und Markt durchsetzen mussten –, dass „Kunst“ sehr stark von diesen drei Mächten, also von
(Fach)-Publikum, Kritik und Kunst-Marktinstitutionen abhängt. Bourdieu hat jedoch das notwendige sozialwissenschaftliche Instrumentarium zur Analyse dieser sozialen Definitionskämpfe geliefert und am Beispiel von Flaubert (Bourdieu 1999; vgl. auch Jurt 1995) gezeigt,
wie KünsterInnen in der Lage waren, das für sie relevante soziale „Feld“ über neue ästhetische Maßstäbe zu definieren. Ästhetische Maßstäbe heißt dabei natürlich auch und insbesondere: Formqualitäten.6 Dies gilt auch für die Gesellschaftstheorie von Luhmann (v.a. 1996), in
der das Subsystem Kultur/Kunst über Kunstwerke kommuniziert. Gerade für soziologische
Ansätze, Kunst zu verstehen, spielt das Rezeptionsverhalten, also der soziale Kontext des
137
Document1
Kunstgebrauchs – in semiotischer Sprache: die Pragmatik – eine wichtige Rolle. Doch wird
diese nur dadurch ermöglicht, dass es objektiv unterscheidbare Formqualitäten (und spezifische Inhalte) gibt, auf die sich diese pragmatische Dimension bezieht und die daher (mit)entscheiden, was als Kunstwerk gehandelt wird.
Zu diesen Formqualitäten gehören allerdings auch die Rahmenbedingungen und Gestaltqualitäten der Präsentation. Es macht eben einen Unterschied, ob „Kunst“ in der Wohnung, in der
Galerie, im Museum, in einer Ausstellung oder auf der Straße präsentiert wird. Dies bringt
zum Ausdruck, dass es in vielfacher Hinsicht um Beziehungen geht, die sowohl von den Gestaltqualitäten im Kunstobjekt selbst abhängen, die aber auch mit den Beziehungen zwischen
Kunstobjekt und Umgebung zu tun haben. Dies ist ein erstes Ergebnis bei einer Bestimmung
dessen, was „Kunst“ heute sein kann: Ein gestaltetes Objekt oder ein Prozess, das bzw. der
durch die Art der Gestaltung und Präsentation in vielfache Beziehung zu seiner sozialen und
gegenständlichen Umgebung tritt, das oder der ein immanenter Zusammenhang von GestaltBeziehunen ist und insbesondere mit dem Kunstbetrachter eine Beziehung eingeht. Man kann
nun sagen, dass die gezielte Herstellung solcher Beziehungen zur Aufgabe von Kunst gehört
(Kleimann 2002). Damit hätte man einen Schritt in ein funktionalistisches Verständnis von
Kunst getan, also sich auf das Feld der Beantwortung der Frage „Wozu Kunst?“ begeben
(Fuchs/Liebald 1995, Kleimann/Schmücker 2001). Dies ist eine traditionsreiche Frage, auf die
man eine Unzahl von Antworten geben kann. In einer Studie (in Fuchs/Liebald 1995) habe ich
90 Antworten auf diese Frage gesammelt. Eine neue Initiative zur Beantwortung dieser Funktionsfrage findet sich in Kleimann/Schmücker (2001). Dieses Buch ist – als aktuelle Publikation – nicht nur interessant im Hinblick auf die unterschiedlichen Antworten, die gegeben
werden. Es zeigt zugleich, dass trotz der gerade in Deutschland vorherrschenden Ideologie der
Kunstautonomie nach wie vor sinnvoll über die Funktionen von Kunst diskutiert werden kann
(Gethmann-Siefert 1995, Bollenbeck 1994). Das Spektrum der Antworten ist breit, von der
Erkenntnisfunktion bis zur Entwicklung eines „Gefühls zur Welt“ – und beides wird durchaus
auch verstanden als Subversion, die mit Kunst herkömmliche gesellschaftliche Werthaltungen
und Sichtweisen in Frage stellen will und soll (zur ethischen Relevanz von Kunst vgl. Fuchs
2002). Systematisch bringt Schmücker die möglichen Funktionen von Kunst in einem Tableau
unter
(Abb.
9).
138
Document1
Abb. 9: Funktionen der Kunst
generelle Funktionen
potentielle Funktionen
konstitutive
Funktion
nichtkonstitutive Funktion
kunstinterne
Funktionen
kunstästhetische Funktion
ästhetische
Funktionen
Traditionsbildungsfunktion(en)
Innovationsfunktion(en)
Reflexionsfunktion(en)
Überlieferungsfunktion(en)
kunstexterne Funktionen
kommunikative Funktionen
dispositive
Funktionen
expressive
Funktion(en)
appellative
Funktion(en)
emotive
Funktion(en)
Motivationsfunktion(en)
konstative
Funktion(en)
Distanzierungsfunktion(en)
therapeutische
Funktion(en)
Unterhaltungsfunktion(en)
soziale Funktionen
kognitive
Funktionen
mimetischmnestische
Funktionen
dekorative
Funktionen
Identitätsbildungsfunktion(en)
Distinktionsfunktion(en)
Schmuckfunktion(en)
Illustrationsfunktion(en)
Status
Erkenntnisdokumentaindizierende
funktion(en)
rische FunktiFunktion(en)
on(en)
kultische
Erinnerungsfunktion(en)
Funktion(en)
ethisch-explorative Funktion(en)
politische Funktion(en)
religiöse Funktion(en)
(sonstige) weltanschauliche
Funktion(en)
geselligkeitskonstitutive
Funktion(en)
ökonomische
Funktion(en)
Quelle: Schmücker in Kleimann/Schmücker 2001, S. 28
139
Document1
Nun gibt es gegen solche funktionalen Bestimmungen von Kunst Einwände. Hierbei ist es
nützlich, den Unterschied von „Funktionen“ und „Wirkungen“ im Kopf zu behalten:: „Funktionen“, so mag man definieren, ergeben sich aus der absichtsvollen Herstellung von „Wirkungen“. Wirkungen können daher beabsichtigt oder nicht beabsichtigt sein. Auch eine streng
antifunktionalistische Sicht von Kunst kann daher danach fragen, ob – trotz aller Autonomie –
der Umgang mit Kunst soziale oder individuelle Wirkungen zeigt. Es liegt auf der Hand – und
die Geschichte zeigt es auch – dass eine enge Funktionalisierung von Kunst, z. B. in politischideologischer Hinsicht, nicht immer gelingt oder anders gelingt, als beabsichtigt. Warum jedoch Kunst stets Wirkungen hervorruft, beantwortet in Hinblick auf den Einzelnen die Kunstpsychologie, in Hinblick auf soziale Zusammenhänge die Kunstsoziologie.
Die meist genannten Funktionen beziehen sich zum einen auf solche Wirkungen, die man im
einzelnen Individuum vermutet (vgl. hierzu Abschnitt 3).7 Überwiegend sind es jedoch Funktionen, die etwas mit sozialen Kontexten zu tun haben. In einem erweiterten Sinne kann man
diesen Sachverhalt unter der Rubrik „Kommunikation“ einsortieren, sofern man ein Verständnis von Kommunikation unterstellt, das weit genug ist, dass es neben Sprache (als diskursivem Medium) weitere Medien zulässt (in der Terminologie der Philosophin S. Langer
(1979): präsentative Symbole).8 Jede kommunikationstheoretische Deutung von Kunst hat
sich mit dem Diktum Adornos (1974) auseinanderzusetzen, dass „kein Kunstwerk ... in Kategorien der Kommunikation zu beschreiben und zu erklären (sei)“. Schmücker (1998), der
(trotzdem) eine kommunikationstheoretische Deutung von Kunst vorschlägt, muss sich daher
mit diesem Diktum auseinander setzen, und er baut seine Argumentation auf der Tatsache auf,
dass es auch im Prozess des Kunstverstehens um Bedeutungen geht. Kunstwerke sind daher
Medien im Kommunikationsprozess (282). Es sind allerdings „Medien sui generis“. Was
heißt das?
Kommunikation ist „jeder Verweisungszusammenhang eines Zu-Verstehen-gebens und eines
Zu-Verstehen-suchens“. Bei der Kommunikation mit und über Kunst geht es dabei nicht um
die „Erzielung eines intersubjektiven Einverständnisses“; dies nennt Schmücker „diskontinuierlich“. „Kunst“ liegt also dann vor, wenn wir in einem Artefakt/Prozess ein potenzielles
Medium eines solchen diskontinuierlichen Prozesses sehen.
Kunstwerke laden somit zur Kommunikation ein ohne die „Last“, ein einvernehmliches Verständnis zu erzielen. Man mag dies in traditioneller Terminologie eine „entlastete“ Kommunikation nennen und damit einen Anschluss zu klassischen Ästhetiken (z. B. Kant, Schiller)
herstellen, bei denen die Handlungsentlastung als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ formuliert
wird. Die Möglichkeit, auf ein „einvernehmliches Verständnis“ zu verzichten, liegt darin be140
Document1
gründet, dass „Bedeutung“ – also das, worauf Kunstwerke eindeutig verweisen könnten –
nicht existiert, zumindest nicht so, wie wir es in der Alltagskommunikation erwarten. Eco
(1972, 1995) sprach in diesem Zusammenhang vom „offenen Kunstwerk“und zielte auf die
Bedeutungsoffenheit künstlerischer Zeichen. Trotzdem vermutet der Teilnehmer an der
Kommunikation eine Botschaft, die man ihm mitteilen will. Der Modus der Wahrnehmung,
nämlich als ästhetische Wahrnehmung (vgl. Abschnitt 4), versetzt den Rezipienten in diesen
Zustand des erwartungsvollen Entlastet-Seins. Es wird also entscheidend darum gehen, ästhetische Wahrnehmung als spezifische Wahrnehmung zu präzisieren.
Die pädagogische Bedeutsamkeit dieser Aufgabe wird bei dem phänomenologischen Ansatz
von Böhme (2001, S. 180) deutlich, der Ästhetik als Wahrnehmungslehre begreift, die sich
um die affektive Betroffenheit des Menschen kümmert. „Wahrnehmung“ ist dabei eine „Weise, sein eigenes Da sein zu spüren“ (ebd., S. 81) und weiter: „Zur Erfüllung dessen, was
Menschsein heißt, gehören auch sinnliche Erfahrungen. Doch die Kompetenz dazu kann
heute nicht mehr als naturgegeben angesehen werden, vielmehr muss man sie erwerben, und
zumindest zu sagen, was man da erwerben muss, dazu ist die neue Ästhetik der Ort“ (ebd.
S.180).
Kunst, so der bisherige Gedankengang, ist eine spezifische Kommunikation, die insofern entlastet ist, als eine Notwendigkeit zur Einigung auf ein bestimmtes Verständnis der Mitteilung
nicht vorhanden ist. Die Umschaltung auf diesen Modus der Entlastung erfolgt über die
Wahrnehmung des Ästhetischen: Dieses schafft Neugier und Interesse an dem Inhalt ohne den
Zwang zur Eindeutigkeit. Dies wiederum ist nur möglich, wenn kein Handlungszwang besteht, wenn also die Situation handlungsentlastet ist (Böhme 2001, S. 183ff.).
Bekanntlich knüpfen ältere Ästhetik-Entwürfe hieran eine Funktion von Kunst: Den Menschen erleben zu lassen, dass er überhaupt in der Lage ist, derart befreit („entlastet“) sich mit
der Welt und sich selbst auseinanderzusetzen. Schillers Ästhetik (1959) etwa sieht hierin gerade das emanzipatorische politische Potenzial des Ästhetischen: Freiheit zu erleben.9 Kunstwerke hätten dann die Aufgabe, auf diese spezifische Weise wahrgenommen werden zu können, um dem Menschen diese Selbsterkenntnis, nämlich frei sein zu können, zu ermöglichen
So lautet etwa auch die Erklärung des Phänomens der Schönheit in der Anthropologie von
Gehlen (1950); siehe auch Schmidt 1997, dort insbesondere die Ausführungen über die Kategorie der Entlastung, die das Ästhetische von Arbeit und Ethik/Moral unterscheidet. Gehlen
leitet dieses Spezifikum des Ästhetischen aus der gattungsgeschichtlichen Entwicklung der
141
Document1
Instinktreduktion ab. Dies ist auch die Basis für seine (kritische) Deutung der modernen bildenden Kunst (Gehlen 1986): Gerade die bürokratisierte Gesellschaft hat eine „Sehnsucht
nach Außenseitern und Nonkonformisten, das Publikum liebt es, wenn ihm das als erreichbar
vorgeführt wird.“ (ebd., S. 223). In diese Richtung gehen auch aktuelle Vorstellungen, die in
Kunst die Möglichkeit sehen, Kontingenzerfahrungen zu machen, dass also alles auch völlig
anders sein könnte, als es ist.10
Es scheint sich hierbei also um ein anthropologisches Faktum zu handeln, das aktuell auch die
Neurowissenschaften bestätigen: nämlich die elementare Freude des Gehirns am Entwerfen
(Pfütze 1999, S. 26). Diese entwerfende Praxis heißt in der aristotelischen Terminologie Poiesis. Sie bezieht sich zum einen auf die „creatio ex nihilo“, die Schöpfung aus dem Nichts, also
den kreativen Akt des Künstlers als Akt der Formung auf der Basis einer Formungslust. Sie
findet sich jedoch auch beim Publikum, nämlich bei der (rezeptiven) Freude, mit der Kunst
Formerfahrungen zu machen (und machen zu wollen!) und Beziehungen einzugehen, die
zweckfrei sind und nicht auf Arbeit zielen (ebd., S.27).
Das Bemerkenswerte an der bisherigen Begriffsbestimmung von Kunst, die ich auf der
Grundlage einiger neuerer Versuche und im Anschluss an traditionelle Theorien vorgenommen habe, besteht darin, dass zwar Subjekt und Objekt im Kunstprozess unterscheidbar bleiben, aber nur der wechselseitige Bezug den künstlerisch-ästhetischen Prozess definiert: Auch
das spezifische Mensch-Welt-Verhältnis in der Kunst ist in erster Linie ein Verhältnis, eine
Relation. Mit dieser Sichtweise findet die Ästhetik als philosophisch-wissenschaftliche Disziplin Anschluss an die Entwicklungen moderner Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert,
nicht Dinge, sondern Relationen in den Mittelpunkt zu stellen (vgl. Cassirer 1923). Es liegt
auf der Hand, dass die semiotische Sichtweise diesen relationalen Ansatz übernimmt, da es
um

immanente Beziehungen von Gestaltungsqualitäten (Syntax),

die Beziehungen zwischen den gegenständlichen Artefakten und Deutungen (Semantik),

die Beziehung zwischen Artefakt und einem real vorhandenen Gegenstand (Sigmatik)
und

die soziale Beziehung Artefakt/Produzent bzw. Rezipient geht.
Im Mittelpunkt dieses Textes steht zwar das Subjekt. Doch deutlich wird, dass die spezifisch
ästhetischen Wirkungen im Subjekt nur dann erzielt werden, wenn auf der Objektseite – unter
Einbeziehung des räumlich-sozialen Kontextes des Kunstwerkes oder -prozesses – die ent142
Document1
sprechenden „ontologischen“ Voraussetzungen vorliegen. Man muss daher auch dann nach
allen drei Strukturmerkmalen der Tätigkeit, also nach Subjekt, Tätigkeit und Objekt, im
Künstlerisch-Ästhetischen fragen, wenn man sich verstärkt nur für eines der drei genannten
Momente interessiert: also nach der Spezifik des Objektiv-Ästhetischen, nach der Konstitution des Subjekts, das in der Lage ist, mit diesen ästhetischen „Botschaften“ umzugehen oder
diese zu schaffen, und nach den spezifisch ästhetischen Praxen und Tätigkeiten, die Subjekt
und Objekt in Produktion oder Rezeption miteinander vermitteln.
Hilfreich ist dabei der Definitionsversuch von Gelfert (1998), der fünf Bestimmungsmerkmale
von Kunst erarbeitet:

Kunst hat einen Werkcharakter, ist also Ergebnis menschlicher Arbeit

Kunst hat einen Selbstzweck, dient nicht der unmittelbaren Lebenserhaltung

Kunst hat eine finite Form, was heißt: sie ist vollständig durchformalisiert

Kunst ist scheinhaftig, ist abgehoben von der Wirklichkeit

Kunst ist zeitlos, gleichgültig ob es sich um ein Werk oder eine Aufführung (“Zeitlosigkeit des Augenblicks“) handelt.
Die folgende Grafik (Abb. 10) bringt diese Bestimmungsmomente in einen systematischen
Zusammenhang (Gelfert 1998, S. 57)
143
Document1
Abb. 10: Bestimmungsmerkmale der Kunst
Die Welt
(= Gesamtheit aller Gegenstände und Sachverhalte)
geistig wahrnehmbar
(Mathematik usw.)
Natur
sinnlich wahrnehmbar
Menschenwerk
zweckhaft:
Arbeit
Selbstzweck:
Kultus
offene
Form
finite
Form
wirklich:
Ritus
scheinhaft:
Kunst
Performanz:
zeitloser
Augenblick
Werk:
zeitlose
Dauer
144
Document1
Exkurs: Die Künste und die Kultur
Die documenta XI erinnert daran, dass und wie die Künste in einem kulturellen Kontext entstehen und kulturelle Funktionen, so wie sie eine anthropologische Zugangsweise verständlich macht, auf eine bestimmt Art und Weise erfüllen. Walter Benjamin, der bei den Kuratoren dieser documenta eine große Rolle spielt, sagte einmal, dass jede Hervorbringung einer
Gesellschaft in Kultur und Wissenschaft zugleich auch ein Dokument der Barbarei sei. Dies
ist im Auge zu behalten, wenn man sich wie in diesem Text mit einem Denken über Kunst
befasst, das zunächst einmal nur in einer europäischen Tradition entstanden ist und nur dort
Sinn macht. Insbesondere sind hierbei solche Bestimmungen von Kunst im Hinblick auf ihre
Geschichte und Genese zu untersuchen, die heute oft als „ontologisch“-zeitlose Bestimmungen dargestellt werden. Theorien der Kunst, die oft auch die Praxis und das Selbstverständnis
der Künstler beeinflusst haben, sind auch Ideologien der Kunst, also interessens-, zeit- und
ortsgebundene Deutungsangebote, die gerade nicht frei von Macht- und Herrschaftsbestrebungen sind. So entsteht etwa der heute als Kern jeglicher Kunsttheorie geltende Autonomiegedanke erst am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert, nämlich mit dem philosophischen und
künstlerischen Werk von Kant, Schiller und Goethe, von Beethoven, Wordsworth, Hugo und
Flaubert. Und diese Auffassung einer autonomen Kunst wird nur nachvollziehbar, wenn man
sie einordnet in ihren kulturellen (und auch politisch-ökonomischen) Kontext. Dies gilt ebenso für die damit verwandte Idee eines autonomen Subjekts, eines Individuums, das sich erstmals als Person und nicht als Teil eines Kollektives versteht, so wie sie in der Renaissance
entstanden ist (Fuchs 2001).
Bei näherer Betrachtung erweisen sich dabei auch die scheinbar so feststehenden Epochenbezeichnungen und ihre kulturellen Bedeutungen als rückwirkende Konstruktionen und Erfindungen, die oft mehr mit der Zeit ihrer Erfindung als mit tatsächlichen Abläufen zu tun haben.
Auch Geschichte ist nämlich Teil der Herstellung einer kulturellen Selbstdefinition der jeweiligen Gegenwart. Die Erfindung der Renaissance im 19. Jahrhundert, die Erfindung der Griechen am Anfang desselben Jahrhunderts, die Erfindung Ägyptens und des Orients (so Burke,
Said und Asmann in Schröder/Breuninger 2001) – z. T. in imperialistischer Absicht bzw. im
Zuge der Kolonialisierung dieser Gebiete durch europäische Staaten – spielen eine zentrale
Rolle in den Eroberungsgeschichten der Neuzeit:
„Alle kulturellen Identitäten sind nicht einfach gegeben. Sie sind ein kollektives Konstrukt auf
der Basis von Erfahrung, Gedächtnis, Tradition (die ihrerseits ebenfalls konstruiert und erfunden sein kann) und einer ungeheuren Vielfalt von kulturellen, politischen und sozialen Praktiken und Formen. Zweitens: Vom ausgehenden 18. Jahrhundert an bis heute sind die zentralen
145
Document1
Begriffe des Westens, Europas und der europäisch-westlichen Identität fast immer eng verbunden mit Aufstieg und Fall der großen imperialistischen Mächte, vor allem Großbritanniens, Frankreichs, Rußlands und der USA. Keine Beschreibung der euopäischen kulturellen
Identität und der Künste kann meiner Meinung nach die Beziehung zwischen Kultur und
Herrschaft einfach übersehen.“ (Said in Schröder/Brenninger 2001, S. 41).
Damit werden die hier vorgetragenen Untersuchungen, die sich auf die ästhetische Dimension
konzentrieren und die die politisch-hegemoniale Wirkung zunächst einmal vernachlässigen,
keineswegs obsolet. Allerdings wird deutlich, wie relevant die Kulturtheorie für eine Theorie
der Künste wird und welchen Wert das Projekt der documenta XI – mit den zugehörigen politologischen, soziologischen und ökonomischen Reflexionen zur Globalisierung und zum
Postkolonialismus – zum Verständnis der kulturellen Funktion von Kunst in der heutigen Zeit
hat, da es die Entwicklung der Künste und Kulturen konsequent in diese Prozesse der Macht
und Herrschaft einordnet (Enwezor 2002). Gerade in einer solchen Perspektive muss es daher
interessieren, wie es den Künsten und dem Ästhetischen gelingen kann, die genannten Prozesse der Konstruktion von Identitäten, der Selbstbeobachtung und Verortung erfolgreich zu gestalten und wie die oft verkannte und subversive Macht des Kulturellen erkannt und dann
auch emanzipatorisch nicht gegen die Menschen, sondern zu ihren Gunsten angewendet werden kann. Das Ziel kann also nur eine politisch, ökonomisch und soziologisch aufgeklärte
ästhetische Theorie sein. Akzeptiert man dies, wird man bei Durchsicht der meisten relevanten Texte eine deutliche Verabsolutierung des europäischen Entwicklungsweges als allgemein-menschlichem feststellen müssen (vgl. Fuchs 2002 – culture unlimited; Fuchs 2002 –
Kunst und Politik, Abb. 10). Ich gehe zwar davon aus, dass trotz dieses Reflexionsdefizits –
das allerdings traditionsgemäß zur Spezifik einer rein philosophischen bzw. fachkulturwissenschaftlichen Zugangsweise zur Kunst gehört – im Grundsatz die Funktionsweise
von Kunst/Ästhetik erfasst sind, sofern man sich das Anwendungsfeld auf den westlichen
Bereich reduziert denkt.
Notwendig ist zudem die Einbettung der Kunsttheorie in eine aufgeklärte Kultursoziologie.
Bourdieu etwa verortet systematisch Kunst im System sozialer Praktiken. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass ausgerechnet ihm ein respektloser Blick auf Kunst gelingt, denn er hat
viele Jahre in Nordafrika verbracht und dort die Auswirkungen des Kolonialismus auf lokale
Kulturen studieren können. Ästhetik und Kunsttheorie erfassen also durchaus Zutreffendes,
doch bleibt so lange ein Ideologieverdacht bestehen, wie die historische und geographische
Eingebundenheit vernachlässigt wird. Ästhetik als Ideologie beschreibt Terry Eagleton (1994)
146
Document1
im Hinblick auf die Machtkämpfe und die Durchsetzung des Bürgertums in Europa. Nunmehr
muss die Perspektive erweitert werden um einen „postkolonialen Blick“, so wie es die Kuratoren der documenta XI versuchen (Young 2001). Ihr Ansatz integriert eine aktuelle Analyse
der ökonomischen Globalisierung (Hardt/Negri 2000) und Kulturtheorien, deren Verfasser
von ihrer Biographie her die koloniale Perspektive kennen (Bhabha 1994).
Abb. 11: Die Vieldimensionalität von Kunsttheorien
Ökonomie
Anthropologie
Die Internationalisierung
des Kunstmarktes und der
Kulturindustrie
Kunst als symbol.kulturelle Form
Soziologie
Kunst und die
„feinen Unterschiede“
Kunst(theorie)
philosophische Bestimmung des Ästhetischen
zwischen
aisthesis und Reflektion
Kunst als Teil
kultueller Identität
und als Möglichkeit
der Unterdrückung
Politik: Macht und
Herrschaft
Philosophie
Kunst im Prozess der kulturellen Interessen, der Hybridisierung und Kreolosierung; kulturelle Hegemonie
Kulturtheorie
147
Document1
Auch in kulturpädagogischer und -politischer Sicht wird man zukünftig verstärkt einbeziehen
müssen, dass schon längst – auch auf nationaler Ebene – der Modus des Kulturellen das Interkulturelle ist (Fuchs 2002 – Culture; Reckwitz 2000). Erst recht gilt dies dann, wenn man
Kulturkontakte systematisch plant, also in Prozessen der Interkulturellen Pädagogik bzw. in
der Auswärtigen Kulturpolitik (Fuchs 2002 – Kunst, Kultur, Ökonomie und Politik).
3. Das Subjekt im ästhetischen Prozess
Paetzold (1990) sieht zwei Aufgaben, die eine philosophische Ästhetik zu leisten hat: die Erklärung von „ästhetischer Erfahrung“ und die Bestimmung dessen, was „Kunst“ heißt. „Ästhetische Erfahrung“ sieht er als Produkt des Zusammenwirkens von Sinneswahrnehmung
und Reflexion.11Ästhetische Erfahrung als Einheit von Sinneswahrnehmung und Reflexion ist
(nicht nur) bei Paetzold geradezu das Schema von Erfahrung schlechthin. Entscheidend ist
ihre besondere Qualität, dass sie sich im Erfahrungsprozess selbst zur Gegenstand der Erfahrung macht.12 Zur Einordnung der beiden von Paetzold genannten Aufgaben der philosophischen Ästhetik braucht man eine Vorstellung darüber, welche Funktionsbereiche sich im –
natürlich ganzheitlich agierenden – Subjekt unterscheiden lassen. Man braucht ein Modell der
Persönlichkeit (Fuchs 2001). Denken, Fühlen und Handeln sind nach wie vor aktuelle Unterscheidungen (Roth 2002). Andere Autoren fügen den Willen bzw. das Urteilen als eigenständige Dimensionen dazu. Kants drei Kritiken befassen sich bekanntlich mit dem Erkennen,
dem Urteilen und Handeln. In der aktuellen Kompetenzforschung (Erpenbeck/Heyse 1999)
geht man von folgender Persönlichkeitsstruktur aus, in die die drei anthropologisch und bildungstheoretisch begründbaren Beziehungsdimensionen des Subjekt (zu sich, zur Zeit, zur
sozialen und gegenständlichen Umwelt, Fuchs 2000) einbezogen sind (Abb. 12).
148
Document1
Abb. 12: Persönlichkeit, Bewusstheit und Reflexivität
bewusstes Verhältnis zu Geschichte und Zukunft
(Zeitkompetenz)
Wissen
Fähigkeiten
Fantasie
Willen
Fertigkeiten
bewusstes Verhältnis zu Gesellschaft und Natur
(u. a. Sozialkompetenz)
Erfahrungen
bewusstes Verhältnis zu sich
(Selbstkompetenz)
Kunst und Ästhetik haben es damit zu tun, dass etwas zur Anschauung (i.w.S.) gebracht wird.
Zunächst sind es daher die Sinne und die Sinnesfunktionen im Subjekt, denen entsprechende
Gegenstandsqualitäten auf der Objektseite gegenüberstehen. (Abb. 13).
Die Funktionsweise der verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten werden aktuell in den Neurowissenschaften untersucht (Roth 2002). Es scheint sicher zu sein, dass rein
sensualistische oder abbildtheoretische Konzeptionen von sinnlicher Wahrnehmung falsch
sind.13 Sinnliche Wahrnehmung ist ein einheitlicher Prozess des Bewertens, Wahrnehmens,
Einordnens und Konstruierens, der sich zudem nur zu einem kleinen Teil im Bewussten abspielt. Es ist zudem an die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zu erinnern, dass auch
sinnliche Wahrnehmung durch das Prisma bereits gebildeter Begriffe hindurch geschieht
(Holzkamp 1973). Mir scheint, dass hier sowohl die Konzepte des „Habitus“ und des „praktischen Sinns“ (Bourdieu), aber auch die Überlegungen des Anthropologen Helmut Plessner zu
den nichtdiskursiven Weltzugangs- und Ausdrucksformen des Menschen mit diesen aktuellen
Ergebnissen der Hirnforschung kompatibel sind. Dies heißt auch, die sozial- und kulturgeschichtliche Dimension bei den Sinnen zu berücksichtigen, was heißt: Die Sinne verändern
sich in Abhängigkeit von Ort und Zeit, konkret: Der Mensch heute sieht, hört, fühlt,
schmeckt, riecht anders als der Mensch der Antike oder des Mittelalters (Jütte 2000).
Abb. 13: Reflexivität und Gegenstandsbezug der Sinne
149
Document1
KONTEXT: Kultur und Soziales
Subjekt mit
Organen/Sinnen:
 Auge
 Ohr
 Nase
 Zunge
 Haut
Objekt mit
Gegenstandsqualitäten:
 Visuelles
 Akustisches
 Gerüche
 Geschmacksqualitäten
 Taktiles
Reflexivität der Sinne
Sinnliche Aktivitäten in der
künstlerischen Tätigkeit:
 Sehen
 Hören
 Riechen
 Schmecken
 Fühlen
Sinnliche Wahrnehmung des Menschen ist reflexiv. Dies heißt, dass sich im Prozess der
Wahrnehmung ein Dreifaches abspielt:

Der Mensch sieht, hört, fühlt etc. etwas, das außerhalb von ihm selbst liegt:: Objektwahrnehmung.

Der Mensch spürt sich selbst als Wahrnehmenden im Prozess der Wahrnehmung: Selbstwahrnehmung.

Gerade in der Ästhetischen Wahrnehmung nimmt er eine verdichtete und bewertete Form
eines (fremden) Wahrnehmungsergebnisses wahr, das zum Zweck des Wahrgenommenwerdens hergestellt wurde: das Kunstwerk.
Nimmt man die Ausführungen des letzten Abschnittes über die Aspekte der Entlastung dazu,
wird das Resümee von Schmidt (1997, S. 369) verständlich:
„Ästhetische Erfahrungen vermitteln kein Wissen über die Welt, sie sind nicht der Inbegriff
von Welterschließung noch die blanke Negation hermeneutischer Erschließungsmöglichkeiten
von Welt, aber sie halten unsere sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten und intellektuellen
Deutungs- und Verstehenskompetenzen offen für die Erfahrbarkeit der Welt. Diese Funktion
können ästhetische Erfahrungen erfüllen, insofern ihre aus dem iterativen Zusammenspiel
150
Document1
imaginativer Vorstellungen und semantischer Aneignungsversuchen gespeiste Unverfügbarkeit zu keinem der beiden Pole hin aufgelöst wird.“
Insofern ästhetische Erfahrung die Reflexivität von Wahrnehmung enthält, vermittelt sie an
einer entscheidenden Stelle Erkenntnisse über die Wahrnehmung selbst als Quelle von Wissen, vermittelt also Wissen über (den Erwerb von) Wissen bzw. Nichtwissen. Es ist offensichtlich, dass wir es hier mit einer entscheidenden Kulturfunktion zu tun haben. Das Wissen
ist – neben der Orientierung an Werten und Einstellungen – entscheidend für unsere Orientierung in der Welt.14 Insofern ist es von großer Bedeutung, über Möglichkeiten zu verfügen, die
Mittel, die Orientierungsleistungen erbringen müssen, bewerten zu können.15 Ästhetische Erfahrung ist eine solche Möglichkeit der Bewertung unserer Erkenntnis- und Orientierungsmittel.
Ästhetische Erfahrung – als Einheit einer spezifischen Wahrnehmung und Reflexivität – hat
als Gegenüber die spezifische Gestalt des (ästhetischen) Objekts (vgl. hierzu Abschnitt 4).
Ästhetische Erfahrung, so oben, hat einen bestimmten Modus zur Voraussetzung: die Erwartung einer bedeutsamen Mitteilung in einer von Handlungsnotwendigkeiten entlasteten Situation.
Es bedarf also einer spezifischen individuellen Disposition, will man ästhetische Erfahrungen
machen. Zu dieser Disposition gehört Neugierde:
„Ästhetische Erfahrung“, so Schneider (1996, S. 55; Sperrungen entfernt), „ist eine kontemplative, auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand gerichtete Aufmerksamkeitskonzentration, die um der Bewahrung der Eigenheit dieses Gegenstandes willen erfolgt und der evaluativen ebenso wie der existentiellen Wahrnehmung eine neue Perspektive auf ihn eröffnet.“
Die Suche nach Neuem sieht auch der Wahrnehmungspsychologe Walter Schurian (1986, S.
13) als Spezifikum des ästhetischen Verhaltens:
„Die Ausgangspunkte und Ziele der Bewegung des Ästhetischen sind vielfältiger Natur, eines
jedoch befindet sich in der „Suche nach dem Anderen“. Damit ist die unstillbare Energie des
Menschen angesprochen, die ihn unaufhörlich bewegt, allen Dingen um eine jeweils andere
Dimension nachzugehen. Das Ästhetische richtet sich letztlich aus auf die anderen Seiten der
Wirklichkeit, die unbeleuchteten Ansichten. Es sucht hinter dem Erkannten das Unerkannte,
hinter dem Geschauten das Ungeschaute.“
Dies ist also das Eigenartige: Ein geradezu anthropologisch fundierter Drang nach Neuem –
und die ebenfalls immer wieder heraustretende Grundangst gegenüber dem Anderen, die bis
hin zur Gewalt gegen Fremdes und Fremde führt (Kramer 1993); die Sinnlichkeit, die sich mit
151
Document1
der Oberfläche, dem Schein des Objektes befasst und gleichzeitig hinter dieser Oberfläche das
Neue, Unbekannte, Unsichtbare sucht. Der Mensch schwankt offenbar zwischen dem Bedarf
an Gewissheit und Tradition und der Offenheit für und Neugier auf Unerkanntes. Vermutlich
ist gerade das Ästhetische als das von Zwängen und Erwartungen Entlastete sehr geeignet,
diesen Zwiespalt an Bedürfnissen zu tragen.
Im Hinblick auf die bislang verwandten Kategorien lässt sich folgende Präzisierung festlegen
Abb. 14: Ästhetische Erfahrung
Sinnliche Wahrnehmung
Ästhetische Wahrnehmung Ästhetische Reflexion
Ästhetische Erfahrung
Bei Schneider (1998, S. 62) findet sich folgende differenzierte Grafik (Abb. 15), die allerdings die von Paetzold übernommenen Unterscheidungen zwischen Wahrnehmung und Erfahrung nicht übernimmt. Diese Unterscheidung ist jedoch sinnvoll gerade in pädagogischer Hinsicht, da Wahrnehmungsschulung und Reflexionsschulung durchaus unterschiedliche Felder
der ästhetischen Bildung sind, die zudem mit unterschiedlichen Methoden gestaltet werden
können. Insbesondere gehört zur Reflexion die ästhetische Urteilsbildung, die man eben nicht
bei dem spontanen Geschmacksurteil „gefällt mir/gefällt mit nicht“ belassen muss. Auch in
ästhetischer Hinsicht lässt sich das Urteilen insofern diskursiv und rational gestalten, als man
Begründungen für sein Urteil finden muss.
Kant spricht in diesem Zusammenhang von Reflexionsurteilen, und letztlich erwarten wir von
der Kunstkritik nicht bloß abschließende Werturteile, sondern die Offenlegung ästhetischer
Maßstäbe, die zu dem Urteil geführt haben.16 Dieser Ansatz, ästhetische Urteilsbildung ein
Stück weit zu durchleuchten, findet u. a. eine Stützung in der Neurowissenschaft. Diese belegt
offenbar, dass nicht nur das Unbewusste beim Menschen das Bewusste eindeutig überwiegt,
sondern ebenso das Emotionale das Rationale. Wenn es also richtig ist, dass das Ästhetische
eine gute, möglicherweise die einzige Möglichkeit darstellt, das Unbewusste und das Emotionale im Menschen anzusprechen, vielleicht sogar zu entwickeln oder zu „kultivieren“, dann
muss man um so mehr jede Möglichkeit nutzen, in der bewusste Rationalität zumindest in
Grenzen eingeführt und geformt werden kann.17
152
Document1
Abb. 15: Die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche von Aisthetik, Ästhetik und Kunstästhetik
Aisthesis
(= menschliche Wahrnehmung)
GEGENSTAND DER AISTHETIK
ästhetische Erfahrung
(= ästhetische Wahrnehmung)
nichtästhetische Wahrnehmung
(identifizierend, verstehend, evaluativ, existenziell)
GEGENSTAND DER (ALLGEMEINEN) ÄSTHETIK
ästhetische
Kunsterfahrung
(=ästhetische
Wahrnehmung
ästhetischer Kunst)
ästhetische Naturerfahrung
(=ästhetische
Wahrnehmung der
Natur)
GEGENSTAND
DER KUNSTÄSTHETIK(=KUNSTPHILOSOPHIE)
GEGENSTAND
DER NATURÄSTHETIK
ästhetische Erfahrung
(=ästhetische
Wahrnehmung)
sonstiger Sinnesdinge
nichtästhetische
Wahrnehmung
ästhetischer
Kunst
nichtästhetische
Wahrnehmung
der Natur
nichtästhetische
Wahrnehmung
sonstiger Sinnesdinge
GEGENSTAND DER
ALLTAGSÄSTHETIK
ODER EINER ANDEREN SPEZIALÄSTHETIK
153
Document1
15.05.16
Wie tief man sich im Feld des Unbewusst-Emotionalen und menschheitsgeschichtlich sehr
Alten bewegt, zeigten die Überlegungen von Hans-Dieter Gelfert. Er identifiziert vier „Uraffekte“ im Menschen: Eifersucht, Wut, Furcht, Ekel. Diese lassen sich ästhetischen Erlebnisformen zuordnen, so dass sich ein Schema ergibt (Abb. 16).
Abb. 16: Uraffekte und das Ästhetische
Pflegeverhalten
Appetenz
Eifersucht
Das Schöne
Werbungsverhalten
Submission
Aversion
Fluchtverhalten
Wut
Das Pittoreske
Das Erhabene
Furcht
Dominanz
Angriffsverhalten
Das Groteske
Ekel
Quelle: Gelfert 1998, S. 43
Affektgesteuerte Lustvorgänge, so rezipiert Gelfert die Neurowissenschaften, haben ihren
Platz im limbischen System. Auf menschlichem Niveau gelingt es „dem gebildeten Menschen“ (S. 54f.), bewusst mit diesen Prozessen der Lust und Unlust umzugehen: Er kann sich
spielerisch auf Bedrohung oder Verletzung einlassen, und dies gelingt um so mehr, je intensiver er mit der ästhetischen Gestalt umgehen kann.
Schurian (a.a.O., S. 96) bringt die genannten Begriffe und psychischen Befindlichkeiten in
folgenden komplexen Zusammenhang (Abb. 17).
154
Document1
15.05.16
Abb. 17: Vielschichtigkeit der psychischen Wahrnehmungen
Ebenen der Vielschichtigkeit
Psychische Prozesse
Komplexität
EvolutivÜberbewußtsein
symbolische Ebene
Ästhetik
Reflexive Ebene
Planung
Sozialisation
Individuation
Bewußtes Anpassen
Organismische Ebene
Ästhetische Wahrnehmung
Verlangen
Inspiration
Gestaltung
Verhalten
Verhalten
Gefühle
Stoffwechsel
Empfindung
Organelle Ebene
Intrazelluläre Prozesse
Dissipative Strukturebene
Schwingungen
Übergang innen,
außen
Information
Abnahme von Kontextualität
Zelluläre Ebene
Abnahme von Komplexität
Selbstreflexive Ebene
Psychische Tätigkeit
Empfindung
Empfindung
Orientierung
Schwingung
Kontextualität
Quelle: Schurian 1986, S. 96
Nun zurück zur ästhetischen Urteilsbildung. Natürlich ist Ausgangspunkt und ständiges Ärgernis in der Diskussion über ästhetische Werturteile der Ausspruch, über Geschmack ließe
sich nicht streiten. Offensichtlich ist dies empirisch falsch. Denn vermutlich wird über nichts
mehr gestritten als darüber, ob ein bestimmtes Kleidungsstück gefällt, ob einem die Frisur
155
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steht, ob ein bestimmtes Bild „schön“ ist etc. Geschmacksurteile sind zunächst rein subjektiv,
können also eigentlich nur vor dem Hintergrund des Erfahrungsspektrums des Urteilenden
verstanden werden. Andererseits treten sie oft auf mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie entziehen sich der formalen Logik, und trotzdem hat es immer wieder Bemühungen
gegeben, eine Logik solcher Urteile zu entwickeln.
Neben der (formalen) Logik ästhetischer Urteile kann man die Frage danach stellen, worauf
sich die Urteile eigentlich beziehen und was sie als Grundlage haben. Diese systematische
Analyse führt zwangsläufig zu einer Untersuchung der ästhetischen Erfahrung – als Basis des
Urteilens -, der Logik ästhetischer Urteile und des Gegenstands, also des (ästhetischen) Objekts. Dies entspricht daher der Gliederung der Arbeit von Otto (1993). Einen Gedanken dieser Arbeit will ich hier skizzieren. Die Ausdrucksqualität von Kunstwerken als auslösendes
Moment von Wohlgefallen spielt auch in Ottos Arbeit eine Rolle. Allerdings wird die These
vertreten (und begründet), dass nicht notwendigerweise das Urteil, dass in einem Kunstwerk
der Ausdruck eines Gefühls gelungen ist, mit dem Empfinden dieses Gefühls zusammenfallen
muss. Die Feststellung des Gelingens im Kunstwerk ist vielmehr ein kognitiver Akt, ob das
gezeigte „nachvollziehbar, aufschlussreich, einleuchtend oder „stimmig“ ist“ (ebd., S. 193).
Die Lust am Schönen wird so – paradoxerweise – zu einer kognitiven Lust, die verbunden ist
mit der Freude am Erkennen, Verstehen, Begreifen, Wiedererkennen. Ästhetische Erfahrung
ist hier also wesentlich eine kognitive Erfahrung. Einigermaßen konsequent lässt sich mit dieser Position begründen, dass der Gegenstand der ästhetischen Beurteilung die innere Struktur,
die Form des Präsentierten ist (S. 195; so auch die Ästhetik Kants).
Einen zwar auch „kognitivistischen“ Weg, eine (begrenzte) Objektivität subjektiver ästhetischer Werturteile zu finden, beschreitet Piecha (2002). Sein Ansatz zielt darauf, die individuellen Hintergründe der ästhetischen Bewertung zu entschlüsseln und dadurch intersubjektiv
verstehbar zu machen. Die Bewertungsprozesse selber, die stets mit Wahrnehmungsprozessen
verbunden sind, beziehen ihre Rationalität aus der Relevanz für das urteilende Subjekt. Dies
ist die kognitive Funktion von Emotionen, die notwendig für eine Orientierung in der Welt ist
(so ähnlich auch die aktuelle Emotionspsychologie; vgl. Goleman 1997 und de Sousa 1997).
Auch Piecha argumentiert mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, die von einer vorbewussten Bewertung aller Ereignisse durch das emotionale Zentrum im Gehirn (insbesondere
dem limbischen System) ausgehen.
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4. Das Objekt
Als Gegenstand eines ästhetischen Interesses kommen im Grundsatz zwei Arten an Prozessen
oder Dingen in Frage: Artefakte oder Prozesse, die in ästhetischer Absicht gestaltet sind (die
man ggf. noch einmal in Kunstwerke oder Design-Gegenstände unterteilen kann), und Dinge
und Prozesse des Alltags einschließlich der Natur.
Bei letzterem wird man die oben vorgetragene These modifizieren müssen, dass die ästhetische Wahrnehmung eine Wahrnehmung im Hinblick auf die Erwartung einer intendierten
Mitteilung ist. Man kann allerdings auch die Bedeutungsfrage stellen, wenn man nicht von
einer ästhetischen Gestaltungsabsicht ausgeht. So kann die Natur mit ihrem Reichtum an
Formen und Farben natürlich Objekt einer ästhetischen Betrachtung werden, die gemessen an
oben vorgestellten Kriterien der Formqualität die Natur anschaut (Böhme 1989, Seel 1991).
Doch war es immer schon Anliegen der Ästhetik, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der
ästhetischen Betrachtung ästhetischer oder natürlicher Objekte zu untersuchen. Bekanntlich
hat Kant in seiner Ästhetik der Naturbetrachtung den Begriff der Erhabenheit vorbehalten.
Die Frage nach einer intentionalen Botschaft in der Natur ist sofort mit ontologischen oder
theologischen Aspekten verbunden. Denn unterstellt man eine solche Botschaft, so unterstellt
man zugleich eine Absicht und einen Schöpfer. Auch wenn man einen solchen nicht unterstellen möchte, macht der ästhetische Blick Sinn, da handlungsentlastende Naturbetrachtung
ebenfalls zu dem Genuss an Formen führt und ebenfalls Erkenntnisse über den Zustand der
Natur – und sich selbst – gewinnen lässt: „Es geht im Grunde um das „Sichbefinden des Menschen in Umwelten“. Die durch den Menschen veränderte natürliche Umwelt wird für ihn nur
deshalb zum Problem, weil er das Destruktive dieser Veränderungen nun am eigenen Leib zu
spüren bekommt. Das bringt ihm, dem Menschen, zu Bewusstsein, dass er selbst als leiblich
sinnliches Wesen in Umwelten existiert, und zwingt ihn, diese seine eigene Natürlichkeit
wieder in sein Selbstbewusstsein zu integrieren.“ (Böhme 1989, S.).
Eine Ästhetik der Natur wurde daher in den letzten Jahren auch als ökologische Naturästhetik
entwickelt. Denn möglicherweise ist ein ästhetisches Interesse, das die Natur eben nicht unter
dem Aspekt der Verwertung und des vordergründigen Nutzens betrachtet, eine wichtige Alternative zu ihrem heutigen Verschleiß. Der Mensch auch als Wesen der Natur kann so genau
diesen Aspekt seines Seins studieren – mit durchaus beachtlichem Erkenntniswert. Körper,
Leiblichkeit, Sinne: all dies erinnert an die Naturverbundenheit des Menschen – auch als
Quelle des Leidens. Es scheint zudem, dass in den Zeiten der Biowissenschaften der Mensch
selbst als Gestaltungsobjekt ins Blickfeld gerät, so dass die Frage, was an der Natur überhaupt
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noch „natürlich“ ist, zu der wichtigsten Frage insgesamt werden kann. Gerade die Biowissenschaften und die naturwissenschaftlich vorgehenden Neurowissenschaften setzen das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften erneut auf die Tagesordnung, da sie um den gleichen „Gegenstand“ konkurrieren. Gestaltete nicht-ästhetische Produkte können ebenfalls einem ästhetischen Zugang unterworfen werden. In der Tat nutzen auch die Künste die Wirkung der Verfremdung, Alltagsgegenstände gegen ihre geplante Verwendungsweise zu verstehen – man erinnere sich an Duchamps ready-mades. Form und Gestalt werden so als
Grundmomente menschlicher Existenz erkennbar. Eine Ästhetik des Alltags kann lehren, mit
der gegenständlichen Welt bewusst umzugehen (Selle/Boehe 1986). Auch dies ist daher ein
Bereich von ästhetischer und kultureller Bildung, hier in der Dimension der Herstellung eines
bewussten Verhältnisses zu seiner räumlichen Umgebung.
Von besonderem Interesse müssen jedoch Prozesse und Produkte sein, die in ästhetischer Absicht hergestellt werden. Der Begriff des Kunstwerks hat – wie oben erwähnt – eine junge
Geschichte. Er war als Begriff kaum durchgesetzt, als schon vielfältige kunstpraktische Versuche stattfanden, die ihn umdeuten oder gar völlig destruieren wollten. Die Definition von
Kunst und Kunstwerken ist also ein laufender Prozess. Und jedes Werk ist ein weiterer Beitrag zu diesem Prozess, da Kunst als zunehmend selbstreferentieller Prozess immer auch –
und ständig mehr – mit ihren eigenen Produkten über sich selbst und ihre Entwicklung kommuniziert.
Zur Entstehung des Kunstwerkbegriffs gehört die Herausbildung der Künstlerprofession und
eines spezifisch künstlerischen sozialen Feldes. „Kunst“ ist in dieser Perspektive, was eine
ausgewählte Gruppe von Menschen dafür hält. Diese soziologisch klingende Erklärung ist
weniger skandalös, als sie beim ersten Lesen erscheinen mag. Denn das Diskursfeld, das sich
um die Definition bemüht, ist durchaus fachkundig und erledigt sein Werk vor dem Hintergrund theoretischer Reflexionen und praktischer Entwicklungen. Und: Der Diskurs geschieht
unter Bezug auf die hergestellten Dinge und Prozesse. Diese sind immer auf irgendeine Weise
sinnlich wahrnehmbar, so dass die Rede von einer „Ontologie des Kunstwerks“ Sinn macht
(über lange Jahre vor allem in zwei verschiedenen Ansätzen, die sich zum einen auf Heidegger, zum anderen auf Lukacs bezogen). Inzwischen greift man auch in jüngeren Publikationen
auf diesen Begriff wieder zurück. Dass es sinnvoll ist, von einer „Ontologie“ zu sprechen,
wurde eine Weile in frage gestellt, etwa seit die Technik leichte Reproduktionsverfahren entwickelt hat: Das „Kunstwerk in Zeiten technischer Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1963) ist
in der Tat im Hinblick auf Originalität und Authentizität zu untersuchen. Aktuell ist es die
Virtualität der neuen elektronischen Medien, die insbesondere den Dingcharakter und die Ma158
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terialität von Kunstwerken und -prozessen thematisiert
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18
(vgl. die etwas ältere Diskussion in
Oelmüller 1983). In der kunsttheoretischen Diskussion hat man die in semiotischen Ansätzen
ansonsten eher verpönte Rede über eine „Ontologie des Kunstwerks“ letztlich doch akzeptiert,
eben weil die Semiotik nach einem sinnlich wahrnehmbaren Artefakt als materiellem Zeichenträger und seiner Bedeutung (Semantik) fragt.19 Gerade die Frage nach der Bedeutung
stellt sich für jede Kunstsparte sehr spezifisch. Am schwierigsten ist diese Frage sicherlich bei
der Musik zu beantworten (Dahlhaus 1975). Doch zeigen oben vorgestellte aktuelle Antwortversuche auf die Frage nach Kunst produktive Richtungen für möglichen Antworten auf: die
Unterstellung einer Bedeutung auf der Basis von Neugierde, allerdings entlastet von der Notwendigkeit zur Einigung; Kunstwerke sind bedeutungsoffen, allerdings nicht bedeutungslos.
Die vermutlich ausführlichste Ontologie von (bildender) Kunst hat aktuell der Philosoph Hans
Heinz Holz (1996, 1997, 1997) in seiner dreibändigen „Philosophie der Bildenden Künste“
entworfen. Holz war einer der wissenschaftlichen Begleiter der legendären documenta V, so
dass die Annahme, seine Kunstphilosophie stütze sich lediglich auf die Klassik mit ihren ausgefeilten und allseits anerkannten Kunstwerken und den ebenso anerkannten „klassischen“
Ästhetik-Standards – und haben auch nur dort Gültigkeit – nicht trägt. Holz versucht, „ursprüngliche Strukturen der Sichtbarkeit als allgemeine Bedingungen der Erfahrung von Gegenständen aufzuweisen und darin die objektive Weise des Sich-Zeigens von Dingen zu erkennen...“ (Bd. V, 1997, S. 7). Den Zusammenhang zwischen Mensch (Abschnitt 3) und
(Kunst-)Werk sieht Holz in einer „Korrespondenz von anthropologischen und ontologischen
Universalien“ (ebd., S. 12), die sich zwangsläufig durch die Anthropogenese ergibt: Der
Mensch wäre nicht lebensfähig, wenn seine Denkstrukturen nicht in irgendeiner Weise mit
den Strukturen der Natur übereinstimmen würden. Allerdings braucht er immer wieder
(Selbst-)Erkenntnismittel, um die Grundlage seines Seins zu analysieren: „Ich meine nämlich
die Reflexionsformen, in denen der Mensch seine gegenständlichen Verhältnisse in den von
ihm geschaffenen Werken ausdrückt, sind durch die Daseinsformen der Materie vorgegeben
und haben also einen ontologischen Sinn.“ (ebd., S. 13). Ontologie des Seins und Strukturen
der Erkenntnis sind also nicht dasselbe, allerdings auf Grund der bloßen Tatsache, dass der
Mensch (über-)lebt, eng miteinander verbunden.
Es mag überraschen, dass selbst der Idealist Ernst Cassirer (1959, S. 45), der der geistigen
Kraft zur Formung den Vorrang gegenüber dem Materiellen gibt, diese auf das Faktum der
lebendigen Existenz des Menschen und seine Evolution zurückführt: Auch das Geistige ist
Ergebnis eines natürlichen Prozesses, ist quasi die höchste Stufe im immerwährenden Schaffungsprozess der Natur. Kunst wird – nicht nur bei Holz – also zu einem bevorzugten Unter159
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suchungsfeld für die „Funktionsweise“ des Menschen schlechthin: „Das Kunstwerk“, so Holz
(a.a.O., S. 13), „entwickelt uns Seinsmöglichkeiten; und diese Möglichkeiten sind die unendlich mannigfaltigen Varianten eines elementaren Repertoires von Strukturen.“.
Es geht also um ein Strukturanalyse des Kunstwerkes, die berücksichtigt, dass Kunstwerke
Wirklichkeit dreifach in sich aufnehmen können (ebd., S. 16):

als Abbild

als Ausdruck einer Sache, ohne mit ihr gleich zu sein

als Schaffung einer neuen Wirklichkeit,
wobei sich die verschiedenen Wirklichkeiten vielfach aufeinander beziehen.
Es geht also insgesamt darum, die spezifische Weise zu untersuchen, wie sich Strukturen der
Welt, Strukturen des Geistes, Strukturen der Begriffe und schließlich die Strukturen unterschiedlicher Symbolsysteme aufeinander beziehen, hier speziell: die Strukturen der symbolisch-kulturellen Form Kunst. Diese müssen jedoch für jede Kunstsparte und Ausdrucksform
gesondert untersucht werden. Das heißt, dass hier die allgemeine Betrachtung über Kunst
schlechthin endet und die vielfältigen Theorien der einzelnen Kunstsparten beginnen.
5. Künstlerische Tätigkeiten
Diesen Abschnitt kann ich kurz halten, da sich über künstlerische Tätigkeiten nur konkret, das
heißt bezogen auf die Praxis in jeder Kunstsparte reden lässt. Es ist also die Praxis des Musizierens, des Theaterspielens und Tanzens, des Dichtens bzw. Lesens, des Malens und Plastizierens sowie generell des Spielens zu untersuchen. In besonderer Weise ist es in pädagogischer Hinsicht wichtig zu wissen, wie sich immer reichhaltiger Praxen und Tätigkeiten im
Zuge der Ontogenese entwickeln, d.h. es sind hier die Entwicklungspsychologien der Musik,
des Tanzes etc. zuzuziehen. Dies ist dann allerdings kein Gegenstand der Kunsttheorie mehr.
Daher hier nur einige Hinweise. Die Ontogenese künstlerischer Tätigkeit ist eingebettet in die
gesamte Entwicklung des Kindes. Es sind alle Persönlichkeits-Dimensionen berührt: Die
Kognition, die emotional-motivationale und die sensumotorische Dimension. Künstlerische
Tätigkeiten hängen mit basalen Lebensfunktionen zusammen und ergeben sich aus diesen: aus
der Entwicklung der Sinne, also der – zunächst und natürlich sich entwickelnden – Entwicklung des Hörens, Sehens etc.; aus der Genese der Körpersynchronisation, der Hand-AugeOhr-Koordinierung.
Am
Beispiel
der
Musik
werden
in
einem
Handbuch
(Bruhn/Oerter/Rösing, 1993) im Hinblick auf die Ontogenese des Musikalischen des Menschen etwa abgehandelt:

Hören: vor der Geburt; in den ersten Lebensmonaten
160
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
Singen und Erkennen von Melodien

Rhythmus

Tonalität und Harmonie
Es wird der soziale Nahraum berücksichtigt mit seinem Einfluss durch Peers, Elternhaus,
Schule und Medien bis hin zur Entwicklung einer musikalischen Urteilskraft und der Genese
von musikalischen Präferenzen und musikalischem Geschmack.
Man kann künstlerische Tätigkeiten einordnen in das System zu entwickelnder Tätigkeiten.
Hier bietet sich eine tätigkeitsorientierte Psychologie an, die sich auf die russischen Psychologen Wygotzki (1974) und Leontiew (1982) bezieht und wie sie in (ehemals westlichen) psychologischen Handlungstheorien einbezogen worden ist. Hierbei zeigt sich, dass die oben als
philosophische Kategorie der Tätigkeit mit ihren einfach Strukturmomenten Subjekt – Mittel/Tätigkeit – Objekt auch in der Psychologie genutzt werden kann (Holzkamp 1983).
Rolf
Oerter
beschreibt
in
dem
bereits
erwähnten
Handbuch
Musikpsychologie
(Bruhn/Oerter/Röring) seine handlungstheoretische Verständnisweise von Musik und menschlicher Entwicklung mit den Kategorien der Leontiewschen Tätigkeitspsychologie (unter Einbeziehung von Piaget), die zudem als Grundprinzipien der Anthropologie bekannt sind (Fuchs
1999), nämlich mit den folgenden (dialektischen) Begriffspaaren:

Aneignung/Vergegenständlichung,

Subjektivierung/Objektivierung,
die er auf einer Vierfeldertafel zueinander in Beziehung setzt (a.a.O., S. 257) .
Abb. 18
Aneignung
Subjektivierung
Objektivierung
Vergegenständlichung
Musik hören, die der eigenen komponieren, improvisieren,
Stimmungslage entgegenüber erlebte Musik sprechen
kommt
den Aufbau eines Musikstü- Musik werkgetreu spielen
ckes beim Anhören rekonstruieren
Mit diesem Ansatz lässt sich Musizieren als spezifische Tätigkeit einbeziehen in das System
weiterer Tätigkeiten (Kossakowski u.a. 1977).
Abb. 19: System von Tätigkeiten
Spieltätigkeit
Arbeitstätigkeit
künstlerische Tätigkeit
Lerntätigkeit
161
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gesellschaftpolitische
Tätigkeit
All diese Tätigkeiten haben die „allgemeinen Strukturmomente“ (Subjekt-Mittel-Objekt) gemeinsam, müssen jedoch in Hinblick auf die Rolle der Intentionalität (Zweckorientierung bei
Arbeit und Politik, gemilderte Zweckorientierung beim Lernen, Zweckfreiheit beim Spiel und
den Künsten) unterschieden werden (Sieben 2001). Zudem sind alle Tätigkeitsformen sozialgeschichtlich überformt, d. h. sie finden jeweils historisch-konkret unter bestimmten Bedingungen statt, die ein Handlungsrepertoire, gesellschaftlich sanktionierte Handlungsziele, Gegenstände, Frei- bzw. Zwangsräume, Möglichkeiten, Chancen und Einschränkungen bereitstellen (Kuckhermann/Wigger-Kösters 1985). Eine Einordnung der künstlerischen Tätigkeit
in die Tätigkeitspsychologie gestattet es zudem, die entwickelten Konzeptionen der Tätigkeitsregulation auf die künstlerische Praxis anzuwenden, also zu fragen, wie sich die Momente
der
Handlungsregulation
in
diesem
spezifischen
Handlungsfeld
konkretisieren
(Kossakowski u.a. 1977, S. 111ff.) Abb. 20.
Abb. 20: Tätigkeitsregulation
Erkennen
Erleben
Streben
Behalten
Tätigkeit
Bewerten
Kontrollieren
Entscheiden
6. Der Begriff des Symbols als theoretisches Hilfsmittel der Kunsttheorie
Ein „Symbol“ verbindet eine (geistige) Bedeutung mit einem (materiellen) Substrat (Cassirer
1990). Es lässt sich auf dieser Grundlage eine Theorie der Künste innerhalb einer Theorie der
Symbole entwickeln (Abb. 21).
162
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Abb. 21: Theorie der Künste
Sigmatik: gegenständliche Referenz;
Syntax:
Form und Gestalt
materielles Substrat:
Zeichenkörper
Semantik:
Bedeutung; Deutung
Pragmatik (Produktion und Rezeption)
wahrnehmendes
Sinnesorgan:
Ohr/Mund
Auge
Körper
Haut
Mund
Nase
(bei Rezeption
und Produktion)
Sinnesaktivität:
Hören/Sprechen
Sehen
Fühlen/Tasten
Schmecken
Riechen
bei Produktion:
Gestalten
künstlerische
Symbolform/Objekt:
Sprache/Dichtung/Musik
Malerei/Skulptur/Tanz/
Theater/Gestik/Mimik/
Architektur
Erläuterungen
Sinnlich wahrnehmbar ist am Symbol die Gestaltung, das gegenständliche Substrat mit seiner
spezifischen Materialität und Gestalt. Es lassen sich physikalisch von anderen Symbolträgern
unterscheiden:

Akustisch wahrnehmbare Töne und Geräusche

Visuelles
sowie weniger bis gar nicht als elaborierte Kunstformen verbreitet

Taktiles, also materielle Oberflächenqualitäten, die durch Fühlen und Tasten erfasst werden,

Gerüche und Geschmacksrichtungen.
163
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Es ist offensichtlich, dass das Sehen und Hören und – in Grenzen – das Fühlen (etwa Ertasten
von Skulpturen) auf der rezeptiven Seite für die Künste relevant sind. Auf der produzierenden
Seite ist es entsprechend

die Herstellung von Hörbarem (Musik, gesprochene Dichtung)

die Herstellung von Sichtbarem (Bildende Kunst, aber auch Tanz, Theater und Architektur).
Der Körper als Ganzes ist beteiligt in der Architektur.
In der Formung und Gestaltung dieser sinnlichen Artefakte kommt die ästhetische Dimension
zum Ausdruck. Ästhetische Erfahrung, so Abschnitt 3, kommt jedoch erst durch die Hinzufügung von Reflexion zustande. Damit ist zum einem das Verständnis der Formsprache gemeint. Es bezieht sich jedoch auch auf die Bedeutungsdimension, die erst auf der Grundlage
von vorhandenem Wissen über mögliche Bezüge entfaltet werden kann. Wie sehr hier soziokulturelles Wissen notwendig ist, sieht man, wenn man die Versuche zum Verstehen alter
Funde bzw. von Artefakten fremder Kulturen betrachtet, also in das Feld einer archäologischen Hermeneutik übergeht.
In Hinblick auf den letzten Abschnitt lässt sich künstlerische Praxis nicht nur einordnen in
Theorien des Symbolischen, sondern auch – aus der Sicht des Subjekts – in Theorien zur (Onto-)Genese von Symbolkompetenzen.
Betrachtet man das Symbol als diejenige Relation im Semiotischen Schema (siehe Abb. 4),
die die Beziehung Zeichenträger – Bedeutung thematisiert, dann ist die Semiotik die übergreifende Theorie, die die einzelne Dimension des Symbolgebrauchs präziser benennt (wie gesehen: die Formqualitäten des materiellen Symbolträgers in der Syntax, die Rolle des SymbolGebrauchs in der Pragmatik).
Musik etwa, die im letzten Abschnitt skizziert wurde, lässt sich daher einordnen in:
164
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Abb. 22: Musik in der Semiotik
Pragmatik:
Psychologie der musikalischen Tätigkeit; produktiver und rezeptiver Umgang mit Musik; zugleich: soziale Konstitutionsbedingungen des musikalischen Feldes (i.S. von Bourdieu)
Syntax:
Entwicklung der Formaspekte in der Musik
Semantik:
„Bedeutung“ in der Musik, so wie sie in der Musikalischen Hermeneutik
untersucht wird (z. B. Dahlhaus 1975)
Die Tätigkeit, Symbole zu erfinden, also eine geistige Welt („Bedeutung“) mit einem Materiellen zu verbinden und für eine gewisse Dauer mit dieser Verbindung so zu arbeiten, dass das
Materielle das Geistige repräsentiert, ist bei Cassirer das Spezifikum des Menschen. Es ist
daher durchaus interessant zu sehen, wann in der Phylogenese diese Fähigkeit entsteht. So ist
das etwa von Ernst Haeckel formulierte „Gesetz“ von der Parallelität von Onto- und Phylogenese zwar nicht generell anerkannt, wird aber zumindest als heuristisches Instrument immer
wieder gerne genutzt (vgl. den Beitrag „Ontogeny and Phylogeny“ der beiden Herausgeber in
Lock/Peters 1996, S. 371 ff). Holzkamp (1973, S. 150 ff.) gibt den folgenden Ablauf der Entstehung von Symbolkompetenz an:

Zunächst: Vergegenwärtigung von Gebrauchswert-Antizipationen ist eng an auf stoffliche
Veränderung gerichtete Tätigkeitsmomente gebunden.

Mit der Werkzeugreproduktion ergibt sich eine immer größere Verselbstständigung und
verselbstständigte Weitergabe von Wissen.

Es entwickelt sich eine selbstständige Übertragung von Wissen über Verfahren der Werkzeugherstellung.

Dazu gehört: Allgemeine Eigenschaften der objektiven Welt, die durch Arbeit zutage treten, sind nun nicht mehr bloß praktische Umgangserfahrung, sondern werden zur vergegenwärtigten und in dieser Form tradierbaren Erfahrung.

Gebrauchswertbestimmungen, die als Gegenstandsbedeutung im Werkzeug vergegenständlicht sind, werden immer mehr als Symbolbedeutung auf den Begriff gebracht, wobei
diese Symbolbedeutung zunächst eng auf die Gegenstandsbedeutung bezogen bleibt.

Es entwickelt sich nun die Stufe des Sprachlich-Symbolischen. Ist diese Stufe erreicht,
dann geschieht die Wahrnehmung durch den Begriff hindurch.

Verständigung über Dinge und Menschen ist nun auch in deren Abwesenheit möglich.
(Ebd.).
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Man kann nunmehr untersuchen, wie die Entwicklung bei unterschiedlichen Symbolsystemen
verläuft. Zwei Themen waren dabei immer schon von besonderem Interesse: die Genese von
Sprache (gesprochene und Schriftsprache) und die Genese des Bildgebrauchs und des Zeichnens. An beiden Themen haben Ethnologen, Frühgeschichtler und Entwicklungspsychologen
gearbeitet und jeweils die kulturvergleichende, die phylogenetische und die ontogenetische
Sichtweise eingenommen. Eine besondere Rolle spielen dabei die mathematischen Konzepte
der Zahl und der geometrischen Grundfiguren, weil diese bereits zu einem frühen Zeitpunkt
Funktionen der Orientierungen in der Welt übernehmen müssen. Ich will dies hier nicht weiter verfolgen, sondern lediglich darauf hinweisen, wo und wie diese Frage der Genese von
Symbolkompetenzen weiter verfolgt werden kann. Neben diesen eher kognitiven Medien
(Zahl, Sprache) spielen dabei zunehmend nonverbale Ausdrucksmedien (Gestik, Mimik etc.)
eine Rolle, um die sich insbesondere Helmut Plessner verdient gemacht hat und die nunmehr
in der Historischen Anthropologie (Wulf 1997 mit zahlreichen Stichworten wie „Geste“,
„Rhythmus“, „Bewegung“) untersucht werden. Es liegt auf der Hand, dass gerade diese nichtdiskursiven Modi der Kommunikation und Weltbegegnung in künstlerischem Kontext von
entscheidender Bedeutung sind. Sie sind es zudem in der Soziologie, so wie sie insbesondere
Bourdieu ausgearbeitet hat: Denn die verinnerlichten Gesten, Haltungen, Bewertungen, Ausdrucksmodi etc. und die Differenzen in den Ausprägungen bei bestimmten sozialen Gruppen
(„Habitus“) formieren entscheidend das vielfältig gegliederte soziale Feld und entscheiden als „feine Unterschiede“ (Bourdieu 1987) – über den sozialen Rangplatz der betreffenden
Person (zur „Geste“ und ihrer Rolle als Mittel der Sinngebung im sozialen Prozess, die mimetisch verstanden werden muß, siehe den Beitrag von Wulf in Wulf 1997, S. 516 ff.). Dieses
„gestische Körperwissen“ (ebd., S. 524) entsteht weit gehend unabhängig vom Bewusstsein
(siehe die Ausführungen zu den Neurowissenschaften in Abschnitt 2; vgl. Roth 1997, 2001).
Man eignet es sich in sozialen Situationen an, es verdichtet sich zu einem „Habitus“ (Bourdieu) und prägt den – ebenfalls weit gehend unbewusst ablaufenden – „praktischen Sinn“
(Bourdieu) als alltagsrelevantes Orientierungsinstrument des Menschen. Auch hier glaube ich,
dass zivilisationsgeschichtliche Untersuchungen zur Rolle der Gestik und Mimik (Elias), eine
Philosophie der Gestik (Plessner, Flusser), eine Neurowissenschaft des gestischen Körperwissens (Roth) und eine Soziologie der „feinen Unterschiede“ in Gestik und Mimik (Bourdieu)
letztlich zusammenlaufen und eine Basis gerade für die „performing arts“ und die zugehörige
Pädagogik bieten (Belgrad/Niesyto 2001).
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Ein letzter Hinweis. Symbole stehen zwischen Mensch und Welt, sie sind Mittel (also „Medien“) des Weltzugangs. Jede Symboltheorie ist daher eine Medientheorie im allgemeinen Sinne.
Ernst Cassirer unterscheidet unterschiedliche symbolische Formen, also spezialisierte Bereiche von Symbolen, die jeweils das Ganze der menschlichen Existenz (die „Welt“) in den
Blick nehmen, dies jedoch auf je unterschiedliche Weise tun. Cassirer spricht von einem
„Brechungsindex“ einer jeden symbolischen Form. Bildende Kunst nimmt die Welt über
„Bilder“ wahr, Sprache hat „Wörter“ und „Sätze“ zur Verfügung, Religion über Vorstellungen und Ideen von „Gott“. Wissenschaft hat spezifische wissenschaftliche Begriffe, etwa den
Begriff der Zahl. Es gibt also je abgrenzbare Möglichkeiten, sich mit den symbolischen Formen ein Bild von der Realität (also „Wirklichkeiten“) zu schaffen (Abb.23). Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman stützt sich in seiner Symboltheorie auf diesen Gedanken der
„Weisen der Welterzeugung“.
Das Verständnis von Symboltheorie als Medientheorie findet sich auch in der ambitionierten
mehrbändigen Geschichte der Medien von Werner Faulstich (1996, 1997, 1998). Hier (ebenso
wie knapper bei Hörisch 2001) wird Mediengeschichte als Kulturgeschichte geschrieben, die
von Ritualen, von Tanz, Theater und der Höhlenmalerei über die Schrift- und Buchkultur bis
zu den neuen elektronischen Medien reicht (besser – bei Faulstich – reichen wird; bislang ist
er erst in der frühen Neuzeit angekommen). Das „Symbol“ verbindet also Medien- mit Kulturgeschichte, Medien- mit Kulturtheorie und schließlich Medien- mit Kulturpädagogik (hierzu Belgrad/Niesyto 2001). Spätestens seit der documenta XI ist zudem klar geworden, dass
auch die Kunsttheorie heute nicht mehr ohne Medienästhetik verstanden werden kann (siehe
hierzu Reck 1991, 1994; Schell 2000).
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Abb. 23: Symbolische Formen als Weisen der Welterzeugung
unterschiedliche Wirklichkeiten
sprachliche
Wirklichkeit
Sprache
Energien zur
Schaffung
unterschiedlicher
(ideeller)
Symbolsysteme
als
Formen
des Erkennens der Realität/der
Schaffung
spezifischer
Wirklichkeiten
religiöse Wirklichkeit
Religion
mythologische
Welt
Mythos
Mensch
Kunst
ästhetische
Wirklichkeit
Wissenschaft
Technik
Wirtschaft
Staat
wissenschaftliche Wirklichkeit
Welt der Technik
Bezug zur
realen
Welt über
spezifischen
Brechungsindex der
symbolischen
Formen
D
I
E
W
E
L
T
Welt der Wirtschaft
politische Welt
Kultur: Summe der symbolischen Formen
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1
Es gibt immer wieder Werke, die das Geschaffene systematisch dem Auge des Betrachters entziehen: durch
Eingraben, Einschließen, Verdunkeln etc. Aber auch hier wird offensichtlich die (Nicht-)Wahrnehmbarkeit thematisiert.
2
Siehe etwa das Themenheft „Postmoderne – Eine Bilanz“ des MERKUR, Heft 594/595, Sept./Okt. 1998.
3
Ich stütze mich dabei auf vorangegangene Überlegungen zur Ästhetik und Kunsttheorie in Fuchs 1999, 2000
(Macht der Symbole) und den Aufsatz „Wozu Kunst?“ (zu finden auf der Homepage www.bkj.de, Schlüsselkompetenzen, Texte.
4
Es gibt in unterschiedlichen Disziplinen (u.a. Philosophie, Soziologie, Psychologie) eine Diskussion über die
Abgrenzung verwandt klingender Begriffe wie Aktion, Handlung, Tätigkeit, Praxis etc. Ich gehe hier auf dies
Unterscheidung nicht ein (siehe auch Abschnitt 5).
5
Hierbei kommt es gelegentlich zu Konkurrenzen über die jeweiligen „Zuständigkeiten“ zwischen Ästhetik als
philosophischer Disziplin und den einzelnen Kunstwissenschaften (vgl. Schmücker 1998, S. 9ff).
6
Dies schließt nicht aus, dass Sujet und Inhalt ebenfalls zu Kunstrevolutionen führten: Die Entdeckung des Porträts etwa – gerade von Nichtadligen – in der Renaissance oder die Entdeckung der Armen und Tagelöhner, etwa
bei Courbet.
7
Man sollte hier im Auge behalten, dass es neben intendierten Wirkungen (eben „Funktionen“) auch unbeabsichtigte Wirkungen gibt. Der Wirkungsbegriff ist auf alle Fälle weiter als der Funktionsbegriff.
8
In einem eher alltäglichen Sprachgebrauch ist die Rede von der „Sprache der Kunst“ – die zudem international
sein soll – durchaus verbreitet.
9
Dieser Gedanke des Freiheitserlebens taucht in vielen Ästhetik-Konzeptionen auf, oft verbunden mit dem Aspekt, „Freiheit“ als zutiefst menschliche Daseinsform zu reklamieren. So findet Martin Seel (2000) in dem Erscheinenden als Gemeinsames aller ästhetischen Objekte dessen Ausgangspunkt für seinen Ästhetik-Entwurf.
Und dieses „Erscheinen“ erfassen die Sinne als „genuine Art der menschlichen Weltbegegnung“ (ebd., S. 9).
„Die Aufmerksamkeit für das Erscheinende ist so zugleich eine Aufmerksamkeit für uns selbst.“(ebd.) Kunstbegegnung ist daher eine qualifizierte Weise der Selbstbegegnung des Menschen. Im Kunsterlebnis, so die These,
erlebt der Mensch insbesondere, wie er eigentlich sein könnte.
10
Es ist bereits an dieser Stelle mit Plessner darauf hinzuweisen, dass diese – wie jede andere – Funktion bzw.
Wirkung von Kunst von der Art und Weise abhängt, wie ästhetische Zeichen menschlichen Ausdruck verkörpern, also dass sie es auf spezifisch ästhetische Weise tun: die Form ist entscheidend.
11
Auch dies ist ein klassischer philosophischer Topos, der Erkennen als Zusammenspiel von Wahrnehmung und
Reflexion, von Sinnlichkeit und Begriff erklärt.
12
Dass die Sinne insgesamt reflexiv sind, ist eine Erkenntnis der philosophischen Anthropologie Plessners.
13
Dies hat insbesondere der Konstruktivismus immer schon gesagt: von dem Konstruktivismus bei Kant über die
Psychologie Piagets, den mathematisch-philosophischen Konstruktivismus der „Erlanger Schule“ (Paul Lorenzen) bis hin zu den verschiedenen Varianten im Anschluss an Maturana (vgl. etwa Merten 1994).
14
Man kann diese Konzentration auf Wissen, seine Herkunft, Gültigkeit und Relevanz als Thema der documenta XI verstehen; vgl. Fuchs 2002 (documenta).
173
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15.05.16
15
Auch hierin drückt sich ein klassisches anthropologisches Gesetz aus: Die Wirksamkeit des Menschen reicht
so weit, wie seine (Arbeits-, Erkenntnis- etc.)Mittel reichen.
16
Die Walser–Reich-Ranicki-Debatte hat u. a. auch diese Fassette, dass die Kunstkritik als bloße Vermittlungshilfe von Literatur sich in den Vordergrund schiebt und die eigentlich produktive Tätigkeit des Autors hoffnungslos überlagert. Weitere Facetten werden beleuchtet in meiner Analyse „Tabubrüche“; Fuchs 2002.
17
Die „Logik“ ästhetischer Wertung untersuche ich in Fuchs 1994, S. 41ff; ethisch-moralische Werte sind Gegenstand in Fuchs 2002 (Ethik). Es handelt sich in beiden Fällen von Bewertung um die Anerkennung von Relevanz im Hinblick auf die Interessenslage des Individuums, also um eine Inbeziehungsetzung objektiv vorhandener Eigenschaften des Dinges/Prozesses (soweit sie erkannt werden) mit subjektiven Bedürfnislagen. Vgl. auch
Fuchs 2000 (Macht der Symbole), Abschnitt 3.1.2.
18
Zur wiederentdeckten „Materialität der Kommunikation“ nach ihrer virtuellen Auflösung siehe etwa Gumbrecht/Pfeiffer 1995.
19
Es ist sinnvoll, an die Unterscheidung zwischen einer existierenden Realität (das „Ding an sich“ bei Kant) und
„Wirklichkeiten“ zu unterscheiden. Letztere konstruiert der Mensch – allerdings nicht willkürlich – mit Hilfe
unterschiedlicher symbolischer Formen, so bei Cassirer, so bei den Konstruktivisten und so auch bei Goodman
1990.
174
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Künste wirken – aber wie?
Überlegungen zur Evaluation in der Kulturpolitik
Die Frage nach der Wirksamkeit ist heute in aller Munde. Medikamente sollten wirksam sein,
politische Reformen sollten es sogar nachhaltig sein. Auch für die Künste – zumindest für die
Künstlerinnen und Künstler – ist Wirksamkeit durchaus nicht fremd: SchriftstellerInnen sind
nicht unempfindlich gegenüber den Verkaufszahlen ihrer Werke, MalerInnen hätten gerne die
öffentliche Aufmerksamkeit für ihre neue Gestaltungsweise, SchauspielerInnen und Regisseure mögen ein gespaltenes Verhältnis zur Theater- oder Filmkritik haben: Die Lektüre der
vielleicht noch druckfrischen Zeitung vom Morgen nach der Premiere ist trotzdem Pflicht;
immerhin auch ein Indikator dafür, dass man wirkungsvoll agiert hat.
Obwohl also die Frage nach Wirksamkeit durchaus zum Kunstdiskurs gehört, tut sich die Kulturpolitik insgesamt recht schwer mit Fragen der Evaluation. Dabei ist es nicht nur die Frage
danach, wie eine solche Evaluation stattfinden könnte, die mehr ist als die Diskussion von
Einschaltquoten, Platzauslastung oder Auflagenhöhe: Es ist of genug die These, dass die Frage nach Wirkungen oder sogar Funktionen der Kunst insofern zu nahe tritt, als man ihre „Autonomie“ gefährdet sieht. Kunst sei das Nichtgreifbare, das Unbeschreibliche, und jeder Versuch, etwas genauer wissen zu wollen, wozu denn Kunst überhaupt gut sei, ist ein Sakrileg.
Das Problem für die Kulturpolitik besteht heute darin, dass man im politischen Streit über
Fördermittel immer weniger Rücksicht auf diese Empfindlichkeit nimmt. Nun bin ich außerdem der Meinung, dass unter dem Signum der Kunstautonomie sich zwar zum einen die guten
Gründe noch verbergen, die Immanuel Kant seiner Zeit dazu veranlasst haben, von einer
„Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ in Hinblick auf die Künste zu sprechen und damit philosophisch die These von der Autonomie der Künste begründet zu haben. Zum anderen versteckt
sich jedoch eine Menge an Geschichtsblindheit und bisweilen sogar Denkfaulheit hinter dem
vorgeschobenen Argument, die Frage nach Wirkungen verletze die Kunstautonomie. Daher in
einigen groben Strichen eine Skizze der historischen Entwicklung. Bereits Friedrich Schiller
nutzte die Vermutung, im Bereich einer künstlerisch-ästhetischen Praxis sei („autonom“, also
wörtlich „selbstgesetzgebend“) Freiheit so zu erleben, dass man auf diese dann auch bei der
politischen Gestaltung des Gemeinwesens nicht mehr darauf verzichten könne und entsprechende politische Reformen vorantreibt. Die Loslösung aus der (schlechten) Gesellschaft war
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15.05.16
also Bedingung für eine politisch-emanzipatorische Hoffnung in die („autonome“) Kunst.
Offenbar ist diese Dialektik schwer zu verstehen: Dass gerade das scheinbar Unpolitische an
der Kunst höchste politische Bedeutung hat.
Die freiheitlich-demokratische Organisation der Gesellschaft ließ bekanntlich im 19. Jahrhundert in Deutschland auf sich warten. Als Ersatz für eine fehlende politische Partizipation schuf
sich das Bürgertum mit dem Aufbau eines dichten Netzes von Kunsteinrichtungen (Konzerthäusern, Theatern, Museen, aber auch entsprechend gestalteten öffentlichen Orten in den Gemeinden) die Möglichkeit zur Einwicklung einer eigenen Identität. Der Kunstbetrieb rund um
ein Verständnis von „autonomer“ Kunst, rund um die inzwischen geadelte „Weimarer Klassik“ leistete dies. In seinen imponierenden drei Bänden zur Geschichte des 19. Jahrhunderts
hat der Historiker Thomas Nipperdey diese Rolle des sich entwickelnden Kunstbetriebes ausführlich beschrieben. Erstaunlich ist, wie sich trotz dieser leicht zugänglichen Empirie die
undifferenzierte Ideologie der „Kunstautonomie“ hat so halten können, dass bis heute Denkverbote in Sachen Wirksamkeit ausgesprochen werden. Der Begriff der „Kunst“ war und ist
in Deutschland – auch im internationalen Vergleich – Teil des berühmt-berüchtigten Sonderwegsbewusstseins. Die Entwicklung eines spezifischen Bildes eines „Künstlers“, der all diese
Hoffnungen und Enttäuschungen des Bürgers hat tragen müssen, gehört zu dieser These einer
Autonomie der Kunst ausdrücklich dazu (vgl. W. Ruppert, Der moderne Künstler, Frankfurt
1998). Damit soll – um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen – nunmehr nicht aus
Kunst ein Nachrichtenbulletin, ein Instrument politischer Agitation gemacht werden. Im pädagogischen Gebrauch der Künste weiß man es besser: Der Eigensinn der Künste, das SichEinlassen auf das Ästhetisch-Gestalterische ist die zentrale Ursache für die bildende Kraft von
Kunst, für ihre pädagogische Wirksamkeit also. Vermutlich liegt es an dieser Einsicht, dass es
in der Pädagogik inzwischen gelungen ist, die Frage der (Bildungs-)Wirksamkeit der Künste
auch empirisch aufzugreifen. Dieses war allerdings auch dringend nötig, da die methodisch
hochentwickelten Evaluierungsverfahren – etwa im Kontext der PISA-Studien – auch für die
Evaluation eines Umgangs mit Künsten eine Herausforderung darstellen. Eine solche empirische Zugangsweise gelingt allerdings nur dann, wenn man den zu untersuchenden „Gegenstand“ (Bildung, Kunst) nicht auf ein solch hohes theoretisches Podest stellt, dass man mit
alltagstauglichen Methoden kaum noch heranreicht. In Deutschland ist dies besonders schwierig, wie schon der renommierte Friedensforscher Johann Galtung bei seiner Unterscheidung
unterschiedlicher nationaler intellektueller Stile festgestellt hat: Der „teutonische Stil“ liebt
hochabstrakte Begriffe, von denen aus dann in kleinschrittiger Ableitung der Weg in die Praxis gesucht – und oft genug verfehlt wird. Sehr viel pragmatischer ist der angelsächsische Stil,
176
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der sich behutsam und schrittweise – und dabei durchaus theoriegeleitet – auch komplexe
Zusammenhänge von der Praxis aus schrittweise erschließt. Daher ist es kein Wunder, dass –
neben den schon klassischen Studien von Pierre Bourdieu – die vermutlich ergiebigste empirische Studie zur Wirkung der Künste in die Gesellschaft aus Großbritannien kommt (F. Matarosso: Use or Ornament. The Social Impact of Participation in the Arts. Comedia
1997/2000). Mit allen zulässigen (quantitativen und qualitativen) empirischen Methoden werden kulturpolitische Strategien evaluiert, wobei ein eindrucksvoller Katalog von 50 (!) Wirkungen als nachgewiesen gilt. Diese Wirkungen werden u. a. unter die Rubriken „Persönliche
Entwicklung“, „Soziale Kohäsion“, „Community Empowerment“, „lokale Identität“ u. a. subsumiert.
Eine solche Evaluierung ist natürlich auch in Deutschland möglich und wurde in Ansätzen
auch bereits durchgeführt. (Ein Überblick findet sich in Fuchs/Liebald (Hg.): Wozu Kulturarbeit? BKJ 1995). Es ist denkbar, die Auswirkung einzelner Gesetze (in den USA ist die Evaluation aller verabschiedeten Gesetzte verbunden mit einer zeitlichen Befristung längst Usus),
einzelner Förderprogramme, kulturpolitischer Strategien – und dies auf allen Ebenen des
Staates – ebenfalls auf diese Weise zu überprüfen. Eine Ängstlichkeit im Kulturbereich müsste m. E. nicht gegeben sein, da – wie die englische Studie zeigt – sich durchaus eine Fülle
unserer oft arg vollmundig vorgetragenen Wirkungsbehauptungen im Grundsatz bestätigen.
Kulturpolitisch bedeutete jedoch ein solcher Paradigmenwechsel weg von bloßer Behauptung
hin zur überprüfbaren Wirkungsdiskussion einen erheblichen Rationalitätsgewinn, was vielleicht für die Künste weniger relevant ist, für die (Kultur-)Politik allerdings einen Professionalisierungsschub bedeuten würde.
Hinweis: Neben den im Text angegebenen Titeln verweise ich auf meine Skizze „Die Formung des Menschen“ (enthält die Liste der 50 Wirkungen aus der englischen Studie) und auf
den Text „Kulturfunktionen der Künste“ auf der Homepage des Kulturrates
(www.kulturrat.de) mit zahlreichen weiteren Literaturangaben zur Wirkung von Kunst und
zur Evaluierbarkeit von Kultur(politik).
177
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TEIL 2: BERICHTE, REZENSIONEN, KONTEXTE
September 2002
Kunst + Politik = Kulturpolitik?
Herausforderungen der documenta XI für die aktuelle Politik
Die Bewertung der documenta XI ist äußerst widersprüchlich: Für die einen ist diese documenta der Beleg für den Niedergang der Bildenden Kunst. Während man trefflich in der Literatur über Martin Walser oder in der verwandten Architektur über die Neuerrichtung des
Stadtschlosses in Berlin streitet und dabei sehr viel Kluges und weniger Kluges über das Verhältnis von Kunst, Gesellschaft und Politik austauscht, scheint diese documenta der Beleg für
die gesellschaftliche Unwirksamkeit von Kunst zu sein. Das mag überraschen. Denn noch nie
hat sich seit der legendären documenta V die Kunst so sehr gesellschaftlichen Fragen geöffnet. Man betrachte nur einmal die Zentralbegriffe der fünf Plattformen (vier große Diskussionsveranstaltungen weltweit und die Ausstellung in Kassel als 5. Plattform). Es fehlt kaum
etwas, was eine kritische Gesellschaftsanalyse, Kulturtheorie und Politik heute diskutieren:
Demokratie als unvollendeter Prozess, Rechtssysteme, Kreolisierung, Kolonialisierung und
Postkolonialismus, Diaspora und Vertreibung, Xenophobie, Euro- und Androzentrierung und
natürlich als großer Rahmen die Globalisierung. Genau, sagen die Kritiker. Die documenta sei
zu einem „Sachbuch mit Abbildungsteil“ (so Hanno Rauterberg in der ZEIT vom 13.06.2002)
oder zu einem „sozialen Archiv“ (Ingo Arend im FREITAG 38 vom 13.09.02) verkommen.
Sie stelle sich als Bebilderung der internationalen Antiglobalisierungsbewegung Attac dar, bei
der der Besucher letztlich lieber zu dem angebotenen Eis (wahlweise aus Meer-, Brack- oder
Süßwasser, auch eine Kunstaktion) greift und an der Fulda entlangschlendert: man wolle ja
schließlich auch mal was Schönes sehen, so der Kasseler Hochschullehrer Rolf Lobeck in
FREITAG vom 09.08.2002.
Aus der Sicht der Kulturpolitik müssen die verschiedenen Rezeptionsformen und Lesarten
interessieren, die gerade diese documenta ermöglicht. Geht es hier doch nicht nur um eines
178
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der größten und traditionsreichsten bildkünstlerischen Ereignisse weltweit zumindest im Hinblick auf Trends, Selbstverständnis und Entwicklungen: Immerhin hatte bislang jede documenta eine große Definitionsmacht darüber, was jeweils „Kunst“ bedeutet. Insbesondere wurde in Kassel immer schon verhandelt, ob und wie Kunst die Kulturfunktionen der Deutung der
Lebenswirklichkeit, der Präsentation von Sicht- und Bewertungsweisen menschlicher Lebensbedingungen wahrnehmen will und kann. Denn dieser ganz traditionellen Aufgabe von
Kunst, Mittel der Selbstreflexion des Menschen zu sein, fühlt sich der künstlerische Leiter –
bei allem Respekt vor ihrer Schwierigkeit – Okwui Enwezor verpflichtet. So schreibt er im
Vorwort des 620 Seiten umfassenden, drei Kilogramm schweren Katalogs: „Fünfzig Jahre
nach ihrer Gründung sieht die documenta sich erneut mit den Gespenstern einer unruhigen
Zeit fortwährender kultureller, gesellschaftlicher und politischer Konflikte, Veränderungen,
Übergänge, Umbrüche und globaler Konsolidierungen konfrontiert. Wenn wir diese Ereignisse in ihrer weitreichenden historischen Bedeutung bedenken und ebenso die Kräfte, die gegenwärtig die Wertvorstellungen und Anschauungen unserer Welt gestalten, wird uns gewahr,
wie schwierig und heikel die Aussicht der aktuellen Kunst und ihre Position bei der Erarbeitung und Entwicklung von Interpretationsmodellen für die verschiedenen Aspekte heutiger
Vorstellungswelten sind.“
Hier äußert sich also eine gewisse Skepsis, ob und wie Kunst heute überhaupt noch in dieser
Hinsicht funktionieren kann. Diese documenta wird so zu einem praktischen Forschungsprojekt über Begriffe und Möglichkeiten von Kunst in der heutigen Welt.
Für eine Kulturpolitik, die sich in den neunziger Jahren zu großen Teilen als Spezialdisziplin
der Betriebswirtschaftslehre verstanden hat, ist eine solche Ambition durchaus ein Schlag ins
Gesicht, wird sie doch auf diese Weise von KünstlerInnen und KuratorInnen daran erinnert,
dass eine Kunst- und Kulturpolitik, die sich nur noch für die Optimierung der rechtlichen
Rahmenbedingungen, der politischen Akzeptanz und des ökonomischen Erfolgs interessiert,
den Kontakt zu ihrem genuinen Gegenstand verloren hat – und damit letztlich die Legitimität
ihres Arbeitsgegenstandes aufs Spiel setzt. Aber auch eine Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik muss zur Kenntnis nehmen, dass die KünstlerInnen nicht unbedingt auf die Kulturpolitik
warten, wenn es um die Selbstvergewisserung in dieser Welt geht. Denn diese documenta
präsentiert nicht bloß umfassend „Weltkunst“ im Sinne einer Kunstproduktion aus allen Teilen der Welt, sie zeigt sich zudem unglaublich informiert darüber, welche Theorieangebote
zum Verständnis der aktuellen Weltlage in verschiedenen Disziplinen gemacht werden. So
mag man intensiv weiter diskutieren, welchen Ertrag diese documenta für die Kunstentwick179
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lung hat: Für die Kulturpolitik ist sie in jedem Fall ein Lehrstück und ein Erprobungsfeld für
die eigene Relevanz, denn sie setzt Maßstäbe dafür, wie man nicht nur künstlerisch, sondern
auch theoretisch die Auseinandersetzung über die eigene Rolle in der Welt wahrnimmt.
Man kann etwa gerade in Deutschland von ihr lernen, dass Gesellschafts- und Kulturdiskurse
sowohl wissenschaftlich als auch in den Künsten selbst nicht mehr national geführt werden
können (vgl. meinen Beitrag „culture unlimited“ in PuK, Ausgabe 2/02). Dies sagt sich leicht
und dies mag man als inzwischen verbreitete Allerweltserkenntnis abtun. Doch zeigen die
Ausstellungsobjekte mit Eindringlichkeit, was eine imperialistische Kulturpolitik im Gefolge
der Kolonialisierung angerichtet hat – und welche produktiven Strategien es seitens der unterdrückten Kulturen gegeben hat, ein Stück weit sich selber behaupten zu können. Hierbei ist
einer der Zentralbegriffe dieser documenta – inzwischen auch ein wichtiger Begriff in einer
Kulturtheorie, die nicht aus der Sicht des reichen Westens betrieben wird – ausgesprochen
ergiebig: Postkolonialität. Gerade die Perspektiven der WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen aus ehemaligen Kolonien, ihre Suche nach einer eigenen Identität und Sprache angesichts
einer brutalen Unterdrückung durch die Kolonialmächte scheint ein gutes Rüstzeug für solche
Diskurse zu liefern die wir heute führen müssen, wenn es um die Bewältigung der kulturellen
Globalisierung geht. Denn hierbei ist es gut möglich, dass aus ehemaligen Tätern nunmehr
Opfer geworden sind, die dankbar Widerstandsstrategien der ehemaligen Opfer übernehmen
können. Es geht heute um die Bewältigung einer unvermeidlichen Globalisierung, die die
Frage nach dem Lokalen auch als Frage nach kultureller Identität, Heimat, Lebensweise und
Tradition stellt. Der Kampf um kulturelle Identität ist heute ein weltweiter Kampf gegen neue
Kolonialisierungstendenzen, die mit der Globalisierung verbunden sind und die heute auch
die ehemaligen Kolonialmächte betreffen. Hierbei haben die Menschen aus den ehemaligen
Kolonien einen Denkvorsprung von einigen Jahrzehnten, der produktiv von allen anderen
genutzt werden kann, wenn man etwa fragt: Wie vergewissert man sich seiner selbst, wie sichert man vorhandene, vielleicht von Zerstörung bedrohte Wissensbestände? Damit könnte
auch ein Ausweg aus einer Krise des westlichen Selbstbewusstseins gesehen werden, das inzwischen heftig an dem Widerspruch zwischen seiner expansiven Machtbestrebung und der –
am heftigsten am 11. 9. 2001 erlebten – Machtlosigkeit leidet. Das Unbehagen an der Zivilisation, das gelegentlich reaktionäre Blüten treibt (vgl. meinen Artikel „Tabubrüche“ in PuK
3/02, S. 1) könnte in den Kunstwerken und den Theorieangeboten der documenta Verständnishilfen finden, die die westliche „Angst vor der Ohnmacht“ (so der Psychoanalytiker HorstEberhard Richter in seinem letzten Buch) nehmen kann.
180
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Eine ganze Reihe von Kunstwerken und Ausstellungsobjekten der documenta setzt sich mit
solchen Fragen auseinander, und es ist kein Wunder, dass in Berichten über Kassel immer
wieder dieselben Namen fallen. George Adiagbo aus Benin zeigt etwa sein persönliches Lebensarchiv, in dem eine scheinbar wilde Mixtur kultureller, auch und vor allem kulturindustrieller Artefakte rund um seinen Einbaum angeordnet sind. Frédéric Bruly Bouabré, der sich
selbst Cheik Nadro – der, der nicht vergisst – nennt, ist gleich mit aberhunderten postkartengroßen Piktografien vertreten, in denen er Figuren und Bilder von Dingen des Alltagslebens
und der Mythologie mit ihren französischen Bezeichnungen, aber auch mit gefundenen und
erfundenen Sprachzeichen versieht. Er schafft so ein kulturelles Gedächtnis, das – ähnlich wie
bebilderte Wörterbücher – Verbindungen zwischen ganz unterschiedlichen Sprachformen und
Zeichensystemen herstellt. Systematisch und enzyklopädisch sind auch die Werke westlicher
KünstlerInnen: Die fast manisch anmutenden codierten Archive der Hanne Darboven, die
geradezu im Zentrum der documenta stehen und zu denen es regelmäßig Konzerte mit ausgeklügelt strengen Vertonungen dieser codierten Systeme gibt.
Wie tragfähig sind unsere Wissenssysteme, wie leistungsfähig sind die Bild- und Schriftsprachen, wenn es um Bewahrung, Weitergabe und Entwicklung von Wissen geht? Viele Antworten sind geradezu post-postmodern: nicht mehr die Ästhetik als das völlig „Andere der Vernunft“, aber gerade auch keine bloße Rückkehr zu dem Fortschrittsoptimismus der Moderne.
Denn „Moderne“ heißt globaler Kapitalismus, heißt ausgeklügelte Überwachungssysteme,
heißt Gleichschaltung der Sinne. Zu all diesem gibt es eindringliche Kunstwerke, die auch bei
Vorwarnung unter die Haut gehen. Bemerkenswert ist jedoch die Aufrechterhaltung einiger
Prinzipien der frühen Moderne: das Enzyklopädische und Systematische etwa. Es geht in vielen Kunstwerken um Ordnung, sicherlich auch um die Ambivalenz einer aufgezwungenen
Ordnung als menschenfeindlicher Macht, aber auch um die anthropologische Notwendigkeit
von Ordnung für den Menschen, zur Strukturierung seines Lebens und seiner Welt. So wird
diese documenta zwar zu einem eindrucksvollen Beleg für die „Ambivalenz der Moderne“ (Z.
Bauman), für ihre zivilisatorischen Errungenschaften ebenso wie für die subtilen Unterdrückungssysteme, die sie mit sich gebracht hat. Sie ist keineswegs bloß antikapitalistisch, antimodernistisch oder Teil einer Antiglobalisierungsbewegung. Man spürt vielmehr das Ringen
um die Möglichkeit einer menschlichen politischen Ordnung, wobei man weiß, dass es ein
einfaches Zurück nicht geben wird. Dies zeigt sich bei den Kuratoren etwa an dem gemeinsamen Bezug auf die Analyse der „neuen Weltordnung“, die Hardt/Negri in ihrem Buch
„Empire“ vorgelegt haben. Präzise wird dort verfolgt, welchen Weg die Entwicklung der politischen Machtausübung gegangen ist in – durchaus spannungsvoller – Beziehung zur Ent181
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wicklung der Ökonomie. Vielleicht sind die Ansätze einer neuen (politischen) Weltordnung in
Zeiten der Globalisierung schon erkennbar. Die Kunstobjekte der documenta beanspruchen
nicht, solche Visionen aufzuzeigen. Wohl aber setzen sie sich mit unseren Möglichkeiten auseinander, vernünftige Visionen zu entwickeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Wissen.
Kunst will Wissen über Wissen, vermeintliches Wissen und Nichtwissen liefern. Künstlerinnen und Künstler zeigen dies auf dieser documenta mit großer Eindringlichkeit. Denn Wissen
schafft Orientierung in der Welt – doch wie weiß ich, was Wissen ist und woher es kommt?
Die Sinne als Quelle des Wissens lügen, so sagte es schon der Maler Georges Braque am Ende des 19. Jahrhunderts und markierte das Ende der gegenständlichen Malerei. Dieser Topos
des Lügens, die Thematisierung von Wahrheit in Repräsentationen und Darstellungen findet
sich als massive Kritik am „Retinalen“, also am Sehen und Sichtbaren etwa in den Überlegungen des Kurators Sarat Maharaj in seinem Katalogbeitrag. Die alten und neuen technischen Medien, überall präsent auf der Ausstellung, lügen sicherlich noch mehr. Wie kann man
angesichts dieses notwendigen Misstrauens gegenüber den Sinnen überhaupt noch Leben dokumentieren, Ereignisse zeigen, Probleme zur Anschauung bringen? Die Künste konnten der
Wirksamkeit ihrer Methoden noch nie so unsicher sein wie heute, da die Sinne vielfach verstellt sind. Nicht nur die Augen werden manipuliert, auch Ohren, Nase, Tastgefühl. Eine Konsequenz ist es für KünstlerInnen, sich zu den Menschen selbst zu begeben, mit ihnen eine Zeit
lang zusammen zu leben, ihre Lebenswelt zu teilen, so wie es als Teilprojekt der documenta
der Schweizer Thomas Hirschhorn im Kasseler Norden gemacht hat. Und trotz der unaufhebbaren Unsicherheit ist Wissen notwendig. Eine produktive Konfrontation von unterschiedlichen Wissensformen bietet diese documenta insgesamt: vier vorangegangene Theoriesymposien in unterschiedlichen Weltregionen, quasi völlig ohne Kunst, eine wuchtige Kunstausstellung und ein Katalog, der in den Theoriebeiträgen der KuratorInnen und weiteren Mitstreitern
kaum Wünsche und Ansprüche offenlässt. Es ist also auch ein Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Wissensformen, bei dem Wissenschafts- und Alltagswissen, Wissen aus verschiedenen Teilen der Welt, altes und neues Wissen miteinander konkurrieren.
Postkolonialität, Kreolität, kulturelle Identität sind schwierige abstrakte Begriffe. Sie sind
jedoch auch mit Händen und Sinnen erfassbare Lebenswirklichkeiten. Die Werke der documenta zerstören sicherlich immer wieder Gewissheiten – das wollte auch die Postmoderne.
Sie wollen auch immer wieder neue Gewissheiten schaffen. An dieser Stelle geht die documenta über die bloß destruktive Dimension der Postmoderne hinaus.
Diese documenta ist ein Frontalangriff auf Sinne und Intellekt – sofern man sich darauf einlässt. Denn dies ist – auch kulturpolitisch – bedeutsam: Kunst entsteht letztlich durch den Be182
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trachter und seine Rezeption. Dies ist auch ein Thema der KuratorInnen und der KünstlerInnen. Kein Wunder also, dass die Klassiker dieser Auffassung von Kunst bzw. der radikalen
Infragestellung des Kunstbegriffs insgesamt, also etwa Walter Benjamin bzw. Marcel
Duchamp – zu den am meisten zitierten Autoren/Künstlern gehören. Enwezor wollte die Dominanz des Westens im Kunstbetrieb sprengen. Künstlerinnen und Künstler aus Asien, Afrika
und Südamerika nehmen daher einen großen Raum ein. Gezeigt und betrachtet wird deren
Kunst jedoch in den Strukturen der documenta, in Kassel, in einem westlichen Land – und
dies überwiegend von einem Publikum, das nicht zum ersten Mal auf einer documenta ist.
Eine theoretische Grundlage dafür, dass sich eine Kultur dann entwickelt, wenn man ihr einen
quasi neutralen „dritten Raum“ zur Verfügung stellt, finden die Kuratoren in der Kulturtheorie
von Homi K. Bhabha (The Location of Culture). Es gibt allerdings auch gute Gründe für die
Annahme, dass der antikolonialistische Impetus gescheitert ist, dass es nunmehr, wie Rauterberg schreibt, zum Karriereziel auch von Künstlern aus Lagos und Neu-Dehli geworden ist,
zur documenta eingeladen zu werden. Die Form und der dann doch nicht neutrale Ort scheinen hier den Inhalt zu besiegen. Doch auch dann wäre die documenta insgesamt nicht gescheitert, sondern könnte dazu dienen, die Kulturpolitik aus ihrem Dornröschenschlaf mit
ihrem Bezug auf Verständnisweisen von „Kultur“, „Nation“ oder „Politik“, die schon längst
ihre frühere Relevanz und Bedeutung verloren haben, zu wecken.
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Auf der Suche nach der verlorenen Poesie
Ein kulturpolitischer Streifzug durch die documenta XII
Kann man überhaupt noch Neues über die documenta XII schreiben? Inzwischen wurde sie in
jedem großen und kleinen Feuilleton und in wichtigen Diskussionsrunden im Fernsehen analysiert, kommentiert, kritisiert, gelegentlich sogar gelobt. Die documenta ist offensichtlich ein
Medienereignis, und dies nicht nur für das gehobene Feuilleton. Natürlich gehören größere
und kleine Skandale zu einem solchen Event dazu. Die Lokalpresse ereifert sich etwa über
pornographische Darstellungen in großformatigen Bildern. Ebenfalls eher lokal war auch die
vermutlich versehentliche Entfernung der Kreuzmotive einer chilenischen Künstlerin auf Kasseler Straßen bereits bei Beginn der Ausstellung durch die Straßenreinigung. Überregional
kommentiert wurden dagegen die missglückten Aktionen mit den nicht zustande gekommenen Mohnfeldern vor dem Fridericianum, die weggeschwemmten Reisfelder zusammen mit
den daher arbeitlosen 1001 Chinesen oder der zusammengebrochene Pavillon von Wei Wei.
Ins Gerede gekommen ist diese documenta daher oft nicht so sehr über die künstlerischen
Inhalte, sondern wegen eines schlechten Managements. Zu wenig Verzahnung mit der Stadt,
so ein Vorwurf. Denn dort hätte man durchaus botanischen Sachverstand gefunden, der aus
den jetzt nur sehr vereinzelt zu findenden Mohnblumen vielleicht doch das gewünschte Blumenmeer hätte entstehen lassen können. Dabei ist die documenta gut integriert in diese Stadt.
Die Atmosphäre ist geprägt von den zahlreichen, zu einem großen Teil internationalen Gästen, die zwischen den über das Stadtgebiet verteilten Ausstellungsorten schlendern. Die Kasseler selber scheinen allerdings eher distanziert als erfreut zu sein, ganz anders als etwa bei
dem Weltkindertheaterfestival in Lingen. Dort kann man es erleben, dass man von Menschen
gefahren wird, die ihren Jahresurlaub völlig in den Dienst des Festivals stellen, die mit sichtbarem Stolz von einzelnen Aufführungen und Erlebnissen berichten. Woran liegt es? Ist die
documenta zu groß, zu abgehoben, zu weit weg vom Leben der Menschen?
Deutschland ist dabei ein guter Ort für solche Großveranstaltungen: 1288 Galerien, 6500 Museen mit über 100 Millionen Besuchern. Die documenta XII ist zudem schon deshalb bürgernah, weil sie – so hat es der Kunsthistoriker Beat Wyss in der Süddeutschen Zeitung festgestellt – wieder deutsch spricht. Man erinnere sich an die letzte documenta (siehe meinen Artikel Kunst + Politik = Kulturpolitik?, PuK 4/2002) und die internationale Gruppe von Kurato184
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ren unter Leitung von Okwui Enwezor. Die documenta-Sprache war Englisch. Die Ausstellung in Kassel war seinerzeit lediglich ‚Plattform 5’, nachdem die vorangegangenen vier
Plattformen in Neu-Delhi (Thema Rechtssystem), St. Lucia (Thema Créolité), Lagos (Situation afrikanischer Städte) und Wien/Berlin (Demokratie) alle möglichen Weltthemen in Form
von Symposien abgehandelt haben. Politisch wollte sie sein, der Anspruch auf Anerkennung
nicht-westlicher Kunst war ein wichtiges Ziel. Kennengelernt hat man in Deutschland als seinerzeit neueste kulturtheoretische Welle den postcolonialen Diskurs. Die documenta wollte
vor fünf Jahren nicht nur politisch verstanden werden, sie wollte quasi Politik in deren ureigensten Anliegen überholen. Das war gut gemeint, scheiterte jedoch bereits in ihrem künstlerischen Kern. Denn Hanno Rautenberg stellte zurecht in der ZEIT die Frage, ob ein documenta-Künstler aus Asien oder Afrika, der seinen Wohn- und Arbeitsplatz in eine der westlichen
Metropolen wie New York, Paris, London oder Berlin verlegt hat, wirklich zur gewünschten
Anerkennung der Kunst aus der Dritten Welt diente oder ob er nicht vielmehr auf diese Weise
selbst in das System des westlichen Kunstmarktes integriert wurde. In dieser Form wollte die
jetzige documenta XII nicht politisch sein, obwohl die Leitfragen und -themen natürlich auf
der Höhe der gesellschaftlichen Diskurse sind: Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das
bloße Leben? Was sollte ästhetische Bildung leisten?
Die documenta XI also als missglücktes Lehrstück in politischer Bildung, die documenta XII
dagegen als Wiederentdeckung der genuinen Kräfte der Künste? So einfach ist es nun allerdings nicht. Bei der letzten documenta blieben viele Ausstellungsobjekte im Gedächtnis: der
Film aus Persien etwa, bei dem eine Frau allmählich mit einem Baum verschmilzt; die penibel
dokumentierten Erinnerungsstücke eines afrikanischen Künstlers; zarte Architekturvorschläge
für Städtebauvisionen der Zukunft. Die seinerzeitigen theorie- und kopflastigen ‚Plattformen’
sind zwar gut dokumentiert in einigen Kilos an Büchern, doch werden sie wirklich gelesen?
Fast scheint es, als ob sich die Eigenlogik der Kunst gegen das politische Aufklärungsinteresse der Kuratoren von fünf Jahren durchgesetzt hätte. Und heute? Große Erwartungen richteten
sich auf den Aue-Pavillion. Feststellen musste man jedoch, dass jede beliebige Industriehalle
einen größeren Charme hat. Die missglückten Außeninstallationen wurden schon erwähnt.
Eine Wiederkehr der Malerei war angekündigt. Bei meinem Besuch gab es die höchsten Besuchertrauben an dem kleinen Bild von Gerhard Richter, einem der wenigen ‚großen Namen’.
Ich erinnere mich an endlose Fotoserien. Eine Kritik an der Digitalfotographie besteht heute
darin, dass nicht mehr sorgfältig ausgewählt werden muss, was man fotografiert, weil die
Entwicklung des Films nichts mehr kostet. Gleich bei mehreren Ausstellungsobjekten konnte
man die Richtigkeit dieser Kritik bestätigt sehen: Endlose Serien immer gleicher Motive. Na185
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türlich haben sich – sicherlich individuell verschieden – Bilder eingeprägt. Das Kanisterschiff
im Aue-Pavillion etwa. Oder das Ensemble von Kleidungsstücken, die an Seilen befestigt sind
und in die sich mühsam TänzerInnen unter der Anleitung der Choreographin Trisha Brown
hineinquälen. Ein gigantisches Trampolin, das nicht die Schwerkraft überwinden hilft, sondern im Gegenteil die Menschen über ihre Kleidung ankettet. Ebenfalls von einer Tänzerin,
nämlich von Iole des Freitas, stammt das vielleicht beschwingteste Objekt gleich im Raum
daneben: Große Plastikbahnen, die an Edelstahlrohren den Raum durchmessen, eine Art Achterbahn, die sich geschickt durch die Wände den Weg ins Freie bahnt. Ein weiteres Objekt:
Ein rotes Seil, das sich spielerisch im Raume schlängelt.
Kunst und ihre Präsentation können gar nicht scheitern, denn selbst im Misslingen stecken
Botschaften, so ähnlich hat der Kurator einige Fehlschläge und Fehlplanungen kommentiert.
Wäre dies so, dann könnte man sich jede Debatte über Kunst und ihre Qualität sparen. Doch
unterschätzt diese These die Rolle der Ausstellungsmacher, die gut oder schlecht organisieren
können, die für den Beleg ihrer Thesen passende oder unpassende KünstlerInnen ausgewählt
haben. So kann man durchaus fragen, ob in der Formulierung der drei bedeutungsschweren
Leitprinzipien nicht doch eine gewisse Beliebigkeit steckt, obwohl die Buergel-Maschine im
Internet sicherlich freundlich-boshaft einige gute Deutungsangebote liefern würde.
Kunst ist eine spezifische Verbindung von Sinnlichkeit und Reflexion, die – und auch dies ist
eine Tradition der documenta – für ihre Freiheit, auch und gerade gegenüber dem Markt
kämpft. Kann dies gelingen? Beat Wyss ist (in seinem oben bereits zitierten Beitrag) skeptisch. Die größte Konkurrenz der documenta als öffentlich geförderter Ausstellung ist nicht
eine andere Ausstellung, sondern sind die Kunstmessen. Ist die documenta XII mit 113 KünstlerInnen nicht klein: Bei der Art Basel sind es immerhin 2000 KünstlerInnen gewesen. Die
documenta XII fungiert hier als Karrieresprungbrett. So hat Thomas Hirschhorn sein Denkmal
für Georges Bataille 2002 noch in einer Außenstelle in Kassel montiert, dieses Jahr war er der
Star in Basel. Der Markt ist überall, auch dort, wo sich die Werke explizit gegen ihn und seine
Dominanz richten. Heißt Kulturpolitik, nunmehr zu kapitulieren oder sich bestenfalls um Foren für solche Künstler zu kümmern, die noch nicht im Markt angekommen sind?
Trotz dieser eher kritischen Bewertung gibt es einige sehr gute politische Gründe für eine
öffentliche Förderung der documenta als einzigartiger Kunstausstellung.
1. Die Breite und Intensität der öffentlichen Debatte zeigt, wie sehr das Ziel eines Diskurses
über Kunst, aber auch über die Fragen, mit denen sich Kunst auseinandersetzt, erreicht
wird. An dieser Debatte beteiligen sich nicht nur viele Medien und Fachleute, an ihr parti186
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zipieren auch viele Besucher und solche Menschen, die einen Besuch nicht realisieren
können. Kunst ist Diskurs über Lebensweisen, dies zeigt auch diese documenta, und Kulturpolitik ist der Versuch, solche Diskurse in Breite und Tiefe anzuregen.
2. Kunst wird heute kaum noch über ihr ‚Wesen’ definiert. Vielmehr hat sich die Kunsttheorie in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt aufgrund des Scheiterns solcher ‚Wesens’Definitionen spätestens seit den ready-mades von Duchamps – auf die Definition von A.
Danto geeinigt, derzufolge Kunst das ist, was ein bestimmter Kreis von Menschen dafür
hält. Diese Begriffsbestimmung ist dabei sehr viel weniger beliebig, als es zunächst klingt.
Denn der angesprochene Kreis, der über die Definitionsmacht verfügt, ist eine heterogene
Gruppe von Künstlern, Hochschullehrern, Kunsttheoretikern, Journalisten, Galeristen,
Kunstsammlern, Museumsmenschen und Ausstellungsmachern. Events wie die documenta spielen in diesem fortlaufenden Prozess einer diskursiven Abklärung über das jeweils
gültige Kunstverständnis eine wichtige Rolle. Es werden dabei nicht nur Preise für
Kunstwerke festgelegt – dies sicherlich auch, da Kunst eben auch ein Markt ist –, es wird
auch der Wert der Werke verhandelt.
3. Weil dies so ist, ist es gut, dass es neben den Museen nichtkommerzielle Räume gibt, damit Werte (und durchaus auch Preise) in einem quasi geschützten Raum ausgehandelt
werden können. Die documenta (und vergleichbare Ausstellungen) stellen geschützte
Räume dar, die die Kunst und die Künstler brauchen.
4. Groß-Ausstellungen sind zudem soziale Events. Sie sind Teil einer Stadtpolitik, die geschickt bei ihrer Entwicklung die Attraktivität des Kunstereignisses nutzen können. Dies
ist legitim und steht nicht im Gegensatz zur obigen Schutzthese.
5. Großausstellungen sind zudem Bildungserlebnisse für viele. Selbst wenn man nur aus
vordergründiger Motivation („Muss man gesehen haben, um mitreden zu können“) solche
Ausstellungen besucht, bleibt diese zweifellos auch vorhandene Facette eher untergeordnet.
Als Fazit kann man sagen, dass man die documenta – auch in ihrer Funktion des Dokumentierens, Auswählens, Bewertens – geradezu erfinden müsste, gäbe es sie nicht. Man vergleiche
etwa die documenta mit den Festspielen in Bayreuth. Der künstlerische Kern tritt hier fast
völlig zurück – bzw. er erscheint dort, wo er auftritt, ausgesprochen wagnerimmanent –, also
ohne weitere Bedeutung für die Kunst und Kultur des Landes. Dagegen dominiert Prominenz
aus Sport, Medien und Politik, die sich gerne der Öffentlichkeit als kunstbeflissen präsentiert.
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Wo hier das öffentliche Interesse an einer Förderung liegen sollte, bleibt – gerade vor dem
Hintergrund der oben angeführten Argumente für die documenta – ziemlich unklar.
Genießen wir also das Fest der Sinne, die Provokation im Denken, die Kreativität der Objekte,
die oft sinnfreien Kommentare der Kuratoren und freuen uns auf die nächste documenta, die
vermutlich wieder völlig anders werden will – und doch in vielem ihren Vorgängern gleichen
wird.
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Die dOCUMENTA 13
Eindrücke und Analysen
Früher, so scheint es, war es einfacher, über Kunst zu schreiben. Böse Zungen behaupten etwa, dass Kant seine Schrift zur Ästhetik ohne tiefere Kenntnis über die Künste hat schreiben
können. Hegel war sicherlich ein Kenner, doch musste sich auch bei ihm die Kunstreflexion
der Logik seines Systems beugen. Immerhin konnte man noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts über das „Wesen der Kunst“ fabulieren, obwohl spätestens in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts das Wechselspiel der Ismen begann. Dabei ging es um nichts weniger, als eine
jeweils neue Definition dessen, was Kunst ist, durchzusetzen. Duchamps und Andy Warhol
markieren geradezu Revolutionen im Kunstverständnis: Ersterer, weil es ihm gelungen ist mit
seinen Ready-Mades Industrieprodukte offiziell als Kunstwerke anerkennen zu lassen, letzterer, weil seine New Yorker Factory in der Tat eine fabrikmäßige Organisation der Kunstherstellung realisierte und die Idee eines auratischen Originals endgültig ad absurdum führte.
Seither hat es sich inzwischen weitgehend durchgesetzt: Kunst ist das, was ein Kreis von Experten dafür hält (Kuratoren, Museumsleiter, Sammler, Galeristen, Kritiker, Hochschullehrer,
Kunstwissenschaftler und zuletzt: die Künstler selbst). Das Feld der Künste ist ein Feld des
Kampfes um Definitionsmacht, Aufmerksamkeit und letztlich auch um Marktwert. Damit
verbunden ist eine gravierende Veränderung des Künstlerbildes: Künstler werden selber zu
Kuratoren, Kritikern und Unternehmern (so V. Krieger: Was ist ein Künstler? 2007). Und
solche, die Kunst eigentlich nur vermitteln sollen, rücken sich gezielt in den Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit: Galeristen, Kuratoren, Intendanten oder Groß-Kritiker. Die Kunst und die
Künstler selbst rücken offenbar immer mehr in den Hintergrund. Teil dieses Event-Betriebes
ist seit Jahren die documenta. Natürlich wird hier Einfluss genommen darauf, was als Kunst
zu gelten hat. Natürlich werden hier Marktpreise definiert, auch wenn es keine Messe ist. Und
natürlich prägen die jeweiligen Kuratoren sehr viel mehr das Gesamtbild als die Kunst und
die Künstler. War es dieses Mal anders? Schon im Vorfeld gab es zwischen Kritik und Amüsiertheit heftige Reaktionen auf die blumigen Äußerungen von Carolyn Christov-Bakargiev
(CCB). Bei ihrem Vorgänger blühten sogar Internetforen auf, die sich über die oft sinnfreien
Äußerungen lustig machten. Und bei der vorletzten documenta (die 11.) trat die eigentliche
Kunstausstellung als bloß 5. Plattform eines überambitionierten weltweiten Politikdiskurses,
der kein postmodernes und postcoloniales Thema ausließ, fast in den Hintergrund. Dies zumindest geschah dieses Mal nicht. Man registrierte vielmehr überall große Überraschung.
Denn es ging tatsächlich um Kunst, um sehr viel Kunst, denn über 150 Künstler/innen bespie189
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len die gesamte Stadt. Viele Frauen, viele (bislang) völlig unbekannte, viele neu entdeckte
und einige sogar schon längst verstorbene Künstler wurden präsentiert. Schwer war es schon
immer, aufgrund der Komplexität der Ausstellung darüber zu schreiben. Dieses Mal ist es
nahezu unmöglich. Es ist wie bei dem Hasen und dem Igel: Immer schon ist die Ausstellung
da. Integriert werden Wissenschaften (etwa der Quantenphysiker Anton Zeilinger), sodass die
documenta sich gelegentlich präsentiert wie das Deutsche Museum, zumal die Orangerie und
das Ottoneum mit ihren naturwissenschaftlichen Ausstellungen fugenlos eingebaut sind. Es
sind alle Künste präsent, da viele Künstler geniale Doppelbegabungen sind (Llyn Foulkes,
William Kentridge u.a.). Es ist die Einheit von Mensch und Natur angestrebt, sodass letztere
ebenfalls – wie allerdings auch schon früher – eingebunden ist. Gleichzeitig zur Kasseler
Ausstellung finden Parallel-Aktionen in Kabul statt (Goshka Macuga). Auch Kairo und Banff
werden integriert. Natürlich ist die diesjährige documenta auch politisch. Es gibt zahlreiche
Diskussionsrunden, Gespräche, Vorträge von Fachwissenschaftlern aller Gebiete. Der Philosoph Christoph Menke hat seinen eigenen Bereich. Die Aufarbeitung des Faschismus (in den
letzten Jahren kaum präsent) und der Kolonialzeit ist ein Schwerpunkt. So werden Werke
ermordeter oder vertriebener Künstler/innen prominent platziert (z. B. Gustav Metzger). Auch
der ganz normale gegenwärtige Wahnsinn zivilisierter Staaten ist Gegenstand, etwa bei der
Galgeninstallation von Sam Durant in der Karlsaue, mit der er gegen die Todesstrafe in den
USA protestiert. Protest gegen die Pathologien der Moderne: Die Choreographie von Tanzszenen auf Müllhalden und im stark verschmutzten Meer regen den Brechreiz an. „Schön“ ist
diese documenta kaum. Mir fehlen ein wenig die poetischen Höhepunkte vergangener documenten. Denn dass das Leben schwer ist, weiß man vielleicht auch selbst schon. Eine Ausnahme ist die Installation von Haegue Yang mit Projektionen auf große rotierende SoffZylinder, die an der Decke hängen. Doch dann wird man wieder in der großen Teilausstellung
„The Repair“ von Kader Attia mit nur schwer zu ertragenden deformierten Gesichtern, vom
Krieg beschädigt und nur notdürftig wieder hergestellt, konfrontiert. Bei soviel Zivilisationskritik, bei der immer wieder das zerstörte Subjekt, der Einzelne als Spielball destruktiver
Techniken und Machtstrategien, gezeigt wird, könnte man eine Totalablehnung der Technik
insgesamt vermuten. Doch öffnet sich die documenta-Halle mit den Werken von Thomas
Bayrle, der die Ästhetik aufgeschnittenen Motoren oder die Melancholie von Scheibenwischern in nutzloser Aktion zeigt.
Kunst stimuliert die Sinne, dies ist vielleicht der letzte Rettungsversuch einer essentialistischen Definition. Doch zur Tradition der Künste – und auch der documenta – gehört, dass sie
sich immer wieder der Sinne entziehen. Dies zeigte schon der unsichtbare Kilometer, der zu
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Zeiten des OB’s Hans Eichel – heute einer der „Weltgewandten Begleiter“ – eingegraben
wurde. Heute verdeckt der hochbetagte Gustav Metzger seine Malereien mit Tüchern, die
man erst anheben muss, um sehen zu können. Heute ist gleich in der Eingangshalle anstelle
von Werken ein gar nicht so sanfter Luftzug zu spüren und es wird ein Absagebrief von Kai
Althoff gezeigt, der erläutert, warum er nicht ausgestellt werden kann.
Vieles wäre noch zu erwähnen. Etwa das überaus umfassende Vermittlungsprogramm. Leicht
größenwahnsinnig – eine Ironie war nicht zu erkennen – ist das „Buch der Bücher“, eine Zusammenstellung von 100 Notizbüchern quer durch alle Wissens- und Erlebnisbereiche, die
von der Kuratorin ausgesucht bzw. von Experten auf ihre Einladung hin verfasst wurden. „Totale Überforderung“ und ein Schrei nach Ordnung war die Reaktion des art-Redakteurs Till
Brieger, der sich einem Selbstversuch der Lektüre unterzogen hat.
Wie eingangs erwähnt: Es dürfte kaum ein Thema, eine Aktionsform, ein Angebot, eine Expertise, ein Zugangsweg ausgelassen worden sein, ein Rundum-Sorglos-Paket der
Kunstaneignung also.
Was heißt dies für die Kulturpolitik? Mit einer „reinen“ Kunsttheorie ist Gegenwartskunst
nicht zu verstehen. Sie ist viel zu sehr in die Erlebnis-, Event- und Machtprozesse der kapitalistischen Gesellschaft eingebunden, selbst wenn sie dagegen protestiert. Es wird zudem viel
Kunst, es werden viele Künstler gezeigt. Kann man all dies würdigen, wenn es so konzentriert
daherkommt? Ich kann es nicht. Es zeigt sich die Dominanz der Vermittler. Dies ist nicht bloß
in der Bildenden Kunst der Fall: Reich-Ranicki hat seinerzeit gezeigt, dass der Kritiker wichtiger ist als der Autor. Kuratoren zeigen, dass sie wichtiger sind, als die Werke. Der Kunstwissenschaftler und Publizist Christian Demand zeigt, wie gerade in den besten Museen der
Kunst der Moderne – etwa im MoMA in New York – alleine durch die Art der chronologischen und thematischen Hängung der Werke eine Ordnung geschaffen wird, die es eigentlich
nicht gibt. Kunst braucht Vermittlung, zweifellos. Aber ob sie die heutige Dominanz der
Vermittler braucht, ist zu bezweifeln. So spielen ganz aktuell in der Diskussion um das Urheberrecht die beiden eigentlich wichtigen Gruppen im Umgang mit Kunst, nämlich die Produzenten und die Rezipienten, eine sehr viel geringere Rolle als all diejenigen Personen, Berufe,
Firmen, die zwischen Künstler und Publikum stehen. Vielleicht ist dies unvermeidbar. Dann
sollte man jedoch unsere kulturpolitischen Begründungen sorgsam auf ihre Richtigkeit überprüfen.
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„Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell – Annäherungen an ein Buch
Kurz nach dem 11.09.2001 war in einer großen Wochenzeitung zu lesen, dass man nunmehr
endlich akzeptieren müsse, dass das grundsätzlich Böse existiere. Man konnte diese Aussage
durchaus als zu leichte Kapitulation des Nachdenkens über Ursachen und Gründe für diesen
bislang einzigartigen Mordanschlag betrachten. Denn natürlich kamen eine ganze Reihe
nachvollziehbarer Gründe in den Sinn: Die World-Trade-Towers als Symbol westlichen Strebens nach Hegemonie, als Symbol der Arroganz der Ökonomie, des Westens, der USA, als
Ausdruck einer Verweigerung westlicher Zivilisation und Lebensweise, als gerechte Rache
für eine unsägliche Leidensgeschichte von Menschen in Afrika oder Asien, die der Westen
verursacht hat. Der Rückbezug auf das schlichtweg Böse konnte so als eine weitere Verweigerung interpretiert werden, eine politisch gewollte weltweite Ungerechtigkeit anzuerkennen.
Später konnte diese Argumentation noch dadurch verstärkt werden, dass die Attacken auf das
Pentagon und die Zwillingstürme wohlfeilen Anlass geboten haben, unter dem offenbar alles
erklärenden Bezug auf die weltweite Terrorismusgefahr im Inneren Bürgerrechte massiv abzubauen und im Äußeren eine militante Aggressionspolitik zu legitimieren. Saskia Sassen hat
soeben in ihrem neuesten Buch (Der Katastrophenkapitalismus) aufgezeigt, wie – wieder
einmal – politisch geschickt die „Gunst der Stunde“ genutzt wurde, um eine neoliberale Politik ein Stück weiter durchzusetzen.
All diese Begründungen haben ihren Sinn, haben ihre Berechtigung, doch lohnt sich trotzdem
die Auseinandersetzung mit der These von der Existenz des Bösen. Dabei ist es nicht nur eine
theologische Frage, sind es nicht nur religiöse Diskurse, in denen das Böse eine Rolle spielt.
Allerdings gehören auch diese in diesen Kontext. In der Neuzeit ist es die Frage nach der
Theodizee, die speziell nach dem Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 eine Rolle spielt:
Wie kann ein Gott in seiner eigenen Schöpfung zulassen, dass derartig massenhaftes Leid
geschieht? Diese Frage erhält ihre besondere Spannung durch die theologische Grundüberzeugung – seinerzeit von Leibniz wieder vehement vorgetragen – wir lebten in der besten
aller Welten. Entweder funktioniert die Schöpfung nicht so, wie Gott sie geplant hat. Dann ist
er ein schlechter Konstrukteur. Oder er hat dieses Massensterben gewollt. Was für ein Gott ist
dies aber dann? Das Böse hat seither immer wieder Theologen und Philosophen fasziniert,
möglicherweise mehr als das Gute. Susan Neiman („Das Böse denken“, 2004) lässt eine ganze Reihe von Denkern Revue passieren. Doch ist es inzwischen schon längst nicht mehr das
Naturereignis des Erdbebens, auch nicht die Pest oder andere „Geißeln Gottes“. Mit dem 20.
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Jahrhundert hat das Böse offensichtlich eine neue Größenordnung erreicht. Die Gas- und Stellungskriege eines erstmals so genannten Weltkrieges und nicht zuletzt die Massenvernichtungen der Nationalsozialisten. Nach Auschwitz könne es keine Lyrik mehr geben, vielleicht
weil jegliche Lyrik mit Trost verbunden ist. Vielleicht aber auch, weil jegliche Form einer
ästhetischen (oder wissenschaftlichen ) Bearbeitung ein Versuch ist, zu verstehen. Und wer
versteht, ist möglicherweise auf dem Wege zu verzeihen. Natürlich sind diese Überlegungen
nicht der einzige Zugang zu einem Roman, der trotz seiner 1460 Seiten seit Monaten in den
Bestsellerlisten steht. Wie jedes künstlerische Werk ist er offen für die unterschiedlichsten
Zugänge, Deutungen und Lesarten. Natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige
dieser Lesarten aufgeführt.
Der Text ist geschrieben aus der Perspektive eines Ich-Erzählers (Maximilian), der sich gleich
am Anfang als ehemaliger SS-Offizier zu erkennen gibt. Am Ende des Krieges gelingt es ihm,
in die Identität eines französischen Zwangsarbeiters zu schlüpfen, der in der Folgezeit in
Frankreich eine solide bürgerliche Existenz als Unternehmer aufbaut. Sein Vater – auf mysteriöse Weise in seiner Kindheit verschollen – war nach dem ersten Weltkrieg ein Führer einer
paramilitärischen rechten Freischärlergruppe, seine Mutter eine Französin aus dem Elsass, die
später ihren verschwundenen Mann für tot erklären lässt und einen französischen Unternehmer heiratet. Maximilian hat eine Zwillingsschwester, mit der er zunächst gemeinsam in Südfrankreich aufwächst. Er wird von ihr zu Beginn ihrer Pubertät getrennt, als kindliche Spiele
zu zweit zunehmend eine erotische Dimension erhalten. Beide verzeihen ihrer Mutter die
Trennung von ihrem Vater nicht. Die restliche Schulzeit verbringt Maximilian in einem Internat. Das Wunschstudium der Literatur wird ihm verweigert. Er studiert Jura (Verfassungsrecht) und wird bereits während des Studiums von seinem Professor für die SS (genauer: den
Sicherheitsdienst) als Informant angeworben. Später nach der Promotion steigt er schließlich
hauptberuflich in die SS ein. Am Ende des Krieges hat er den Rang eines Obersturmbannführers erreicht. Der Roman erzählt zwar in kürzeren Rückblicken immer wieder wichtige Episoden aus früheren Jahren – etwa homosexuelle Beziehungen im Internat und im Studium –, der
Schwerpunkt befasst sich jedoch mit einer detaillierten Darstellung der Zeit zwischen dem
zunächst erfolgreichen Beginn des Ostfeldzuges und dem Ende des Krieges in Berlin.
Welche Lesarten sind möglich? Eine Lesart ist die eines Bildungsromans: Wie entwickelt sich
ein intellektuell hoch begabter Junge zu einem Nationalsozialisten, der unmittelbar in die
Massenmorde in Kiew, in Auschwitz und anderswo involviert war? Ein wichtiger – und in der
Kritik immer wieder hervorgehobener – Aspekt ist die sexuelle Dimension: Seitenweise wer193
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den deutlich und krass homo-erotische Praktiken beschrieben. In diesen Kontext gehört eine
immer wieder explizit beschriebene Rolle von Fäkalien und von Ausscheidungsprozessen. Es
ist zudem ein Roman über eine inzestuöse Beziehung von Zwillingsgeschwistern, eine Beziehung zwischen Liebe und Obsession. Es ist ein Roman über eine problematische Mutter/Vater-Kind-Beziehung, über den Verlust des Vaters und dessen Idealisierung mit einem
tragischen Ausgang. Eine entscheidende Rolle spielt der Kriegsverlauf aus der Perspektive
des SD (Sicherheitsdienst), der im Rücken der Front versucht, die NS-Rassenideologie, also
die systematisch Beseitigung vor allem von Juden, aber auch von Zigeunern und anderen zu
realisieren. Man lernt die Komplexität der NS-Verwaltung, die Konkurrenzen zwischen den
unterschiedlichen NS-Organen (SS, Zivilverwaltung, Partei, Polizei, Wehrmacht etc.) kennen,
den Widerstreit zwischen politischen und ökonomischen Zielen. Über viele Seiten hinweg
wird in einer in diesem Kontext grausam anmutenden nüchternen Sprache beschrieben, dass
auch die Massenermordung von Menschen eine ökonomische Seite hat. Hier tauchen bekannte Größen wie Eichmann auf. Man erfährt vieles über Theorien und Ideologien der Rassen,
über unterschiedliche theoretische und ideologische Zugänge. Der Roman liefert antifaschistischen Positionen ebenso Argumente wie er durchaus für intellektuelle Trainingscamps für
Neo-Nazis genutzt werden könnte. Denn auf einem gewissen intellektuellen Niveau werden
theoretische Grundlagen Nazi-Deutschlands vorgetragen. Wer glaubt, dass sich all dies mit
leichter Hand als Unfug wegwischen ließe, möge sich daran erinnern, welch große Nähe es
schon in der Weimarer Zeit zwischen einem intellektuellen Rechtskonservatismus, einem Nationalismus und rechter Politik gegeben hat, wie viele Intellektuelle, Wissenschaftler und
Künstler (von Heidegger bis Carl Schmitt, von Breker, Jünger, Riefenstahl bis Gottfried
Benn, von Vertretern Deutscher Christen bis zu solchen einer Deutschen Mathematik) ihren
Beitrag zur ideologischen Absicherung des Nationalsozialismus geleistet haben (und welche
bedeutsame Rolle vielen von ihnen bis heute in der Kunst-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zugebilligt wird).
Und natürlich ist es ein Roman über Schuld und Moral. Immer wieder weist der Ich-Erzähler
darauf hin, wie inkonsequent bürgerlich-zivilisierte Moralvorstellungen sind (wenn etwa das
universelle Tötungsverbot mit leichter Hand in Kriegszeiten außer Kraft gesetzt wird). Er
verweist auf Probleme der Schuldzuweisung bei den Massenermordungen. Er zeigt, wie viele
historische Beispiele es im Umgang mit dem politischen und militärischen Gegner gibt, so
dass sich viele NS-Verbrechen – mit der gravierenden Ausnahme des in dieser Form unvorstellbaren systematischen Massenmordes – letztlich als doch nicht so einzigartig darstellen;
kurz: Der Autor macht es einer raschen moralischen Bewertung nicht leicht. Bei all diesen
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möglichen Lesarten muss jedoch klar bleiben, dass es kein erneutes Fachbuch über den Holocaust ist, keine Analyse des analen Charakters zentraler Akteure, kein Psychogramm eines
Massenmordes: Es ist ein gut gelungener Roman, wobei vielleicht dies mit der Zeit ein erneutes Grausen verursacht. Denn natürlich stellt sich mit den vielen Seiten ein Interesse am weiteren Lebensweg der zentralen Figur ein – sogar eine gewisse Sympathie entsteht. Es besteht
sogar die Gefahr, dass man sich an die grausigen Rahmenbedingungen dieses Lebensweges
gewöhnt. Hieran kann eine politische Bewertung des Romans anknüpfen (eine literarische
Bewertung gehört nicht zu meiner Aufgabe und Profession).
Eine – gerade auch gesellschaftlich relevante – Dimension von Kunst besteht darin, Möglichkeiten gelingenden oder misslingenden Lebens aufzuzeigen, Möglichkeitswelten alternativer
Lebensweisen darzustellen, Kontingenzerfahrungen zu ermöglichen. Robert Musil beschreibt
diesen „Möglichkeitssinn“ im 4. Kapital seines „Mannes ohne Eigenschaften“: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er:
Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu
als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist,
nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Dies macht Kunst (u.a.) zu Kultur, nämlich
einen Beitrag zur individuellen und gesellschaftlichen Sinnfindung zu leisten. In dieser Hinsicht ist dieser Roman außerordentlich bedeutsam. Denn es sind mir kaum literarische Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus aus der Täter-Perspektive bekannt (die unsäglichen Memoiren ehemaliger Nazigrößen, die – wie diejenigen von Speer – von den Feuilletons hofiert werden, spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle).
Die durch die Erzählweise erzwungene Identifikation mit der Hauptperson erzwingt geradezu
eine Aufmerksamkeit gegenüber dem explizit formulierten Ziel, die Folgerichtigkeit und moralische „Normalität“ der Handlungen und Denkweise des Ich-Erzählers zu belegen. Insofern
ist der Roman eine erheblich größere Herausforderung gegenüber solchen Werken, bei denen
das Richtige und Falsche von vornherein feststeht und man sich stets auf der sicheren Seite
wähnen kann.
Politisch bedeutsam wird das Buch aufgrund der immer wieder zu stellenden Frage danach,
wie all dieses Barbarische hat geschehen können. Diese Frage stellt sich hier um so drängender, als der engere Kreis der handelnden Personen gerade keine geifernden Antisemiten wie
Julius Streicher sind, sondern auf höchstem Niveau formal gebildete Menschen, die ihren Platon, Sophokles, Kant oder Hegel – erstere sogar im sprachlichen Original – zitieren können.
Auch die Studieninhalte der Hauptperson – Verfassungsrecht – geben zu denken. Denn im195
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merhin war der rechtskonservative Weimarer Verfassungstheoretiker Carl Schmitt Parteigänger der Nazis und nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als ein intellektueller Geheimtipp. Der
bedeutendste Grundgesetzkommentar stammt von einem erheblich belasteten Verfassungsjuristen, was für einen späteren Bundespräsidenten kein Problem war, als Mitherausgeber eine
enge Zusammenarbeit zu pflegen. Dass einige Mitglieder der Bush-Administration, die so
genannten Neocons, ihre Ausbildung in Chicago erhalten haben, wo Leo Strauss – zunächst
ein Schüler von Schmitt, dann aber von diesem wegen seiner jüdischen Herkunft fallengelassen – lange Jahre lehrte. Das ist nur eine intellektuelle Entwicklungslinie, die sich von der
Weimarer Zeit über die Nazi-Zeit bis heute verfolgen lässt. Für fast alle Wissenschaften ließe
sich Ähnliches aufzeigen: Nationalsozialismus hatte durchaus eine intellektuelle Dimension,
die bei der Auseinandersetzung mit heutigen rechtsextremen Kräften zu berücksichtigen ist.
Dass sich hiermit eine Aufgabe für Kultur- und Bildungspolitik stellt, die über einen bloß moralischen Antifaschismus hinausgeht, liegt auf der Hand.
Möglicherweise kommt man aufgrund der Rolle von Intellektuellen und Künstlern in der Nazizeit auch zu einer kritischen Bewertung bestimmter Künstler. Es gibt schon seit längerem
deutliche Neigungen, Breker, Riefenstahl, Benn, R. Strauß, M. Wigman (oder wie sie alle
hießen) bloß noch ästhetisch zu betrachten und zu bewerten. Wer sich verdeutlicht, dass auch
Terror-Regime einen Rückhalt bei großen Teilen der Bevölkerung brauchen, dass insbesondere notwendige Funktionseliten intellektuell anspruchsvoll ideologisch „bedient“ werden wollen, wird möglicherweise weniger großzügig gegenüber jenen sein, die genau diese Rolle
wahrgenommen haben.
Vielleicht kam daher das Buch von Littell zur rechten Zeit.
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Sind wir jemals modern gewesen?
Kulturpolitische Überlegungen zu deutschen Mentalitäten, zu Thomas Mann und zum Bürgertum
Es scheint eine Sehnsucht nach dem Bürgertum oder zumindest nach wohlanständiger Bürgerlichkeit zu geben. Wo sind die Tugenden des seriösen Kaufmanns geblieben, seine Zuverlässigkeit und Redlichkeit, sein Anstand und seine Sparsamkeit? Viele interpretieren die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise unter moralischen Aspekten: als Mangel an Tugenden, die
einmal als bürgerliche gegolten haben. Und viele sehen in dem Markt- und Staatsversagen
(letzteres, weil es der Staat versäumt hat, klare Regeln zu setzen) eine neue Chance für Kunst
und für Religion. Denn beides sind Instanzen der Sinnstiftung und unterbreiten Vorstellungen
von der Welt und von sich selbst, die gerade nichts mit dem Shareholder-Value zu tun haben.
Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass Heinrich Breloer nach seiner großen Thomas-MannBiographie nunmehr das frühe Hauptwerk des vielleicht Bürgerlichsten unter unseren Schriftstellern mit großem Aufwand in die Kinos bringt – auch wenn es sich um eine grandiose Verfallsgeschichte einer Bürgerfamilie handelt. Vielleicht, so die Hoffnung, lässt sich aus dem
Verfall dieser Familie dann doch noch etwas lernen, was uns bei unserer heutigen Sinnkrise
hilft.
Thomas Mann ist auch in einer anderen Hinsicht interessant für uns, weil er nämlich die Ambivalenz des Bürgertums zeigt. Und dieses Bürgertum ist das des Wilhelminischen Kaiserreiches. 1875 wurde er geboren, hat die ersten Jahre in Lübeck, die nächsten Jahre dann in München verbracht, hat also das protestantische und das katholische Milieu kennen gelernt. Früh
setzt er seinen Wunsch nach einem Leben als Künstler durch – und erfährt wiederum die
Spannungen zwischen dem Dasein als Künstler und als Bürger. Sein frühes Hauptwerk, für
das er später den Nobelpreis erhalten soll, vollendet er im Alter von 25 Jahren. Schopenhauer
und Anna Karenina, so schreibt er später, sind seine Begleitlektüre während der Abfassung
des Romans. Früh hat er seine großen Drei, nämlich Goethe, Schopenhauer und Nietzsche, für
sich entdeckt. Dazu kommen Tolstoi und Dostojewski. Diese Vorliebe hält bis ins hohe Alter.
Interessant ist Thomas Mann, weil er sich einmischt in die Politik und mit hohem Aufwand
nicht nur diese Einmischung begründet, sondern paradoxerweise auf über 400 Seiten beschreibt, warum eine solche Einmischung in die Politik für einen Künstler und Ästheten nur
von Übel sei. Dialektisch muss man also schon denken, wenn man sich mit dieser Ikone deutscher Bildung und Kultur auseinandersetzt. Seine politischen Einmischungen sind hoch aktu197
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ell. Denn man lernt sehr viel über ein aktuelles Thema, das ich in einigen Aufsätzen immer
wieder angesprochen habe: Den Hang der Deutschen zu einem starken Staat, der selbst in der
Kulturpolitik – heute unter dem Label des Kulturstaates – fröhliche Urstände feiert. Wo
kommt dieser Hang her und: ist es überhaupt legitim, von einer entsprechenden Mentalität der
Deutschen zu sprechen? Ist es in Zeiten, in denen „Vielfalt“ zu einem Leitbegriff nicht nur der
Kulturpolitik geworden ist, angemessen, alle über einen Kamm zu scheren? Sicherheitshalber
nenne ich daher mein Vorgehen einen „Versuch“.
Doch gibt es Vorbilder, die ermutigen. Mme. de Stael versuchte bereits zu Zeiten Goethes,
ihren Franzosen die Deutschen zu erklären (De l’Allemagne, 1813). Rund 150 Jahre später ist
es ein kluger Amerikaner, der mit weitem Horizont und großer Zuneignung die Finger in die
Wunde legt (G. A. Craig: Über die Deutschen, 1982). Norbert Elias liefert uns mit seinem
Konzept des Habitus ein wichtiges Verständnismittel und legt „Studien über die Deutschen“,
vor allem über Nationalismus und Gewalt, vor. Und nicht zuletzt stößt man auf die tiefschürfenden geistesgeschichtlichen Studien, die Helmut Plessner in seinem holländischen Exil
1935 schreibt und die unter dem Titel der „verspäteten Nation“ erst Mitte der 50er Jahre in
Deutschland erschienen – in Sprache und Inhalt bis heute kaum veraltet. Liest man all dies, so
drängt sich auf die Titelfrage die Antwort auf: Nein.
Doch nun zu Thomas Mann. Im Jahre 1915 veröffentlicht er seine kleine Schrift „Friedrich
und die große Koalition“ (Gesammelte Werke, Bd. X, 76ff.), in der er wie viele andere Künstler und Intellektuelle die deutsche Seite im Kriege stützt und viele Argumente für die Notwendigkeit dieses Krieges anführt. Man erinnere sich: Schon im Vorfeld tobte ein Kampf
zwischen Vertretern der tiefen deutschen „Kultur“ und der englischen und französischen „Zivilisation“, so dass man von einem „Kulturkrieg“ sprach. Allerdings gab es nicht nur auf Seiten der Alliierten harte Kritiker gerade der kleinen Schrift von Thomas Mann – mit Romain
Rolland setzt er sich später ausführlich auseinander. Auch unter den Deutschen gab es Intellektuelle und Künstler, die die Position von Thomas Mann nicht teilten. Sein Bruder Heinrich
gehörte zu diesen. Dessen Kritik hat Thomas offenbar heftig getroffen. Denn er schreibt in der
Folgezeit ein umfangreiches Buch, die „Betrachtungen eines Unpolitischen“: „Das Buch, in
den Kriegsjahren geschrieben, war ein leidenschaftliches Stück Arbeit der Selbsterforschung
und der Revision meiner Grundlagen, meiner Gesamt-Überlieferung, welche die einer politikfremden deutschbürgerlichen Geistigkeit war, eines Kulturbegriffs, zu dessen Gestaltung Musik, Metaphysik, Psychologie, eine pessimistische Ethik, ein individualistischer Bildungsidealismus sich vereinigt hatten, der aber das politische Element geringschätzend ausschied“, so
Mann in seinem Aufsatz „Kultur und Politik“ (1939; Werke XII, 853 ff.), in dem der nunmehr
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Sechzigjährige auf das Werk des Vierzigjährigen zurückblickt. Mentalitätsgeschichtlich sind
beide Texte, die 400 Seiten von 1917 und die 10 Seiten von 1939, hoch interessant. Denn der
lange Text, brillant geschrieben, zwar nach Mann kein Kunstwerk, aber ein Künstlerwerk,
kann quasi als konzise Beschreibung deutsch-bürgerlicher Mentalität, kann als Grundbuch
eines reflektierten Konservativismus gelten. Wer den Text liest, kann sich der packenden
Sprache kaum entziehen, selbst wenn angesichts der – heute muss man sagen – reaktionären
Positionen fast auf jeder Seite der Atem stockt. Beiläufig erfährt man zudem vieles Interessante über Entstehung und Hintergrundüberlegungen vor allem zu den Buddenbrooks und zu
Tonio Kröger. Wer glaubt, das Urteil „reaktionär“ sei zu hart, lese bei Mann selbst (zitiert
nach Bd. 4 der Gesammelten Werke): „dass es ein Irrtum deutscher Bürgerlichkeit war, zu
glauben, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein“ (854), dass der „Weg in die Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus mit Politiklosigkeit des bürgerlichen Geistes in
Deutschland zusammenhängt“ (854). Und weiter: „Das politische Vakuum des Geistes in
Deutschland, die hoffärtige Stellung des Kultur-Bürgers zur Demokratie, seine Geringschätzung der Freiheit … hat ihn zum Staats- und Machtsklaven … gemacht … und ihn in solche
Erniedrigung gestürzt, dass man sich fragt, wie er je vor dem Angesicht des Weltgeistes wieder die Augen wird aufschlagen können.“ (857). Und ein letztes Zitat: „Die Frucht seines ästhetischen Kulturbürgertums ist ein Barbarismus der Gesinnung, Mittel und Ziele, wie die
Welt ihn noch nie sah;“(860).
Diese (selbst-)kritischen Positionen fanden auch Eingang in sein literarisches Werk. So
schreibt er während der Abfassung seines Mammutwerkes über Joseph im Jahre 1933 seinen
Roman „Lotte in Weimar“, in dem die Politik und speziell Goethes Verhältnis zu den Befreiungskriegen gegen Napoleon eine große Rolle spielen. Dort lässt er Goethes Sohn August zu
Lotte sagen: „Ist doch die Politik ihrerseits nichts Isoliertes, sondern steht in hundert Bezügen,
mit denen sie ein Ganzes und Untrennbares an Gesinnung, Glauben und Willen… bildet. Sie
ist in allem Übrigen enthalten und gebunden, im Sittlichen, im Ästhetischen, scheinbar nur
Geistigen und Philosophischen …“ (Werke 2, 604).
Man vergesse nie, dass all die später von Mann kritisierten Positionen solche sind, die er
selbst mit höchster Sprachgewalt und fulminantem Bildungswissen in seiner frühen Schrift
verteidigt. Dort geht es ihm um die „Abwehr ungerechter Ehrenkränkung“, wobei er mit hohem Selbstbewusstsein sich selbst und Deutschland gleichermaßen gekränkt sieht und daher
auch beides im selben Aufwasch verteidigt. Bevor einige Kostproben von Positionen gegeben
werden, ein Kommentar zu seiner Entschuldigungs- und Bekenntnisschrift aus dem Jahre
1939, geschrieben im amerikanischen Exil. Es schreibt ein inzwischen zur Demokratie – ein
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Schimpfwort noch in der frühen Schrift – Bekehrter. Es ist also eine Wende um 180 Grad.
Und dies ist aller Ehren wert. Wer allerdings beide Texte vergleicht, spürt in jeder Zeile des
ersten Textes das Herzblut, den ganzen Menschen mit seiner Grundüberzeugung. Im zweiten
Text dagegen ist es trotz guter und wichtiger Worte eben bloß der Verstand, der die Richtung
diktiert, wobei auch der höchst unterschiedliche Aufwand an Buchseiten eine deutliche Sprache spricht. Im ersten Text ist das Ich des Autors allgegenwärtig, im zweiten sind es allgemein „die Bürger“, deren Fehlhaltung er kritisiert. Mann geht so weit, dass er seine frühe
Schrift als ersten Schritt seines Bewusstseinswandels definiert. Fast kann man es mit seinen
eigenen Worten – bei ihm bezogen auf Tolstoi – kommentieren: „Ich habe ….. das Riesenwerk wieder gelesen, - beglückt und erschüttert von seiner schöpferischen Gewalt und voller
Abneigung gegen alles, was Idee, was Geschichtsphilosophie darin ist …“ (503). Er dürfte
allerdings der Einzige sein, der in dieser fulminanten Verteidigungsschrift der ganzen politischen Rückständigkeit des deutschen Bürgertums mit seiner flammenden Begründung von
Nationalismus und deutscher Besonderheit bereits ein „demokratisches Bekenntnis“ im Ansatz erkennen kann (854). Doch soll man Menschen nicht überfordern, denn Mentalitäten sitzen tief, haben nur begrenzt mit Wissen und Einsicht zu tun. Der Habitus, so Elias und Bourdieu, entsteht eher beiläufig und alltäglich, entsteht en passant. Dafür sitzt er aber um so tiefer. Lesen wir also die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ – übrigens eine Redewendung,
die Mann von Goethe übernommen hat und die man auch bei Dostojewski findet – als analytisches Psychogramm einer gesellschaftlichen Schicht.
Natürlich hat dieser komplexe Text so viele mögliche Lesarten, wie sie noch nicht einmal hier
angedeutet werden können. Er liefert eine Apologie des Krieges, des deutschen Nationalismus, des a(nti)politischen Bürgers und Künstlers, der zivilisationsfeindlichen Kultur, der
deutschen Tiefe, einer elitär-aristokratischen Vorstellung von politischer Ordnung. Der Krieg:
Es ist ein „moralischer Krieg“ (155), er ist Deutschland aufgezwungen worden durch eine
Verschwörung des Internationalen Freimaurertums mit dem Ziel, aus Deutschland eine ihm
wesensfremde Demokratie westlichen Musters machen zu wollen (54). Die Deutschen werden
diese Demokratie niemals lieben können, weil „der vielverschrieene „Obrigkeitsstaat“ die
dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt“ (30). Denn: „Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und
Literatur; und Deutschtum das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur“ (31). Der Deutsche ist friedliebend und speziell ist es das Wilhelminische Kaiserreich. Doch gibt es uneinsichtige Menschen, im Ausland ohnehin (Rolland,
200
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Shaw), aber auch in den eigenen Reihen, die dies negieren, vielleicht sogar: wider besseres
Wissen negieren. Thomas Mann schafft für diese die Kunstfigur des „Zivilisationsliteraten“:
unpatriotisch, eher französisch und an der Aufklärung orientiert, schreibt Gesellschaftsromane, verrät die deutsche Seele an oberflächliche und unglaubwürdige Werte wie Freiheit und
Demokratie. Es fällt nicht schwer, seinen Bruder Heinrich hinter dieser Chiffre zu erkennen.
Dessen kritische Psychogramme deutscher Bürgerlichkeit (Prof. Unrat, Der Untertan) passten
in diese deutsch-nationale Anhimmelung des Bürgers wenig hinein. Der Zivilisationsliterat ist
westlich, ist schlicht undeutsch. Die Demokratie ist ohnehin das Schreckgespenst des deutschen Bürgers: Proleten ohne Abitur und Bildung maßen sich an, den Staat regieren zu können. Einige angelernte Floskeln reichen, um höchste Staatsämter zu erreichen. Interessant ist
es, welche Referenzautoren Thomas Mann zuzieht. Goethe, Wagner, Schopenhauer und
Nietzsche habe ich schon genannt. Natürlich taucht Schiller, Ehrenbürger des revolutionären
Frankreich, nur ein einziges Mal auf, obwohl auch er sich nach der Niederlage gegen Napoleon und dem Ende des Römischen Reiches Deutscher Nation einmal recht nationalistisch geäußert hat: Mögen andere Völker auch militärisch siegreich sein, die Deutschen dominieren
im Reich des Geistes. Es war diese Niederlage, die endgültige Besiegelung des Heiligen Römischen Reiches, die den Chauvinismus überschwappen ließ. Auch Fichte gehörte zu jenen,
die die Deutschen als Nation gern geeint gesehen hätten und der in seiner Ermutigung der
Deutschen den Patriotismus in Richtung Chauvinismus hoffnungslos überzieht. So erläutert er
beispielsweise in seiner vierten „Rede an die Deutsche Nation“ (1808), dass die deutsche
Sprache ohnehin über allen anderen stehe und deshalb der Deutsche, der eine Fremdsprache
erlerne, diese dann besser beherrsche als der Muttersprachler.
Doch welche zeitgenössischen Autoren zitiert Thomas Mann? Wer Fritz Stern (Kulturpessimismus als politische Gefahr, 1963) gelesen hat, kennt deren politische Bedeutung: St.
Chamberlain und Lagarde zum Beispiel, Nationalisten, Antisemiten, Stichwortgeber für alle,
die später in der Weimarer Republik eine unheilvolle Rolle spielten. Dazwischen finden sich
immer wieder hoch interessante Passagen, die man heute als Dekonstruktion bezeichnen würde, etwa zur „Tugend“, zum „Bürgertum“, zu „Kunst“ und zu „Literatur“. Von großem Interesse ist auch – fast ein roter Faden – die Auseinandersetzung zwischen Bürger und Künstler,
zweier Seelen in der Brust von Thomas Mann. Der Künstler war im 19. Jahrhundert für den
Bürger immer ein Doppeltes: Zum einen die höchste Ausprägung von Individualität, also einer zentralen Bürgertugend. Er war aber auch stets Bohème, nicht zugelassener Wunschtraum
eines zügellosen Lebens. „Tonio Kröger“ macht gerade dies zum Thema. Und es ist kein Zufall, dass Thomas Mann in der pessimistischen Verfallsgeschichte der Buddenbrooks Scho201
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penhauer als seinen Bezugsautor bestimmt, Tonio Kröger aber im Geiste Nietzsches geschrieben sieht (91). Es gilt wohl auch für ihn selbst: Tonio Kröger als etwas „Ironisch-Mittleres
zwischen Künstlertum und Bürgerlichkeit“ zu sehen (ebd.). Für Thomas Mann sind Schopenhauer und Nietzsche zeit seines Lebens die wichtigsten Stichwortgeber. Er liest beide Autoren
als Moralphilosophen und Ethiker. Dem Einfluss von Schopenhauer dürfte letztlich auch seine Aversion gegen Hegel zu verdanken sein. Denn dieser hatte als junger Dozent die Mission,
den preußischen Staatsphilosophen – seinerzeit auf der Höhe seines öffentlichen Ansehens –
vom Throne zu stürzen. Zeitgleich setzte er seine Vorlesungen an, um Hegels Hörer abzuwerben. Das Ergebnis war so katastrophal, dass er seine Universitätslaufbahn beendete, bevor sie
begann. Doch bleiben Hegel und der staatsfromme Protestantismus bei einer zentralen Frage
tonangebend: Für Thomas Mann war politisches Denken identisch mit Denken in Kategorien
des Staates: „Denn Politik ist Teilnahme am Staat, Eifer und Leidenschaft für den Staat“
(149). Dagegen setzte Mann Religion, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wissenschaft (ebd.).
Politik ist schmutzig und charakterlos: „Dass wir nicht von Politikern … reden, liegt auf der
Hand. Das ist ein niedriges und korruptes Wesen …“ (231). „Leben“ wird zur zentralen Kategorie. Es ist diese Lebensphilosophie, die der von ihm wohlwollend zitierte junge Georg Lukacs (103) später in einem Alterswerk als wichtige Verfallslinie des Geistes hin zum Nationalsozialismus beschreibt (Die Zerstörung der Vernunft, 1962).
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient der Protestantismus. Es wird an vielen Stellen deutlich, wie eng Thomas Mann die Verbindung zwischen Deutschtum und Protestantismus sieht.
Der führende Kulturprotestant Ernst Troeltsch wird zustimmend zitiert. Für die Webersche
These „Vom Geist des Protestantismus“ (1905) als geistiger, ethisch-moralischer Grundlage
und Entstehungsbedingung des Kapitalismus nimmt er selbstbewusst Urheberrechte in Anspruch (145). In der Tat findet sich in dem Konflikt zwischen Thomas und Christian Buddenbrook. Bis in seine fast industriell organisierte Schriftstellertätigkeit verkörpert Thomas Mann
selbst diese protestantischen Arbeitstugenden. Kant, eigentlich der „maßgeschneiderte“ Philosoph dieser strengen Ethik, spielt keine Rolle bei Thomas Mann, obwohl er neben Platon der
einzige von Schopenhauer akzeptierte Philosoph ist. Nur dort, wo er sich an Schopenhauer
anschließt bei dessen These, dass es nicht das Handeln ist, das eine ethisch-moralische Bewertung verdient, sondern die innere Einstellung zur Tat, bekennt er sich zu Kant. Handeln, so
könnte man salopp sagen, ist eben nicht sein Ding als Künstler. Häufiger zitiert er Goethe:
„Der Handelnde ist immer gewissenlos. Es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“
(579). Dürrenmatt formulierte dies später lakonisch so: „Der Handelnde hat immer Unrecht“.
Das deutsche Volk jedoch hat gehandelt, indem es die Reformation hervorbrachte. Gerne
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stützt sich Mann auf die These, dass Frankreich die Revolution nötig hatte, eben weil es keine
Reformation hatte. Und ausführlich gibt er Überlegungen von Dostojewski wieder, die den
Schicksalsweg des deutschen Volkes, die dessen historische Aufgabe als „Protest“ beschreiben. Hier ordnet er sich ein in seinem Protest, eben nicht westlich-modern sein zu wollen.
Welche Rolle spielt nun dieses Werk in Hinblick auf unsere mentalitätsgeschichtlichen Thesen? Es beschreibt den Wertehaushalt und die Deutungsmuster des Wilhelminischen Bürgertums und gibt Hinweise darauf, wie diese zustande gekommen sind. Man versteht besser,
wieso es „Gesellschaft“ in der Selbstbeschreibung der Deutschen so schwer hatte und weshalb
die Blutverbindung der Gemeinschaft den Vorzug bekam. Helmut Plessner musste sich noch
Anfang der 20er Jahre eine „Philosophie der Kälte“ vorwerfen lassen, als er 1924 in seiner
Jugendschrift „Grenzen der Gemeinschaft“ gegen den Gemeinschaftskult im politischen und
sozialen Denken anging. Wichtig sind die Erkenntnisse seines Textes (1959 unter dem Titel
„Die verspätete Nation“ erschienen, geschrieben 1935 im holländischen Exil) in Hinblick auf
die politischen und kulturellen Folgen dieser Mentalität. Gerade die „Betrachtungen“ von
Thomas Mann sind als Bündelung und Intellektualisierung dieser Position Teil dieser unheilvollen Wirkungsgeschichte. Eine zweite Auflage erscheint 1922. Sie kann als Fundgrube und
Referenz für all jene gelten, die ihre Probleme mit der Republik, dem Parlamentarismus und
der Demokratie von Weimar hatten. Ihr chauvinistisch-nationalistischer Grundtenor fand weite Verbreitung, wobei – durchaus entgegen den Absichten ihres Verfassers – der Weg vom
Nationalismus zum Nationalsozialismus nicht immer weit war. Wer die „Betrachtungen“ zugleich mit den langen Passagen in Littells „Die Wohlgesinnten“ liest, in denen NaziIntellektuelle sich ihrer Weltanschauung versichern, kann die Parallelen nicht ignorieren. Für
die Funktionseliten im NS-Staat genügten die Streicher-Tiraden im „Stürmer“ eben nicht. Wie
klingt etwa ein Abschnitt wie der folgenden: „Der Friede Europas sei … ein deutscher Friede.
Der Friede Europas kann nur beruhen auf dem Siege und der Macht des übernationalen Volkes, des Volkes, das die höchsten universalistischen Überlieferungen, die reichste kosmopolitische Begabung, das tiefste Gefühl europäischer Verantwortlichkeit sein eigen nennt. Dass
das gebildetste, gerechteste und den Frieden am wahrsten liebende Volk auch das mächtigste,
das gebietende sein – darauf, auf der …. Macht des Deutschen Volkes, ruhe der Friede Europas.“ (207). Was heißt dies anderes, als dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle?
Und so sollte man die „Betrachtungen“ parallel zu Plessners „Verspäteter Nation“ lesen. Denn
der umfangreiche Mannsche Text kann geradezu als empirische Unterfütterung der harten
Analyse dessen gelten, worin das „Verspätete“, das Anti-Moderne der Deutschen liegt. Natürlich fiel Thomas Mann früh in Ungnade bei den Nazis. Schon in der Weimarer Zeit gelang
203
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ihm der Übergang zu demokratischen Positionen. Doch ließen sich viele später in der Bundesrepublik angesehene Künstler und Wissenschaftler als „nützliche Idioten“ (Lenin) von den
Nazis vor den Karren spannen, weil sie von der Illusion ausgingen, sie könnten diese als
„nützliche Idioten“ für ihre eigenen politischen Ziele benutzen. Und so machten die Benn,
Wigman, Hauptmann, Heidegger, Spranger, Nohl und viele andere erst einmal ihren Frieden
mit den neuen Machthabern.
Und heute? Die Sehnsucht nach dem starken Staat, um den man sich nicht weiter kümmern
muss, der sich dagegen redlich um die Unterstützung von Kunst und Künstlern kümmert: Diese Sehnsucht ist immer noch vorhanden. Ebenso ist es die Sehnsucht nach einer deutschen
„Leitkultur“, nach der Sicherung der großen Kulturleistungen früherer Zeiten. Es ist schon
erstaunlich, wie naiv man heute über „Kultur“ und „Bildung“ im Geiste des 19. Jahrhunderts
reden kann, ohne die Missbrauchs- und Verfallsgeschichte, ohne die schwarzen Seiten beider
Leitformeln zur Kenntnis zu nehmen. Lernen könnte man im Hinblick auf beide Begriffe,
dass eine rein anthropologische bzw. geistesgeschichtliche Begründung zwar notwendig ist,
aber leicht zur bloßen Ideologie verkommt, wenn die Realgeschichte ihrer sozialen Anwendung vernachlässigt wird. „Bildung“ und „Kultur“ sind – wie alle gehaltvollen Begriffe –
zwar auch theoretische, aber eben auch politische und ideologische Begriffe (Bollenbeck:
„Bildung“ und „Kultur“, 1994; Fuchs: Kulturelle Bildung, 2008).
Bis heute sitzen Ideen der „Betrachtungen“ von Thomas Mann tief in unseren Mentalitäten.
Zwar haben die Deutschen auf eine Weise ihren Frieden mit der Demokratie gemacht, wie das
vermutlich kaum einer nach 1945 erwartet hätte. Aber man lese einmal die Überlegungen zum
Kanon der Konrad-Adenauer-Stiftung, man lese die verschiedenen Statements zur „Leitkultur“. Ein anderer Aspekt ist ebenfalls interessant. Ebenso wie Thomas Mann in den „Betrachtungen“ das Deutsche gegen den Westen verteidigt und den Ersten Weltkrieg aus deutscher
Sicht zu einem „moralischen Krieg“ erklärt, gab es viele Pro-Amerikaner in Deutschland, die
den Krieg der USA („den Westen“) gegen den Irak als „gerechten Krieg“ unterstützten und
mit ähnlicher Vehemenz, wie Thomas Mann die Zivilisationsliteraten und Pazifisten schmähte, die Gegner dieses Krieges beschimpften. An der intellektuellen Spitze dieser Bewegung
stand seinerzeit die „Zeitschrift für europäische Kultur“, der Merkur. Immerhin hat Thomas
Mann seine Irrtümer erkannt und öffentlich korrigiert. Ähnliches war selbst dann nicht aus
dem Kreis der Merkur-Ideologen zu hören, als sich so nach und nach alles Gerede über Giftgas im Irak als Lüge herausstellt. Die Lernfähigkeit dieser intellektuellen Spitze des konservativen Bürgertums ist offenbar begrenzter als bei Thomas Mann.
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Das Bürgertum: Es war in den letzten 20 Jahren Gegenstand aufwendiger Forschungsprojekte
in Bielefeld, Frankfurt und anderswo (vgl. A. Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums
im 19. und 20. Jahrhundert, 2005). Es hatte im 19. Jahrhundert die kulturelle Hegemonie erkämpft und dabei eine angemessene Beteiligung an der politischen Gestaltung der Gesellschaft und eine demokratische Politik ausdrücklich nicht betrieben, sondern sogar energisch
liberale Tendenzen aus der Zeit vor 1848 zurückgedrängt. Ob deshalb gerade das deutsche
Bürgertum aufgrund seiner Geschichte – sofern es überhaupt noch identifizierbar ist – den
Weg aus der heutigen Krise zeigen kann, ist daher höchst fraglich. Thomas Mann schreibt,
dass er bei seinem Verständnis von Bürgertum an sehr viel ältere Vorstellungen anknüpft. Der
Bourgeois, der Wirtschaftsbürger des aufkommenden Kapitalismus, ist es jedenfalls nicht, an
den er denkt, wenn er von Bürgern spricht. Es ist auch nicht der Citoyen, der sich seinen Anteil an der Macht erkämpft. All dies ist ihm zu modern, zu westlich. So lässt er in dem Roman
„Königliche Hoheit“ (1909) mit S. N. Spoelmann zwar einen Kapitalisten amerikanischer
Prägung auftreten. Dessen Funktion besteht jedoch letztlich darin, mit seinen erheblichen Mitteln die vormodernen Strukturen eines kleinen Fürstentums zu bewahren. Es sind nämlich
romantische Vorstellungen von Bürgertum und Politik, denen der Autor anhing.
Der ganze Text der „Betrachtungen“ ist ein Dokument des konservativen Antimodernismus,
der mit der Entwicklung der Gesellschaft nicht klar kommt. Dessen einziges Refugium bleiben dann nur Kunst und Bildung. (Für einen europäischen Vergleich siehe den letzten Band
seiner Geschichte des langen 19. Jahrhunderts von Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter,
1989). Dies scheint auch in der DDR nicht anders gewesen zu sein. Uwe Tellkamp beschreibt
in seinem prämierten Roman „Der Turm“ – vom Verlag mit den Buddenbrooks verglichen –
den Verfall einer (Bildungs-)Bürgerfamilie in Dresden, die sich recht gut mit den politischen
Verhältnissen arrangiert hat. Auch hier entstehen zaghafte Formen des Protestes erst, als die
Behaglichkeit des Lebens in Hausmusik und den großen Werken der Literatur gestört wird.
Die Tugenden der Bürgerlichkeit? Vielleicht sind sie doch eher schöne Tagträume und euphemistische Beschreibungen von Wunschbildern als Realität. Bildung, so Goethe, war der
Adelsschlag des Bürgertums. Doch hatte diese bei Humboldt noch emanzipatorischen Charakter, war gerade nicht so antipolitisch, wie Mann sie beschreibt. Es wurde jedoch die zentrale
Einrichtung ihrer Vermittlung, das humanistische Gymnasium, recht bald zu einer geistlosen
Paukschule. Thomas Mann weist selbst darauf hin: Die letzten Kapitel der Buddenbrooks befassen sich fast nur mit der Schule. Er spricht von einer „Verpreußung und Enthumanisierung
des neudeutschen Gymnasiums“ (239; vgl. auch G. Ruppelt: Professor Unrat und die Feuerzangenbowle, 2004). Die Schule in einer Gesellschaft hat allerdings stets die Form, die diese
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Gesellschaft will. Sie ist zentraler Ort der Habitus-Entwicklung, so dass die Schulgeschichte
Aufschlussreiches über die Geschichte dem Mentalitäten verrät. Es ist daher kein Zufall, dass
die Veränderung der Schule mit einer Veränderung der Bürgerlichkeit einhergeht. Die Lektüre von Thomas Mann – gerade auch seiner politischen Schriften – lohnt sich. Sie lohnt sich
gerade dort, wo er irrt. Denn wenn sich große Geister irren, tun sie dies auf eindrucksvolle
Weise, die oft lehrreicher ist als viele politisch-korrekte Ausführungen. Meine These ist, dass
die antimoderne Bürgerlichkeit bis heute lebendig ist (Lepenies: Kultur und Politik 2006).
Dass der Einfluss des Protestantismus auf unser Denken über Kultur und Bildung lebendig ist.
Dass die immer noch aktuelle Affinität zum (Kultur-)Staat wesentlich auf diesen mentalitätsgeschichtlich nachweisbaren langlebigen Einfluss dieser Verbindung von apolitischem Bürgertum und Protestantismus zurückzuführen ist.
Die „Betrachtungen“ werden so entgegen ihrer Kernbotschaft, nämlich des Plädoyers, unpolitisch, ja a(nti)politisch sein zu müssen, zu einem eminent politischen Buch. Man kann eben
nicht nicht-politisch sein, denn auch dies ist eine politische Haltung, die meist denen nützt,
mit denen man nichts zu tun haben will.
Dieser Text ist Teil eines umfangreicheren Textes „Die kulturellen Grundlagen der
Kulturpolitik“, der in Kürze auf der Homepage des Kulturrates zu finden sein wird.
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Künste wirken – aber bei wem?
Warum die Kunst ein Publikum und das Publikum die Kunst braucht
1. Problemstellung
Ohne Kunst ist menschliches Leben ein unvollständiges Leben! In dieser Aussage steckt nicht
nur eine Menge anthropologischer Einsichten, sie ist sogar auf höchster Ebene menschenrechtlich abgesichert. Es gibt aber auch die Umkehrung dieser Aussage: Nur durch Menschen,
die die Kunst nutzen, wird diese zur Kunst: Kunst braucht notwendigerweise ein Publikum.
Auch diese kunsttheoretische Einsicht ist gut begründet. Eigentlich müsste doch daher alles in
bester Ordnung sein. Doch zerstört auch hier die Soziologie und insbesondere die empirischen
Nutzerstudien die heile Welt der Theorie: Viele Menschen haben nur begrenzt Kontakt zu
dem, was wir zu den Künsten zählen, und vieles an Kunstproduktionen findet nur begrenzt
Zuspruch beim Publikum. Vielleicht, so könnte ein Einwand aus der Sicht der Theorie, die
sich noch nicht geschlagen geben will, lauten, liegt dies daran, dass wir ein zu enges Verständnis von Kunst haben. In der Tat ist bei der Rede von „Kunst“ oft genug die Dominanz
eines Verständnisses festzustellen, das gerade mal 200 Jahre alt ist und seine primäre Gültigkeit nur in Mitteleuropa und sehr stark in Deutschland fand. Denn das Verständnis von
„Kunst“ hängt sehr stark von Ort und Zeit ab und es sind die endlosen Debatten über U und E,
über Hoch- und Breitenkultur, über Profi- und Laienkunst gerade in Deutschland traditionell
besonders intensiv. Man wird also genauer hinsehen müssen bei den Nutzerstudien, aber auch
bei der Frage möglicher Kunstwirkungen. Dies soll im folgenden daher etwas ausführlicher
dargestellt werden: Eine anthropologische Begründung der Notwendigkeit von Kunst, eine
soziologische Analyse der Teilhabe und eine Erörterung der Frage, welche Kunst wer braucht
und bekommt. Zum Abschluss werden einige politische und pädagogische Konsequenzen
gezogen.
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2. Wozu Kunst – die Lehren der Anthropologie
Es gibt kaum einen Philosophen, der sich nicht mit Kunst befasst hat, selbst wenn „Kunst“ im
heutigen Verständnis erst seit dem 18. Jahrhundert, nämlich seit Alexander Baumgarten, verwendet wird. Man reflektierte vielmehr über Schönheit und Ordnung, über Symmetrie und
Proportion. Es war schließlich Kant, der mit seinen drei Kritiken (erneut) die Grundlage für
die Dreigliederigkeit der Philosophie gelegt (Erkennen, Handeln und Geschmacksurteil) und
damit das Studium des Wahren, Guten und Schönen als zentrale Aufgabe der Philosophie
bestätigt hat. Interessant seine Kurzfassung der zentralen Probleme: Was kann ich wissen?
Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und alle drei Fragen münden letztlich in der Frage:
Was ist der Mensch? (Offensichtlich hat hier die religiöse Frage die Ästhetik zunächst einmal
verdrängt. Möglicherweise hängt jedoch beides mit der Frage nach dem Sinn eng zusammen).
Damit wird Anthropologie nicht nur zu einer Art philosophischer Königsdisziplin. Sie gibt
durch ihre pure Existenz zugleich eine Antwort auf die gestellte Frage nach dem Menschen:
Der Mensch ist offensichtlich dasjenige Wesen, das ständig reflexiv danach fragt, was es denn
eigentlich „ist“. Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht daher vom Menschen als
dem sich ständig selbst interpretierenden Tier.
Viele andere Antworten konkurrieren miteinander bei der Frage, was den Menschen zum
Menschen macht: Werkzeuggebrauch und -herstellung, Sprache, Wissenschaft, Politik, Religion und natürlich immer wieder auch die Kunst. Tatsächlich hat man in der Frühgeschichte
des Menschen, die für die Beantwortung dieser Frage eine besondere Relevanz bekam, stets
Technik, Religion, Erkenntnis und Ästhetik gemeinsam gefunden: Ästhetisch gestaltete
Werkzeuge, Wandmalereien an kultisch-religiösen Orten, alte Musikinstrumente. All dies
erscheint gerade in der Vermischung von Religion, Ästhetik und Technik verwirrend. Diese
Verwirrung löst sich vielleicht ein wenig, wenn man berücksichtigt, dass die Trennung in unterschiedliche Disziplinen nicht der Arbeitsweise unseres Bewusstseins entspricht und neueren Datums ist: Weder hat der frühzeitliche Mensch solche Einzeldisziplinen wie Moralphilosophie oder Erkenntnistheorie gekannt, noch ist diese Trennung im heutigen Alltagsgeschäft
des Überlebens relevant. Stets gehen Erkennen, moralisches und ästhetisches Urteilen Hand in
Hand. Ernst Cassirer (1990) hat diesen Gordischen Knoten, die Frage also nach der Priorität,
in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ gelöst: Er unterschied nämlich (mindestens)
acht Weltzugangsweisen des Menschen, nämlich Religion und Mythos, Politik und Technik,
Wirtschaft und Sprache und schließlich Wissenschaft und Kunst als gleichberechtigte Weisen,
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mit denen der Mensch die Welt erfasst. Gleichberechtigt sind sie, weil sie alle notwendig sind,
wobei jede dieser Weltzugangsweisen die Welt unter einem anderen „Brechungswinkel“ erfasst. Möglich wird diese Form der komplexen Welterfassung durch eine Besonderheit, die
zeitgleich der Biologe und Philosoph Helmut Plessner (1976) entdeckte und beschrieb: Der
Mensch entwickelte in der Anthropogenese die Fähigkeit, quasi virtuell neben sich zu treten
und sich selbst zum Gegenstand von Betrachtungen zu machen. Er lebt also gerade nicht mehr
(instinktgesteuert) aus seiner Mitte, sondern aus einer „exzentrischen Positionalität“ heraus.
Diese Fähigkeit zur Reflexivität ist der Motor der Entwicklung der Menschen, der seither den
Verlust seiner automatischen Instinktsteuerung mit der Fähigkeit zu bewusstem handeln kompensiert. Bis heute wird dieser Grundgedanke Plessners bestätigt (Tomasello 2006). Der
Mensch kann und muss sein Leben selber führen, muss selber die notwendigen Entscheidungen treffen, die sein Überleben sichern. Kunst ist gleichberechtigter Teil dieses Überlebensprozesses. Die Anthropologie, die es auf abstrakter Ebene mit dem Gattungswesen Mensch zu
tun hat, kommt also zum Schluss: Kunst für alle. Und genau dies formuliert die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte, formuliert der Pakt über soziale, ökonomische und kulturelle
Rechte, formuliert die Kinderrechtskonvention. Da Menschrechte nicht teilbar sind, sondern
stets universell „für alle“ gelten müssen, haben die politischen Slogans „Bildung für alle“
(Comenius) oder „kulturelle Bildung für alle“ (UNESCO) ein tragfähiges anthropologische
Fundament.
Gerade im Geburtsjahr Darwins und 150 Jahre nach dem Erscheinen seiner „Entstehung der
Arten“, der dreizehn Jahre später die „Abstammung des Menschen“ folgte, sind einige weitere
Hinweise interessant, die die Erkenntnisse der Philosophen stützen. So kann man zeigen, dass
viele ästhetische Aspekte unmittelbar eine Bedeutung bei dem Kampf ums Überleben haben.
Darwin selbst studiert die Rolle der „Schönheit“ bei den Männchen im Tierreich als Faktor
bei der Wahl des Sexualpartners. Wem dies zu abwegig erscheint, mag einmal bei Wolfgang
Welsch (2004), anerkannter zeitgenössischer Ästhetiker, nachlesen, welch hohe Bedeutung
die Entwicklung des ästhetischen Verhaltens bei den Tieren (vor der Entstehung des Menschen) hatte. Hierbei bezieht er sich immer wieder auf die Studie von Darwin. Eher spekulativ
formulierte Arnold Gehlen (1950) die These, dass die Herkunft der Musik etwas mit den
akustischen Warnsignalen bei der Annäherung eines Fressfeindes zu tun hatte: Als der
Mensch Macht über die Gestaltung seiner Lebensbedingungen erworben hatte, konnte er sich
gelassen an diese Warnsignale erinnern und dabei eine Freude über die gewonnene Freiheit
genießen, nämlich nicht mehr instinktmäßig in einen Fluchtreflex verfallen zu müssen. Der
Genuss an Musik wird so aufs engste mit einem Genuss an Freiheit verbunden. Und genau
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dies bewirkt Musik bis heute: „In jedem Fall gewinne ich über die Musik eine neue Freiheit
und Unabhängigkeit gegenüber den Anfechtungen und Wirrnissen des Naheliegenden …“, so
der Psychologe und Musiker Klaus Holzkamp (1993, 70).
Auch eine andere Erklärung der Genese des Ästhetischen wird heute reichlich genutzt: In dem
Augenblick nämlich, in dem der Mensch die Bewusstheit über seine Lebensumstände erlangt,
wird ihm die ständige Präsenz von Fressfeinden bewusst. Angst ist die Folge, und übermächtige Angst führt letztlich zum Wahnsinn. Hier kommt das Ästhetische ins Spiel: nämlich als
expressiver Ausdruck von Emotionen, der diese sozial verhandelbar macht, der ihnen eine
gegenständliche Form gibt (Neumann 1996).
Ein letzter Befund betrifft die Tatsache, dass nicht alle ästhetische Gestaltung unmittelbar
funktional mit Überlebensfunktionen erklärt werden kann. Hier hilft die gut belegte Erklärung
der Anthropologin und Ethnologin Ellen Dissanayake (2002) weiter. Ihre These: Ästhetische
Gestaltung macht überlebensrelevante Ereignisse oder Dinge des Alltags besonders, hebt sie
hervor und emotionalisiert sie. So entstehen Rituale, kultische Ereignisse, geschmückte
Werkzeuge und Waffen, so dass indirekt die Ästhetik dann doch Überlebensrelevanz erhält.
Es trifft also zu: Ohne Kunst ist menschliches Leben unvollständig, sogar: Ohne Kunst hätte
menschliches Leben nicht entstehen können! Doch ist es ein weiter Begriff von Kunst, ist es
nicht (nur) die Kunst des europäischen Kulturkanons, die Kunst der Hochkultureinrichtungen.
Diese „Kunst“ ist erst im 19. Jahrhundert entstanden und hat sehr viel mit der problematischen Geschichte des deutschen Bürgertums zu tun: Politisch chronisch erfolglos brauchte es
Orte zur Stärkung einer eigenen Identität. Und so entstanden Theater, in denen Stücke gespielt
werden, bei denen Bürger die früher nur Adligen vorbehaltene große Emotionen erlitten (das
bürgerliche Trauerspiel). Es entstanden Museen, die Zeugnis von der kulturellen Kompetenz
des Bürgertums ablegen sollten (vgl. Nipperdey 1990). Und es war gerade die „autonome
Kunst“, die diesen sozialen und politischen Effekt erzielten. Wer heute also die gerne vollmundig verwendete „Kunstautonomie“ im Munde führt, kolportiert zunächst einmal nur eine
200-jährige Ideologiegeschichte der Kunst. Künste wirken natürlich – inzwischen vielfältig
belegt. Und sie wirken vor allem dadurch, dass man sich im Ästhetischen handlungsentlastet
(„ohne Zweck“, so Kant) verhalten kann. Schiller nutzte dies für seine politische Vision:
Wenn der Mensch erst einmal die Freiheit des Handelns in der Kunst gespürt hat, dann überträgt er dies auch auf sein politisches Verhalten. Die Dialektik ist also diese: Gerade die autonome Kunst erfüllt die gewünschte politische Funktion.
Der Autonomie-Topos – es geht letztlich immer um die „zunehmende Selbstbefreiung des
Menschen“ (Cassirer) – gehört letztlich zur Moralphilosophie, hat etwas mit der Selbstgesetz210
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gebung des Menschen zu tun und ist am besten in Artikel 1 des Grundgesetzes aufgehoben:
nämlich in der Würde des Menschen. Kunstwerke haben lediglich eine „geliehene Autonomie“ (He-Autonomie, so F. Schiller) in der oben vorgestellten Bedeutung.
Leider ist diese Autonomie zu oft zu einer Legitimationsfloskel verkommen, die nur noch das
Betriebssystem Kunst stützen soll. Es liegt auf der Hand, dass dies legitimerweise mit der hier
vorgetragenen anthropologischen Begründung nicht statthaft ist.
3. Zur Nutzung der Künste – ein kultursoziologischer Schock
Die Anthropologie und Kunstphilosophie haben es jeweils mit dem Menschen an sich und der
Kunst an sich zu tun, also Allgemeinbegriffen, die es in der Realität nicht gibt. Auf dieser
allgemeinen Ebene ist es leicht, die These einer „Kunst für alle“ zu vertreten. Doch wie steht
es mit der tatsächlichen Nutzung. Zwei Wege sind denkbar. Die Frage nach der Nutzung vorhandener Kultureinrichtungen: Wer geht wie oft wohin? Und die Frage nach kulturellen Interessen der Menschen: Wer interessiert sich wie oft wofür und was tut er dann? Zu beiden Fragerichtungen finden sich Studien. Viele Kultureinrichtungen führen Nutzerstudien durch,
manche wie die Theater oder Musikschulen sogar regelmäßig. Die Ergebnisse sind bekannt:
Es ist kein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung, der sich auf den hochsubventionierten Plätzen in den Theatern, Opern- oder Konzerthäusern findet. Auch die Museen, wenn sie
nicht gerade von Schulklassen bevölkert werden, erreichen nur ein bestimmtes Publikum.
Woran liegt das? Ist es nur das Marketing, das nicht funktioniert? Diese Frage hat natürlich
auch die Kultursoziologie beschäftigt. Und hier ist es immer noch der französische Soziologe
Pierre Bourdieu (1987), der unerfreuliche Antworten gibt. In der bislang umfangreichsten
empirischen Studie, allerdings schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, kam er
zu dem Ergebnis, das er selbstbewusst die „vierte narzisstische Kränkung“ der Menschheit
nannte.
Zur Erinnerung: Kopernikus fügte uns die Kränkung zu, nicht im Mittelpunkt des Universums, noch nicht einmal im Mittelpunkt unseres eigenen Sonnensystems zu stehen. Darwin
zeigte, dass die „Krone der Schöpfung“ eher ungeliebte haarige Verwandte hat. Freud schließlich zerstörte den Mythos der Steuerung durch Vernunft: Es waren eher Regionen im unteren
Körperbereich, die die Entscheidungen für uns treffen. Und nun Bourdieu. Kunst ist autonom,
Kunst befördert das Gute im Menschen, Kunst ist der Weg zur Entfaltung der vollen Humanität: Diese Kernsätze der idealistischen Autonomieästhetik sah er durch seine Studien vollstän211
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dig widerlegt. Jeder Mensch hat seinen Platz in der Gesellschaft – dies klingt harmlos. Jeder
Mensch hat spezifische ästhetische und kulturelle Bedürfnisse in Hinblick auf Freizeit, Möbel,
Kleidung und Kulturkonsum. Auch dies klingt harmlos. Bourdieu zeigte nun zweierlei: Jeder
Platz in der Gesellschaft korrespondiert mit klar identifizierbaren kulturellen Präferenzen.
Sage mir, was du kulturell tust, und ich sage Dir, wo Du hingehörst. Dies klingt schon nicht
mehr harmlos. Und noch weitreichender ist die (durchaus belegte) These, dass sich ästhetische Präferenzen von Generation zu Generation „fortpflanzen“, so dass im Endeffekt die (für
Bourdieu ungerechte Klassen-)Gesellschaft sich durch Kunst und Ästhetik immer wieder
identisch reproduziert. Nun sind diese Studien 40 Jahre alt. Gelten sie denn überhaupt noch?
Leider muss man diese Frage bejahen: Jede Nutzerstudie zeigt erneut die enge Korrelation
zwischen spezifischen Kulturprogrammen und sozialem Milieu. Der verbreitetste Ansatz findet sich in den SINUS-Studien (www.sinus-sociovision.de), die deshalb inzwischen auch als
Marketing-Instrument genutzt werden. Mit bestimmten ästhetischen Botschaften erreiche ich
ein bestimmtes vorhersagbares Milieu – und grenze die anderen Milieus aus. „Kunst für alle“
funktioniert also nicht, wenn man darunter dasselbe Angebot meint, das alle nutzen sollen. Es
ist also zu differenzieren, welche Kunst für wen angeboten wird. Und es stellt sich dann die
Frage, ob die zahlreichen Wirkungsbehauptungen (in Fuchs/Liebald habe ich 90 zusammengestellt) wirklich für jede Kunstform und bei jedem Publikum gelten.
Doch zunächst ein Blick auf die potentiellen Nutzer. Hier sind es die verdienstvollen Studien
des Zentrums für Kulturforschung, etwa das Jugendkulturbarometer (Keuchel/Wiesand 2006).
Kulturpessimisten erhalten hier ordentlich Argumentationsfutter. Denn das Interesse Jugendlicher an Angeboten der „Hochkultur“ geht nur selten in den (niedrigen) zweistelligen Bereich. Es ist eher Eminen als Mozart, aber interessanterweise ist es durchaus der Picasso im
Museum, der interessiert. Ähnliche Erfahrungen hat man in den Niederlanden gemacht: Jugendliche erhielten Kulturgutscheine für einen Gratisbesuch einer Kulturveranstaltung. Es
wunderte sich vermutlich keiner, dass überwiegend Pop und Rockkonzerte genutzt wurden.
Natürlich sind unsere Musikschulen voll. Natürlich liefern Wettbewerbe wie „Jugend musiziert“ zahlreiche hochtalentierte Jugendliche. Natürlich gibt es das hochqualifizierte Bundesjugendorchester. Doch ändert dies kaum etwas an dem generellen Befund. Auch wenn man
den Blick auf Ältere richtet, so ist es auch dort nicht der Querschnitt, sondern es sind diejenigen, die immer schon Theater und Opernhäuser, Vernissagen und Kunstausstellungen besucht
haben.
Was tun die Kultureinrichtungen in dieser misslichen Lage?
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Man kann die Beantwortung dieser Frage mehrfach angehen (Mandel 2008). Man kann sich
im Interesse einer verbesserten Platzauslastung mit geschickteren Marketingstrategien befassen, die vorschlagen, mit passfähigeren Angeboten neue Zielgruppen zu erschließen. Man
importiert hierzu – etwa aus dem angelsächsischen Bereich – Ansätze eines „audience developments“. Weiter führt auch die Nicht-Besucherstatistik des Deutschen Bühnenvereins. So
teilten jugendliche Nicht-Besucher mit, dass ihnen im Theater die Möglichkeit fehlt, Freunde
zu treffen. Man kann daher „Events“ so organisieren, dass sie den vermuteten Unterhaltungsund Sozialbedürfnissen neuer Zielgruppen entgegenkommen (z. B. „Lange Nacht der Museen“). Solche Maßnahmen können betriebswirtschaftlich (bessere Platzauslastung und damit
höhere Einnahmen), sie können auch politisch motiviert sein (erhöhte Legitimation der Kulturausgaben durch Erreichen größerer Bevölkerungskreise). Sie können natürlich auch durch
die im letzten Abschnitt vorgetragenen Argumente für die Notwendigkeit von Kunst für jeden
von uns motiviert sein. Interessant ist der Ansatz von Bourdieu. Zwar glaubte er kaum die
vollmundigen Thesen zur Humanisierung durch Kunst. Doch waren die politischen Folgen
des ungleich verteilten Kunstkonsums ihm wichtig genug, um auf Abhilfe zu sinnen. Eine
Gelegenheit bot sich ihm, als der französische Präsident das Collège de France beauftragte,
ein nationales Curriculum zu entwickeln. Bourdieus Ansatz bestand darin, eine Kompetenz im
Umgang mit (auch elaborierten) ästhetischen Codes allen SchülerInnen zu vermitteln, so dass
familiär bedingte Privilegien ein Stück weit abgebaut werden. Dieser Ansatz entspricht
durchaus der demokratischen Vision von Schule in der bürgerlichen Gesellschaft, die immerhin einmal angetreten war, Gleichheit an die Stelle von Standesunterschieden zu setzen.
Doch warum sollen Jugendliche Mozart und nicht Eminen lieben? Was macht eigentlich den
Unterschied zwischen U und E aus und was an den Künsten entfaltet welche Wirkungen: soziale, individuelle oder politische? Natürlich lässt sich diese anspruchsvolle Fragestellung hier
nicht beantworten. Es können lediglich einige Hinweise gegeben werden.
Zum ersten: Es gibt und gab lange Zeit mehr Wirkungsbehauptungen als handfeste Belege.
Ich selbst habe 1995 90 Wirkungsbehauptungen von Kunst gesammelt, die insgesamt alles
versprachen, was toll und wichtig war und die nur einen Schönheitsfehler hatten: Sie waren
fast alle ohne irgendeinen Beweis. Andererseits nutzt man ständig politisch und pädagogisch
die Künste: Von dem erzieherischen Wert der Jagdszenen auf den Höhlenwänden über die
kunstvolle Inszenierung von Brot und Spielen in Rom und den Reichsparteitagen in Nürnberg
bis zur Überdominanz ästhetischer Aspekte in der Werbung. Wer Geld ausgibt weiß, dass er
es sinnvoll tut. Also muss es eine Wirkung geben. Dies wusste schon Platon, der die Musik
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als staatstragend in der Polis akzeptierte, das Theater jedoch als sittenverderbend fortjagen
wollte. Doch was ist es an den Künsten, das wirkt? Einige Aspekte:
Künste finden in einem sozialen Prozess statt. Die aktuelle Kunsttheorie geht sogar davon aus,
dass Kunst erst im sozialen Gebrauch zu einer solchen wird (Bluhm/Schmücker 2002). Für
das Theater war dies immer schon selbstverständlich. Denn Theater findet nur dann statt,
wenn Person A die Rolle B für die Person C (das Publikum!) spielt. Auch was Kunst ist, wird
im Diskurs zwischen denen festgelegt, die etwas davon verstehen: den KünstlerInnen, den
Museumsmenschen, Kritikern, Kunstprofessoren, Mäzenen, Kunsthändlern, Ausstellungsmachern. Wer dies nicht glaubt, sei an den permanenten Misserfolg jener erinnert, ein „Wesen“
der Kunst im Werk zu finden. Spätestens seit der Anerkennung der Ready Mades von
Duchamps kann keine Rede mehr von einem solch essentialistischen Kunstverständnis sein.
Also: Die soziale Inszenierung und Organisation von Kunst ist ein Urheber ihrer Wirkung.
Der Besucher stellt sich um auf eine besondere Wahrnehmungssituation. Er nimmt im Modus
des Ästhetischen wahr, was es heißt: Er ist handlungsentlastet, er darf sanktionsfrei nach dem
Sinn des Ganzen fragen, darf das „freie Spiel seiner Erkenntnisvermögen“ (so Kant und Schiller) genießen und hierbei neue Möglichkeitswelten (Musil) entdecken. Das funktioniert, zweifellos. Es funktioniert bei Ready Mades und bei Picasso, es funktioniert aber auch beim Film,
bei Pop und Rock. Und: Es funktioniert auch beim Spiel. Das heißt, auf die ästhetische Qualität als Gestaltqualität des Werkes kommt es hierbei gerade nicht an. Trotzdem stellen sich
soziale, politische und Bildungswirkungen ein.
Also lassen wir uns auf das Werk ein. Hier ist das Buch des amerikanischen Kunsttheoretikers
Shusterman (1994) interessant, der nach den Kriterien und Maßstäben der klassischen Ästhetik populärkulturelle Werke – z. B. Rap – untersucht mit dem Ergebnis, dass selbst eine streng
durchgeführte Analyse nach Formgesichtspunkten nicht das erwartete Ergebnis erbringt: Dass
sich ästhetische Qualität leicht nach U und E sortieren lässt. Viele Kunsttheorien und Ästhetikkonzeptionen berücksichtigen dies. Schon Kant befasste sich mit der ästhetischen Erfassung der Natur („Erhabenheit“). John Dewey verankerte Ästhetik (ebenso wie das Erkennen)
in der Lebenswelt und im praktischen Handeln der Menschen (vgl. Eagleton 1994). Man muss
es eingestehen: Die Geschichte der Kunst ist – seit Baumgarten Ästhetik als philosophische
Disziplin (sinnliches Erkennen) und einen einheitlichen Kunstbegriff (der Literatur, Musik,
Bildende Kunst zusammenfasste) begründet hat – nicht nur eine Abfolge von Theorien: Ein
Teil des Nachdenkens über Kunst hat sehr stark ideologischen Charakter und ist eher in Kategorien der Machttheorie von Bourdieu zu verstehen.
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Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen Wolfgang Petry und Beethoven? In der Tat
gibt es erhebliche Unterschiede in der Komplexität der Werke, gibt es demzufolge auch Unterschiede in den bildungsmäßigen Voraussetzungen für eine Rezeption gerade von moderner
Kunst. Denn immerhin haben Künstler seit 200 Jahren immer wieder äußerst geschichtsbewusst versucht, das jeweils vorherrschende Verständnis von Kunst zu revolutionieren. Ich
glaube, man muss dieses Problem als weitgehend offene Forschungsfrage formulieren. Denn
zum einen ist in allen Kunstformen das Problem nicht geklärt, was jeweils „ästhetische Qualität“ bedeutet. Und empirische Studien darüber, welche ästhetische Qualität welche Wirkungen hat, sind mir nicht bekannt. Wenn dies der Fall sein sollte, dann erweist sich die Unterscheidung von U und E als hochideologisch, dann ergeben sich zudem einige kritische Fragen
an die öffentliche Kulturförderung.
4. Konsequenzen
Für das Thema dieses Textes hat die missliche Forschungssituation einige Vorteile. Denn
bleibt es dabei, dass es schwierig wird, in einer ästhetischen Qualitätsperspektive die unterschiedlichen Kunstdarbietungen zwischen U und E zu unterscheiden, dann wäre bildungstheoretisch der Befund der Nutzerstudien wenig aufrüttelnd: Es wäre weitgehend gleichgültig,
womit sich der Mensch befasst, Hauptsache, er tut irgendetwas im Bereich der künstlerischästhetischen Praxis. Dies hieße aber, dass einige Vorstellungen über gute und schlechte Kunst,
so wie sie auch in Lehrplänen sichtbar werden, überprüft werden müssten.
Auch die subjektbezogene Sicht, nämlich aus der Perspektive der ästhetischen Erfahrung des
Menschen zu Werturteilen über die Qualität zu kommen, kommt zu keinem anderen Ergebnis.
Nun sind diese beiden Perspektiven nicht die einzigen. Zum einen braucht es eine hohe Qualität im Kunstbereich, wenn dieser als Ganzes seine – auch gesellschaftliche – Funktion erfüllen soll, nämlich der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Auch die Profis im U-Bereich
haben meist eine gediegene Ausbildung im E-Bereich, zumal in anderen Ländern diese Grenze eine weitaus geringere Rolle spielt (man denke etwa an Leonard Bernstein, der alle Felder
bearbeitete). Und schließlich ist auch der Erhalt des Kunstbetriebes ein legitimes Ziel. Denn
zum einen bietet dieser den jungen zeitgenössischen Künstlern ein Forum, ihre künstlerische
Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu präsentieren. Zum anderen ist auch die kulturelle
Tradition bewahrenswert. Viele Themen (Geiz, Hass, Liebe, Neid, Gier etc.) sind nämlich
zeitlos, weshalb uns auch die Klassiker immer noch etwas zu sagen haben. Nicht zuletzt ist
die Bourdieusche soziologische Analyse des Machtfaktors von Belang. Wenn Kunst zur sozialen Gliederung der Gesellschaft beiträgt, so wie es der französische Großmeister beschrieben
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hat, dann lohnt es sich in demokratietheoretischem Interesse, gerade auch die elaborierten
ästhetischen Codes zu demokratisieren.
Literatur
Bluhm R./Schmücker, R. (Hg.): Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der
Ästhetik. Paderborn: Mentis 2002
Bollenbeck, G.: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters.
München: Insel 1994.
Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987.
Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt/M.: Fischer 1990 (Original: 1944).
Dissanayake, E.: What is art for? Seattle: Univ. of Washington Pr. 2002
Eagleton, T.: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart/Weimar: Metzler 1994.
Frey, G.: Anthropologie der Künste. Freiburg/München 1994.
Fuchs, M./Liebald, Chr. (Hg.): Wozu Kulturarbeit? Wirkungen von Kunst und Kulturpolitik
und ihre Evaluierung. Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung.
Remscheid: BKJ 1995.
Fuchs, M.: Mensch und Kultur. Anthropologische Grundlagen von Kulturarbeit und Kulturpolitik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999.
Fuchs, M.: Aufbaukurs Kulturpädagogik. Band 2: Kunsttheorie und Ästhetik für die Praxis.
Remscheid RAT digital 2005.
Fuchs, M.: Kulturelle Bildung. Theorie und Praxis. München: Kopaed 2008
Gehlen, A.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Bonn: Athenäum 1950.
Gethmann-Siefert, A.: Einführung in die Ästhetik. München: Fink 1995.
Holzkamp, K.: Musikalische Lebenspraxis und schulische Musik lernen, In: Forum Kritische
Psychologie 32, Hamburg: Argument-Verlag 1993.
Keuchel, S./Wiesand, A. (Hg.): Das 1. Jugendkulturbarometer "Zwischen Eminem und Picasso". Bonn: ARCult 2006
Mandel, B. (Hg.): Audience Development, Kulturmanagement, Kulturelle Bildung. München:
Kopaed 2008
Neumann, E.: Funktionshistorische Anthropologie der ästhetischen Produktivität. Habil. FU
Berlin 1996.
Nipperdey, Th.: Deutsche Geschichte. 1866 - 1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München: Beck 1990.
Plessner, H.: Die Frage nach der Conditio humana. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976.
Shusterman, R.: Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus. Frankfurt/M.: Fischer 1994
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Tomasello, M.: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006
Welsch, W.: Animal Aesthetics. Contemporary Aesthetics 2 (2004)
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Kulturpädagogik zwischen Freiheit und Disziplinierung
Überlegungen im Anschluss an Michel Foucault
Es fiele leicht, zu dem Thema „Kulturpädagogik und Freiheit“ einige Seiten zu füllen, die
ohne tiefergehende Widersprüche in der „Szene“ akzeptiert würden. Denn es entspricht natürlich dem Selbstbild der (Kultur-)Pädagogik, nur das Beste für den Menschen zu wollen – und
Freiheit gehört dazu. Konzentriert man sich zudem auf die außerschulische Kulturarbeit, dann
könnte man im Brustton der Überzeugung auf die kulturpädagogischen Arbeitsprinzipien in
diesem Feld hinzuweisen (Partizipation, Freiwilligkeit, Fehlerfreundlichkeit, Stärkenorientiertheit etc.), die in einem Widerspruch zu dem Zwangscharakter von Schule stehen und geradezu Kulturpädagogik als eine Pädagogik der Freiheit konstituieren. Da der Kernbereich der
Kulturpädagogik sich zudem mit ästhetischer Praxis und (z. T.) mit den Künsten befasst, wird
die Akzeptanz eines solchen Selbstverständnisses noch größer. Denn die Künste gelten spätestens seit Kant und der idealistischen Autonomieästhetik als genuine Orte der Freiheit.
Zugegeben: Gelegentlich brauchen die Akteure in diesem Feld eine solche Bestätigung, auf
der richtigen Seite zu stehen, zu den „Guten“ zu gehören. Denn man leidet doch stark unter
tatsächlichen oder auch nur vermuteten Marginalisierungstendenzen des eigenen Feldes. Allerdings entstehen so auch Mythen über die eigene Arbeit, die gelegentlich auf ihren Realitätsgehalt überprüft werden müssen. Sonst stellt man eines Tages überrascht fest, dass man
auf Sand gebaut hat: Man muss sich gelegentlich auch verunsichern lassen. Für eine solche
Verunsicherung der Selbstgewissheit der Kulturpädagogik taugen die Arbeiten von Michel
Foucault. Dieser französische Philosoph, Psychologe und Historiker ist zwar schon seit rund
zwanzig Jahren tot. Doch erst jetzt scheint er einen Siegeszug durch die deutsche Erziehungswissenschaft zu beginnen. Und dieser Siegeszug ist mit erheblichen Verunsicherungen
verbunden (Ricken/Rieger-Ladich 2004). So ist es insbesondere der Subjektbegriff, der in die
Kritik geraten ist. Ist es überhaupt noch vertretbar, von einem starken Subjekt auszugehen,
das die Welt der Dinge, des Sozialen und letztlich sich selbst so beherrscht, dass es autonomes
Steuerungszentrum seines Lebens sein kann? Ist es nicht ständig – und dies ist eine zweite
Facette einer foucault-orientierten Zugangsweise – so in einer Vielfalt gesellschaftlicher Unterordnungsstrategien und Machtverhältnisse eingebunden (z.B. Foucault 2005, 546), dass
von Autonomie und Freiheit überhaupt keine Rede sein kann, sondern vielmehr eine ständig
raffinierter werdende Anpassung an jeweilige gesellschaftliche Verhältnisse unterstellt werden muss? „Regierung“ nennt Foucault das System aller Techniken und Strategien der Füh218
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rung anderer Menschen und auch von sich selbst und eröffnet hiermit ein weites Untersuchungsfeld für die Erforschung der Bedingungen, unter denen die Produktion der jeweils gewünschten Form von Subjektivität stattfindet. Insbesondere hat er sich in seinen Vorlesungen
zur „Gouvernementalität“ (ein Kunstwort, das dieses System von spezifischen Führungspraktiken erfasst, wobei es sich nicht nur um die „offiziellen“ Maßnahmen des Staates handelt)
mit der Entwicklung der modernen Industriegesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert befasst
und hierbei den Liberalismus und Neoliberalismus in seiner „Rationalität“ (also den hinter
den einzelnen Führungspraktiken stehenden Denkformen und Logiken) beschrieben (Foucault
2006a und b). Diese Studien erweitern seine frühen Arbeiten zum Gefängnis, zum Krankenhaus und zur Schule, also einzelnen Einrichtungen, anhand derer er gezeigt hat, wie der Kranke, der Straftäter oder der Schüler durch die jeweilige Institution und der durch sie verkörperten Denkweise erst geschaffen werden: Der Mensch wird geformt und zugerichtet durch die
Architektur, durch die spezifische Auffassung von Strafe, Krankheit oder Pädagogik, durch
einen entsprechenden Blick der jeweiligen Profis. Verbreitet ist die Sichtweise, dass diese
historischen Studien über vergangene Zeiten aktuell eine Position der Antipsychiatrie oder der
Antipädagogik formulieren (gegen die sich allerdings Foucault immer wieder – ohne großen
Erfolg – wehrt; vgl. die zahlreichen Interviews in seinen „Schriften“ zu dieser Thematik).
Das Bild vom Menschen, das in der verbreiteten Foucault-Rezeption gezeichnet wird, ist daher ausgesprochen niederschmetternd: Es gebe nicht nur kein handlungsfähiges Subjekt, sondern wir seien vielfach in Unterdrückungssystemen so „total“ (im Sinne von Goffman) integriert, dass jede Form von Eigenständigkeit und Freiheit undenkbar würde. Als Schlussfolgerung ergibt sich in dieser Rezeption, dass Maßnahmen wie Lernverträge, die das lernende
Subjekt mit in die Verantwortung für das eigene Lernen nehmen wollen, entwickelte Formen
von Partizipation der Lernenden bei der Steuerung der Bildungseinrichtungen nichts anderes
als neoliberale Strategien der individuellen Verantwortungszuweisung („Unternehmer seiner
selbst“) seien, bei denen alleine der Einzelne die Last gesellschaftlicher Risiken tragen muss
(vgl. als ein Beispiel L. Pongratz in Rihm 2003, s. auch Klingorsky 2009). „Im falschen Leben kann es kein richtiges Leben geben“, so seinerzeit Adorno und so eine einflussreiche aktuelle Lesart von Foucault. Für eine emanzipatorische Pädagogik bleibt hier keine Hoffnung.
Auch Kulturpädagogik wird so zur raffinierten Speerspitze einer neuen Unterdrückungsform
und zur unreflektierten Handlangertätigkeit im Interesse des neoliberalen Regimes.
Was tun in dieser ausweglosen Situation? Eine, zugegeben zeitraubende Möglichkeit besteht
darin, selbst Foucault zu lesen. Dabei sind es möglicherweise weniger die irritierenden Texte
über griechische und römische Selbst-Techniken einer von ihm erneut in die Diskussion ge219
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brachten Lebenskunst, obwohl diese Texte gerade unter der Perspektive von „Bildung als
Selbstbildung“, nämlich einer (Individual-)Ethik – verstanden als reflektierter Umgangsweise
mit sich und als Arbeit an sich selbst – Sinn machen. Es sind vielmehr die zahlreichen kleinen
Schriften und Interviews, in denen er sich immer wieder kritischen Fragen informierter Gesprächspartner stellt (oder auch selbst in die aufschlussreiche Rolle des Interviewers schlüpft,
vgl. Nr. 334 in Foucault 2005, Bd. 4). Es stellt sich bei dieser Lektüre durchaus ein Staunen
ein. Denn dieser Foucault hat wenig mit dem nihilistischen Misanthropen in der verbreiteten
deutschen Rezeption zu tun. Es entsteht vielmehr der Eindruck, als ob – wieder einmal – die
subtile Dialektik eines Denkens auf eine eindimensionale Sicht verkürzt wird.
Seine Denkweise hat dabei zahlreiche Parallelen zu den Arbeiten seines Kollegen am Collège
de France, Pierre Bourdieu. So ist es zunächst ein streng relationales Denken: Begriffe sind
Beziehungsbegriffe, müssen es sein, wenn sie Beziehungen erfassen wollen. Und um Beziehungen geht es. Beide beziehen sich hierbei auf den Symboltheoretiker Ernst Cassirer. Insbesondere ist Macht ein Beziehungsverhältnis. Wichtig dabei ist, dass Macht nicht einseitig als –
ausschließlich negativ zu beurteilendes – Unterdrückungsverhältnis verstanden wird. Macht
ist vielmehr eine soziale Beziehung, die beides tut: Eingrenzen und Ermöglichen, wobei „Täter“ und „Opfer“ nicht klar jeweils einer Seite zuzuordnen sind, und: Macht ist unvermeidbar.
Jedes gesellschaftliche Verhältnis, so Foucault (2005, 450), ist ein Machtverhältnis. Zudem
gibt es nicht nur ein einziges Machtverhältnis, sondern eine Vielfalt. Bourdieu verwendet hier
den Begriff des Feldes, der mir auch bei Foucaults Analytik der Macht anwendbar erscheint.
Jeder Einzelne ist zudem Teil verschiedener Felder.
Ein weiteres dialektisches Moment ist das Subjekt selbst. Natürlich gibt es Prozesse der Anpassung, da der Einzelne handlungsfähig in einem System bleiben und damit vorgegebenen
Regeln folgen muss. Aber gleichzeitig gibt es Aspekte der Autonomie, ist „Subjektivierung“,
so bezeichnet Foucault diesen Prozess der Schaffung spezifischer Formen von Subjektivität,
auch mit Handlungs- und Entscheidungsfreiheit verbunden. Foucault unterscheidet sehr genau
zwischen diktatorischen und demokratischen Systemen, kämpft aktiv gegen Formen von Unterdrückung. Es ist – anders, als deutsche Rezipienten oft den Einruck erwecken – eben nicht
gleichgültig, in welchem Regelsystem man lebt. In jedem Fall ist er gegen nostalgische Verklärungen der Vergangenheit, in der Unterdrückungssysteme vielleicht weniger subtil waren
(ebd., 334).
Dies gilt insbesondere für die Schule. Foucault ist kein Antipädagoge und schon gar kein Vertreter der Entschulung der Gesellschaft. Er beschreibt seine eigene Schule in Poitiers sogar
ausgesprochen positiv: „Das Leben in der Schule war eine vor äußeren Bedrohungen ge220
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schützte … Umgebung. Und die Vorstellung, geschützt in einer lernbegierigen Umgebung, in
einem intellektuellen Milieu zu leben, hat mich immer fasziniert. Das Wissen muss als etwas
funktionieren, was die individuelle Existenz schützt und die Außenwelt zu begreifen erlaubt.
… Das Wissen als ein Mittel des Überlebens, dank des Verstehens.“ (Foucault 2005; S. 646,
vgl. dagegen 234). Damit unterschlägt er nicht Formen der Unterdrückung. Im Gegenteil.
Häufig weist er darauf hin, dass ihn vor allem die Formen von Widerstand interessieren, in
denen der Einzelne für seine Handlungsfähigkeit kämpft. Und dieses Kämpfen ist Handlung,
ist Praxis, ist Aktivität. Foucault ist zudem kein ausschließlicher Symboltheoretiker. Er ordnet
sich selbst – ebenso wie sein gelegentlicher politischer Bündnispartner und Schulfreund
früherer Jahre Bourdieu – in die Reihe derer ein, für die die Praxis eine entscheidende Rolle
spielt: „Das Subjekt wird nicht nur im Spiel der Symbole konstituiert.“ (Foucault 2005, S.
494). Daher untersucht er eben nicht nur Diskurse auf der reinen Symbolebene. Er analysiert
reale Praktiken.
Das heroische Subjekt ist sicherlich tot, hat es nie gegeben, höchstens als humanistische Vision idealistischer Denker. Aber der handlungsfähige Einzelne existiert, besser: kann geschaffen werden, oder noch genauer: kann sich selber schaffen. Damit sind wir bei dem späten
Foucault, dem Theoretiker der Techniken des Selbst angelangt. Der Einzelne, so Foucault in
klassischer philosophischer Tradition, wird zum Subjekt durch die bewusste und gezielte
Entwicklung von Selbst- und Weltverhältnissen. Bewusst stimmt er der Konzeption von Habermas zu, der den Einzelnen in seiner Beziehung zur Welt der Dinge („Wissen“) und zur
Welt der Anderen („Macht“) sieht. Er ergänzt dies durch die Betonung der Entwicklung eines
bewussten Verhältnisse zu sich („Ethik;“ S. 705 in Foucault 2005). Alle drei Beziehungstypen
lassen sich nur analytisch von einander trennen: Man weiß natürlich, dass die Herrschaft über
Dinge nur über die Beziehungen zu den anderen Menschen erfolgt; und dies impliziert immer
auch Beziehungen zu sich, und umgekehrt, so Foucault. Offensichtlich handelt es sich hierbei
um eine klassische Bestimmung von Bildung als Entwicklung einer bewussten Beziehung zu
sich, zu anderen, zur Natur und Kultur und zu seiner Geschichte und Zukunft. In jeder der
möglichen Dimensionen der Persönlichkeit spielt dabei der Selbstbezug eine entscheidende
Rolle: Selbst-Erkenntnis, Selbst-Führung, Selbst-Beziehung. Dies ist es, was – durchaus in
klassischer Tradition – den Einzelnen zum Subjekt macht. Diesen Prozessen spürt Foucault
im hellenistischen und römischen Denken nach, wobei er die elaborierten Selbsttechniken –
die „Sorge um sich“ – am Beispiel der Sexualität aufzeigt. Er zeigt, wie stark diese systematische Arbeit an sich selbst im Mittelpunkt des Denkens stand – lange vor der „Entdeckung des
Individuums“ in der Renaissance (Fuchs 2001). Dabei wird der „Bruch“, der sich während der
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Renaissance politisch und geistig anbahnt, gerade nicht negiert. Denn in dieser Zeit identifiziert Foucault den Wechsel im Machttypus vom „Gerechtigkeitsstaat“ des Mittelalters zum
„Verwaltungsstaat“ der frühen Moderne, bevor sich dann im 19. Jahrhundert der „Regierungsstaat“ durchsetzt (Foucault 2006a und b; vgl. auch die Tanner-Lectures Nr. 291 in
Foucault 2005). Die Ethik als Reflexion und Handlungsanleitung führt zu einer „Lebenskunst“, deren Fehlen er für die heutige Zeit beklagt.
Foucault also als ein weiterer Alles-Zermalmer, als totaler Kritiker der Vernunft? Häufig
nennt er seine wichtigsten philosophischen Lehrmeister. Nietzsche (in Verbindung mit Heidegger) gehört dazu. Er bezeichnet sich selbst als Nietzscheaner. Und doch kommt er immer
wieder auf Kant zu sprechen. Insbesondere tut er dies in seiner Auseinandersetzung mit der
„Moderne“, was für ihn heißt: Sich selbst zum Gegenstand einer strengen Auseinandersetzung
zu machen (Foucault 2005, S. 698). „Was ist Aufklärung?“ – jene kleine Schrift Kants wird
gleich mehrfach zum Gegenstand von Ausführungen. Es wird schnell klar: Foucault sieht sich
in dieser kritischen Tradition. Denn es geht Kant um die Frage, wie der Mensch aus seiner
(selbst geschaffenen) Unmündigkeit heraustreten kann. Und dieser Prozess ist ein doppelter:
ein politischer und ein individueller. Entscheidend ist dabei eine kritische Haltung.
Foucault ist für die Kulturpädagogik – wie hier nur äußerst grob angerissen werden konnte –
in vielfacher Hinsicht ein relevanter Denker, der eine fruchtbare Verunsicherung bewirken
kann. Sein dialektischer Ansatz muss immer wieder erarbeitet werden. Dinge und Prozesse
sind eben nicht nur gut oder schlecht, richtig oder falsch. Jedes gut gemeinte Projekt kann sich
in sein Gegenteil verkehren, jede leichtfertig als Unterdrückung etikettierte Situation birgt
möglicherweise das Potential zu Widerstand. Es sind dabei konkret – also auch: mit empirischer Sorgfalt – die Praktiken und Handlungen zu untersuchen. Die bloße Diskursebene ist
sicherlich relevant, aber letztlich nur begrenzt entscheidend. Man muss zudem seine Begrifflichkeit einer permanenten Kritik unterziehen. Denn allzu leicht schleicht sich eine Verdinglichung von solchen Erkenntnisobjekten ein, die nur als fließende verstanden werden können,
„Identität“, „Kultur“, „Kunst“, „Bildung“, „Subjekt“ werden leicht zu Containerbegriffen deformiert, obwohl die damit erfassten Gegebenheiten nur bewegliche und fließende Relationen
sind.
Subjektivität ist also möglich, sogar: überlebensnotwendig. Doch ist sie Prozess und nicht
fertiges Produkt, ergibt sie sich nicht von selbst, sondern ist Ergebnis von Arbeit an sich
selbst. Dies gilt auch und gerade für Freiheit. Freiheit ist keine bloße Idee, sondern lebendige
Praxis, und diese Praxis ist das Leben selbst: „Ja, denn was ist die Ethik anderes als die Praxis
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der Freiheit, die reflektierte Praxis der Freiheit?“ (Foucault 2005, S. 879). Das heißt insbesondere, aufmerksam zu sein gegenüber Prozessen der Disziplinierung, der „Normalisierung“
(also der Anpassung an vorgegebene Normen), der Kontrolle – gerade auch in emanzipatorisch angelegten Projekten.
Offen bleibt m. E. bei Foucault eine nähere Analyse, wie diese Prozesse der Selbstkonstitution (der „Bildung“) erfolgen. Es liegt nahe, hierfür auf das Konzept des Habitus von Bourdieu
zurückzugreifen. Allerdings steht m. W. ein gründlicher Vergleich beider wissenschaftlicher
Konzeptionen noch weitgehend aus (vgl. Kajetzke 2008).
Allerdings hat die „Freiheit“ einen Haken, da bei ihr die Dialektik nicht endet. Denn individuelle Freiheit ist auch die Grundlage für die moderne Form der Machtausübung, so wie sie im
Liberalismus entsteht. Denn dieser benötigt zur Ausübung seiner Macht „freie“ Individuen.
Freiheit ist die Grundlage für die Beteiligung der Individuen am Marktgeschehen. „Freiheit“
steht hier in enger Verbindung mit Sicherheit, so dass die Aufrechterhaltung von Freiheit zugleich die Entwicklung immer stärkerer Systeme der Sicherheit provoziert, die die Freiheit
einengen,
allerdings
mit
hoher
Akzeptanz
der
Betroffenen
(s.
hierzu
auch
Schmidt/Woltersdorf 2008). In diesen Kontext passt, dass gerade unter dem offiziell der
„Freiheit“ verpflichteten Neoliberalismus die Summe der Reglementierungen und Kontrollen
– auch und gerade durch die öffentliche Verwaltung – erheblich zugenommen. Inzwischen
gibt es Studien, die zeigen, dass im Großbritannien von M. Thatcher unter dem Slogan des
„schlanken Staates“ die Anzahl der Vorschriften um bis zu 50% angewachsen ist.
Einige weitere relevante Fragestellungen:
Die neoliberale Rhetorik als Denkweise hat inzwischen auch in der Pädagogik Einzug gehalten. Foucault selbst weist mehrfach darauf hin, dass kein Begriff, aber auch keine Praxis sicher sein können, in einer nicht-intendierten Absicht missbraucht zu werden.
So gibt es inzwischen eine neoliberale Rhetorik der Selbstermächtigung des Subjekts, die
starke Ähnlichkeiten mit einer emanzipatorischen Praxis in der Kultur- oder Sozialpädagogik
hat. Der Kompetenzbegriff wird in diesem Kontext gerne verwendet, um eine neoliberale
Ausrichtung des Subjekts in Richtung Flexibilität und Employability zu kaschieren. Wird
dadurch eine jegliche Verwendung des Kompetenzbegriffs – so wie im Kompetenznachweis
Kultur (KNK) der BKJ – obsolet? Tatsächlich ist die Gefahr eines derartigen Missbrauchs
vorhanden. Doch ist zum einen an einen respektablen erziehungsphilosophischen Hintergrund
des Kompetenzbegriffs im philosophischen Pragmatismus (Dewey, Peirce etc.) zu erinnern.
Zum anderen ist mit Foucault daran zu erinnern, dass erst eine exakte Analyse der entspre223
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chenden Praktiken – und nicht der bloße Verweis auf Diskurse – Aufschluss über tatsächliche
Wirkungen gibt. Dies wäre sonst eine der häufig anzutreffenden Verkürzungen des Foucaultschen Ansatzes in Studien zur Gouvernementalität auf einen bloß linguistischen Aspekt
(Krasmann 2003, 74 ff). Dies gilt m. E. auch für die oft mit allzu leichter Hand und starkem
kritischen Gestus vorgetragenen Kritiken an Überlegungen zur Kultivierung der Schule (etwa
bei Pongratz). Der KNK zeigt sich in der Praxis als hilfreiches Instrument, die von Foucault
gewollte Selbst-Thematisierung und Selbstreflexion der Betroffenen auf ein höheres Niveau
zu bringen – auch als ein Mittel, Strategien der Fremd-Regierung aufzudecken. Foucault wäre
zudem der erste, der Formen aktiver Partizipation bei der Gestaltung der Institutionen unterstützen würde, so wie sie etwa in Konzeptionen einer Kulturschule entwickelt werden. Man
lese nur einmal seine zahlreichen politischen Stellungnahmen in den letzten Jahren, bei denen
die Entwicklungen in Polen im Mittelpunkt standen. Natürlich ist ein neoliberales Regime in
einer parlamentarischen Demokratie kritisch auf seine neue Domestizierungsqualität zu analysieren. Doch macht es wenig Sinn, keine Unterschiede mehr zwischen den verschiedenen
Formen von „Regierung“ zu machen: Foucault war – zumindest in den letzten Jahren – definitiv kein Anarchist, sondern mühte sich ernsthaft um Verbesserungen im laufenden Politikgeschäft. Ein Beispiel aus der Pädagogik (Foucault 2005, S. 722): „Nichts beweist beispielsweise, dass in der pädagogischen Beziehung die Selbstverwaltung die besten Ergebnisse bringt;
nicht beweist im Gegenteil, dass das die Dinge nicht blockiert. Also würde ich im Großen und
Ganzen Ja sagen…“ (Gemeint ist der Versuch, einen Konsens zwischen denen „da oben“ und
denen „da unten“ herzustellen). Kein Freibrief also für eine nur noch idealistisch sich selbst
legitimierende Arbeit in und mit den Künsten, aber auch keine wenig hilfreiche Totalkritik
einer jeglichen Praxis.
Der Handelnde hat immer unrecht, so Dürrenmatt. Aber auch: Es gibt keine Trennung zwischen Denken und Handeln. Sorgfältige Analyse und Kritik muss sein. Doch reine Theorie
konstituiert noch keine Praxis. Sie ist noch nicht einmal regulativ, bestenfalls dient sie als
kritisches Prinzip (Foucault 2004, S. 722). Der Handelnde ist also zunächst auf sich gestellt,
um eine Praxis zu generieren (die der Analytiker dann kritisch betrachten kann). Dabei entwickelt und investiert er seine spezifische Form praktischer Klugheit (techne), die in keinem
hierarchischen Verhältnis zur Klugheit des Theoretikers (episteme) steht. In den Praktiken des
Führungshandelns kann man die spezifische Rationalität der vorherrschenden Regierungsweise analysieren. Allerdings steht die konkrete Praxis nicht in einer linearen Ableitungsbeziehung sowohl zu dieser Rationalität als auch zu einer allgemeinen Theorie derart, dass man sie
am grünen Tisch durch einfache Deduktion ermitteln könnte. Es kommt daher darauf an, dass
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mit Hilfe der Theorie Praxis kritisch analysiert wird und die (theoretisch reflektierte) Praxis
offen bleibt für diese Analysen. Interessant ist dabei das Wechselspiel, wenn also das theoretische Wissen praktisch wird und wenn praktisches Wissen von der Theorie aufgegriffen und
damit verallgemeinert wird (Krasmann 2003, 72ff). Besserwisserei – gleichgültig von welcher
Seite – schadet nur. So schreibt Foucault zur Polemik:
„Der Polemiker dagegen tritt vor, gepanzert mit Vorrechten, die er von vornherein innehat
und die er niemals in Frage stellen lässt. Er besitzt von Grund auf die Rechte, die ihn zur
Kriegsführung autorisieren und die aus diesem Kampf ein gerechtes Unternehmen machen; er
hat zum Gegenüber nicht einen Partner in der Suche nach der Wahrheit, sondern einen Gegner, einen Feind, der Unrecht hat, der schädlich ist und dessen Existenz bereits eine Bedrohung darstellt. Das Spiel besteht für ihn folglich nicht darin, ihn als Subjekt anzuerkennen,
das das Recht hat, auch das Wort zu ergreifen, sondern ihn als Gesprächspartner jedes möglichen Dialoges zu annullieren, und sein letztes Ziel wird nicht sein, sich so gut er es vermag
einer schwierigen Wahrheit zu nähern, sondern die gerechte Sache triumphieren zu lassen,
deren offenkundiger Träger er von Beginn an ist. Der Polemiker stützt sich auf eine Legitimität, von der sein Gegner per definitionem ausgeschlossen ist.“ (Foucault 2004, S. 725).
Eine weitere interessante Fragestellung ergibt sich aus der Überlegung über die jeweils spezifischen Denk- und Rationalitätsformen in der Pädagogik. Comenius etwa versucht, eine Methodologie des pädagogischen Denkens aus einer Übertragung von Prinzipien der Mathematik
und der Naturbeobachtung zu gewinnen (immerhin ist es die Zeit Keplers, Kopernikus’ und
Galileis). Die Philanthropen versuchen, die Beschreibung der naturwissenschaftlichen Methode Newtons in der Pädagogik zu nutzen und in empirisch ermittelten Fakten mathematisch zu
formulierende Gesetzmäßigkeiten zu finden. Offensichtlich wird dabei mit jeder der angewandten Methoden der Erkenntnis-Gegenstand „Erziehung“ in spezifischer Weise konstituiert
ebenso wie ein bestimmtes Verständnis von „Natur“ und „Bewegung“ erforderlich war, damit
die Newtonsche Methode der Physik greifen konnte. Dominante Denkformen wie der von der
Antike überlieferte mos geometricus, die Methode des Rechnens, die Descartes in seiner analytischen Geometrie entwickelte, das kombinatorische Denken, das Leibniz erfand, wurden
als dominante Rationalitätsformen nach und nach über ihren ursprünglichen Anwendungsbereich ausgedehnt und auf andere Felder übertragen (vgl. auch Foucault 1971). Herbart etwa
wendet systematisch die kombinatorische Methode an. Interessant wäre es nun, die neue Sicht
auf die Gesellschaft, die sich gemäß Foucault im 19. Jahrhundert entwickelt und die eng mit
dem Begriff der Sicherheit (und der Versicherung) verbunden ist, der wiederum nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu behandeln ist, in seiner Auswirkung auf die Pädagogik zu untersuchen. Denn der Gedanke des kalkulierbaren
(und daher versicherbaren) Risikos ist mit einem spezifischen Bild von Gesellschaft (und da225
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mit auch des Individuums) verbunden und steht am Beginn der Entwicklung des modernen
Sozialstaates (Krasmann 2003). Ein Aspekt besteht in der neuen Relevanz von (errechneten)
Mittelwerten als Vorgabe einer Norm. Offensichtlich spielt dieser Gedanke zahlenmäßig erfasster Entitäten für eine empirische Wissenschaft eine entscheidende Rolle. In derart empirisch vorgehenden Humanwissenschaften entstehen so Vorstellungen von Normalität (etwa
die Gaussche Glockenkurve bei Ergebnissen von Klassenarbeiten). PISA als umfassendes
System empirischer Erfassung ist damit mitnichten ein bloßes Abbild des pädagogischen Geschehens, sondern eine politisch einflussreiche Konstituierung von Normen. Dabei werden
insbesondere die Abweichungen von der (sozialen) Norm interessant: sei es in kriminologischer, gesundheitlicher oder eben auch pädagogischer Hinsicht (Kajetzke 2008).
Zur Erinnerung: Der Kompetenznachweis Kultur hat mit dieser Konstitution des Pädagogischen nichts zu tun. Er konstituiert keine zahlengestützte „Normalität“, setzt keine überindividuellen Normen, quantifiziert nicht komplexe psychische Prozesse. Er hat vielmehr in
den letzten Jahren eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung einer anderen
pädagogischen Professionalität von LehrerInnen gewonnen. Denn die Zahlen- und RankingOrientierung, die oben erwähnt wurde, spielt in dem verbreiteten herkömmlichen Lehrerhabitus eine wichtige Rolle, da eine quantifizierte Leistungsbewertung, also die Vergabe von Zensuren, für viele geradezu Charakteristikum der Lehrertätigkeit ist („das rote Büchlein“). Damit
werden LehrerInnen in der Tat zu wichtigen Agenten eines Dispositivs der Macht, das zu der
oben beschriebenen Form von Regierungshandeln gehört. Mit Hilfe des Kompetenznachweises können LehrerInnnen nunmehr lernen, eine Förderung des Lernens und eine Ermutigung
dazu zu praktizieren, die sich an den Stärken des Lernenden orientiert. Und in einer solchen
Stärkung des Einzelnen sieht letztlich Foucault auch die entscheidende Möglichkeit, „weniger
auf eine solche Weise regiert zu werden“. Die Veränderung des Habitus der Lehrenden in
Richtung einer Haltung – auch dies eine Foucaultsche Überlegung – ist dabei ein Schlüssel
für die Begleitung einer widerständigen Praxis (siehe nächsten Abschnitt).
Das Leben, die Künste und die Ästhetik der Existenz
Es ist vermutlich dies der – zumindest in pädagogischen Kontexten – meistzitierte Satz von
Foucault zum Thema „Subjekt“:
„Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein
Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie
an der Grenze zum 18. Jahrhundert die Grundlagen des klassischen Denkens es taten, dann
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kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im
Sande.“ (Foucault 1971, S. 462; meine Hervorhebung, M. F.).
Genau genommen ist es nur das Bild im hervorgehobenen Satzteil, das immer wieder zitiert
wird. Und dieser kurze Hinweis genügt, um Foucault in die Reihe derer zu stellen, die irgendeine wichtige Begrifflichkeit und die von ihr erfasste Sache als beendet erklären: Hegels Rede
vom Ende der Kunst, Nietzsches Rede vom Tod Gottes und nunmehr Foucault mit seiner
These vom Verschwinden des Menschen.
Man könnte nun zwar darauf hinweisen, dass diese These am Ende einer äußerst komplexen
Darstellung der Genese und des Niedergangs verbreiteter Denkformen in Philosophie und
Wissenschaften steht, in der er zeigt, unter welchen Bedingungen die Art und Weise, wie
Wissen gesellschaftlich produziert wird, genau diese das jeweils vorhandene Wissen seinen
Gegenstand formt. Foucault ist nämlich Schüler der bekanntesten französischen Wissenschaftshistoriker (Bachelard, Canguilhem) und diese Arbeit gibt seiner späteren Professur am
Collège de France den Namen: „Geschichte der Denksysteme“. Er untersucht verschiedene
wissenschaftliche Disziplinen (Politische Ökonomie, Biologie und Sprachwissenschaft) nach
gemeinsamen Denkformen und identifiziert sie, so dass man ihn jahrelang trotz seines ständigen Protestes für einen Strukturalisten hielt. Bei diesen Untersuchungen zeigt er, dass der
„Mensch“ zu einer bestimmten Zeit – vielleicht notwendigerweise – zum Thema wird (vgl.
auch Fuchs 1984). Es geht also um Wissen, hier: um ein Wissen, das erst den „Menschen“ als
wissenschaftlichen Gegenstand konstituiert. Seine These vom Verschwinden des Subjekts
verliert also durch dieses genauere Hinsehen durchaus ihren zugeschriebenen revolutionären
Gestus. Denn die Geschichte der Wissenschaften zeigt, wie Themen und Methoden relevant
werden und an Bedeutung verlieren, wobei eine Kernfrage darin besteht, welches die Gründe
dafür sind. Dies gilt auch für die Pädagogik (Benner/Oelkers 2004). Es handelt sich bei
Foucault um eine strenge Historisierung von Wissen, die dazu führt, Selbstgewissheiten über
scheinbar zeitlos gültige Wissensbestände zu zerstören. Und es ist damit verbunden ein AntiEssentialismus und Nominalismus, denn man erfasst mit einem derartigen Wissen auch kein
zeitlos Seiendes. Es geht also um die kognitive Konstruktion von Welt, und diese ist stark von
jeweils sozialen und kulturellen Kontexten abhängig: Der „Mensch“ und das „Subjekt“ sind
zeitlich gebundene und vor allem sprachlich konstituierte Konstruktionen (Fuchs 2010).
Nun kämpft Foucault sein gesamtes wissenschaftliches Leben gegen zu starke essentialistische Begriffe (wie oben bereits angemerkt). Einer dieser starken Begriffe ist der des „Subjekts“. Auch hier lässt sich zeigen, dass dieses (angenommene) starke und autonome Subjekt,
227
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dem es gelingt, alles seinen Steuerungswünschen zu unterwerfen, so nicht existiert: Das Ende
vom Menschen wird so zu einem Ende vom Subjekt. Aber auch hier geht es um das Ende
einer bestimmten Konstruktion des Subjekts, die den Realitäten nicht standhält. Viele hat es
daher überrascht, als Foucault eine nächste Arbeits-Etappe – es sollte seine letzte sein – ankündigte und seine vorausgegangenen Arbeiten alle als Auseinandersetzung um ein tragfähiges Konzept des Subjektes deutete (vgl. etwa Foucault 2005, S. 461ff. – Zur Genealogie der
Ethik). Auch sein Zugang leuchtet in der Logik seiner Arbeiten ein. Er stellt in vielen Interviews seine Konzeption vor: Im Anschluss an die Dreidimensionalität des Weltverhältnisses
des Menschen a) zu den Dingen („Wissen“), b) zu den Menschen („Macht“) und schließlich
c) zu sich selbst („Selbstsorge“) werden auch drei Subjekttypen konstituiert: Das Subjekt, wie
es durch das Wissen konstruiert wird (erste Phase), das Subjekt im Wechselspiel unterschiedlicher Macht- und Unterwerfungsstrategien (mittlere Phase) und schließlich das Subjekt als
Schöpfer seiner selbst (letzte Phase; vgl. nur das lange Gespräch mit Ducio Trombadori in
Foucault 2005, S. 51ff). Überrascht war man, dass er die Studien zur Moderne Ende der
1970er Jahre (Foucault 2005 a und b) nicht fortgeführt hat, sondern griechische, hellenistische
und römische Autoren und deren Methoden des Umgangs mit sich selbst analysierte. Man
kann hier eine gewisse Folgerichtigkeit erkennen. Aus einer pädagogischen Perspektive lassen
sich etwa notwendige Bereichstheorien identifizieren: eine Theorie der Institutionen (erste
Phase), eine kritische Sozialisationstheorie (zweite Phase) und schließlich eine Subjekt- und
Bildungstheorie (letzte Phase). Foucaults Weg lässt sich dabei auch mit politischen Erfahrungen erklären. Denn er erlebte wie alle kritischen Denker seiner Generation eine Abfolge von
Enttäuschungen: Weder erbrachten die Studentenrevolten, noch die Sozialisten an der Macht,
noch die Entwicklungen in China (in anderen sozialistischen Ländern schon gar nicht) die
erhofften politischen Bedingungen. Zeitweise war er eng mit linksradikalen maoistischen Zirkeln verbunden, am Ende gab es eine Nähe zu Gewerkschaften. Es könnte sein, dass ihm eine
anarchistische und letztlich alternativlose Totalkritik der bürgerlichen Demokratie als Sackgasse erschien, so dass er nach Wegen suchte, zu einer „autonomen“ Lebensweise in bestehenden Systemen zu kommen. Hier finden sich dann die immer wieder zitierten Aussagen
über widerständige Praxen oder darüber, „sich nicht so und nicht von denen regieren zu lassen“. Die Entwicklung von Subjektivität sollte nicht mehr Anpassung des Einzelnen von vorgegebenen, auch emanzipatorisch formulierten Normen sein, sondern aufgrund einer selbstbestimmten Praxis erfolgen. Und hierfür schienen die antiken Vorstellungen einer Lebenskunst
geeignet zu sein. Insbesondere ästhetische Praxisformen bargen für ihn Potentiale einer solchen Subjektentwicklung.
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Mit Fragen der Ästhetik und der Künste hat sich Foucault – auch hier in bester französischer
intellektueller Tradition – ständig befasst. Zunächst ist es das kulturelle Leitmedium in Frankreich, die Literatur. Er erklärt sich zwar nicht sonderlich kompetent in der Musik, hegt aber
eine lange Freundschaft mit Pierre Boulez. Er trifft sich mit Filmemachern (etwa mit Werner
Schröter) und schreibt über Bildende Kunst. Berühmt ist seine Bildanalyse in der „Ordnung
der Dinge“ und die Analyse des „Pfeifenbildes“ von Magritte. Es geht hier um Sichtbarkeit
und Unsichtbarkeit, um Repräsentation und um Trugbilder. Christoph Menke (2003) analysiert sorgfältig die Übungen und Praktiken, wie sie entweder zu einer Disziplinierung oder
aber zu einer ästhetisch-existentiellen Konstitution eines (relativ-)autonomen Subjektes führen. Es findet sich hier dasselbe Problem wie bei anderen Strategien der Subjektivierung: Man
kann nicht von vorneherein sagen, in welcher Weise die – ggf. sogar dieselben – Praktiken
wirken. Die Unterscheidung beider ist nicht leicht. Menke sieht ein entscheidendes Merkmal:
„Das Gelingen ästhetischer Tätigkeiten verlangt die Überschreitung jeden vorweg gesetzten
Zieles: Sie gelingen gerade, wenn sie zu etwas anderem führen, als was an ihrem Anfang festgelegt wurde“ (ebd., S. 298).
Dies macht letztlich die Lebenskunst aus: „Sein Leben wie eine ästhetische Tätigkeit zu sehen…“, also „ein anderer zu werden …“ (ebd.). Die Unterscheidung, ob eine Übung disziplinierend oder ästhetisch-existentiell ist, erfolgt (bei Menke) darüber, dass man sie in einer bestimmten Haltung praktiziert, deren entscheidendes Merkmal „in der ästhetischen Freiheit zur
Selbstüberschreitung“ liegt (ebd., S. 299; s. oben den Hinweis auf den KNK).
Interessanterweise hat die BKJ in den späten 1990er Jahren aus systematischen Gründen in
der Folge eines Forschungsprojektes, bei dem es um Alternativen zu einer damals geforderten, stark betriebswirtschaftlich geprägten Form von Evaluation ging, das Konzept der Lebenskunst zur Konkretisierung des abstrakteren Begriffs der kulturellen Bildung erprobt. Dieses Lebenskunstkonzept ging jedoch nicht auf Foucault zurück, obwohl zu einem späteren
Zeitpunkt der Foucault-Anhänger Wilhelm Schmid mit seinem damaligen Verkaufserfolg
einer „Philosophie der Lebenskunst“ einbezogen wurde. Die Ursprünge des BKJ-Konzeptes
gehen auf Ulrich Baer zurück, der dieses Konzept – ebenfalls ohne Bezug auf Foucault – zum
Aufbau seines neuen Fachbereichs Kulturpädagogik in der Akademie Remscheid erprobte.
Von Anfang an ergaben sich in der Diskussion dieses Konzeptes zwei Probleme: Zum einen
die esoterische Konnotation dieses Begriffs, zum anderen und damit verbunden die Tendenz,
Lebenskunst bloß individuell ohne Berücksichtigung sozialer Kontexte zu verstehen: Es ging
gerade nicht um die Lebensgestaltung von Besserverdienenden, die sich aus dem Gemischtwarenladen materieller, geistiger und spiritueller Konsumgüter bedienten (BKJ 1999). Es ist
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kein Zufall, dass in dieser Zeit der Slogan „Kulturelle Bildung ist soziale und sogar politische
Bildung“ verstärkt diskutiert wurde und dem der zweite Band der dreibändigen Dokumentation gewidmet war (BKJ 2000). Innerhalb dieses Kontextes ging es genau um die von Menke
beschriebene Dimension der Selbstüberschreitung, wie sich unschwer an den dokumentierten
Lebenskunstprojekten erkennen lässt.
Interessant ist, dass diese Frage auch im Mittelpunkt der vermutlich bedeutsamsten kritischen
Auseinandersetzung mit dem Konzept der Lebenskunst steht (Kersting/Langbehn 2007). Es
geht mir hier nicht um Foucault-Exegese oder darum, ob dieser exakt seine Quellen rezipiert
hat (hat er offenbar nicht, ebd. S. 28), sondern es geht darum, ob das Lebenskunstkonzept
sozial blind ist und nur für Privilegierte taugt (S. 29). Hierbei wären die Milieu-Studien seines
Zimmernachbarn Bourdieu gerade im Hinblick auf die Verteilung und Nutzung des kulturellen Kapitals sicherlich hilfreich. Interessant ist zudem die Frage der Übertragbarkeit antiker
Lebenskunstmodelle auf die Moderne. Zentral ist dabei die Frage danach, wie und wann „Autonomie“ unter heutigen Bedingungen möglich ist und wie sie unterstützt werden kann. Es
geht also um die von Foucault immer wieder betonte Dialektik von Unterdrückung und Ermöglichung. Es geht um die philosophische Dauerfrage nach dem Verhältnis von Ethik und
Ästhetik (vgl. aktuell Elberfeld/Otto 2009). „Autonomie … ist das Vermögen der Selbstbestimmung nach eigenen Gründen.“ so Heidbrink in Kersting/Langbehn 2003, S. 267 und als
Fazit seiner Überlegungen: „Autonomie ist ohne Elemente der Heteronomie weder denkbar
noch realisierbar.“ (271). Er formuliert vier Kriterien gelingender Autonomie (280 f):
1. Individuen müssen ihre Entscheidungen auf sich selbst zurückführen können.
2. Individuen beurteilen und bilden sich durch kritische Selbstreflexion und effektive
Selbstmodifikation.
3. Individuen sollten „mit den Folgen der selbstverantworteten Urteilsbildung und selbstständigen Daseinsgestaltung so umgehen können, dass hieraus keine substantielle Beeinträchtigung des eigenen Lebens entsteht.“
4. Individuen können mit den Folgen ihres Handelns innerhalb eines bestimmten sozialen
Kontextes leben.
Dies scheinen mir brauchbare „Evaluationskriterien“ für eine emanzipatorische Kulturpädagogik zu sein.
Foucault ist gestorben, bevor er sein Projekt der Selbstsorge bis zur heutigen Zeit hat ausarbeiten können. Es gibt Gründe zu der Annahme, dass er die Frage der sozialen Eingebundenheit, die Frage einer Dialektik von Autonomie und Heteronomie unter den Bedingungen der
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Moderne sorgfältig aufgegriffen hätte, zumal seine vorangegangenen Gouvernementaltitässtudien (Foucault 2006a und b) und seine eigene politische Praxis dies getan haben. Wenn es
heute Verkürzungen und Einseitigkeiten in der hier angedeuteten Richtung gibt, ist es vermutlich eher ein Problem der Rezeption.
Im Hinblick auf Foucault lässt sich daher – so mein Eindruck – Ähnliches formulieren wie
Foucault es im Hinblick auf seine Entdeckung von Nietzsche beschrieben hat: Er entdeckte
nämlich durch eigene Lektüre einen ganz anderen, einen faszinierenden Denker, der wenig
mit jenem Nietzsche zu tun hatte, den er in seinen Philosophievorlesungen an der Universität
kennen gelernt hatte. Es ist wichtig in der Kulturpädagogik – gerade in einer solchen, die sich
als Pädagogik der Freiheit verstehen will –, Foucault selbst zu entdecken.
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Die Schriftsteller und die Gesellschaft
Was Kunst denn eigentlich sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. Dass aber eine
Aufgabe von Kunst darin besteht, der Gesellschaft und vielleicht auch jedem Einzelnen den
Spiegel vorzuhalten, darin sind sich viele einig. Seit es Kunst gibt, zumindest: Seit man über
Kunst nachdenkt, taucht diese Aufgabenbeschreibung auf. Kunst schafft Möglichkeitswelten,
Kunst ist Teil des Selbstreflexionsprozesses des Menschen, Kunst lässt uns spielerisch erproben, was alles noch sein könnte, wenn es die reale Welt nicht gäbe. Einige halten eine solche
funktionale Bestimmung nicht für genügend. Doch nutzt man eine solche häufig dort, wo
„Wesensdefinitionen“ nicht (mehr) gelingen wollen. So spricht man etwa auch unter seriösen
Wirtschaftswissenschaftlern davon, dass „Geld“ das ist, was Geld tut, was also Geldfunktionen erfüllt. Welches solche Funktionen von Kunst sein könnten, was also Kunst in einer funktionalen Sichtweise ist, darüber denken nicht nur Philosophen, Politiker, Alltagsmenschen und
– je nach Kunstsparte unterschiedlich lange – die fachbezogenen Kunstwissenschaften nach:
Auch für die Künstler selbst ist es eine ständige Herausforderung, das zu verstehen, was sie
eigentlich betreiben. Sie tun dies in Form von Essays, Fachbeiträgen oder in wissenschaftlicher Herangehensweise (denn im Zuge der Autonomisierung der Künste hat es auch eine
Akademisierung und Verwissenschaftlichung der Künstlerprofessionen gegeben), sie tun es
aber auch mit ihren genuin künstlerischen Mitteln. So malen Maler andere Maler oder sich
selbst beim Malen, so schreiben Autoren über andere Autoren – und müssen sich ständig die
Frage gefallen lassen, inwieweit ihr neuestes Werk (bloß) autobiographisch ist. Die Künste
sind inzwischen selbst – vermutlich waren sie es schon immer – Mittel der Selbstreflexion
nicht bloß der Künstler, sondern auch von deren Kunst geworden. Aufschlussreich ist es daher, eine wissenschaftliche und eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Künstlerdasein zu vergleichen. Eher durch Zufall kam es bei mir zu einer Urlaubslektüre von John Irvings etwas älterem Buch „Witwe für ein Jahr“ (1998, deutsch 1999) und einer ambitionierten
Studie zur sozialen Lage von Schriftstellern im Südosten Frankreichs von Bernard Lahire
(„Doppelleben“, Schriftsteller zwischen Beruf und Berufung. 2011). Fast alle Haupt- und Nebenfiguren in dem 800-Seiten-Schmöker des großartigen Erzählers Irving sind Schriftsteller
oder haben es mit Schriftstellerei (als Lektor, Verleger, Kritiker, Autor etc.) zu tun. Sie sind
unterschiedlich erfolgreich, arbeiten in unterschiedlichen Sparten (Frauenromane, Kinderbücher, Krimis), genießen eine unterschiedliche Anerkennung. Wer die Theorien von Howard
Becker (über die „art world“) oder von Pierre Bourdieu über das literarische Feld konkret
studieren will, findet hier nahezu alle Elemente. Was Literatur, speziell: Was gute Literatur
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ist, ergibt sich in einem Aushandlungsprozess, an dem viele Profis leben (Verleger, Kritiker,
Kulturzeitschriften und Journalisten, Lektoren, andere Schriftsteller, Hochschulen etc.) beteiligt sind. Anerkennung erfährt man in den durchaus konflikthaften Auseinandersetzungen im
Konkurrenzkampf um Status, Marktanteile und Aufmerksamkeit. Fachliche Reputation geht
dabei eher selten einher mit ökonomischem Erfolg. Literatur ist zudem am wenigsten für diejenigen, die sie produzieren, hinreichend ertragreich, um ihren Lebensunterhalt sichern zu
können: Es kommen Lesungen, Workshops, Dozenturen, Stipendien dazu, und diese auch nur
dann, wenn man das Glück hat, zumindest literaturnah arbeiten zu können. Oft genug ist es
der Lebenspartner, eine Erbschaft oder ein völlig fachfremder Brotberuf, der die Existenz
sichern muss. Daher stellt sich für viele Autoren – und auch für die genannten Protagonisten
in Irvings Roman – immer wieder die Frage der Selbstbezeichnung: Sind sie Autoren, Schriftsteller, Kulturarbeiter, Handwerker? Auch befassen sie sich ständig mit der Frage nach der
Organisation ihrer Arbeit und ihrem Vorgehen: Wie systematisch, wie inspiriert gehen sie
vor? Woher erhalten sie die Anregungen und wie sichern sie sie sich? Wie häufig können/müssen sie publizieren, um sich selbst gegenüber, aber auch in Hinblick auf eine durchaus vergessliche Leserschaft ihren Autorenstatus zu sichern? Wie viel an Verbiegungen –
etwa gegenüber Verlagen, Kritikern, Lesepublikum und Lektoren – sind sie bereit hinzunehmen?
Die Schriftstellerfiguren stellen sich alle diese Fragen – und beantworten sie durchaus unterschiedlich. Allerdings zeigt sich bei allen, dass die Schriftstellerexistenz eine absolut prekäre
ist – und natürlich flossen auch in dieses Buch erhebliche biographische Daten und persönliche Erfahrungen des Autors Irving ein.
All dies findet sich auch – allerdings systematisch mit Daten unterlegt – bei Lahire. Er entwickelt seinen theoretischen Rahmen, wobei heute niemand und schon gar kein französischer
Soziologe an Bourdieu (v.a. seinem Buch „Regeln der Kunst“, 2001) vorbei gehen kann.
„Feld“, „Habitus“, „sozialer Raum“ zusammen mit den Prozessen der Distinktion, dem
Kampf um die Gewinnung von sozialem, kulturellem, ökonomischem und symbolischem Kapital bieten die Hintergrundfolie, auf der Lahire seine – in einigen wichtigen Punkten dann
doch von Bourdieu abweichende – Position entwickelt. Es geht ihm zum einen um die Schließung des Desiderats, gründlich die desolaten ökonomischen Rahmenbedingungen des Schriftstellerdaseins zu erfassen. Und er tut dies u.a. durch Analyse der (französischen) Künstlersozialversicherung AGESSA, ihren Zugangsbedingungen und ihrer Mitgliederstruktur. Er tut es
durch eine umfangreiche Befragung und in einer größeren Zahl von Einzelinterviews, wobei
er sich bewusst ist, dass bereits die Festlegung des Spektrums der Befragten eine definitori234
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sche Bestimmung dessen ist, was ein „Schriftsteller“ ist (z.B. jemand, der mindestens ein
Buch in einem anerkannten Verlag publiziert hat). Der Fragebogen hat dabei durchaus beachtliche Ausmaße: 124 Fragen zum Einkommen, zum Familienstand, zur Ausbildung, der eigenen, des Partners und der Eltern (mit dem Ergebnis, dass Schriftsteller kaum aus niedrigen
sozialen Schichten kommen und in der Regel von Kind an ununterbrochen selber lesen: ca.
60% lesen über 20 Bücher im Jahr, 30% sogar mehr als 50). Es wird die Haltung zur Literaturkritik, zu Verlagen, zum Buchhandel und zu Verbänden ebenso erkundet wie die organisatorischen und räumlichen Rahmenbedingen des Schreibers. Im Hinblick auf die Einnahmesituation ist die Statistik von AGESSA interessant: Normale Bedingung dafür, Mitglied werden
zu können, ist ein Einkommen in Höhe des 900fachen Satzes des durchschnittlichen gesetzlichen Mindestlohnes: 6,6% der Versicherten erzielen ein Jahreseinkommen zwischen 3155
und 6309 €. Immerhin bleiben über 10% zeitweise unterhalb dieses Mindestsatzes. Ca. 55%
verdienen zwischen 6310 und 29.184 €, immerhin 0,4% 598.225€ und mehr. Ca. 40% haben
als Nebenberuf eine lehrende Tätigkeit. Schriftsteller haben es – etwa im Vergleich mit Bildenden Künstlern, Tänzern, Schauspielern oder Musikern – besonders schwer, sich als eigenständige Profession zu definieren, fehlen doch entscheidende Merkmale, die eine Profession
ausmachen – etwa ein klares Berufsbild, relevante Studiengänge mit anerkannten Abschlüssen. Daher ist das Feld derer, die Schriftstellerei betreiben, sehr viel heterogener als in anderen künstlerischen Bereichen. Von Vorteil ist das vermutlich deshalb, weil Schriftsteller
dadurch leichter die Möglichkeit haben, in durchaus anerkannten nichtkünstlerischen Berufen
ihren Lebensunterhalt zu sichern. Denn bis auf wenige Ausnahmen gelingt es kaum einem
Autor, mit literarischem Schreiben sein Geld zu verdienen. So sind sie als Lehrer oder Dozenten oder in anderen kulturnahen Berufen tätig, aber auch in der Wirtschaft, in der staatlichen
Bürokratie oder im Journalismus. Viele leben von Auftragsarbeiten, zu denen sie in strenger
Abgrenzung von ihrer eigentlich literarischen Tätigkeit auch Essays, Drehbücher oder sonstige Autorentätigkeiten zählen.
All dies ist natürlich nicht neu. Wir wissen von Lessings Versuchen, durch eine alleine ästhetischen Kategorien verpflichtete Tätigkeit als Autor oder Theatermacher seine Existenz zu
sichern. Es hat nicht geklappt, sodass er schließlich als – wie man weiß: schlechter – Bibliothekar endete. J.- J. Rousseau verdiente sein Geld als Notenkopist, Döblin und Benn waren
Ärzte (von letzterem hat Lahire auch den Titel seines Buches geliehen), Musil und Broch waren Techniker und Ingenieure, Kafka schließlich hasste seine Tätigkeit als Versicherungsfachmann, legte jedoch trotzdem höchste Qualitätsansprüche an sich in dieser Tätigkeit (und
wurde daher zurecht befördert). Allerdings werden die Widersprüche zwischen der eigentlich
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wichtigen literarischen Tätigkeit und der notwendigen Erwerbstätigkeit z. T. heftig erlebt.
Nahezu alle Autoren setzen sich mit diesem Problem auseinander, das nicht nur ein Problem
der individuellen Lebensgestaltung, sondern aufs engste verbunden ist mit dem Prozess der
Autonomisierung des literarischen Feldes. Flaubert („der Inbegriff des Schriftstellers ohne
Nebenberuf“; S. 571) hat hierbei eine Schlüsselrolle, weshalb Sartre zwei dicke Bände über
ihn schreibt (Der Idiot der Familie) und er auch im Mittelpunkt der kunstsoziologischen Studie von Bourdieu steht. Flaubert gilt deshalb als Schlüsselfigur, weil mit ihm im Kampf um
eine eigenständige Setzung ästhetischer Maßstäbe durch die Künstler selbst von diesen ein
entscheidender Sieg errungen wird. Allerdings zeigt sich hier die Fragilität des AutonomieKonzeptes: Zum einen ist zu unterschieden die Herausbildung einer eigenständigen „art
world“, also des Systems literaturbezogener Institutionen (Akademien, Verlage, Zeitschriften
etc.), das allerdings eine erhebliche einschränkende Wirkung auf das literarische Schaffen des
einzelnen Autors haben kann. Zum anderen kann damit die Unabhängigkeit des Autors von
Kirche und Staat gemeint sein. Auch für die Schriftsteller gilt jedoch, wie für die Bildenden
Künstler gezeigt wurde: Die Loslösung von früheren persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen
(etwa gegenüber den Fürsten) ist verbunden mit einer neuen (abstrakten) Abhängigkeit vom
„Markt“: „Genau wie früher sind auch heute das persönliche Vermögen und ein Zweitberuf
die sichersten außerliterarischen Garantien für eine literarische Autonomie.“(66).
Es ist also weder „die Kunst“ und sicherlich nicht die jeweilige Kunsteinrichtung, die „Autonomie“ für sich geltend machen kann: Es ist stets der Mensch, der produzierende Künstler,
der eigenverantwortlich sein künstlerisches Leben gestalten will. Autonomie in der Kunst
unterscheidet sich daher nicht grundsätzlich von dem Autonomieverständnis in dem Bereich,
in dem sie üblicherweise diskutiert wird: dem Feld des richtigen oder falschen Handelns, dem
Feld der praktischen Philosophie also.
Ambivalent sind die Positionen der befragen Schriftsteller in Hinblick auf staatliche Unterstützungsprogramme. Einerseits wurde häufig der Vergleich mit Forschung und Wissenschaft
zugezogen, Feldern also, bei denen niemand die Notwendigkeit einer staatlichen Förderung in
Frage stellt. Daher wäre auch eine staatliche Unterstützung der Künste notwendig. Andere
Autoren lehnten jedoch strikt jegliche Form von staatlicher Unterstützung ab, da sie dadurch
ihre literarische Integrität gefährdet sehen (Literatur sei am ehesten mit Religion oder Liebe
zu vergleichen, so einige Äußerungen, deshalb sei ebenso wie in diesen Bereichen des Liebens oder Glaubens eine staatliche Unterstützung völlig abwegig). Einige Autoren beteiligten
sich daher auch nur unter der Bedingung an der Befragung, dass unter keinen Umständen kul-
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turpolitische Forderungen nach einer weitergehenden staatlichen Unterstützung auf der Basis
der Ergebnisse der Erhebung gestellt werden dürften.
Die empirische Erfassung des literarischen Feldes, zu der es heute in Deutschland kein Pendant gibt, ist allerdings nur ein Ziel der Studie des Lyoner Soziologen. Ein zweites Anliegen,
für das das Schriftstellerdasein quasi eine Modellfunktion übernimmt, besteht darin, das Lahiresche Konzept multipler Identitäten zu unterfüttern. Lahires Einwand gegenüber Bourdieu
besteht darin, dass dieser von einer zu großen Homogenität sowohl bei der Zugehörigkeit des
Einzelnen zu einem bestimmten Feld als auch bei dem Vorhandensein eines bestimmten
(feldspezifischen) Habitus ausgegangen sei. Vielmehr sei heute Realität, dass sich jeder von
uns in verschiedenen Feldern bewegen muss und daher über sehr verschiedene Habitus verfügen müsse. Dies macht das spannungsvolle heutiger Individualität aus, wobei möglicherweise
Künstlern mit ihrer Kunst ein Medium zu Verfügung steht, diese Spannungen und Widersprüche zumindest zu bearbeiten. Künstler geben – so auch schon die Vermutungen, die man in
Anschluss an die Studien zum modernen flexiblen Kapitalismus von Richard Sennett haben
konnte – ein Rollenvorbild für Kreativität, Selbstverantwortung und Umgangsweise mit prekären Verhältnissen. Sie geben aber auch ein Modell dafür ab, wie der Mensch mit diesen
Anforderungen umgehen kann. So gesehen haben M. Tillmann und Th. Weber, ersterer zugleich der Übersetzer des Werkes, Recht in ihrem Nachwort: Das Buch ist natürlich aufschlussreich aufgrund seiner bislang umfassendsten Darstellung der sozialen Lage eines bestimmten künstlerischen Berufs. Es ist aber auch deshalb anregungsreich und wichtig, weil es
in qualifizierter Weise Fragen aufwirft, die uns alle angehen: Wie geht es dem Individuum,
das an den gesellschaftlichen Rollenansprüchen und persönlichen Krisen zu verzweifeln
droht? (690).
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Von der Notwendigkeit einer Kulturpädagogik
Vortrag bei dem Symposium „Theorie der Theaterpädagogik“ vom 23. –
25. März 2001 in Berlin
1. Vorbemerkung
Im Zusammenhang mit einer Diskussion darüber, wie eine Theorie der Theaterpädagogik
aussehen könnte, deute ich das Thema meines Vortrages wie folgt: Es geht darum, den Nutzen oder sogar die Notwendigkeit einer Theorie der Kulturpädagogik für das theaterpädagogische Theorieprojekt aufzuzeigen. Eine Theorie der Kulturpädagogik verhält sich in dieser
Perspektive zu einer Theorie der Theaterpädagogik wie das Allgemeine zum Besonderen19.
Die allgemeinere Perspektive bietet sich für mich aufgrund meiner Arbeitskontexte an: Denn
sowohl in der Akademie Remscheid (ARS) als auch in der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ) ist Theaterpädagogik ein kulturpädagogisches Arbeitsfeld neben Tanz,
Musik, Bildender Kunst, Rhythmik sowie Spiel- und Medienpädagogik. Konzept- und Theorieentwicklung in dieser fachübergreifenden Perspektive muss also weit genug sein, um all
diese Arbeitsfelder in ihrer Gemeinsamkeit, aber gleichzeitig auch in ihrer jeweiligen Spezifik
– auch gegenüber anderen Formen der Jugend(bildungs-)arbeit – zu erfassen.
Als methodisches Prinzip ergibt sich daraus für mich, gerade nicht eine größtmögliche Originalität und Einzigartigkeit in der Theorienbildung anzustreben, sondern vielmehr folgendes zu
berücksichtigen:
I. Eine allgemeine Theorie der Kulturpädagogik sollte sich um größtmögliche Anschlussfähigkeit bemühen, also insbesondere solche Theorien zuziehen, die auch eine Grundlage für
die verschiedenen speziellen Bereiche kultureller Bildungsarbeit sein könnten.19
Ich werde daher in diesem Text zunächst das Scheitern des ersten großen Versuchs beschreiben, eine „Kulturpädagogik“ zu etablieren. In einem zweiten Schritt will ich meinen eigenen
Versuch skizzieren, eine Theorie der Kulturpädagogik zu entwickeln. In den nächsten Schritten versuche ich, dies auf die Theorie der Theaterpädagogik zu beziehen. Im letzten Teil will
ich einige neuere Entwicklungen in der kulturpädagogischen Theorie und Praxis aufzeigen,
die nicht ohne die Hilfe der Theaterpädagogik bewältigt werden können.
238
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Ein weiteres Prinzip der folgenden Überlegungen, das sich aus der eigenartigen Mischung
von politischer Lobbyarbeit und dem fachlichen Interesse nach seriösen Grundlagen unserer
Arbeit in meinen genannten Arbeitskontexten ergibt, ist das folgende:
II. Politische Lobbyarbeit und kulturpädagogische Grundlagenforschung schließen einander
nicht nur nicht aus, sondern können sich wechselseitig befördern: Eine fundierte kulturpädagogische Konzeption oder Theorie lässt sich für eine überzeugende Lobbyarbeit nutzen; andererseits können kritische Fragen zur Legitimation des Arbeitsfeldes als fachliche Forschungsfragen und Herausforderungen genutzt werden.19
2. Kulturpädagogik in der Weimarer Republik
In der Geschichte der Pädagogik wird häufig die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, so wie
sie im Anschluss an W. Dilthey u. a. von W. Flitner, Nohl und Spranger entwickelt und ausgearbeitet worden ist, „Kulturpädagogik“ genannt. In besonderer Weise wurde dies in einer
spezifischen historischen Situation, nämlich nach dem ersten Weltkrieg, relevant19. Es kamen
nämlich aus den Schützengräben an Leib und Seele verletzte Männer zurück, auch zurück in
die Universitäten, aus denen der Stellungs- und Giftkrieg Zyniker und Nihilisten gemacht hat.
Die Sorge, wie aus diesen verletzten Menschen Lehrer werden sollten, die die nachfolgenden
Generationen nicht bloß belehren, sondern auch mit Lebensfreude erfüllen sollten, war groß.
Drei Personen will ich anführen, die entscheidend waren bei diesem ersten groß angelegten
Versuch, mit einer spezifischen „Kulturpädagogik“ eine humanistische normative Basis zu
schaffen, die man für die zukünftigen (Gymnasial-)Lehrer für notwendig hielt.
Die erste handelnde Person ist Ernst Troeltsch (1865 – 1923). Ernst Troeltsch war Freund
von Max Weber und führte – als Theologe und Sozialhistoriker – dessen Studien zur Rolle
des Protestantismus19 bei der Entstehung des Kapitalismus fort. Er untersuchte also insbesondere die Frage, inwieweit der Protestantismus mit seinem Menschenbild diejenigen normativen und mentalen Grundlagen gelegt hat, die der Wirtschaftbürger im Kapitalismus benötigt.
Innerhalb des Protestantismus gehört Troeltsch zu dem sogenannten „Kulturprotestantismus“,
der – sehr selbstbewusst – die Kulturleistung des Protestantismus in der (Genese der) bürgerlichen Gesellschaft sehr hoch bewertet, der den Staat nicht bloß als notwendige Ordnungsmacht, sondern als wichtige Repräsentation des Gesellschaftlich-Allgemeinen und des Sittlich-Guten versteht.19 Insbesondere ist ein solcher sittlicher Staat die richtige Instanz, auch für
eine normative Ausrichtung der Gesellschaft zu sorgen. Troeltsch engagiert sich politisch in
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der (in heutigen Begriffen) sozialliberalen Deutschen Demokratischen Partei und wird nach
dem Krieg als Staatssekretär ins preußische Kultusministerium berufen. Sein Arbeitsschwerpunkt besteht zwar in der Ausarbeitung einer neuen kirchlichen Landesverfassung (da das
ursprüngliche Kirchenoberhaupt, der König, nunmehr der Republik hat weichen müssen).
Doch engagiert er sich auch bei dem oben skizzierten Mentalitätsproblem des Lehrernachwuchses.
Die zweite handelnde Person ist Eduard Spranger (1882 – 1963). Sprangers Lehrstuhl an
der Universität in Leipzig wird frei. Daher entwickeln Troeltsch und Spranger die Idee, den
wiederzubesetzenden Lehrstuhl einer „Kulturpädagogik“ zu widmen, die die folgenden Aufgaben hat:

Sie soll fachübergreifend einen kulturellen Fixpunkt für die auseinander driftenden Fächer
formulieren;

sie soll professionelle und professionspolitische Grundlage für die Gymnasiallehrer werden;

sie soll – auf der Basis der Weimarer Klassik und des Neuhumanismus – eine allgemein
verbindliche Weltanschauung bereitstellen.
Eine geeignete Person für dieses anspruchsvolle Programm wurde gefunden. Nach der Absage des ursprünglichen Wunschkandidaten Kerschensteiner wurde der Düsseldorfer Gymnasiallehrer Theodor Litt (1880 – 1962) berufen, der sich mit einer zwei Jahre zuvor vorgelegten
Kulturphilosophie („Individuum und Gemeinschaft“, zuerst 1919) für diese Aufgabe qualifiziert hat.
Die Ausgangsbedingungen für dieses Projekt „Kulturpädagogik“ waren also denkbar günstig:
eine Problemlage, die eine Lösung brauchte; eine geeignete personelle Konstellation; ein anspruchsvolles und ausgearbeitetes Theorieangebot; eine Unterstützung durch die Regierung.
Das Projekt ist trotzdem gescheitert. Und dieses Scheitern ist ausgesprochen lehrreich für alle
weiteren Projekte, die – mit staatlicher Sanktionierung – versuchen, eine „Leitkultur“ durchzusetzen. Denn diese Vorstellung einer einheitlichen und allgemein-verbindlichen Leitkultur
– und sei sie noch so humanistisch und „wertvoll“ – verkennt Status und Rolle der Kultur in
der entwickelten Gesellschaft:
III. Kultur ist heute nur noch als Pluralitätsbegriff zu verstehen: Jede entwickelte Gesellschaft
ist ein Zusammenhang vielfältigster Kulturen (Generationen, Ethnien, sozialökonomische
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Milieus, Geschlechter, Religionen etc.), so dass sich eine wichtige politische Aufgabe daraus
ergibt, diese Pluralität lebbar zu machen.
Die Vereinten Nationen nutzen etwa das Motto: „Celebrate the diversity“19. Hieraus ergibt
sich sofort als wichtiges Bildungsziel gerade in der kulturellen Arbeit: die Entwicklung von
Kompetenz zum Umgang mit kultureller Pluralität.
Eine weitere Erkenntnis wird durch die Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen der
modernen Gesellschaft erleichtert: „Kultur“ bringt Kontingenz auf den Begriff. Damit ist
gemeint, dass die Thematisierung von Kultur entschieden die „Gemachtheit“ des Lebens und
der uns umgebenden Welt beinhaltet19. Kultur ist gestaltete Natur, so findet sich bereits in den
tusculanischen Schriften von Cicero eine frühe Begriffsbestimmung. Wenn jedoch etwas
Menschenwerk ist, dann könnte dieses auch anders sein, als es ist. Denn menschliche Produktion ist nicht „notwendig“, sondern eben immer auch „kontingent“. Gerade die jüngere Entwicklung der Moderne zeigt, dass mit dem Bewusstwerden von Kontingenz die Infragestellung allzu großer Selbstgewissheit verbunden ist, dass es eben nicht notwendig gut ist, so wie
es ist. „Kontingenz“ bedeutet hier, ständig (kontrolliert) Zweifel am Zustand der Gegenwart
zu äußern, Zweifel an aktuell gültigen Normen und Werten. Gerade die Künste stellen scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage19. Und gerade das Theater hat – etwa in der Technik
des Verfremdens von B. Brecht – hierin eine wichtige Traditionslinie: „Als Kulturarbeit akzeptieren wir nur eine Arbeit, die uns diese Regeln (des jeweils „richtigen Verhaltens“; M. F.)
vorführt und uns anschließend die Entscheidung überlässt, ob wir uns an sie halten wollen.“19
Daher die These:
IV. Kultur thematisiert Kontingenz. Insbesondere ist moderne Kultur eine institutionalisierte
Form kontrollierten Selbstzweifelns an der Richtigkeit unseres Handelns.
Es liegt m. E. auf der Hand, dass beide Thesen (III und IV) in besonderer Weise für die Kulturform Theater gelten und das Theater daher sehr geeignet ist, die mit diesen Thesen verbundenen Bildungsziele zu realisieren.19
3. Die „neue“ Kulturpädagogik: ein Überblick
Was man heute als Kulturpädagogik – in Theorie und Praxis – versteht, hat seine Wurzeln im
München der frühen siebziger Jahre.19 Natürlich gibt es – etwa im Kontext der „musischen“
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Bildung – seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht bloß die traditionellen künstlerischen
Schulfächer, sondern auch eine starke Betonung von Musik, Spiel und Tanz in der außerschulischen Jugendarbeit. Doch findet in der genannten Zeit ein vielfältiger Paradigmenwechsel
statt19: Es geht nunmehr explizit um andere Formen von Pädagogik, es wird das Kind oder
der Jugendliche in den Mittelpunkt gestellt – gerade bei Fragen der Gestaltung der Städte. Es
geht um die individuelle Seite der pädagogischen Praxis, also um ästhetische Erfahrung der
Subjekte – und gerade nicht um die Vermittlung eines Kunst-Kanons.19 Und das Ästhetische
an der Erfahrung ist nicht notwendig das Künstlerische, sondern es sind vielfältige Erfahrungen und Wahrnehmungen in sozialen und auch politischen Prozessen, die im Vordergrund
stehen. Kunstorientierte Arbeitsformen sind zwar möglich, aber in der Regel eingebettet in
spielerische Erkundungen der Stadt, in kindgerechte Inszenierungen von Milieus. Bezogen
auf die Geschichte der Ästhetik geht es hier um das Verständnis von Ästhetik als Theorie
sinnlicher Wahrnehmung, so wie sie (u. a.) bei Baumgarten entwickelt wurde.19
Man kann sogar die These formulieren, dass in dieser neuen kulturpädagogischen Traditionslinie das Künstlerisch-Ästhetische erst im Laufe der Jahre wieder erobert werden musste.19
Allerdings reicht bereits das Wahrnehmungskonzept als Grundlagenkonzept weit. Denn die
Schulung der Sinne, die Anthropologie des Körpers bzw. Leibes schließt eine Sensibilisierung
für das Unsichtbare, Unhörbare, für das Verborgene, Versteckte mit ein.19 Kulturarbeit als
Arbeit an der Wahrnehmung kann die Aufmerksamkeit auf Vielfalt und Pluralität der Kulturen lenken, auf die unterschiedlichen Möglichkeiten eines „guten Lebens“.19 Eine künstlerisch geformte Wahrnehmung nutzt zudem das Potential der „anschauenden Reflexion“ der
künstlerischen Gestaltung19, nutzt die spezifischen Möglichkeiten der Verdichtung und Expressivität. Dies ist inzwischen auch anerkannter Ansatz der Kulturpädagogik: Die Pluralität
unterschiedlicher Verständnisweisen der Wahrnehmung und des Sinnlichen schlechthin, die
spielerische Eroberung öffentlicher Räume ebenso zu akzeptieren wie die künstlerischen Arbeitsformen im engeren Sinne und dabei rezeptive und produktive Zugangsweisen, offene
Projekte und verbindlichere Kursformen als gleichermaßen legitime Arbeitsformen anzuerkennen19. Die Praxis, die sich auf der Basis dieser Selbstverständnisse entwickelt hat, ist vielfältig und heterogen19:

Kulturpädagogik findet an unterschiedlichsten Orten statt: Kunst- und Kultureinrichtungen, Jugend- und Sozialeinrichtungen, spezialisierte kulturpädagogische Einrichtungen
wie Jugendkunst- und Musikschulen, Medienwerkstätten etc.

Sie wird von Menschen unterschiedlichster Professionen organisiert und angeleitet.

Sie findet im Kontext von Jugend-, Kultur- und Bildungspolitik statt.
242
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
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Der Professionalisierungsgrad ist in den verschiedenen Sparten und Arbeitsfeldern sehr
unterschiedlich: Von festen anerkannten Berufsbildern bis zu Tätigkeitsinhalten, bei denen noch unsicher ist, ob daraus Berufsbilder werden.

Ebenso unterschiedlich ist daher die Möglichkeit, sich in grundständigem Studium
und/oder langfristigen Fortbildungen für eine solche Tätigkeit zu qualifizieren.
Auf der Ebene der Wissenschaft gibt es nur stellenweise Indizien dafür, dass diese neue Kulturpädagogik ihren Ruf gegenüber der Kulturpädagogik der 20er Jahre als „Weltanschauungsvermittlung von oben“ verändert hat und als lebendiges Praxis- (und weniger als lebendiges Theorie-)feld akzeptiert wird. So gibt es bislang auch erst einen einzigen Versuch einer
Gesamtdarstellung19 von Kulturpädagogik, der von der Theorie über Didaktik/Methodik, der
Topographie des Handlungsraumes bis zur Frage der Professionalisierung und der politischen
Rahmenbedingungen in dieses Feld mit theoretischem Anspruch einführt.
4. Zur Theorie der kulturellen Bildung als Kern der Kulturpädagogik
Im folgenden konzentriere ich mich darauf, Grundlinien einer Theorie der kulturellen Bildung
zu skizzieren. Denn:
V. Die Theorie der kulturellen Bildung ist der Kern der Theorie der Kulturpädagogik.
Eine Theorie der Kulturpädagogik insgesamt wäre komplexer und anspruchsvoller, enthielte –
analog zu dem Versuch in „Kultur lernen“ – auch eine Darstellung und Theoretisierung des
operativen und institutionellen Feldes. So gehörte etwa zu einer solchen umfassenden Theorie
auch eine Theorie kulturpädagogischer Orte: also des Museums, des Theaters, der Musikschule etc., woran man erkennen kann, wie weit entfernt eine solche ambitionierte Theorie noch
entfernt ist.
Für die Entscheidung, die Perspektive der Bildung in den Mittelpunkt zu stellen und diese
unter dem Begriff der kulturellen Bildung zu verhandeln, gibt es gute Gründe. Es gibt zunächst praktische-politische Gründe. Seit den siebziger Jahren, als der Begriff der „kulturellen Bildung“ nach und nach den traditionellen Begriff der „musischen Bildung“ ersetzt hat,
hat er sich in den drei relevanten Politikfeldern durchgesetzt:

In der Jugendpolitik ist er schon seit langem in den Richtlinien wichtiger Förderprogramme und schließlich auch seit 1990 im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) als legitime Arbeitsform der Jugendarbeit eingeführt.
243
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
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In der Kulturpolitik werden seit 30 Jahren viele inhaltliche Impulse mit Hilfe dieses Begriffes gegeben. Ich erinnere nur an die beiden „Konzeptionen Kulturelle Bildung“ des
Deutschen Kulturrates und an die Große Anfrage „Kulturelle Bildung“ im Deutschen
Bundestag (Drucksache 11/7670 vom 13. 8. 1990).

In der Bildungspolitik – auch und gerade in allgemeinbildenden Schulen – nutzt man
zunehmend diesen Begriff als Sammelbegriff für die verschiedenen künstlerischen Schulfächer. Ich erinnere nur an den jüngsten Förderschwerpunkt der Bund-Länder-Konferenz
(BLK) „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“19.
Auch auf internationaler Ebene findet der Begriff der „Cultural education“ inzwischen Anwendung – und dies, obwohl im Englischen und im Französischen die Bedeutungen von Kultur/Culture/Culture ebenso komplex und uneindeutig sind wie Bildung/formation/education.19
Es gibt allerdings – dies sei zugegeben – auch gute Gründe, gegen diese sprachliche Form
„kulturelle Bildung“ zu sein. Nicht zuletzt auch deshalb, weil gerade in der deutschen Geschichte „Bildung“ und „Kultur“ nicht voneinander zu trennen sind19, so dass es sich um eine
eigenartige Verdoppelung desselben Sachverhaltes zu handeln scheint. Ich will dies hier nicht
weiter verfolgen19, sondern nur darauf hinweisen, dass zum einen durchaus begriffliche Alternativen (etwa „ästhetische Bildung“) ebenfalls – und meist weitgehend synonym – verwendet
werden, sich diese bei näherer Analyse aber ebenfalls nicht so eindeutig definieren lassen, wie
es wünschenswert wäre: Das Ringen um eine inhaltliche Füllung der jeweils ausgewählten
Worthülse müsste also in jedem Fall stattfinden.
Doch zunächst ein Hinweis auf theoretische und konzeptionelle Gründe dafür, vom Bildungsbegriff bei der kulturpädagogischen Theorienbildung auszugehen. Gerhard Schulze
spricht in seiner Kultursoziologie19 von der „Selbsterhaltungsmentalität“ der großen Kunsteinrichtungen als wichtiger Handlungsrationalität in der Kulturpolitik (die immer wieder notwendige Reformen verhindert). Auch im Bereich der Kulturverbände – und auch in wissenschaftlichen Kontexten – drängen sich ebenfalls immer wieder institutionelle Fragen, Fragen
des Strukturerhaltes in den Vordergrund. Der Mensch, um dessen Entwicklung, um dessen
Bedürfnisse und Interessen es letztlich geht, tritt in diesen Diskursen oft genug in den Hintergrund. Daher spricht die UNESCO in letzter Zeit verstärkt davon, das „Subjekt im Mittelpunkt“ sehen zu wollen. Und dies ist auch für mich der wichtigste Grund, von „Bildung“ auszugehen.
Denn immer noch ist die These richtig,
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VI. dass „Bildung“ die subjektive Seite von „Kultur“ thematisiert (ebenso wie Kultur die objektive Seite von Bildung ist), man den notwendigen Blick auf das Ganze unter der Leitlinie
„Bildung“ daher aus der parteilichen Perspektive des Subjektes wirft.19
„Bildung“ stellt dann nicht als erstes die Frage, was die Wirtschaft, die Politik oder die Gesellschaft an „Qualifikationen“ von dem Einzelnen braucht, sondern sie fragt danach, was der
Einzelne an Kompetenzen, Fähigkeiten, Einstellungen, Dispositionen braucht, um ein „Leben
in aufrechtem Gang“ (E. Bloch) zu führen. Es geht also um das handlungsfähige Subjekt, es
geht um die Frage, wie die Partizipation des Einzelnen in Prozessen gesellschaftlicher Steuerung erhöht werden kann: Es geht um das je individuelle „Projekt des guten Lebens“. Natürlich ist diese Perspektive kulturell nicht neutral. Man kann zeigen, wie stark die Idee eines
handlungsfähigen Subjekts, das eigenverantwortlich und autonom sein Leben gestaltet, zur
europäischen Kultur gehört (und auch entschieden protestantisch imprägniert ist).19
Allerdings muss bei aller kulturellen und historischen Relativierung dann darauf hingewiesen
werden, dass diese Vorstellung individueller Subjektivität inzwischen insofern als „allgemein
menschlich“ anerkannt wird, als es genau dieses Menschenbild ist, das in internationalen Regelwerken (Menschenrechtskonvention, Kinderrechtskonvention etc.) fast von der gesamten
Völkerfamilie akzeptiert wird.
VII. „Bildung“ thematisiert daher den Anspruch aller Menschen auf „menschgemäßes“ Leben in normativ anspruchsvoller Form.
Doch wie begründet ist diese Norm? Woher weiß man, was „menschgemäß“ ist? An dieser
Stelle stellt sich also die Frage nach der Begründung des Menschenbildes, das dem anvisierten ambitionierten Bildungsbegriff unterliegt. Da ich diese Frage als höchst legitim akzeptiere, ist für mich Bildungstheorie nur auf einem reflektierten anthropologischen Fundament zu
formulieren. Dieses findet man in der These vom Menschen als einzigem kulturell verfassten
Wesen. Mit Helmut Plessner und Ernst Cassirer befindet man sich – so meine ich – philosophisch und humanwissenschaftlich auf sicherem Boden.19 Ich will dies hier nicht ausführen,
sondern nur auf zwei zentrale Erkenntnisse hinweisen:19

Helmut Plessner arbeitet in seiner Anthropologie systematisch den Gedanken der „exzentrischen Positionalität“ aus: Der Mensch tritt als einziges Lebewesen (fiktiv oder virtuell)
neben sich, tritt aus der für Tiere selbstverständlichen Mitte seiner Lebenswelt heraus und
kann daher sich und die Bedingungen seiner Existenz zum Gegenstand der Betrachtung
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machen. Die Distanz zu sich ist die Basis für ein reflexives Verhältnis zu sich. Damit
bricht jede unhinterfragte Selbstverständlichkeit eines bloß instinkgelenkten Lebens weg,
so dass er als zentrale Überlebensaufgabe hat, sein Leben bewusst führen zu müssen.

Ernst Cassirer zeigt uns – kompatibel mit diesem Plessnerschen Grundgedanken –, dass
der Mensch als „animal symbolicum“ vielfältige Zugangsweisen zur Welt und zu sich
entwickelt, die diese Distanz überbrücken: Sprache, Mythos, Religion, Wissenschaft,
Technik, Wirtschaft und Politik. Jede dieser Formen hat das Ganze im Blick – freilich auf
je spezifische Weise. Keine dieser Formen ist verzichtbar – weswegen es falsch ist, etwa
Wissenschaft gegen Kunst auzuspielen19, denn erst ihre Gesamtheit macht „Kultur“ (i. S.
von Cassirer) aus. Cassirer lehrt also, Kultur als Pluralitätsbegriff zu verstehen, wobei die
notwendige Einheit jeweils im Subjekt vollzogen wird. Dies ist in einem allgemeineren
Verständnis die zentrale „kulturelle“ Bildungsaufgabe.
Erinnert man sich nun daran, dass eine gut begründete Konzeption von Bildung diese als
„wechselseitige Verschränkung von Mensch und Welt versteht“, als Herstellung eines bewussten Verhältnisses des Subjekts zu sich, zu seiner natürlichen und sozialen Umwelt, zu
seiner Vergangenheit und Zukunft, dann wird deutlich: Eine so verstandene Bildung verschärft lediglich die Konturen, die bereits die Anthropologie bei der Bestimmung von
Menschsein lehrt.
VIII. Die zentrale (kultur-)pädagogische Aufgabe besteht darin, dem „Menschgemäßen“ (i. S.
von Plessner und Cassirer) zur Entwicklung zu verhelfen.19
Kulturelle Bildungsarbeit könnte dann als (angeleiteter) Entwicklungsprozess des Subjekts in
jeder einzelnen symbolischen (=Kultur-)Form verstanden werden. Im engeren Sinne lässt sich
jedoch auch eine Fokussierung auf einzelne symbolische Formen – also etwa auf „Kunst“ –
begründen. An dieser Stelle ist die Weite des Kulturbegriffs sogar hilfreich: Er verweist darauf, dass der Mensch vielfältige Zugangsweisen zur Welt hat, die alle notwendig und legitim
sind. Dies schützt vor Allgemeinvertretungsansprüchen einzelner Disziplinen. Und es erzwingt geradezu, das Spezifische der eigenen Zugangsweise (also der Musik, des Theaters,
der Bildenden Kunst) heraus zu arbeiten, also zu zeigen, wie die allgemeinen Kulturfunktionen19 speziell im eigenen Fach realisiert werden. Dies bedeutet, dass sich eine Theorie der
Theaterpädagogik im Überschneidungsbereich einer Theorie des Subjekts/Anthropologie und
einer Theorie des „Gegenstandes“ Theater – sicherlich auch unter Berücksichtigung der Logik
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von Vermittlungsprozessen – entwickeln lassen müßte. Auf der Basis dieser – an anderer Stelle umfassend dargestellten – Überlegungen kann man folgende Definition begründen:
IX. Kulturelle Bildung ist Allgemeinbildung, die mit den spezifischen kulturpädagogischen
Arbeitsformen (des Theaters, der Musik, des Tanzes etc.) entwickelt wird.19
5. Zur Rolle des Theaters als symbolischer Form
Unter den oben bereits eingeführten „Kulturfunktionen“ verstehe ich Prozesse, die notwendig
in einem Gemeinwesen stattfinden müssen, da es ein Mindestmaß an Kohärenz – quasi als
„sozialen Kitt“ – benötigt. Es handelt sich dabei v. a. um die Möglichkeiten, Bilder von sich
zu entwickeln, Gemeinschaftserfahrungen zu symbolisieren, über Medien zu verfügen, die
einen Diskurs über Vorstellungen des guten Lebens gestatten, die die Geschichtlichkeit der
individuellen und sozialen Existenz erfassen. Man muss nur eine grobe Überprüfung am Beispiel einer beliebigen Wissenschaft, Kunstform oder Religion machen, um zu sehen, dass in
der Tat all diese „Kulturmächte“ auf je unterschiedliche Weise derartige Kulturfunktionen
erfüllen oder zumindest: Es beanspruchen.
Bevor ich einige Überlegungen zum Theater als spezifischer symbolischer Form anstelle, mag
man folgende weitere Bestimmung von Bildung betrachten:
X. Bildung – oben bereits eingeführt als subjektive Seite der Kultur – kann im Hinblick auf
Kulturfunktionen als Fähigkeit verstanden werden, je individuell an diesen Kulturfunktionen
zu partizipieren. Kulturfunktionen sind also aus der Sicht des Individuums Bildungsfunktionen.
Insofern Theater solche Kulturfunktionen erfüllt, ist eine individuelle Involviertheit in das
Theater zugleich die Realisierung theatraler Bildung. Doch nun zur symbolischen Form Theater. Als eine Grundlagentheorie für kulturelle Bildung wurden oben die Anthropologien/Kulturphilosophien von Plessner und Cassirer eingeführt. Offensichtlich realisiert das
mimetische, also nachahmende Spiel als bereits früh in der Menschheitsgeschichte auftauchende Handlungsform nahezu maßgeschneidert die „exzentrische Positionalität“: Menschen
schlüpfen in Rollen und zeigen sich und anderen bestimmte Handlungsabläufe, oft in vielfältigen Wiederholungen (Rituale). Sie machen damit für sich Situationen und Emotionen erlebbar und kommunizierbar. Sie treten aus der unmittelbaren Lebenssituation heraus und „schau247
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en“ auf sich selbst (so wie es die griechische Wortbedeutung von „Theater“ nahelegt). 19 Diese
Form von Mimesis unterscheidet sich von der „anschauenden Reflexion“ im Umgang mit
einem Bild, bei dem bewußt in stilisierter Form die Zeit stillgestellt ist. Hier handelt es sich
um körperhafte Präsenz im zeitlichen Ablauf. Es ist also kein Wunder, dass Helmut Plessner
nicht bloß eine „Anthropologie“ des Schauspielers geschrieben hat 19, sondern auch derjenige
war, der nach dem zweiten Weltkrieg die soziologische Rollentheorie in Deutschland eingeführt hat. Denn es ist kein bloß metaphorischer Sprachgebrauch, den Prozess der Sozialisation
mit dem Theaterbegriff der „Rolle“ zu konzeptionalisieren, sondern genau dies ist wörtlich zu
nehmen (Goffman: „Wir alle spielen Theater“).19 Es ist eben notwendig, die Unmittelbarkeit
des eigenen Ich zu verlassen und sich im Sinne einer Perspektivverschränkung mit den Augen
anderer zu sehen, wenn man eine persönliche Identität entwickeln will.
Das Theater liefert in jüngster Zeit weitere Erklärungsmöglichkeiten für gesellschaftliche
Prozesse. So spricht man – eben aufgrund der gewachsenen Relevanz der Postmoderne und
der Betonung der Oberfläche und des Scheins – zunehmend von einer „Inszenierung der eigenen Person oder des öffentlichen Lebens“. Die Stadt wird als „Bühne der Sichtbarkeit“ verstanden, bei der bewusst gestaltet wird19, was man zeigen will und was nicht.
Generell spielt in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft „Theatralität“ eine zunehmend wachsende Rolle. Hier ist die Postmoderne nur ein letzter kräftiger Akzent: „Dass theatralisches Gebaren durchaus zum Instrumentarium gesellschaftlicher Kommunikation gehört,
ist eine über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hinweg zu betrachtende Erscheinung.
Beschneidungsriten, zirzensische Spiele, Gottesdienste, Prozessionen, Festumzüge, Aufmärsche, militärische Manöver und Paraden, „Haupt- und Staatsaktionen“, Demonstrationen, Parteitage: Die Inszenierung von Festen, die Architektur, die Stadtgestaltung, ja: das Verständnis
allen sozialen Handelns nach Maßgaben des Theaters – oft allerdings in der negativen Bewertung von Verstellung und Manipulation – prägt das Selbstbild der Gesellschaft seit langem“. 19
In dieser Situation war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der umfassenden Inszenierung
aller lebensweltlichen Bereiche, so wie sie in jüngster Zeit registriert wird. Bill Clinton gilt in
diesem Zusammenhang als erster US-Präsident, dessen Politik – in ihrer Präsentation und in
ihren Inhalten – nur noch über ihre Inszenierungsqualität und ihre Akzeptanz beim Publikum
gesteuert wird.
Theatrale Bildung erhält hier geradezu gesellschaftskritische Bedeutung, denn es ist die spezifische Symbolkompetenz des Theaters, die helfen kann, öffentliche Inszenierungen zu durchschauen.
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6. Neue Entwicklungen in der Kulturpädagogik
Abschließend will ich auf einige neuere Entwicklungen hinweisen, bei deren Bearbeitung die
Theaterpädagogik unverzichtbar ist.
1. Als erstes weise ich auf unser großes Modellprojekt „Lebenskunst“ hin. 19 „Lebenskunst“
hatte u. a. die Bedeutung, die ich eingangs angesprochen habe: Die pädagogischen Prozesse – auch die Prozesse der Lebensbewältigung – aus der Perspektive des Subjekts zu betrachten. Es ist der Einzelne, der – natürlich im sozialen Zusammenhang – sein Leben führen und gestalten muss. Eine wichtige Konsequenz haben die praktischen Projekte, die wir
im Rahmen dieses Modellprojekts gefördert haben, erbracht: Es ergibt sich eine Neubestimmung der Rolle der pädagogischen Anleitung. Auch in der außerschulischen Kulturpädagogik sind die Projekte zu oft lehrerorientiert. Dies scheint auch der Theaterpädagogik nicht ganz fremd zu sein, wenn ich mich an die Diskussionen über die Rolle des Spielleiters erinnere. Die Perspektive der „Lebenskunst“ kann hier zu einer kritischen Selbstbesinnung der „Profis“ führen – auch als Teil ihrer pädagogischen Professionalität.
2. Eine zweite interessante Entwicklung bahnt sich möglicherweise in der beruflichen Bildung an. Dort stellt man (erneut) fest, dass es angesichts eines schnellen Wandels in der
Wirtschaft immer weniger möglich ist, die berufliche Bildung an jeweils vorhandenen Anforderungsprofilen zu orientieren. Denn nach Abschluss der Berufsausbildung sind diese
Qualifikationen schon wieder veraltet. Daher erprobt man nunmehr das Konzept der
„Kompetenz“, das sich zwar auch auf zu entwickelnde Fähigkeiten und Fertigkeiten der
Menschen bezieht, diese jedoch nicht aus externen Anforderungprofilen ableitet, sondern,
– vom Subjekt aus! – auf Stärken des Einzelnen bezieht. Ein solcher Ansatz ist für die
Kulturpädagogik kompatibel, so dass sich hier neue Kooperationsformen von kultureller
und beruflicher Bildungsarbeit ergeben könnten.
3. Mit diesem möglichen Paradigmenwechsel könnte ein neues Verständnis des „Lernens“
einhergehen.19 Gerade der Lernbegriff wird immer noch von einem Verständnis einer eng
lehrplanbezogenen und lehrerzentrierten Instruktion geprägt. Lernen aus der Sicht des
Subjekts und seiner Entwicklung zu betrachten heißt dagegen: systematisch Situationen
herzustellen, in denen der Einzelne oder die Gruppe ihre Stärken entfalten können. Lernen, das weiß man seit langem, registriert es in der Bildungspolitik allerdings erst seit
kürzerer Zeit, geschieht nur zu einem kleinen Teil in formalen Lernsituationen: Man
schätzt, dass etwa 70 – 80% dessen, was der Mensch kann und können muss, aus informellen und non-formalen Lernprozessen entsteht. Ein neues Projekt der BKJ will daher
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kulturpädagogische Lernprozesse auch als solche deutlicher kenntlich machen, so dass
auch hier Bestätigungen von Lernerfolgen („Zertifikate“) möglich sind.
4. Die setzt allerdings voraus, dass wir uns erneut mit den Methoden der Erfassung von Bildungswirkungen beschäftigen müssen. Mir scheint, dass quer durch alle kulturpädagogischen Arbeitsfelder hierbei ein erheblicher Mangel besteht, so dass wir – insbesondere mit
einem Schwerpunkt bei qualitativen Methoden – in den nächsten Jahren diese Form einer
pädagogischen Wirkungsforschung verstärken wollen und müssen.19
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