Gehmkow - Törpiner Forum eV

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SCHRIFTENREIHE DES TÖRPINER FORUMS E.V.
Gehmkow
Zur Geschichte Vorpommerns
Herausgeber
Helmut G. Pratzel
Unter Mitarbeit von
Ulrich Michael, Kurt Fischer, Kornelia Böttcher,
Gabriele Schwertfeger, Renate Deage, Karin Hinz
1
Herausgeber:
Univ.-Prof. Dr. Dr. Helmut G. Pratzel
Törpiner Forums e.V.
Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt:
I.S.M.H. Verlag
Törpin 13, D-17111 Sarow,
Tel. +49 (0) 39996 70135
Fax +49 (0) 39996 70137
Druck: I.S.M.H. Verlag
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auszugsweise, behält sich der Verlag vor.
© Copyright 2010 by I.S.M.H. Verlag
1. Auflage Januar 2010
1
Inhaltsverzeichnis
Gehmkow hieß früher Stolzow ........................................................ 3
Die Beschreibung des Hauses und Dorfes Gehmkow ...................... 3
Beschreibung über das Amtsdorf Gehmkow von 1698 ................... 6
Eine Statistik aus dem Jahre 1771 .................................................... 7
Eine Beschreibung des Demmin-Treptowschen Kreises. ................ 8
Familie Hyden-Linden und das Gut Gehmkow ............................. 12
Gäste und Feste auf dem Gut Gehmkow ........................................ 20
Im Winter in Gehmkow: Schlachtezeit und Weihnachten ............. 21
Das Gut Gehmkow ......................................................................... 27
Wer wohnte wo?............................................................................. 36
Aus dem Leben von Dietrich von Heyden-Linden ........................ 37
Die Malerin Ilse von Heyden-Linden............................................. 40
2
Gehmkow hieß früher Stolzow
Gehmkow ist wahrscheinlich schon in der slawischen Zeit (10.-11.
Jh.) besiedelt gewesen. Man vermutet hier das wüste „Stolzow“. Der
Ort lag wahrscheinlich 1,3 km südwestlich der alten Dorfstelle auf
einer Anhöhe im Bruch, wie aus Bodenfunden geschlossen werden
kann. Wahrscheinlich hatten die Slawen dort eine Burg. Gehmkow
hatte den Namen „Ull Dörpstäd“. Der Name Gehmkow hat sich aus
der Zeit der germanischen Rückeroberung, zumindest aus der Zeit des
30-jährigen Krieges in unsere Zeit hinübergerettet, ist aber nicht genauer zu deuten. Die erste namentliche urkundliche Erwähnung geht
in das Jahr 1448 zurück. Damals verkaufte Herrmann von Pentz das
Gut an Klaus Drake.
1660 war das Gut im Besitz von Bogislav Balzer von Heyden, ein
Vorfahre der von Heyden-Linden. 1663 kam es in den Besitz des
Schlossgesessenen Jürgen von Platen und war in der Folge bis ins 19.
Jh. ein landesherrliches Vorwerk des Amtes Lindenberg, d. h. es war
im Besitz des Staates. Im Jahre 1811 wurde die Domäne verkauft, ein
Rittergut mit 477 ha Land, an den Gutsbesitzer von Pressentin. Bis
zum Jahre 1887 bewirtschaftete ein Herr Grönlund das Gut.
Dieser verkaufte es 1887 an Friedrich von Heyden-Linden. Sein Sohn
Echard von Heyden-Linden, mit seiner Frau, übernahm das Gut im
Jahre 1921. Es war bis nach dem 2. Weltkrieg 1945 in ihrem Besitz.
Dann wurde die Familie von ihrem Land vertrieben. Der Besitz wurde
verstaatlicht, das Land aufgeteilt und das Gutshaus in mehrere Wohnungen aufgeteilt.
Die Beschreibung des Hauses und Dorfes
Gehmkow1
Das Haus daselbst ist ziemlich verbaut, weil aber die Zeit her darin
niemand gewohnt, ist fast taghloß, auch inwendig etlichermaßen verfallen, und ist mit einem tieferen Wassergraben umgeben, um diesen
Graben ist ein ziemlich guter Obstgarten. Zugehörig zu diesem Haus
1
von Willy Dumrath in Thiessow 1590 Beschreibung des Hauses
Gemekow mit aller Gerechtigkeit und zu belegenen Dörfern aus Bericht der ältesten Bauern.
3
ist der Bauhof, so ziemlich mistreich, darauf steht ein Bauhaus, so
inwendig mit 1 Stube und Kammern etlichermaßen billig erbaut. Zur
linken Seite des Hauses steht eine lange Scheune, oben mit Stroh befestigt. Hinter dieser Scheune ist auch ein ziemlicher Garten, darin
auch etliche Obst- und Kirschenbäume, darin auch Heuffars (?), zu
Zeiten auch andere Küchennotdurft kann gesät werden. Zur rechten
Seite des Bauhauses steht ein neues Viehhaus, da endet ein neues
Kornhaus mit einem ziemlichen Boden, darunter der Hammelstall, ist
oben mit Ziegel befestigt. Hinter diesen Gebäuden ist ein ziemlicher
Garten, der zum Teil mit Hopfenkruden besamt, auch allerlei Küchennotdurft darin kann gesät werden. Sonsten steht quer über dem Viehhof ein Viehstall mit Rohr befestigt, darauf ein ziemlicher Teil Heu
kann getrocknet werden.
1569 und 1590: Zeugen des Dorfes Gemekow:
Jochen Haneke - Achim Hanneke, der Vogt daselbst, 47 Jahre alt.
Carsten Schroder, 70 Jahre alt, hat daselbst 50 Jahre gewohnt.
Achim Kalsow, 76 Jahre alt, ist bei Tönnies Draken Zeiten stets bei
ihm auf dem Hof gewesen, ist daselbst gebürtig.
Jaspar Kalsow, 52 Jahre alt, hat dort 30 Jahre gewohnt und gebürtig.
Sagen alle einträchtig, dass zum Hause Gemekow sind belegen 10
Hakenhufe, die vom Hofe oder zum Bauwerk gebraucht werden, noch
2 Hufen brauch Jaspar Kalsow und wird das Dorf bebaut von folgenden Leuten: Jaspar Kalsow, 2 Hufen, gibt m. g. h. 5 M Pacht, 8 Schill.
Flachsgeld, 1 Schill. oder 1 Rauchhuhn.
Kotzen:
Diderich Hornemann
1 Wort, 1 Wiese
Claus Hagemann
Jasper Schultze
Achim Hacker
Carsten Schroder
Achim Rambow
Hans Hageman
1 Wort, 1 Wiese
1 Wort, 1 Wiese
1 Wort, 1 Wiese
1 Wort, 1 Wiese
1 Wort, 1 Wiese
1 Wort, 1 Wiese
gibt ½ Gulden Pacht, 16 Schill. oder
16 Pachthühner.
gibt wie vorher.
gibt wie vorher.
gibt wie vorher.
gibt wie vorher.
gibt wie vorher, noch 1 Rauchhuhn.
gibt 1 Guld. Pacht, 4 Schill. oder 4
Pachthühner und 1 Rauchhuhn.
An Wiesen sind vorhanden:
Aus der Wiese am Dicke, wo nicht viel Wasser vorhanden, können
wohl 40 Fuder Heu gewonnen werden,
4
aus der Papenwiese - 4 Fuder Heu,
aus dem Widsoll - weitsahele - 2 Fuder Heu,
aus dem Sarower Feld beim langen Broke - 1 Fuder Heu,
aus der Gronings Wische - 10 Fuder Heu,
im langen Felde aus den Kerksöllen - 1 Fuder Heu,
aus der Bornwische - 2 Fuder Heu,
aus den Ellersöllen - 2 Fuder Heu,
im Feld nach Boldentin aus der Kappe - 6 Fuder Heu.
Die Grenze des Dorfes Gemekow geht an vom Hofloddikbrocke bis
ins Koppelbruck, von da weiter entlang bis an die Kappe, von derselben von Boldentin bis auf das Scheidesoll, von dort auf den Scheidenweg, ist die Scheide mit Boldentin, den Weg entlang bis auf das
Dudder-Soll, im Soll die Gronings Wische hendal und weiter durch
das Espenholdt achter Kasselin, ist die Scheide mit Caslin, vom
Eschenholz den Mohlensterch entlang bis an die Beke, ist die Scheide
mit Beggerow, die Mühlenbeke entlang bis an das Feld von Ganschendorf, von da die Schrenower Beke hinauf durch das Schrenower
bruck, vom Broke die Ganschendorfer Beke hinauf bis zum Horst, das
horstbrock hindurch bis an Otto Vire, ist die Scheide mit Ganschendorf, von Otto Vire die Beke hinauf bis ans Törpinsche Feld, ist die
Scheide mit Sarow, vom Sarower Feld bis in die ...debeke, von derselben den Dick entlang bis an den owgang an das Lindenbergsche Feld,
ist die Scheide mit Törpin, vom Törpinschen Feld die ...chte hinauf bis
ans Hofloddikbrock, ist die Scheide mit Lindenberg.
In diesem Kretze sind belegen:
Busch- und Eichenholz
Das Koppelbrock
Die Fulensche
Der Molenbarch
Bei der Beke
Das Schrenower
im Lindenberger Feld ist ungefähr 2 Morgen
lang und 2 Morgen breit.
ein Eichenholz, nach Boldentin ist 2 Morgen
lang und ungefähr 1 Morgen breit.
ein Ellerholz, nach Boldentin ist 1 Morgen
lang, ½ Morgen breit.
achter dem Hofe, darauf etliche Eichen, ist ½
Morgen lang und ¼ Morgen breit.
ein Ellerholz, 1 Morgen lang und 5 - 1 Rute
Breit.
Holt mit Eichen und Boken ist 2 Morgen
lang, ½ Morgen breit, auch wohl breiter oder
5
Das Schrenower
Brock
Der Eichenremel
Das lange Brock
Ein Horst
Das Horstbrock
Ein Eichenholz
Das Varchtwarder–
Berkenwerder
schmäler.
ist 1 Morgen lang, 4 Ruten breit, auch wohl
mehr oder weniger.
ist 1 Morgen lang und 4 Ruten breit.
ein Ellerholz, ist 2 Morgen lang, ½ Morgen
breit, auch mehr oder weniger.
darin Eichen und Hagebuchen, ist 3 Morgen
lang und 1 Morgen breit und weniger.
ein Ellerholz, ist 3 Morgen lang, zum Teil 10,
auch 1 und 2 Ruten breit.
die Otto Vire, ist ½ Morgen Land.
ein Eichenholz, ist 1 Morgen lang und 1
Morgen breit.
Sölle oder Fischsölle - Fischpfuhle sind wenig vorhanden. Im Dicke
sind wohl eher Fische gewesen, aber nun sind wenig vorhanden, weil
das Wasser ausgemahlen wird. Hasenjagd ist nicht vorhanden. Die
Gemekower geben m. g. h. den Zehnten von Lämmern und den Witteltag. Die Weide ist gar gering, sie müssen den Beggerowern ums 3.
Jahr 1¼ Tonne Bier geben, dass sie deren Feld mit ihrem Vieh übertreiben.
Beschreibung über das Amtsdorf Gehmkow von
16982
Gehmkow liegt im Demminer Amt 1½ Meilen von Demmin, grenzt an
nachfolgende Dörfer, nach Norden an Kaslin und Beggerow, nach
Osten an Ganschendorf und Sarow, nach Süden an Lindenberg und
Törpin, nach Westen an Bollentin.
Der Ort hat in früheren Zeiten zum Amt (Lindenberg) gehört und später durch Reduktion zum Amt Klempenow gekommen. Jetzt leben
hier 2 Pensionäre und vier Kossater, wo früher 5 Pensionäre gelebt
haben. Das Land (von drei Pensionären) gehört jetzt zum Kirchenbo-
2
Das am 9. und 16. Juni 1698 aufgemesssen wurde aus Staatsarchiv
Greifswald Rep. 6a Bd. 7, S. 615
6
den von Bollentin. Es gibt (in Gehmkow) eine kleine Kapelle, aber der
Friedhof und der Pastor sind in Bollentin.
Die Namen der Einwohner
Evalt und Bogislaus Tiobööl, Pensionär
Jochim Schult
Berent Woll, Kossater
Georg Att, Kossater
Hind. Low
Peter Wislof, Bauer
Michael Woller, Tagelöhner
Kasten Raan, Tagelöhner
Thies Schult, Kossater
Martin Berent, Schäfer
Eine Statistik aus dem Jahre 1771
Gehmkow zu dieser Zeit zugehörig zum Amt Lindenberg. Diese umfasst 15 Dörfer, 7 Vorwerke und 4 Mühlen.
Das Dorf Gehmkow: 1 ¼ Meilen von Demmin gegen Süden, ganz
nahe bei Caslin, auf der Landstraße von Verchen nach Clempenow,
hat außer einem Vorwerke nur 2 Büdner, die eigene Häuser besitzen,
1 Ölmüller, verschiedene königliche Einliegerhäuser, ist zu Bollentin
eingepfarrt. Es grenzt mit Caslin, Beggerow, Lindenberg, Bollentin,
Törpin und Sarow. Ganz nahe bei dem Dorfe fließt ein Bach vorbei.
Er entspringt dem Ivenackschen See in dem Herzogtum Mecklenburg,
geht durch Lindenberg nach Gehmkow, von hier nach Ganschendorf
und fällt in die Tollense.
Das Vorwerk Gehmkow: Gehmkow hat beinahe 1450 Magdeburgische Morgen. Der Acker, der wie bei allen Vorwerken dieses Amtes,
in 3 Schläge eingeteilt, ist zwar nur leicht und zum Teil ganz sandig,
trägt aber doch, weil das Vorwerk viel Heu gewinnt und die verhältnismäßige Anzahl des Viehes vielen Dünger gibt, ziemlich zu. Die
Dienste werden von 5 Bauern aus dem Dorfe Beggerow und von 2
alten Voll- und 2 Halbbauern aus dem Dorfe Kaslin geleistet, während
die übrigen in diesen Dörfern befindlichen Bauern von dem Naturaldienst befreit sind.
7
Die Ölmühle bei Gehmkow ist 1731 erbaut worden. Von dieser Mühle
wird jährlich ein bestimmter Zins ans Amt gegeben.
Im 18. Jh. kam es, wie schon in der Geschichte erwähnt, zum Bauernlegen in Pommern. Davon blieb auch Gehmkow nicht verschont. Das
Büdner-Etablissement Gehmkow, das 1828 noch 18 Einwohner zählte, wurde 1858 mit dem Vorwerk Gehmkow verschmolzen.
Eine Beschreibung des Demmin-Treptowschen
Kreises.3
Staatsdomänen: Bis auf die Epoche des Tilsiter Friedens 1807, dessen
Schnitterungen eine vollständige Umwandlung im Staatsverwaltungswesen zur Folge hatten, bestanden auch noch einige Jahre später,
im damaligen Demmin-Treptowschen Kreise 4 landesherrliche Domänenämter, nämlich:
1. Amt Verchen mit 8 Dörfern, 5 Vorwerken als Borrentin, Pentz,
Selz, Trittelwitz und Verchen und 3 Mühlen.
2. Amt Treptow mit 12 Dörfern, 5 Vorwerken als Bollentin, Keßin,
Klein Teetzleben, Treptow, dessen Gebäude in der Stadt dieses
Namens lagen und Wildberg, nebst 9 Mühlen.
3. Amt Lindenberg mit 15 Dörfern und einem Dorf-Antheile, 7
Vorwerken als Gehmkow, Gnevzow, Grammentin, Kenzlin, Lindenberg, Schwichtenberg und Wolkwitz, nebst 4 Mühlen.
4. Amt Loitz mit 6 Dörfern und einem Dorf-Antheile, 7 Vorwerken
als Kletzin, Pensin, Quitzerow, Sophienhof, Ückeritz, Wüstenfelde und Zeitlow, nebst 1 Mühle.
5. Amt Klempenow mit 14 Dörfern
6. Amt Stolpe
Von 6 Ämtern wurden 4 aufgelöst.
1862 bleiben bestehen: Amt Verchen mit 28 Dörfern und 5 Vorwerken und Amt Klempenow mit 29 Dörfern und 7 Vorwerken
Aus dem „Landbuch von Pommern und Rügen“ II. Teil Band I.
(1865 von Berghaus)
3
8
Beschreibung von Gehmkow: Gehmkow, ritterschaftlich, kreistagsberechtigtes Rittergut, 1¼ Meile von Demmin gegen Süden, ganz nahe bei Kaslin, und an der Landstraße von Verchen nach Klempenow,
hat in seiner Feldmark, durch die der gesamte Augraben fließt, einen
niedrig gewölbten Boden, von dem es im vorigen Jahrhundert hieß:
„Er ist zwar nur leicht und zum Teil ganz sandig, trägt aber doch, weil
viel Heu gewonnen wird und die verhältnismäßige Anzahl des Viehes
vielen Dünger gibt, ziemlich zu.“ Das Gut, dessen Umfang damals zu
1450 Morgen angenommen wurde, worunter dem Anscheine nach nur
das unterm Pfluge befindliche Land zu verstehen war, hat ein Areal
von 834 Morgen 108 Ruten, und zwar Ackerfeld 1415 Morgen 146
Ruten; Gräser 230 Morgen 134 Ruten; Hütung 43 Morgen 46 Ruten;
Gartenland 22 Morgen 31 Ruten; Holzung, nur in Bruchholz bestehend 86 Morgen 39 Ruten; Teiche 5 Morgen; Gebäude und Hofräume
8 Morgen 29 Ruten; Wege und unnutzbares Land 23 Morgen 53 Ruten. Das Gut wird in 7 Schlägen mit vier Korn- und einer Ölfrucht
bewirtschaftet. Die Wiesen sind zweischurig und teilweise zu entwässern. Die Gartennutzung ist unbedeutend, bloß auf den Hausbedarf
berechnet. Zum Viehstand gehören 28 Pferde und 10 Füllen von der
Landzucht, 72 Kühe ostfriesischen Schlages, 1050 Schafe vom Negretti-Stamm, und 79 Schweine, zur Hälfte von der Essex-, zur anderen
Hälfte von der großen englischen Race. Die Feldmark liefert Mergel,
der zur Verbesserung, und Torf, der als Brennmaterialien-Bedarf des
Gutes ausgebeutet wird. Gehmkow hat 5 Feuerstellen mit 109 Einwohnern, die außer 2 Verwalter- aus 17 Tagelöhner-Familien bestehen
und nach Hohenbollentin eingepfarrt sind. Das Gut war 1418 im Besitz Hermann von Pentz, der es an Klaus Drake verkaufte, 1663 im
Besitz des Schlossgesessenen Jürgen von Platen und in der Folge bis
ins gegenwärtige Jahrhundert ein landesherrliches Vorwerk des Amts
Lindenberg, wurde aber bei der Auflösung dieses Amtes veräußert
und ging in Privatbesitz über. Die Dienste auf dem Vorwerk wurden
von 5 Bauern aus dem Dorfe Beggerow und von 2 alten Voll- und 2
Halbbauern aus dem Dorfe Kaslin geleistet, weil die übrigen in diesen
Dörfern befindlichen Bauern schon damals vom Naturaldienste befreit
waren. Gegenwärtiger Besitz des Rittergutes Gehmkow ist ein Mitglied der Familie von Pressentin, welche in Mecklenburg ihre Heimat
hat in Prestien, früher Pressentin genannt. Dort wird sie zuerst im Jahre 1397 angeführt. Im unmittelbaren Anschlusse mit dem Rittergute,
9
oder Vorwerke, wie dasselbe aus alter Gewohnheit auch heute noch
bezeichnet zu werden gepflegt, lag bis auf die neueste Zeit eine Büdnerstelle, die man landesherrlich Gehmkow nannte, in der statistischen
Tabelle für 1862 aber nicht mehr aufgeführt wird. Mutmaßlich ist sie
seit 1858 eingegangen und mit dem Rittergute verschmolzen. Außerdem gehört zu Gehmkow eine Ölmühle, welche 1731 erbaut worden
ist, und seither einen Jahreszins an den Domainen-Fiscus zum Amte
Verchen zu zahlen hatte. Gehmkow grenzt mit Kaslin, Beggerow,
Schwichtenberg, Hohenbollentin, Törpin und Sarow zusammen. Der
oben erwähnte Augraben kommt aus dem Ivenackschen See in Mecklenburg, geht durch Lindenberg nach Gehmkow, von hier nach Ganschendorf und fällt in die Tollense.
Tabelle: Statistik aus dem Jahre 1866 nach einer Zählung von 1864
Gehmkow
Gemeindeverband
Polizeibezirk
Pfarrbezirk
Gerichtsbezirk
Gebäude gesamt
Bevölkerung
Rittergut
Gut
Amt Verchen
Hohenbollentin
Demmin
15, davon private Wohnhäuser 5
108
Tabelle: Statistik aus dem Jahre 1935
Amtsgericht
Reichsbahnstation
Kleinbahnstation
Telegrafenstation
Gendarmeriestation
eingepfarrt
Schule
Standesbeamter
Wohnhäuser
Areal
Rindviehkontrollverein
und Augrabengenossenschaft Vorsitzender
Demmin
Sternfeld
Gehmkow
Törpin
Gendarmerie-Hauptwachtmeister Löschke
in Lindenberg
nach Hohenbollentin
Kaslin
Büttner, Alt-Kentzlin
7
477 ha
von Heyden-Linden
10
Amtsvorsteher
Bürgermeister
Ortsgruppenleiter der
NSDAP
Ortsbauernführer
Schmock, Kaslin
Karl Asmus, Kaslin
Schmock, Kaslin
Max Schmidt, Kaslin
Tabelle: Einwohner-Statistik aus dem Jahre 1935
Baumann, August
Baumann, Fritz
Baumann, Hermann
Baumann, Wilhelm
Borgwardt, Fritz
Brumshagen, Walter
Dobbert, Wilhelm
Dubbert, Max
Eggert, Fritz
Hanich, Wilhelm
Hermann, Herrmann
von Heyden-Linden, Eckard
Johannis, Otto
Kanne, Rotwitta
Kautz, Johannes
Koß, Hermann
Witwe Koß
Krasemann, Franz
Latewitz, Anton
Michael, Wilhelmine
Maltz, Otto
Müller, Wilhelm
Niebuhr, Grete
Stubbe, Karl
Söfky, Fritz
Warnemünde, Gustav
Arbeiter
Arbeiter
Rentner
Arbeiter
Arbeiter
Stellmacher
Kuhfütterer
Arbeiter
Schmied
Arbeiter
Arbeiter
Hptm. a. D. Rittergutsbesitzer
Arbeiter
Lehrerin
Inspektor
Arbeiter
Arbeiter
Vorschnitter
Witwe
Arbeiter
Arbeiter
Mamsell
Arbeiter
Arbeiter
Gärtner
11
Familie Hyden-Linden und das Gut Gehmkow4
Gehmkow hatte im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Besitzer. Die
letzten waren bis zum Jahre 1945 die Familie von Heyden-Linden.
Über ihre Vorgänger konnten wir nichts in Erfahrung bringen. Eventuell vorhandene Schriftstücke sind wahrscheinlich in den Wirren des
Krieges verloren gegangen.
Aus der Familienchronik der Heyden-Linden:„Erinnerungen von Barbara Hoffmann, geb. von Heyden-Linden an ihre Eltern Carola geb.
von der Lancken-Wakenitz und Friedrich von Heyden-Linden“:
Carola, geb. von der Lancken-Wakenitz kommt als junge Frau nach
Phillipshof „Kinder, schnell, lauft, sucht die Puten!“ Das war Mamas
Alarmruf, wenn sich plötzlich ein bedrohliches Gewölk, ein so genannter „Bullkater“ am Sommerhimmel erhob. Diese Putenküken, zur
persönlich Aufsicht von Mama zuerst in der leeren Kohlenkammer im
Wohnhaus untergebracht, machten unter der Führung ihrer Putenmütter gerne allzu weite Exkursionen in die Hopfen- und Brennnesselwildnisse im Bruch. Mit diesen Puten gab Mama sich in Gehmkow die
größte Mühe, sie waren ihr wichtigstes Weihnachtsgeschenk für ihre
vielen Schwestern, Schwägerinnen und sonstigen Stadtbewohner.
Schenken und Freude bereiten war ihr ganzes Glück. Noch in ihrem
82. Lebensjahr war ihr kein Weg zu weit, keine Mühe zu groß, um
anderen Menschen gefällig zu sein.
Sie war unter ihren Geschwistern das zarteste Kind gewesen, wog bei
der Geburt kaum vier Pfund und hatte einen angeborenen Herzfehler.
Gerade ihr wurden die meisten Kinder, der größte Wirkungskreis mit
unseren zwei Gütern zuteil, aber sie hatte wohl auch die stärkste Fähigkeit mitbekommen, einen weiten Kreis von Menschen in ihr Herz
schließen zu können. Bescheiden und sehr wohlerzogen war sie mit 20
Jahren die Braut meines um 17 Jahre älteren Vaters geworden. Die
Hochzeit fand am 15. Dezember 1880, an einem herrlichen sonnigen
Wintertag, in Schloss Griebenow bei Greifswald statt. Graf Keffenbrinck war ihr und ihren Schwestern ein liebevoll besorgter Stiefvater
geworden, nachdem ihr eigener Vater, Fritz von der LanckenWakenitz auf Clevenow, bei Königgrätz 1866 den Heldentod gefunden
4
Aus der Familienchronik der von Heyden-Linden
12
hatte. An diesem 15. Dezember also fuhr das junge Paar bei hellem
Mondschein erst über zwei Stunden im Griebenower Pferdewagen bis
Loitz bei Demmin.
13
Abbildung: Ausschnitt aus der Stammtafel von Heyden-Linden
Friedrich
von Heyden-Linden
Frau Carola
geborene
von der LanckenWakenitz
† 1901
† 1942
Georg
Ilse
Rüdiger
Eckard
Barbara
Dietrich
* 1882
Philippshof
*1883
Philippshof
*1884
Lindenhof
*1885
Lindenhof
*1891
Gehmkow
*1898
Gehmkow
genannt
Jürgen
Malerin
heiratete
1917 Anna-Barbara
von Zitzewitz
übernahm
1912
Gehmkow
wohnten in
Lindenhof
heiratete
1914 Margot Maltzahn Freiin
von Wartenberg
Penzlin
† 1918
Bruchsal
* 1919
Greifswald
übernahm
1921
Gehmkow
heiratete
1922 Eva
Flach aus
Stockholm
heiratete
1913 Prof.
Adolf
Hoffmann
wohnten
in Potsdam
Physiker
heiratete
1928 Hildegard Strehlow
1956 Ulla
Perleberg
wohnten im
Haus am
Mühlenteich
† 1949
Demmin
*1921
Lindenhof
† 1970
Testorf
† 1968
Bothkamp
*1924
Lindenhof
gefallen
1944
Normandie
† 1972
München
*1923
Berlin
wohnt heute
in Hamburg
† 1986
Demmin
*1925
Gehmkow
wohnt heute
in Lerum
(Schweden)
Unsere Eltern kauften sich im Jahre 1883 ein eigenes Gut, Lindenhof,
7 Kilometer von Demmin entfernt liegend. Damals hieß es Kaesicke,
14
die Leute nannten es sogar noch hässlich Kösch, so war der Name im
Laufe der Jahrhunderte aus dem wendischen Cosiko entstanden, was
damals unbekannt war. Papa ließ es deshalb in seinen heutigen Namen
umtaufen. Mama hatte das ansehnliche Vermögen von 180.000 Mark
mit in die Ehe gebracht, so waren die Eltern in der Lage, mit Papas
eigenem Vermögen die Anzahlung aufzubringen. Übrigens hatte Mama diese Summe der Voraussicht ihrer Großmutter Emilie von der
Lancken-Wakenitz zu verdanken. Diese war als letzte Wakenitz die
Erbin eines großen Gutsbesitzes gewesen, der nach ihrer Heirat mit
Friedrich von der Lancken zum Lancken-Wakenitz’schen Majorat
Clevenow wurde. Doch hatte sie hiervon ihre Güter Donner und Boltenhagen ausgenommen, um ihren weiblichen Nachkommen auch ein
Vermögen zu sichern. Majorate wurden zur Erhaltung eines unteilbaren Familienbesitzes gegründet, der sich nur auf männliche Nachkommen vererben konnte.
Lindenhof war damals in einem sehr schlechten, landwirtschaftlich
ganz verkommenen Zustand. Durch Papas und später Rüdigers gute
Bewirtschaftung gilt es heute als hervorragendes Saatzuchtgut und ist
nach der Enteignung 1945 nicht versiedelt, sondern als Staatsgut erhalten und noch vergrößert worden. Für die Eltern waren die ersten
Jahre rechte Sorgenjahre, aber bald gewannen Hof, Garten und Felder
unter Papas Pflege ein anderes Aussehen. Papa war in der Stadt aufgewachsen, aber Land- und Forstwirtschaft, Jagd- und GartenLiebhaberei lagen ihm im Blut, dazu innere Disziplin und ein unermüdlicher Fleiß. Überall, wo er hinkam, begann er sogleich Wald anzupflanzen, schlechten Acker in Schonungen umzuwandeln und die
Gärten neu anzulegen und mit seltenen Bäumen und Gewächsen zu
bereichern. Eine große Belastung war es jahrelang für ihn, dass er für
den erst heranwachsenden Neffen Albrecht von Heyden-Linden, den
künftigen Majoratserben von Tützpatz, dessen ganzen Gutskomplex
mit bewirtschaftete und jede Woche ein- bis zweimal bei Wind und
Wetter die lange Wagenfahrt dorthin machte. Da war es ihm jedes mal
eine Freude, durch das Gut Gehmkow zu kommen. Schon von weitem
sah er die vier Waldstückchen, die sich an den Steilhängen der Rollberge (Geröllberge) - wir nannten sie später die „Kleinen Wälder“ erheben. Dann ging es steil über den Augraben hoch am Dorf mit den
Stroh gedeckten Häusern vorbei, und man sah zum Gutshof hinüber,
der überragt von hohen Pappeln, als feste Masse in einen baumreichen
15
Garten und in ein Ellerbruch überging. Rechts und links von der
Chaussee, die gerade erst gebaut wurde, lagen gut bewirtschaftete
fruchtbare Felder, Baum bestandene Wasserlöcher und in einiger Entfernung die Koppeln und Wiesen am Augraben. Manchmal nahm Papa auch den Weg über Schwichtenberg, um dies ihn interessierende
Gut von der Hohenbollentiner Seite aus zu betrachten. Die Bauerndörfer sagten ihm nicht mehr viel auf seinen vielen gleichförmigen Fahrten nach Tützpatz. Hier, schon von der Gutsgrenze an, standen hohe
Zitterpappeln am Feldweg, dann ein krummer alter Ebereschenbaum,
der im Herbst bedeckt war mit roten Beeren. Kurz vor der Senke, zu
der man auch hier an den Augraben herankam, breiteten zwei vielhundertjährige Eichen ihre Zweige über den Hohlweg. Sein Auge labte sich an all diesen Bäumen, denn nun kamen auch noch einige uralte
Weiden hinzu, teilweise mit Blitzschäden, zur Seite der kleinen Holzbrücke. Der Augraben war hier sehr breit ausgefahren, mit flachem,
festem Kiesgrund. Es ist die alte Furt, neben der nur ein Fußsteg in
früheren Zeiten über große Findlingssteine führte. Noch heute fahren
die Fuhrwerke gerne hindurch, tränken ihre Pferde, und auch die Kuhherden werden hindurch getrieben.
Nun konnte Papa einen Blick in den Garten tun; hinter dem hohen
Hügel eines Hünengrabes reckte eine Reihe von riesigen Pappeln ihre
Zweige gen Himmel. Der Weg führte dann über den Gutshof. Die
schöne fränkische Bauweise, wie Friedrich Wilhelm I. sie nach der
Übernahme von Pommern 1720 auf den vielen wüst liegenden Höfen
eingeführt hatte, war dann allgemein übernommen worden: rechts und
links zwei bis vier große Stroh gedeckte Scheunen und Ställe, meist
aus weiß überkalkten Lehmkluten, dahinter die großen Pappeln, die
den Blitz auf sich ziehen sollten. Auch hier lag das einstöckige, lang
gestreckte Gutshaus am Ende des breiten Hofes, ein wenig verborgen
hinter einem grünen Vorplatz. Über der schönen, alten Haustür mit
dem großen handgeschmiedeten Schloss war im hohen dunklen Ziegeldach ein „Auge“. Die holzverschalte Giebelseite war dicht von
Efeu berankt, der noch seine Haube über die Dachspitze legte. Alles
war überragt von den vielen alten Bäumen des Gartens. Hier mussten
immer Menschen gewohnt haben, die sie groß und alt werden ließen
und sie in Ehrfurcht erhalten hatten!
16
Im Sommer 1887 vernichtete ein Hagel die ganze Rübsenernte in Lindenhof. Die Versicherung zahlte sie voll aus, und damit war Papa in
der Lage, die Anzahlung auf das Rittergut Gehmkow zu leisten, dessen alter Besitzer, Herr Grönlund, sich zur Ruhe setzen wollte. Damit
ging sein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Gehmkow wurde unsere
geliebte Heimat!
Mama hat aus diesen Tagen einen Brief von Papa aufbewahrt, den er
ihr nach Griebenow schrieb, wo sie auf Besuch weilte. Seine höchst
eigenartige Schrift hat sich auf seine Kinder Rüdiger und Ilse vererbt,
auch noch auf seinen Enkel Jürgen Hoffmann. Papa war seinem
Großvater Karl Freiherr von Maltzahn aus dem Hause Kummerow,
merkwürdig ähnlich. Er hatte außer dem schönen welligen Haar und
der großen eleganten Figur sogar dessen tiefes Grübchen am Kinn
geerbt. Dieser Brief nun gibt Papas ganze Wesensart, seine treue Fürsorge für die Seinen, auch für den Besitz seines Neffen Albrecht in
Tützpatz, so gut wieder, wie auch seinen stillen Humor und die Freude
an allen Einzelheiten in Gehmkow, dass ich ihn hier wörtlich abschreiben will:
„Lindenhof, 23.08.1887
Liebste Carola!
Es freut mich aus Deinem Brief vom 20. zu ersehen, wie wohl Ihr
Euch in Griebenow fühlt, nun hoffe ich, Ihr fallt den Eltern in keiner
Weise zur Last. Das lustige Bildchen auf dem Couvert ist wohl eine
Anspielung auf unsere künftige Wohnung am Wasser?
Die Rechtsanwälte sind zur Zeit alle beide verreist, und so konnten
wir gestern den Kaufvertrag nicht abschließen, und wir wollen nun
morgen auf`s Gericht. Es wird Dich interessieren zu hören, dass
Gehmkow außer anderen greifbaren guten Dingen wie Krebse, Fische,
Spargel, großen Enten und Hühnern etc., auch der sagenhaften Poesie
nicht entbehrt, also höre: Zwei mächtige Trauerweiden, im Verein mit
einer dritten Weide bezeichnen die Stelle, wo eine einfache Brücke
ihren flachen Bogen über das Flüsschen - „Augraben“ genannt spannt. Unweit dieser Stelle erhebt ein kreisrunder Hügel sein Haupt
aus dichtem Gebüsch, oben darauf eine fast tausendjährige Eiche neben vier jungen Linden, die einen schattigen Sitz bilden. In diesem
Hügel, schaure nur nicht!, liegt seit uralten Zeiten ein Schatz begra17
ben. Vor langen Jahren wollten Einwohner von Gehmkow in heben,
Maurer gruben einen tiefen Gang in den Hügel, bis sie an eine schwere eisenbeschlagene Tür kamen, daran ein riesengroßes Schloss! Sie
wollten die Tür erbrechen, doch das Erdmännchen wehrte ihnen und
drohte mit schwerem Unglück, sie seien nicht berufen, den Schatz zu
heben. Sie ließen sich auch durch diese Drohung abhalten, schütteten
den Gang wieder zu, nicht aber bevor sie das große Schloss mitgenommen. Dieses ergab soviel Eisen, dass alle Pferde, Hacken und
Pflüge neu beschlagen werden konnten. Vielleicht liegt hierin ein
Wink, dass der Schatz nur durch die Bearbeitung des Bodens gehoben
werden kann, ich will es damit versuchen. Doch fragst Du, woher ich
dies alles weiß? Eine alte, wohl über 60-jährige Frau mit klugen
schwarzen Augen hat es mir so berichtet, vielleicht weiß sie noch
mehr. Du sollst sie bald besuchen, so sagt sie. (Die alte Frau Koss.)
Morgen, nach Abschluss des Kaufvertrages, fahre ich nach Philippshof und Tützpatz, um einen letzten Blick auf die Vorbereitungen zur
Einquartierung zu werfen und dazu Rebhühner und Wildbret zu erlegen. Doch nun genug für heute, mit der Ernte bin ich bald fertig. Wetter schön.
Mit Gruße und Kuss Dein Fritz von Heyden-Linden“
Papa machte sich sogleich mit Hilfe eines damals bekannten Gartenarchitekten an die Umgestaltung des Gehmkower Gartens. Alle Voraussetzungen für eine Parkanlage waren gegeben. Das wellige, teils
steile Gelände zum Fluss hinunter, die Ausdehnung rings um das hoch
liegende Wohnhaus, aber vor allem die herrlichen alten Bäume, die er
in verwucherten Gebüschen vorfand. Nun wurde um sie eine große
Rasenfläche geschaffen, aus der sie in ihrer ganzen Pracht emporwuchsen. Im Verhältnis dazu wurden die Wege sehr breit angelegt,
“dass man Viere lang fahren könnte“, wie der Architekt sagte. Papa
legte Waldschonungen auf der sandigen Anhöhe des „Krähenberges“
und in den „Kleinen Wäldern“ an, die einen nun schon immer von
weitem heimatlich begrüßten, wenn wir von Lindenhof oder Demmin
kamen. Im Spaß sagte er, jedes dieser Waldstückchen sollte einem
seiner Kinder gehören. In Lindenhof waren Eckard und Rüdiger dazugekommen, wir, Dietrich und ich, wurden erst in Gehmkow geboren.
Für Mama begann hier in Gehmkow wohl die glücklichste Zeit ihres
Lebens. Ihr allem Schönen in der Natur offenes Gemüt empfand mit
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Entzücken den Zauber unseres alten Gartens mit dem geheimnisvollen
Hünengrab, dem Augraben, der, Schilf- und Wasserlilien umrandet
aus den Wiesen herbeiströmte und unter dunklen Erlenbögen floss,
einen Bogen um Garten, Hof und Dorf machte, um dann am Fuße der
Steilabhänge der „Kleinen Wälder“, wie einst als Schmelzwasserbach
vor Jahrtausenden über Geröll und große Findlingssteine zu sprudeln.
Sie fand auch wirtschaftlich in dem großen Haus die angenehmsten
Verhältnisse: Unzählige Kammern, Vorratsräume, einen tiefen, kühlen
Keller, vor allem aber viele praktisch gelegene Zimmer für die immer
größer werdende Familie. Hier strömten Mama besonders oft ihre
„neuen Ideen“ und „guten Gedanken“ zu, die ihrer phantasievollen, im
Grunde erlebnisfreudigen Natur entsprangen. Früh saß sie dann am
Frühstückstisch, ihre Finger spielten einen kleinen Marsch, und sie
sagte so recht unternehmungslustig: „Kinderchen, heute Nacht kam
mir eine gute Idee!“ Manchmal hatten diese „Erfindungen“ aber auch
fast Umstürzlerisches, jedenfalls für unsere Verhältnisse auf dem
Lande, wo gewöhnlich alles ewig auf seinem Platz blieb. Mama räumte nämlich gerne um! Papa mit seinem ruhigen Temperament konnte
da nicht immer gleich mit, und ich habe ihn, übrigens dies einzige
Mal, aus solchem Anlass recht ärgerlich erlebt. Das war zu Dietrichs
Taufe!
Unsere Eltern hatten bei ihrem Einzug in Gehmkow aus den drei großen Vorderzimmern eine schöne Zimmerflucht gemacht: Salon (dem
so genannten Saal), Wohnzimmer und Herrenzimmer. Für das Esszimmer war nur das linke kleinere Giebelzimmer übrig geblieben. Das
wurde langsam Mamas Verzweiflung. Immer, wenn einige Gäste kamen, musste im danebenliegenden Kinderzimmer ein „Katzentisch“
gedeckt werden. Auch alltäglich mit Hauslehrer, Hauslehrerin und den
größer werdenden Kindern wurde es immer enger darin. Zu Dietrichs
Taufe also, zu der unerwartet viel Verwandte kommen wollten, überkam Mama einer ihrer guten Gedanken und wurde so schnell zur Tat,
dass mittags, als Papa vom Feld kam, ihn vorne in Mamas Wohnzimmer ein neu eingerichtetes Esszimmer mit langer Festtafel für den
Abend empfing und ihn einigermaßen überraschte! Nach einigem
Grollen hieß er es aber auch selbst gut. Im Laufe der Jahre zog das
Esszimmer noch mehrfach um, bis schließlich der dunkle, etwas kalte
„Salon“ am Giebel für die Dauer zu einem schönen großen Esszimmer
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wurde, und die von ihr so gar nicht geliebten schweren Polstermöbel,
hell bezogen, ins Wohnzimmer kamen.
Gäste und Feste auf dem Gut Gehmkow5
Der Sommer in Gehmkow brachte viele Gäste mit sich, die meinen
Eltern nie zuviel wurden, aber auch mancherlei Arbeit. Für die Tanten
in der Stadt wurde bei uns mit eingemacht, neben den eigenen großen
Vorräten für den Winter. Damals mussten die Gelees und Kompotte
noch mit Schweinsblasen zugebunden werden, die Säfte wurden mit
einem Schuss Öl und dann mit Siegellack verschlossen. Mama war in
unserer Gegend die Erste, die sich den damals noch so teuren Weckapparat anschaffte. Die Frachtleisten mit dem Eingemachten für die
Schwestern packte Mama immer eigenhändig, damit auch alles heil
ankam. Der August und September brachten einige festliche Tage mit
sich. Erst Mamas Geburtstag am 11. August. Dazu ließ Großmama
Keffenbrinck regelmäßig einen großen Baumkuchen von einem
Greifswalder Konditor an uns schicken. Es muss wohl eine besondere
Spezialität von diesem gewesen sein, denn ich habe nirgends wieder
einen ähnlichen gesehen. Er entstieg einer schönen weißen Holzkiste
und unzähligen Papierschnitzeln, herrlich dunkelbraun, mit der Besonderheit, dass auf jeder seiner „Nasen“ eine weiße Kugel aus
Schaumzucker gespritzt war, die allein schon unser Entzücken erregten, besonders wenn einige vorzeitig abgebrochen, in unseren Mund
wandern durften!
Einige Wochen später fand unser Erntefest statt, auch ein besonderer
Tag für uns alle! Am 24. September dann Papas Geburtstag, zu dem
Mama sich gerne Überraschungen ausdachte. Ilse war eben erwachsen, auch auf den umliegenden Gütern waren hübsche junge Mädchen
vorhanden, und Mama plante, die Wassergeister unseres Augrabens
durch diese verkörpern zu lassen. Schon das Einüben eines Nixenreigens, das Nähen der leichten Gewänder, die mit PerlmutterEntenmuscheln aus dem Torfmoor verziert wurden, machte viel Spaß.
Zwei Musiker saßen an dem Abend verborgen hinter dem Kalmusgebüsch am Augraben und spielten „Gesang der Meermädchen über den
Wassern“ und ähnliches, während das größte der dunklen Mädchen,
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Aus der Familienchronik der von Heyden-Linden
20
Asta von Seckendorff, mit großen dunklen Augen über einem langen
Bart und schiffsbesetztem Mantel einem verborgenen Boot entstieg
und die Zuschauer begrüßte. Es war sehr hübsch, wie dann vor dem
nächtlichen Hintergrund des Augrabens und der alten Erlen die Nixen
ihren Reigen tanzten. Ich, als kleiner Puck in roten Hosen und spitzer
Mütze, durfte mit herumhopsen. In einem anderen Jahr zauberte Mama zu dieser Gelegenheit in einem lebenden Bild die Gestalten der
Germanen herbei, die hier in Gehmkow vor mehr als 4000 Jahren gelebt hatten und einem ihrer toten Führer unser großes Hünengrab errichteten. Aus den Feldern kamen immer wieder ihre Mahlsteine zum
Vorschein, in denen wohl Generationen von ihnen mit runden Handsteinen das Korn zerrieben hatten, denn diese großen Granitblöcke
waren meist bis auf den Grund ausgehöhlt. So saßen auch an diesem
Abend zu Füßen der großen Pappeln am Hünengrab „Germaninnen“
am Malstein, andere drehten die steinbeschwerte Spindel, ein Kessel
auf eisernem Dreifuß rauchte, und vom Hünengrab herab schritt ein
junger Häuptling, mit gehörntem Fell geschmückt, einen Speer in der
Hand. In Versen, die Mama erdacht hatte, wurde Papa für die Ehrfurcht gedankt, mit der er die Heiligtümer dieser längst vergangenen
Zeiten, die Steine und die Bäume, bewahrte und neu erstehen ließ!
Dann kehrte man vergnügt zur Gegenwart zurück, und der germanische Kessel lieferte den „Met“ zum Anstoßen auf das Geburtstagskind. Gewöhnlich wurde dieser Tag bei Dunkel werden mit einem
kleinen Feuerwerk gefeiert: Sonnen drehten sich, und bunte Raketensterne sanken aus dem dunklen Himmel herab. Besonders hübsch
waren die „Bengalischen Feuer“, die unsichtbar hinter den Bäumen
entzündet, ganze Gartenpartien bis hoch in die Wipfel der alten Bäume hell erstrahlen ließen. Auch die „Frösche“, die mit entsetzlichem
Geknatter zwischen den erschreckten Gästen hin- und her sprangen,
gehörten mit dazu.
Im Winter in Gehmkow: Schlachtezeit und
Weihnachten6
Jetzt fing die Zeit der Wintervorräte an! Die Pflaumen waren gebacken, die Äpfel lagen im Keller. Nun kam eines Tages ein Kastenwa6
Aus der Familienchronik der von Heyden-Linden
21
gen voll schnatternder Gänse, “Stoppelgänse“, auf den Hof gefahren,
wo sie in einer offenen Bucht noch einige Wochen gemästet wurden
mit Hafer und Möhren und mit ihren Fanfarenrufen die klare Oktoberluft erfüllten. Dann wurden sie, mit Ausnahme der Weihnachtsgans in
Spickgänse, und in großen Steintöpfen in Gänseweißsauer und Gänseschmalz verwandelt. Und nun kam das große Schweineschlachten!
Unser alter Schweinefütterer Eggebrecht hatte schon lange zwei besonders gute Schweine “för a Hus“ ausgesucht und sorgfältig gefüttert, so dass sie schon schier und glatt und weiß, wirklich wie zwei
riesige Marzipanschweine aussahen. Bei uns in der Gegend verstanden sich alle Hausfrauen auf das Einschlachten, und nur das Zerlegen
machte der Schäfer, aber auch darauf passte Mama auf, damit es auch
die richtigen Stücke werden. Dann waren wir alle zwei Tage lang dabei, alle Hände wurden gebraucht. Sogar die ganz kleinen, um mit
einer großen Stopfnadel die Luftblasen aus den Würsten zu „pricken“.
Die ganze Mama roch nach Gewürzen, Nelken, Zimt, Majoran, Pfeffer, die sie abwog und stieß und in der richtigen Menge in die verschiedenen Wurstmassen gab. Meist war es Frau Koß, die mit ihren
riesigen Schaufelhänden alles durchknetete und dabei ihrerseits die
Unterhaltung mit ihrem herrlichen Humor würzte. Mama selbst sprach
ein ausgezeichnetes Platt, dass in nichts dem unserer Dorffrauen nachstand. Es war für uns alle ein Genuss, den beiden zuzuhören. In der
Küche brodelte unterdessen der große Kessel mit Blut- und Leberwürstchen, den Pressköpfen, Bratwürsten, Magenwürsten und Lungenwürsten. Nicht zu vergessen, die „Tollatschen“, dem pommerschmecklenburgischen Leibgericht! Es sind Hefemehlklöße, mit Blut und
fetter Brühe gemacht, gewürzt mit Zimt, die zusammen mit Äpfeln
aufgebraten, herrlich schmecken und sich wochenlang halten. In
Mecklenburg heißen sie „Hinrichse“, und ich möchte fast annehmen,
dass ein Hinrichs dieses Rezept 1866 aus Böhmen mitgebracht hat,
denn unsere Gegend ist nicht ein Land der Klöße, und auch der Name
klingt nach einem anderen Landstrich, aber auf alle Fälle haben sie
sich unverwüstlich bei uns eingebürgert. Zuletzt kamen die Speckseiten, die Schinken und das Pökelfleisch in die breiten Fässer im Keller.
Dieses Einpökeln machte Mama immer eigenhändig, füllte jeden Zwischenraum sorgfältig aus, denn davon hing die Haltbarkeit und das
gute Gelingen der Schinken ab. Ihre Hände waren immer ganz erstarrt
von der scharfen Salzlauge und der eisigen Kälte dort unten. Mama
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hat aber um ihrer Hände willen nie eine Arbeit unterlassen. Diese fleißigen Hände behielten trotz allem ihren schönen Anschlag auf unserem Flügel, und ihr Gedächtnis bewahrte aus dem guten Unterricht als
Pensionskind im Luisenstift in Berlin erstaunlicherweise viele klassische Stücke, die sie auswendig spielte. In einem Sommer nahm sie
auch wieder Unterricht bei der Tochter eines Dorfschullehrers in Törpin, die Pianistin war. Am schönsten war es aber, wenn sie mit ihrem
zarten musikalischen Anschlag die Weihnachtslieder mit uns spielte
und sang. Diese Zeit war ihr wohl die liebste, wo sie aus vollem Herzen Freude machen konnte. Schon lange vorher ließ sie sich von den
Dorfschullehrern für Lindenhof und Gehmkow die Listen der Schulkinder geben, gesondert in die Abc-Schützen fürs kommende Jahr, die
Konfirmanden und die anderen Mädchen und Jungs nach dem Alter.
Wir Kinder mussten bei unseren (Haus) Mädchen die Weihnachtswünsche ergründen, die Farben der Stoffe für die Sonntagskleider
oder die Art der Aussteuerwäsche, wenn die Hochzeit bevorstand. Wir
schrieben auch an einem Abend selbst unsere Wunschzettel. Wenn
dann alles beisammen war, saß Mama oft an ihrem zierlichen Schreibtisch über langen Besorgungslisten. Ich höre noch den angenehm gleitenden Ton, mit dem ihre Goldfeder die deutlichen, freundlich gerundeten Buchstaben schnell und sauber dahin schrieb. Sie hatte wohl fast
an hundert Menschen zu bedenken! Manchmal legte sie die Hände an
die Schläfen: „Mein armer Kopf!“ Jedes Jahr vor Weihnachten hatte
sie denselben Angsttraum, dass sie bei Frau Konditor Rabe in Demmin so viel Süßigkeiten kaufte, dass sie nicht bezahlen konnte. Die
gute Mama, die für sich selbst so bescheiden und anspruchslos war!
Endlich kam der große Besorgungstag! Früh am Morgen fuhr das
„Coupe’“ vor, der kleine mit gelbem Tuch ausgeschlagene Zuwagen
für zwei Personen, (geschlossener Wagen). Der Kutscher trug meist
schon den schweren schwarzen Umhang aus Affenfell über dem langen schwarzen Livreemantel mit den silbernen Wappenknöpfen, dazu
die Pelzmütze statt des Zylinders. Mama gab noch die letzten Anweisungen, denn sie blieb den ganzen Tag über fort, überantwortete einem von uns den Schlüsselkorb, und dann bestieg sie den Wagen, in
der Hand ihre viereckige kleine schwarze Handtasche mit all den Besorgungszetteln und dem nötigen „nervus rerum“. Sie war kälteempfindlich, besonders ihr schmaler Kopf mit den glatt anliegenden Haaren und dem kleinen Knoten, und sie band sich für die lange Fahrt
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gerne ein seidenes Tuch unter dem Hut darum. In Demmin, unserer
kleinen Kreisstadt, waren die Kaufleute auf die Bedürfnisse der Güter
und Dörfer eingerichtet und hatten vorzügliche Waren. Auch war es
uns selbstverständlich, ihnen unsere Aufträge zukommen zu lassen,
und nichts auswärts zu kaufen. Genau wie Mama liefen schon die anderen Gutsfrauen in den Straßen herum und trafen sich in den Läden;
die Kutscher ebenso eilfertig mit großen Paketen. Alles wurde bei
Frau Rabe in den Hinterzimmern der Konditorei abgeladen, wo sich
ganze Berge von Paketen in den verschiedenen Ecken türmten, jede
für eins der Güter. Es gab viel zu bedenken. Mama kaufte ja nicht nur
nützliche Dinge. Die kleinen Dorfkinder bekamen Püppchen und
Pferdchen. Für uns dachte sie sich Überraschungen aus, auf die wir
nie gekommen wären. Um die Mittagszeit fanden sich die erschöpften
Damen in der Konditorei ein und tranken heiße Schokolade zu den
mitgenommenen Broten. Die Kutscher hatten nebenan im „König von
Preußen“ ihre Ausspannung und saßen auch im Warmen beim Kaffee.
Dann ging es eifrig weiter. Wir zu Hause horchten gegen Abend schon
gespannt auf das Heranrollen des Wagens. Endlich hörte man ihn in
der Abendstille schon durchs Dorf rollen, und die Pferde über den Hof
traben, dann hielt er vor der Haustür, und wir stürzten im Lampenschein heraus. Von Mama war fast nichts zu sehen, nur Pakete über
Pakete. Als wir die Wagentür aufmachten, kam ganz zuhinterst Mama
zum Vorschein, und ihr erstes Wort war: “Kinderchens, wisst Ihr, worauf ich mich freue? Auf einen Teller heiße Milchsuppe!“ Das war
nämlich ihr Schönstes, die so genannte „Sanfte Liebe“! Wir lungerten
gerne oben vor der Tür der Weihnachtsstube herum, wenn Mama in
den nächsten Tagen dort rumorte, mit Papier raschelte und wie sie
sagte, mit dem Weihnachtsmann zu tun hatte. Man hörte auch die
schweren Tritte abwechselnd mit Mamas leichten Schritten und seine
raue, krächzende Stimme abwechselnd mit ihrem sanften Sprechen.
Ab und an gab sie uns eine Pfeffernuss heraus! Weihnachten rückte
immer näher heran. Wir Kinder klebten abends lange Ketten aus
Glanzpapier für den Weihnachtsbaum. Auch das alljährliche Geschenk für Papa mussten wir alle gemeinsam machen. Es war ein
Wandkalender, auf dem einer die Striche zog, ein anderer die Zahlen
schrieb, der dritte die Sonntage rot anmalte usw. Sehr kunstvoll war es
nicht, aber Papa brauchte ihn! Für Mama war das leichter auszudenken. Am Tag vor Heilig Abend wurde die große Giebelstube, der
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„Saal“ ausgeräumt. Die Brüder machten sich mit Beil und Säge auf,
um die Tannenbäume zu holen; einen für uns (einen großen), einen
kleinen für die Leutestube. Wir zu Hause fädelten unterdessen die
roten Äpfel für den Tannenbaum, packten die großen Fensterscheibenbonbons in buntes Glanzpapier und reihten sie zu kleinen Bündeln
auf und machten die Formschokoladen und Zuckerkringel an Drähten
fest. Wenn der Baum stand, mussten wir aber alle aus der Weihnachtsstube heraus und nur Mama wirkte darin herum. Dann sangen
wir: „Einmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag!“
Am 24. hatten wir an dem viel zu langsam vergehenden Tag eine sehr
lustige Beschäftigung. Das waren die „Huch-Julklapps“. Das war eine
Sitte, die wohl aus Schweden herüber gekommen war, als Rügen und
Vorpommern bis 1815 zweihundert Jahre lang schwedisch gewesen
waren, und Mamas Vorfahren alle unter schwedischer Herrschaft gelebt hatten. Wir packten nämlich unsere gegenseitigen kleinen Geschenke und die für die Eltern in Pakete. Aber nicht genug damit; um
das meist recht kleine Geschenk wurde eine Hülle nach der anderen
gewickelt, und auf jede kam ein anderer Name. Um die Kaffeezeit
flog dann das Paket ins Zimmer: „Huch-Julklapp für Mama!“ Auf der
nächsten Hülle stand „Für Ilse“, und so ging es weiter, oft durch die
ganze Familie. Manchmal war ganz zu innerst nur ein Zettel: „Auf
dem Boden suchen!“ Dort lag wieder ein Zettel: „Unter der Kellertür!“ So ging es durchs ganze Haus, bis das Geschenk einfach hinterm
Schrank in unserer Stube lag.
Gegen Abend war erst die Leutebescherung. Auf unserem weiß gedeckten Esstisch standen lauter große Schüsseln voll Äpfel, Nüssen
und Pfeffernüssen, darauf ein großer Stollen und daneben der Kleiderstoff und ein Stück Seife. Der Kutscher bekam immer eine rote wollene Stallweste, wozu Papa noch ein Geldgeschenk legte. Dann kamen
unsere vielen Mädchen herein, schon im Sonntagskleid mit weißer
Schürze. Und dann war es endlich auch für uns soweit, und wir Kinder
standen im dunklen Flur hinter der Tür des Weihnachtszimmers, wo
Papa und Mama noch herumgingen und die Lichter anzündeten.
Auf einmal hörten wir das Weihnachtsglöckchen, und Mama machte
die Tür auf. Wie wunderbar sah die ganze große Stube aus! Eigentlich
nur ein warmes Dämmerlicht vom Weihnachtsbaum her, und ein bisschen undeutlich die weiß gedeckten Tische mit all den bunten Herr25
lichkeiten ringsum. Erst sangen wir vor dem Weihnachtsbaum „Stille
Nacht, heilige Nacht“. Draußen im Dunkel die weiten Felder, das stille Dorf, die Lichter, die von den Tannenbaumspitzen durch die kleinen Fenster leuchteten. Dann das alte Kinderlied „Oh Tannenbaum,
oh Tannenbaum, wie treu sind Deine Blätter!“ Der stand vor uns, noch
duftend nach Wald und Moos, so schön, so feierlich im Glanz seiner
vielen Lichter. Nun eilten wir aber zu unseren Tischen! An alles hatten die guten Eltern gedacht. Manches musste einfach jedes Weihnachten daliegen: Auerbachs Kinderkalender für uns Kleine, die Jagdkalender für die Jungs. Für Papa der Landwirtschaftliche Kalender,
und für Mama legte Papa immer einen Kasten Lohsesche Lilienmilchseife auf den Tisch. Mama hatte alle erdenklichen Wünsche uns erfüllt. Für Papa manchmal ein Döschen Kaviar, ein feiner Brie-Käse
„Fromage de Brie de la valle’ d’Henrie á Thuringe“. Es gab manches
zu lachen. Schrecklich war es für uns, dass das Abendbrot nun dazwischen kam. Fürs ganze Haus gab es bei uns an jedem Heiligen Abend
Gänseweißsauer mit Bratkartoffeln, was niemand viel Arbeit machte.
Die Leute bekamen jeder eine Spickkeule. Dann, als die Eltern nach
ihrer Art Arm in Arm gemütlich in der Weihnachtsstube auf dem Sofa
saßen, gab es für uns noch einen Höhepunkt, das waren die Julklapps
von den Tanten aus der Stadt, die nun ausgepackt wurden. Für jeden
kamen da Kleinigkeiten zum Vorschein. Papa bekam von seiner
Schwester in Kassel immer ein Kästchen selbst gemachter naturgroßer
Marzipankartoffeln und Mandelmakronen, die in der Mitte eingedrückt, mit Gelee und Zuckerglasur gefüllt waren. Das schönste Paket
war aber das von Großmama Keffenbrinck! Sie war auf eine Berliner
Leihbibliothek abonniert, die ihr ganz neue Bücher schickte. Von denen behielt sie schon das ganze Jahr zurück, was sie als gute Weihnachtsgeschenke für geeignet hielt. Aber auch kunstgeschichtliche
Werke, interessante Reiseberichte und Forschungsbücher schickte sie
für uns Enkel. Ohne diese Bücher wäre Weihnachten nicht richtig gewesen! Nun legte sich aber eine tiefe Stille auf die ganze wunderbar
duftende Weihnachtsstube. Jeder saß an seinem Tisch, über einem
neuen Weihnachtsbuch, den bunten Teller neben sich, las und futterte.
Nur die zwei Teckel „Krüper“ und „Purzel“ wanderten von einem
zum anderen in der Hoffnung auf eine Pfeffernuss oder eine Dattel,
deren Kern sie verstanden, säuberlich von sich zu geben.“
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Das Gut Gehmkow7
Die beiden Frauen, Töchter von Echard von Heyden-Linden, waren so
freundlich, uns ihre Erinnerungen an die Zeit auf Gut Gehmkow aufzuschreiben. Wir danken ihnen herzlich dafür und möchten sie wörtlich zitieren:
Im Jahre 1887 kauften unser Großvater Friedrich von Heyden-Linden
und seine Frau Carola, geb. v. d. Lancken-Wakenitz das Gut Gehmkow. Sie wohnten vorher in Lindenhof, das sie auch weiterhin besaßen
und bewirtschafteten. Sie hatten sechs Kinder, von denen die beiden
jüngsten in Gehmkow geboren wurden: Jürgen, Ilse, Rüdiger, Echard,
Barbara und Dietrich. Ilse wurde eine bedeutende Malerin. Sie hat
viele schöne Bilder hinterlassen, wovon einige auch im Kreisheimatmuseum in Demmin hängen.
Unser Großvater starb 1904, danach bewirtschaftete unsere Großmutter Gehmkow allein, bis sie es 1912 ihrem ältesten Sohn Georg (genannt Jürgen) übergab und nach Demmin in ein schönes Haus am
Mühlenteich zog, wo sie bis zu ihrem Tode (1942) lebte. Jürgen heiratete am 9.7.1914 die Ganschendorfer Nachbarstochter Margot von
Maltzahn. Leider blieb Margot schnell allein in Gehmkow. Ihr Mann
war Offizier und musste in den Krieg. Im November 1918 starb er an
einer Verwundung. Die Ehe blieb kinderlos und Margot verließ
Gehmkow im Jahre 1919 und heiratete 1921 Maximilian von Oertzen.
Unser Vater Eckard war von 1911 an in Ostafrika als Offizier der
deutschen Schutztruppe gewesen, bis er 1917 dort in Gefangenschaft
geriet. 1920 wurde er aus Ägypten nach Hause entlassen. Er übernahm
Gehmkow und heiratete 1922 Eva Flach aus Stockholm, Schweden.
1923 wurde Gunilla geboren, 1925 Armgard. Wir hatten eine herrliche Kindheit, an die wir gern zurückdenken.
Im Park befindet sich ein altes Hünengrab auf dem früher eine jahrhundertealte hohle Eiche stand, in der man herrlich spielen konnte.
Das Hünengrab war teilweise ausgehöhlt (die dort ausgegrabenen
Schätze kamen in ein Museum in Stettin) und wurde als Eiskeller benutzt. Im Winter wurden Eisblöcke aus den Teichen gesägt und im
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aus Briefen von Frau Armgard Steffenburg, geb. von Heyden-Linden
und Frau Gunilla Strehl, geb. von Heyden-Linden.
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Eiskeller mit Strohballen isoliert. So hielten sie sich bis lange in den
Sommer hinein, manche tauten nie auf. Elektrische Kühlschränke gab
es damals noch nicht, aber wir hatten mit Zink ausgeschlagene Kisten,
in die solche Eisblöcke gelegt wurden, wenn sich etwas besonders kalt
halten sollte.
Um den Park herum verläuft der Augraben, in dem wir Kinder im
Sommer badeten. Er war so flach, dass man leider nicht schwimmen
lernte. Und eigentlich war er etwas eklig mit seinem schlammigen
Boden, aber was tat das? Es konnte auch passieren, dass einige Blutegel sich an unsere Beine setzten, aber die konnte man leicht abnehmen (wenn sie „satt“ waren!).
Einen Trecker hatten wir erst in den letzten Jahren, aber die meiste
Arbeit wurde auch dann noch mit Pferden gemacht. Wir hatten sechs
Gespanne (ein „Gespann“ waren vier Pferde). Für jedes Gespann hatte
ein Mann die Verantwortung. Wenn sie von der Arbeit nach Hause
kamen, wurden sie oft durch den Augraben neben der Brücke nach
Hohenbollentin geführt, um sie zu erfrischen und zu trinken.
Alles Gemüse hatten wir aus dem Gemüsegarten, den Gustav
Warnemünde leitete und in dem er zwei bis drei Lehrlinge ausbildete.
Aus diesem Garten wurde auch verkauft. Im Frühling Pflanzen, und
das ganze Jahr über Kränze für Beerdigungen oder Trauertage. Jeden
Sonnabend fuhren Herr Warnemünde und die Lehrlinge (manchmal
durfte auch eine von uns mit) ganz früh morgens mit dem hochbeladenen Pferdewagen zum Markt nach Demmin. (Die Vorbereitungen
für den Markt wurden am Freitag gemacht. In den Ferien halfen auch
wir Kinder dabei – für 10 Pfennig die Stunde!) Einmal im Monat war
große Wäsche. Zur Hilfe kamen einige Frauen aus dem Dorf. Vorher
wurde Seife gekocht (Kernseife aus Knochen mit einem Zusatz aus
Soda oder Natron). Es gab damals noch keine Waschmaschinen und
deshalb wurde die Wäsche in einem großen Kessel in der Waschküche
gekocht und in Holztrögen gewaschen. Hinterher flatterte die Wäsche
zum Trocknen hinter dem Haus auf dem großen Rasenplatz. Zum
Plätten kam dann Frau Herrmann. Bis ein elektrisches Eisen gekauft
(oder erfunden) wurde, hatten wir eine Menge kleine Eisen, die auf
einem 8eckigen eisernen Ofen „hingen“, der mit Steinkohle geheizt
wurde. Wenn eins erkaltet war, tauschte man es gegen ein anderes ein.
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Der Hof bestand aus folgenden Gebäuden:
Links vom Haus aus gesehen stand der große Kuhstall mit ca. 60
Milchkühen, Sterken und einem Bullen (der es herrlich fand, wenn
unser Vater ihm mit dem Spazierstock den Rücken kraulte).
Die Kälber hatten einen eigenen Stall.
In der Verlängerung, hinter dem Weg nach Hohenbollentin, wo jetzt
das Haus von Hermann Kohs steht, stand der so genannte Fohlenstall,
der außerdem Scheune war.
Rechts dem Kuhstall gegenüber auf der anderen Hofseite stand eine
große Heu- und Strohscheune.
In deren Verlängerung, wiederum hinter dem Weg nach Hohenbollentin, stand der so genannte Schafstall. Die Schafe mussten in den 30er
Jahren abgeschafft werden, weil sie eine ansteckende Krankheit hatten.
Der Stall wurde danach anderweitig verwendet. Am Schafstallgiebel
hing eine Glocke die morgens zum Arbeitsanfang geläutet wurde, zur
Mittagspause, zu deren Ende und abends zum Feierabend. Die Arbeit
begann im Sommer um 6 Uhr, im Winter um 7 Uhr, Feierabend war
im Winter um 6 Uhr, im Sommer, wohl je nach Bedarf und wetterabhängig, später (8 Uhr). Mittagspause war immer von 12 bis ½ 2 Uhr.
Rechts, schräg gegenüber vom Wirtschaftshaus steht der große, ehemalige Pferdestall mit Garagen und im Obergeschoß Getreidespeicher
(inzwischen ausgebaut).
Weiter rechts im rechten Winkel dazu der ehemalige Schweinestall,
dem Herr Krasemann vorstand.
In seiner hinteren Verlängerung lag die Schmiede. Es war immer
spannend, dort zuzusehen, wenn Herr Eggert z.B. Pferde beschlug,
erst die Eisen passend schmiedete und sie dann den Pferden heiß anpasste, so dass der Huf ein bisschen anbrannte, was ganz schön roch.
Herr Eggert meinte der Geruch sei gut gegen Schnupfen (mancher
hielt ihn für Gestank). Herr Eggert schmiedete auch Eisenreifen für
die hölzernen Räder der Ackerwagen. Zum „Abhärten“ wurden sie in
den Teich vor der Schmiede gelegt.
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Am vorderen Ende der großen Scheune rechts lag die Stellmacherei,
auch dort sahen wir oft und gern zu, wenn Herr Brumshagen für unsere Begriffe wahre „Wunderwerke“ fabrizierte. Im Krieg machte er uns
Holzsohlen, gegen den wir Stoff nagelten, so dass sie wie Sandalen
aussahen. Ich – Gunilla – war damals in Berlin und wurde sehr darum
beneidet. Auch Holzpantoffeln wurden dort hergestellt. In der Werkstatt roch es so gut nach frischem Holz und mit den Abfällen ließ es
sich so herrlich spielen
Im Oktober fand das Erntefest statt. Dazu wurde eine hübsche „Erntekrone“ gebunden, die jeweils bis zum nächsten Jahr oben in unserem
Haus auf der so genannten Diele hing. Das Fest fand mit Tanz und
Erfrischungen auf dem Kornboden statt und dauerte bis lang in die
Nacht (oder bis in den frühen Morgen) hinein. Es war unserer Erinnerung nach das schönste Fest des Jahres neben Weihnachten. Mit allen
zum Gut gehörenden Menschen (dazu zählten auch die so genannten
„Freiarbeiter“ aus Kaslin) waren wir sicher 100 Leute, wenn nicht
sogar mehr. Hatte einer wirklich zu viel getrunken (was schon vorsichtshalber selten vorkam), wurde er kurzerhand von seinen Kollegen
die Treppe hinunter geworfen. So blieb die Stimmung fidel, wie es
sein sollte.
Weihnachten spielte sich 22 Jahre, solange unsere Eltern in Gehmkow
wohnten, folgendermaßen ab: Einige Tage vorher suchte Herr
Warnemünde (bis zum Krieg zusammen mit unserem Vater) für jede
Familie im Dorf einen schönen Baum aus, meistens in der Schonung
der „Kleinen Wälder“ gegenüber vom Dorf hinter dem Friedhof. Für
unser Haus wurden zwei etwas größere Bäume ausgesucht. Sie wurden im großen Esszimmer (links von der Haustür, wenn man vor dem
Haus steht) aufgestellt und geschmückt. Einen davon behielten unsere
Familien, den anderen bekam nachher die jeweilige Köchin, Mamsell
genannt. Dann wurde der große Esstisch ausgezogen, so weit es ging
und rundherum stellten wir Teller auf. Meistens waren es ca. 40, für
jedes Kind im Dorf einen. Diese wurden gefüllt mit verschiedenen
Pfefferkuchensorten, Süßigkeiten und kleinen Weihnachtsäpfeln, die
„Pippins“ genannt wurden. Sie waren sehr aromatisch (grün mit einem
rosa Bäckchen). Und jedes Kind bekam ein Spielzeug. Unsere Mutter
war vorher in Demmin gewesen und hatte, nachdem wir zusammen
überlegt hatten, was jeder gebrauchen könnte, einen Großeinkauf im
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Spielzeugladen Matts in der Hauptstraße gestartet. Die Frauen, die
täglich zum Melken kamen, bekamen neben dem bunten Teller einen
Schürzenstoff oder was sie sich wünschten, ebenso die Hausangestellten. Am Nachmittag vor Heiligabend erschienen dann alle. Im mit
Kerzen festlich erhellten Raum sangen wir die alten Weihnachtslieder,
jemand las die Weihnachtsgeschichte vor und fast jedes Kind musste
dem Weihnachtsmann ein kleines Gedicht aufsagen. Den Weihnachtsmann mit großem Rauschebart stellte Gustav Warnemünde dar.
Wir bemerkten bald, dass er einen alten Pelzmantel unseres Vaters
trug, sagten es aber niemand und glaubten trotzdem noch lange an den
Weihnachtsmann! Soviel über die Höhepunkte des Jahres.
Es gab natürlich auch „Tiefpunkte“, wie z.B. Krankheit, Tod oder
Unwetter, aber auch „zu trockene“ oder „zu nasse“ Sommer, wovon
die Ernte jeweils abhing und unser aller „Auf und Ab.“ Unser Nachbar, Herr Brandt in Pentz sagte dann jedes Mal, “Dieses Jahr gibt es
eine totale Missernte. Man kann schon die kahlen Stellen auf dem
Zuckerrübenfeld sehen!“ Aber so schlimm wurde es offenbar niemals.
Jedenfalls kamen wir „über die Runden“ und die Löhne konnten immer ausgezahlt werden.
Mit Arbeitskräften schwierig wurde es im Kriege, als leider alle jungen Männer eingezogen wurden (mancher unserer Freunde musste
dabei sein Leben lassen).
Als Ersatz für die fehlenden Arbeiter bekamen wir 18 russische
Kriegsgefangene aus einem Lager in Greifswald, zusammen mit einem „Wachmann“, einem deutschen, älteren Soldaten, der nicht der
Klügste war und sonst wohl nicht so recht zu gebrauchen war. Sie
waren am Tage frei, mussten aber abends in ihrer Unterkunft neben
dem Wirtschaftshaus eingeschlossen werden. Sie stammten wohl
großenteils aus der Ukraine, sangen abends ihre wunderschönen Lieder, im Sommer auf dem Platz vor der Küche, wo wir alle kräftig mitsangen (die Kommunikation mit ihnen war für Deutsche strengstens
verboten, aber was scherte uns das?). Es waren nette Leute und untereinander waren wir ja keine Feinde. Der Wachmann verstand sich
selbst gut mit ihnen. Eines Tages fand unsere Mutter ihn als Aufsicht
bei der Arbeit auf einem Stuhl sitzend, eingeschlafen über dem auf
seinen Knien liegenden Gewehr. Unsere Mutter musste lachen, da
fuhr er hoch und sagte: „Ich schlafe gar nicht, betrachte mich nur von
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innen!“ Keiner seiner Schützlinge versuchte ihn zu überlisten. Aber in
zwei Nächten hintereinander verschwanden alle 18, zuerst 6 oder 7,
nachher der Rest aus der verschlossenen Unterkunft mit Stacheldraht
vor den Fenstern. Das Heimweh hatte sie wohl übermannt. Wir hörten
nichts mehr über sie, bekamen auch keine Scherereien ihrer Flucht
wegen, auch der Wachmann nicht. Wir hofften alle, dass sie nicht „geschnappt“ worden waren.
Für sie kamen dann 18 Franzosen, die in Bunkern in der Maginot –
Linie gesessen hatten, als der Krieg begann. Beim ersten Schuss irgendwo waren sie alle aus ihren Bunkern gekommen, hatten die Hände erhoben und warfen ihre Waffen hin. Es waren alles Reservisten,
die gern ihr Leben erhalten wollten. Sie waren bald keine Kriegsgefangenen mehr, weil Deutschland mit einem Teil von Frankreich ein
Abkommen traf, arbeiteten aber bis zum Schluss des Krieges bei uns,
jeder so gut er konnte. Die meisten hatten ganz andere als auf dem
Lande erforderliche Berufe. Heute würde man sagen, „wir arrangierten uns!“ Der Wachmann blieb uns erhalten, brauchte aber nicht mehr
abzuschließen. Post bekamen sie direkt von zu Hause und nicht mehr
kontrolliert vom Lager in Greifswald.
Apropos Post: Unsere Mutter hatte mehrere Jahre die Poststelle in
Gehmkow. Von wann ab können wir uns nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich erst seit Kriegsbeginn. Unsere Mutter machte diese Arbeit
sehr gern, auch das Austragen im Dorf, bei dem sich immer die Möglichkeit eines kleinen „Klöns“ hier und da ergab. Die Post wurde mit
einem Auto gebracht. Ab Ende Januar lag damals meistens soviel
Schnee, dass ohne Pferdeschlitten von einem Dorf zum anderen kein
Durchkommen mehr war.
Wir selbst fuhren dann auch Schlitten, hatten einen kleinen zweisitzigen „Einspänner“ und einen viersitzigen großen für zwei Pferde. „Wie
der Wind“ jagten wir die zugeschneiten Straßen und Wege entlang,
manchmal – um das Wild zu füttern – auch querfeldein. Für die Pferde
waren Schlitten wesentlich leichter zu ziehen als schwere Wagen.
„Geräumt“ - wie man heute sagt – wurde damals selten, man behalf
sich so. Nur die Kleinbahnstrecke wurde freigeschaufelt. Mehrere
Hohlwege, durch die die Bahn fuhr, wehten manche Winter, manchmal auch mehrmals, zu. In Stufen übereinander mussten in Gehmkow
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alle verfügbaren Männer den Schnee wegschaffen, um die Straße freizukriegen.
Die Kleinbahn war nicht nur für den Personenverkehr von Bedeutung,
sondern mehr noch für den Gütertransport notwendig. (Es gab damals
weder Lastwagen wie heute, noch waren die Straßen dafür gebaut.) Im
Herbst standen die bestellten Güterwagen an der Station bereit, um
zügeweise Zuckerrüben in die Zuckerfabrik nach Demmin zu schaffen, wochenlang davor waren es Kartoffeln, die über den „Ein- und
Verkaufsverein“ verkauft wurden. Sie und die Rüben wurden „vierspännig“ mit den schweren Ackerwagen zur Station gebracht. Weniger als vier Pferde hätten diese Wagen durch die dazu noch oft aufgeweichten Ackerwege gar nicht ziehen können.
Wenn eingekauft wurde, fuhren wir meist nach Demmin. Entweder
mit Pferd und Wagen oder mit der Kleinbahn. 1938 kauften unsere
Eltern ein Auto (die Freude daran war nicht lang, weil wir schon ca.
ab 1942 nicht mehr fahren durften).
Die Kleinbahn wurde nach dem Krieg auf Befehl der Russen demontiert. Jedes Dorf musste dafür sorgen, dass die Strecke innerhalb seiner
Grenzen abgebaut wurde. Unter Aufsicht von russischen Soldaten (in
einer Hand eine Peitsche, in der anderen Hand eine Schnapsflasche)
war es für uns Gehmkower Mädchen Schwerstarbeit, die Schienen
abzubauen und zu verladen.
Noch vor Anfang des Krieges 1939 wurde unser Vater zum Militär
eingezogen. Er war Reserveoffizier und mit über 50 Jahren nicht sonderlich begeistert; abgesehen davon, dass er mit den Nazis nicht viel
im Sinn hatte, sah er in einem Krieg keine Chance für die Deutschen.
Aber wer durfte damals schon seine ehrliche Meinung sagen, ohne
sich in Lebensgefahr zu bringen?
Unser Inspektor machte die Wirtschaft in Gehmkow mit gelegentlichem Briefwechsel mit unserem Vater. Dieser, Herr Richard Schmidt,
blieb auch unter der Besatzung noch eine Weile in Gehmkow, bis er
nach Lindenhof kam und dort das Staatsgut leitete.
Unser Vater kam nach Kriegsende in englische Gefangenschaft, aus
der er bald in Schleswig-Holstein entlassen wurde. Nach unserer
Flucht im Herbst 1945 trafen wir ihn dort wieder. Wir wohnten zuerst
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bei Hamburg, unsere Eltern gingen 1966 in ein Altersheim bei Kiel.
Dort starb mein Vater 1968, unsere Mutter im Jahre 1976.
Über die Vorbesitzer von Gehmkow wissen wir leider nicht viel, alle
Akten gingen ja 1945 verloren. Der letzte Besitzer vor unserem Großvater war ein Herr Grönlund. Näheres über die Familie ist uns nicht
bekannt.“
Nachtrag zum ersten Brief:
„In den Sommerferien halfen wir, wie gesagt, in der Gärtnerei jeden
Freitag bei den Vorbereitungen für den Markt in Demmin: Radieschen
und Mohrrüben bündeln, Erdbeeren in kleine Schachteln pflücken,
ebenso später Tomaten, die feldmäßig angebaut wurden. Zwei Cousinen Hoffmann aus Potsdam, die alle Sommerferien bei uns verbrachten, halfen fleißig mit. Für das verdiente Geld, wie schon berichtet 10
Pfennig die Stunde, kauften wie dann Süßigkeiten (etwas, was es sonst
nie gab), fuhren damit zu unserer Großmutter nach Demmin am Mühlenteich und machten dort ein „Fressfest“ und spielten in ihrem kleinen Park in einer Ruine Theaterstücke, wozu die ganze Familie kommen musste, natürlich Eintritt bezahlend! Die „Kostüme“ bekamen
wir von der Großmutter aus ihrem unerschöpflichen Reichtum an alten Kleidern und Hüten, die man früher ja immer „für alle Fälle“ ewig
aufbewahrte.
Außer den Marktvorbereitungen im Garten, pflückten wir tagelang
Johannisbeeren, wofür es kein Geld gab, weil sie ja für den Haushalt
gebraucht wurden. Wir taten es nie ungern, hatten eine Menge Spaß
dabei und viel zu naschen. Im Kriege mussten wir auch gelegentlich
auf dem Feld helfen. Wenn es – wetterbedingt – eilig wurde, zum Beispiel bei der Kartoffelernte. Tagelang sammelten wir die Kartoffeln,
die vor uns her ein Mann mit einer Maschine ausgrub, in Körbe. Ohne
aufzublicken, rannten wir ständig gebückt reihauf, reihab – begriffen,
was Akkordarbeit war, jede von uns allen versuchte, den Rekord zu
erzielen. Leider habe ich vergessen, was wir dabei verdienten, aber es
waren mehr als 10 Pfennig die Stunde, wurde ja kiepenweise bezahlt.
Auch dabei waren wir sehr vergnügt, außer, wenn es zu sehr regnete
und die Klamotten wie nasse Säcke an einem hingen.
Im Sommer durften wir, sobald wir älter waren, auch bei der Ernte
helfen. Zuerst die großen Leiterwagen stückweise weiterfahren, je
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nachdem wie die Männer die Garben auf den Wagen warfen; später
auch beim bauen der großen Stroh-Kornmieten helfen, was aber eine
besondere Ehre war. Wir standen mit vier bis fünf Leuten oben und
mussten die Garben, die der „Höhenförderer“ uns ohne Pause zuwarf,
so packen, dass die Miete formgerecht wurde, vor allem gerade und
fest, so dass sie kein Wasser aufnehmen konnte. Wenn die Männer
uns ärgern wollten, schickten sie so viele Garben nach oben, dass wir
schnell in den Massen versanken und kaum schafften, wieder freizukommen. August Baumann, der schon damals (für meine Begriffe)
ziemlich alt war, passte auf, dass alles seine Richtigkeit hatte. Er sagte
einmal zu mir: “Du musst aufpassen, dass du nicht „untergebuttert“
wirst, immer zusehen, dass du die Garben unter die Füße kriegst. So
ist das sonst im Leben auch!“
Etwas vergaß ich noch: nämlich, dass wir ja die Grundschule in Caslin
besuchten und bei Lehrer Wangemann einen ausgezeichneten Unterricht hatten, was später in der Oberschule bemerkt wurde. Gertrud
Seidensticker, geb. Latawitz, sagt neulich noch einmal, der Unterricht
in Caslin hätte sie enorm im Leben weitergebracht, obwohl sie niemals eine weiterführende Schule besucht hat. Wir waren ja alle in einem Raum, was man sich heutzutage kaum noch vorstellen kann.
In meiner Kindheit war man ja wesentlich bescheidener als heutzutage. Wir gingen natürlich zu Fuß, was wir sehr genossen. Wir machten
allerlei Unsinn unterwegs und ich verstehe heute noch nicht, dass wir
jemals pünktlich ankamen – auf dem Nachhauseweg war das ja nicht
so wichtig. Auch im Winter fing die Schule um 7 Uhr an! Auch Eis
und Schnee waren kein Hindernis, um da anzukommen. Wenn es zu
glatt war, zog man über die Schuhe oder Holzpantoffel (was die meisten Kinder hatten) einfach dicke Wollsocken der Väter über, die genügend „bremsten“. Oft hatten wir die Schularbeiten nicht fertig.
Dann setzten wir uns bei Wind und Wetter in den Hohlweg auf dem
Mühlenberg und machten sie dort.
Egal wie das Wetter war, mussten wir morgens vor der Schule warten,
bis Herr Wangemann sie um 7 Uhr aufschloss.
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Wer wohnte wo?8
Im 1. Haus rechts vom Dorfeingang gesehen (heute abgerissen):
1. Wilhelm Baumann mit seiner Frau Agnes, geb. Johannis
2. Söffky mit seiner Frau Else, geb. Baumann
3. Müllers, später deren Tochter die verheiratet war mit Segin
(Heinz)
4. das Ehepaar Hanich. Er war Kutscher und sie zogen dann nach
Demmin.
Im 2. Haus rechts:
1. am Giebel die alte Frau Koss
2. Familie Warnemünde
3. Schmiedemeister Eggert mit seiner Familie
4. am Giebel die Familie Borgwardt mit vielen Kindern
Im 3. Haus rechts:
1. am Giebel die Familie des Schweizers
2. Familie Baumann
3. am hinteren Giebel die Familie Brumshagen
Im 1. Haus links (heute abgerissen):
1. Familie Johannis
2. Herr Krasemann mit seiner Frau, geb. Koss und vielen Kindern
3. Familie August Baumann
4. Familie Herrmann Koss
Im 2. Haus links:
1. Familie Dubbert
2. Familie Wilhelm Baumann
Im 3. Haus links:
1. Familie Mietzner
2. Familie Hermann Hermann
8
aus Briefen von Frau Armgard Steffenburg, geb. von Heyden-Linden
und Frau Gunilla Strehl, geb. von Heyden-Linden.
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Aus dem Leben von Dietrich von Heyden-Linden9
„Dietrich war 1898 geboren. Er liebt das heimatliche Gehmkow, wie
alle, die dort einmal gelebt haben. Als sein Vater Friedrich 1904 starb,
war er noch nicht sechs Jahre alt. In seinem 16. Lebensjahr erlebte er
dann das Ereignis, das er lebenslang die „Witwenverbrennung genannt
hat: Sein älterer Bruder, seit Jahren volljährig und Erbe von Gehmkow, heiratete im Juli 1914 Margot von Maltzahn aus Ganschendorf.
Und seine Mutter Carola geborene von der Lancken-Wakenitz zog mit
ihrem nachgeborenen Sohn Dietrich nach Demmin in das schöne
Haus am Mühlenteich. Die Nähe zur ersten Heimat verstärkte aber
noch den Trennungsschmerz. Er fühlte sich aus einem Paradies vertrieben. Seine Liebe und alles Interesse galt früh den Naturwissenschaften. Außerdem entwickelte er großes handwerkliches Geschick.
Er machte in Demmin Abitur und studierte wohl als erster unserer
Familie Physik. Etwa 1926 machte er sich zusammen mit einem Studienfreund selbständig: Die beiden wollten Radio-Apparate bauen.
Die Wirtschaftskrise machte diesem Unternehmen jedoch bald ein
Ende. Was nun? „Für Jagd und Landwirtschaft habe ich mich nicht
interessiert. Deshalb hatte ich mir mit den Leuten auf den Gütern nicht
viel zu erzählen. Denn die redeten ja fast von nichts anderem. Aber
mit meinen Brüdern in Lindenhof und Gehmkow habe ich immer
Kontakt gehalten.“ Als ich den über 70jährigen in Demmin kennen
lernte - ich hatte ihn als Kind nur einmal gesehen - gab er mir dieses
als Erklärung.
Er hat dann 1928 die Tochter des Direktors vom Lyzeum, Hildegard
Strehlow, geheiratet. Kinder blieben dem Paar versagt. In den 30er
Jahren betrieb Dietrich in Demmin ein Radio-Fachgeschäft. Er wohnte lebenslang im Haus am Mühlenteich, das ihm nach den Tod der
Mutter 1942 zugefallen war.
Inzwischen hatte er etliche Dinge erfunden und Patente angemeldet.
Wichtig wurde für ihn die Konstruktion eines Simulators für die Schulung von Piloten. Diese sahen vor sich einen Film ablaufen, als ob sie
fliegen würden. Nun konnten sie die Maschine steuern und dabei von
Lehrern korrigiert werden. Und ein Fehler wurde zwar notiert, hatte
aber keinen Absturz von Mensch und Maschine zur Folge.
9
Aus der Familienchronik entnommen
37
Die Luftwaffe führte das Gerät ein und er hatte hinfort in der Uniform
eines Offiziers eine Stellung als Fluglehrer bzw. auch Berater für Pilotenausbildung im Luftwaffenministerium in Berlin. Diese Arbeit fand
1945 ein Ende.
Bald entdeckten die Russen Dietrichs technischen Kenntnisse und
Fähigkeiten. Er durfte Autobatterien wieder flott machen. Seine Frau
Hildegard befürchtete, er müsse als Wissenschaftler in die Sowjetunion. Aus Angst davor nahm sie sich 1948 in einer Depression das Leben. Später war Dietrich viele Jahre Lehrer für das Elektro-Fach an
der Kreisberufsschule in Demmin.
Durch seine zweite Ehe im Jahre 1956 mit Ulla Bormann, geb. Perlberg – auch eine Demminerin – wurde er aus seiner Einsamkeit nach
dem Tode seiner Schwester Ilse 1949, die in den schweren Jahren ihrem Bruder treu zur Seite gestanden hatte, wieder mehr in das allgemeine Leben hineingezogen. Ulla blieb in ihrem Beruf als Finanzbuchhalterin und Dietrich konnte sein Geschäft durch die inzwischen
auf dem Markt gekommenen Fernsehgeräte rentabler machen. Aber
sein wirkliches Wissen wurde nicht gefördert bzw. gebraucht. Durch
einen alten Bekannten, der dies wusste und bedauerte, bekam Dietrich
einen Auftrag von der Akademie der Wissenschaften in Berlin, seine
Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und zwar in seinen eigenen Labor- und Werkstatträumen. Auf Grund des Ergebnisses wurde er von
dem Auftraggeber als wissenschaftlicher Arbeitsleiter der Akademie
der Wissenschaften in Berlin, angestellt. Da er in Demmin bleiben
wollte, wurde eine Außenstelle der genannten Akademie eingerichtet.
So ging ein großer Wunsch für Dietrich in Erfüllung: Bis über das 80.
Lebensjahr hinaus lebte und arbeitete er als der einzige anerkannte
Privatwissenschaftler in der DDR – in seinem Haus. Er konnte in
Demmin bleiben, auch als er die Arbeit aus der Hand legte. Er wurde
88 Jahre alt und starb 1986.
Danach wurden die vermieteten Werkstatträume von dem Gesundheitswesen für die Medizintechnik genutzt. Der von Dietrich in langen
gemeinsamen Arbeitsjahren ausgebildete Mitarbeiter Peter Rodenberg
– ein Cartlower Pastorensohn – wurde auf seinen Wunsch mit übernommen.
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Die oberen Räume des inzwischen unter Denkmalschutz stehenden
Hauses am Mühlenteich blieben teils Privatlabor, teils Wohnung, was
den bescheidenen Ansprüchen Dietrichs und seiner Frau genügte, wie
schon mancher Besucher aus der Familie feststellen konnte. Von außen ist es immer noch das „v. Heyden-Linden`sche Haus am Mühlenteich.“ So lebte und arbeitete Dietrich dann als einziges Glied der Familie in der alten Heimat. Einst von den Gütern her gesehen ein Außenseiter, wurde er zu einer Mitte: Kein Glied der Familie, das die alte
Heimat besuchte, versäumte es, bei ihm und seiner gastfreundlichen
Frau zu sitzen um seinen Erzählungen aus alten Zeiten zu lauschen.
1986 starb mit ihm der Vorletzte seiner Generation. Nur Bogislav in
Marienloh bei Paderborn lebt noch.
Die Bodenreform verwies ehemalige Besitzer von mehr als 100 ha
Land mindestens auf 30 km Abstand von ihrem ehemaligen Eigentum.
Das wurde eigentlich Grund und Anlass, die DDR überhaupt zu verlassen. Dietrichs Leben und Wirken zeigt, dass es für Menschen, die
die Gutswelt vollkommen hinter sich gelassen hatten, Lebensmöglichkeiten auch in der DDR gab. Auch dieser wahrlich nicht sehr tolerante
Staat war nicht rassistisch. Wer das Machtmonopol des Staates akzeptierte und einen der Gesellschaft nützlichen Beruf ausübte, durfte dort
leben und bleiben.
Dietrich hatte noch eine große Freude erlebt: Nach fast 50 Jahren
stand 1982 sein bzw. unser Name in der Zeitung: Anlässlich der
Übergabe seines Hauses bzw. seiner Werkstatt an das Krankenhaus
fand eine Feierstunde statt, in der unser Onkel geehrt wurde. Und der
andere Anlass war folgender: Seine Schwester Ilse hatte ja gemalt.
Und nun gab es einen Kulturbeauftragten der Stadt, der suchte Menschen, die Demminer und Maler waren. Und er stieß auf Ilse von Heyden-Linden. Und dieser Mann kam zu unserem Onkel und fragte ob es
Bilder gäbe. Und siehe da, es war viel vorhanden. So wurde Ilse von
Heyden-Linden lange nach ihrem Tod in einer großen Ausstellung in
Demmin gewürdigt. Und auch darüber hat die Presse ohne jede Polemik gegen den alten Namen sehr anerkennend berichtet.“
Das Haus am Mühlenteich ist heute ungenutzt.
39
Die Malerin Ilse von Heyden-Linden10
Ilse wurde als zweitältestes Kind 1883 auf dem Gut Philippshof geboren. Schon als Kind vergrub sie sich oft in ihrem Zimmer, zeichnete
und malte. Sie war sehr naturverbunden, das beweist, dass sie schon
als 11-jährige immer wieder bevorzugt Bäume zeichnete. Um das Jahr
1910 lebte und arbeitete Ilse künstlerisch in Berlin. Ihre in dieser Zeit
gemalten Bilder zeigen aber ihre tiefe innere Verbundenheit mit ihrer
Heimat Pommern, in die sie oft zurückkehrte.
Über die Schulausbildung, die Ilse von Heyden-Linden erhalten hat, ist
nichts bekannt. Von ca. 1898, ihrem fünfzehnten Lebensjahr, bis zum
Tode ihrer Tante Ottonie von der Lancken-Wakenitz 1929, lebte Ilse
hauptsächlich in Berlin in der Bayreuther Straße. Nach deren Tod zog
sie in eine kostengünstigere Wohnung. Ihre finanzielle Situation ließ
es aber nicht zu, weiter in Berlin zu leben. Ihr blieb nichts anderes
übrig, als die Kunstmetropole zu verlassen und ihren Hausanteil, d.h.
ihr freies Wohnrecht im Haus am Mühlenteich in Demmin, in Anspruch zu nehmen. Ob Ilse von Heyden-Linden mit dem festen Vorsatz nach Berlin ging, um sich dort künstlerisch ausbilden zu lassen,
ist nicht bekannt, scheint aber wahrscheinlich. Ottonie von Braunschweig fand selbst sehr viel Freude am Malen und war sowohl musisch als auch künstlerisch talentiert. Sie hat ihre Nichte bei Besuchen
in Gehmkow vielleicht auch erst auf die Idee gebracht, Künstlerin zu
werden, oder hat deren Wunsch zumindest sehr unterstützt. Da Ilse
von Heyden-Linden schon als Kind wusste was sie wollte, ist anzunehmen, dass sie sehr früh eine richtige künstlerische Ausbildung angestrebt hat. Sie entschied sich in Berlin für ein Studium an der renommierten Mal- und Zeichenschule des Vereins der Künstlerinnen
und Kunstfreundinnen zu Berlin.
Außer der Ausbildung an dieser staatlich subventionierten Lehranstalt
hatte sie wenig Alternativen, denn bis 1914 wurden Frauen an den
Staatlichen Akademien grundsätzlich nicht zugelassen. Bis 1940 zählte Ilse von Heyden-Linden zu den Mitgliedern eines der ersten Künstlervereine, zum 1867 gegründeten „Verein der Künstlerinnen zu Berlin“.
10
aus der Familienchronik entnommen
40
Am 4. November 1908 erhielt sie den dritten Preis im Vereinswettbewerb „Landschaft in Ölfarben“, 1910 den zweiten Preis im Vereinswettbewerb „Schwarz-Weiß“. Ihre Werke müssen bereits in dieser
Zeit von hoher Qualität gewesen sein. In ihrer Familie aber wurden
ihre Bilder als „unfertig“ und zu „skizzenhaft“ betrachtet. Das zeigt
sich auch in der unsachgemäßen Aufbewahrung der im Familienbesitz
befindlichen Arbeiten. In Vorbereitung einer Ausstellung in Kiel 1996
wurden zahlreiche der schönsten kleinformatigen, in Privatbesitz befindlichen Ölgemälde aus den dunkelsten Winkeln und ungeeigneten
Ecken hervorgekramt. In den Jahren 1911/12 hielt Ilse von HeydenLinden sich in Paris zu einem Studienaufenthalt auf.
1913 entschloss sie sich zu einer Ausbildung als Johanniterschwester
in Stettin. Im Ersten Weltkrieg arbeitete sie als Lazarettschwester in
Demmin und in Belgien. Neben der seelisch und körperlich auftreibenden Pflege der Kriegsopfer hatte Ilse den Verlust ihres ein Jahr
älteren Bruders Georg zu betrauern, der am 17. November 1918 fiel.
Die Sorge um ihre Familie, Hungersnot und Entbehrungen schädigten
sie gesundheitlich für viele Jahre.
Auch nach dem Ersten Weltkrieg war Ilse von Heyden-Linden regelmäßig als Johanniterschwester im Einsatz. Als Ausbilderin gab sie in
den dreißiger Jahren Lehrgänge in erster Hilfe und in häuslicher
Krankenpflege. Zu diesem Zwecke lebte sie häufig auf den Gütern der
Familie oder befreundeter Familien und wurde von dort aus vom Kutscher bzw. vom Chauffeur in die betreffenden Dörfer gebracht.
Vom 23. September 1939 bis zum 31. Oktober 1942 war sie als Oberschwester im Reservelazarett Lubmin bei Greifswald tätig. Die letzten
drei Jahrzehnte ihres Lebens lebte sie mit ihrem Bruder Dietrich zusammen im Haus am Mühlenteich. Das Zusammenleben war für sie
nicht immer leicht. Beide Geschwister waren in der Familie Außenseiter und lebten in finanziell sehr bescheidenen Verhältnissen. Auch
entsprach Ilse von Heyden-Linden als unverheiratete Frau und als
Künstlerin nicht der gesellschaftlichen Norm; mehr noch als ihr Bruder Dietrich war sie eine Außenseiterin für ihren Beruf. Erst 1981
wurde man in Demmin auf die Werke der Künstlerin aufmerksam.
1982 organisierte man die erste Einzelausstellung der Künstlerin in
Demmin. Der Künstler Karl Schlösser berichtete aus einem Gespräch
mit Dietrich von Heyden-Linden: „Tatsächlich kamen wir auch auf
41
seine Schwester zu sprechen. Als ich Tage später wieder Gast in seinem Hause war, breitete er vor mir die Bilder seiner Schwester aus,
die noch übrig geblieben waren. Hinter Schränken zog er sie hervor
und unter Betten holte er sie heraus, Staub bedeckt, ungerahmt, in
schlechtem Zustand die meisten. Es waren noch über hundert Arbeiten. Ein großer Teil war im Laufe von Jahrzehnten - vielleicht der bessere? - in den Westen gewandert. Der Alte von Heyden-Linden wusste
es nicht besser, bedenkenlos gab er die Bilder her, denn zur Kunst
hatte er keine Beziehung - das gestand er freimütig -, und die Malereien seiner Schwester hielt er nicht für besonders wertvoll. Ich versuchte von Heyden-Linden zu erklären, wer seine Schwester war. Ich
schlug ihm vor, diesen wieder entdeckten Schatz für eine Ausstellung
zur Verfügung zu stellen. Seine spontane Reaktion: „Wenn sie meinen, dass meine Schwester das wert ist, dann nehmen sie alles, was sie
haben wollen!“
Auch heute ist das Verhältnis der Familie zu Ilse von Heyden-Linden
eher zwiespältig und zurückhaltend. In der 1989 erschienenen, mehr
als fünfhundert Seiten starken Familiengeschichte der von Heydens
und von Heyden-Lindens kommt Ilse ganz selten und fast nur zufällig
vor. Vom Verkauf ihrer Bilder konnte sie nicht leben. Um sich ein
Zubrot zu verdienen, ging sie - durch die Johanniter vermittelt - um
1931 für zwei (Jahre? Monate?) nach Schlesien, um dort als Hausdame tätig zu sein.
Innerlich vereinsamt, von Nachkriegssorgen geplagt, schwer herzleidend, starb Ilse von Heyden-Linden am 3. September 1949 in Demmin. Der wahllose Ausverkauf ihrer Bilder und die fast völlige Zerstörung ihres gesamten Nachlasses konnten beginnen. Nach ihrem Tod
fanden in Demmin zwei kleinere Gedächtnisausstellungen statt: im
Juni 1982 in der Galerie am Marienhain anlässlich ihres 99. Geburtstages, sowie 1992 im Kreisheimatmuseum anlässlich der 2. Pommerschen Kulturtage in Demmin.
Im Herbst 1996 wurde ein Teil der noch vorhandenen Werke zu einer
Ausstellung zusammengestellt, die als erstes in Kiel, dann in Greifswald und Berlin unter dem Titel „Das Geheimnis der Blauen Balken“
gezeigt wurde. Unter dem gleichen Titel ist auch ein Katalog ihrer
Werke herausgegeben worden. Hieraus haben wir einige Bilder, die
42
die Schönheit des Gutes Gehmkow und das Leben hier eindrucksvoll
lassen, in der Chronik aufgenommen.
Gehmkow
43
Ilse von Heiden-Linden,
„Porträt“, 1908
Ilse von Heiden-Linden,
„Heilgeistkirche zu Demmin“, 1926
44
45
Tabelle zum Ortsplan Gehmkow
Hausnummer
Eigentümer / Mieter
1
Kirchner, Knut Dr.
5
Fredrich, Heinz-Jürgen
6
Kempf, Lotte
6a
Borchert Manfred
7
Erdmann, Hildegard
8
Wesolowski Ricarda und Dirk
9
Nelsen, Wilhelm
10
Krasemann, Erhard
11
Janssen, Irene
12
Klingberg, Detlev
13a
Sudos, Astrid
13
Dubbert, Norbert
14
Wieser, Jens
15
Ratzunat, Dako
16
Schmarr, Michael
17
Brumshagen, Ingrid
17
Koß, Gero
19
Ewert, Alfred
20
Kreft, Hans
22
Brunk, Luise
22
Quade, Berthold
23
Steffenhagen, Frank
23
Teske, Elli
24
Bunsen, Waltraud
24a
Krasemann, Jörg
25
Oldach, Erna
46
26
Rexhäuser, Jürgen
27
Dr. med. de Pay, Arno W.
28
Baumann, Rudi
29
Schiwasinske, Uwe – Garten- und Landschaftsbau
30
Löwner, Jens
30
Otto, Reinhard
31
Borgwardt, Otto
32
Krasemann, Dirk
33
Seegert, Enrico
33
Teske, Klaus Peter
34
Lehmann & Nicke
37
Blanken, Cord – Auhof Agrar GmbH
39
Jordan, Beatrice
39
Thiel, Hildegard
47
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