Liberalismus und Kommunitarismus in der neueren

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Liberalismus und Kommunitarismus in der neueren Debatte
Die seit dem Erscheinen des Buches „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls 1971
geführte Diskussion um das rechte Staatsverständnis (vorwiegend in den USA) nimmt
zentrale Grundprinzipien der Staatstheorie überhaupt wieder auf und bezieht sie auf die
moderne Gesellschaft. In der Debatte finden sich die Vertreter wieder, die ein an Aristoteles
und Rousseau orientiertes organisches Staatsverständnis vertreten, und diejenigen, die an
Hobbes, Locke und Kant orientiert ein vertragstheoretisches Modell zugrundelegen, das
Staaten als Aggregate von Einzelindividuen interpretieren. Kommunitaristen gehen davon
aus, dass es für die Bestimmung einer gerechten Gesellschaftsordnung immer einen
Horizont gemeinsam geteilter Werte geben muss, während die Liberalen davon ausgehen,
dass nur ein formaler Begriff von Gleichheit als Ausgangspunkt für die Entscheidung über
gesellschaftliche Gerechtigkeitsfragen dienen kann.
Kommunitarismus
Vorrang des Guten (materiale Werte) vor
dem Rechten
Teleologisch bestimmt
Patriotismus
Gemeinwohl
Sozial integriertes Selbst als Ausgangspunkt
Aristoteles, Rousseau
Sandel, Walzer, McIntyre
Liberalismus
Vorrang des Rechten (formale Gleichheit)
vor dem Guten
Formal bestimmt
Indienstnahme des Staates für eigene Ziele
Individuelle Ziele
Ungebundenes Selbst als Ausgangspunkt
Locke, Kant
Rawls
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit
Ähnlich wie Hobbes, Locke und Kant nimmt Rawls einen Urzustand oder Naturzustand an, in
dem Menschen gesellschaftsstiftende Verträge abschließen. Während bei Hobbes die
Menschen im Naturzustand hauptsächlich Sicherheitsinteressen haben und die Menschen
bei Locke hauptsächlich an der Sicherung ihres Besitzes interessiert sind, orientiert sich der
Gesellschaftsvertrag bei Rawls durch das Interesse, Gerechtigkeit herzustellen. Bevor die
Menschen also beschließen, wie ihre Regierung aussehen soll und wie diese Regierung
gebildet werden soll, beschließen die Menschen im Urzustand zunächst Regeln, die
möglichst viel Gerechtigkeit im Staats realisieren sollen. Zu diesem Zweck führt Rawls
zusätzlich zu den klassischen Elementen des Gesellschaftsvertrages den „Schleier des
Nichtwissens“ ein. Das bedeutet, dass die Menschen in dem (nur theoretisch konstruierten)
Urzustand nicht wissen, in welchem Status der Gesellschaft sie sein werden, ob sie zu den
Reichen oder Armen, den Bevorzugten oder Vernachlässigten usw. gehören werden. Auch
darüber, welche Fähigkeiten und Begabungen sie haben, haben die Menschen im fiktiven
Urzustand keine Kenntnis. Rawls setzt weiter ähnlich wie Hobbes voraus, dass die Menschen
im Urzustand eine strategische Vernunft haben, die sie in die Lage versetzt, das für ihre
eigenen Interessen Beste zu wählen. Anders als bei Hobbes haben die Menschen aber im
Urzustand keine gegeneinander gerichteten Interessen, sie wollen also nicht unbedingt
andere übervorteilen, vernichten, beherrschen o.ä.. Rawls überlegt nun, welche
Gerechtigkeitsprinzipien solche Menschen ihrem Staatsverständnis zugrundlegen würden.
Das Maximin-Prinzip
Nach Rawls würden die Menschen im Urzustand die Gerechtigkeitsprinzipien so wählen,
dass das schlechtest mögliche Ergebnis der gewählten Alternative besser ist als das aller
anderen Alternative, die Menschen wählen also die Variante, die unter worst case
Bedingungen das beste Resultat erwarten lässt. Die Menschen überlegen sich also, welche
Grundregeln sie bevorzugen würden, wenn sie zu der sozial am schlechtesten gestellten
Gruppe im zukünftigen Staat gehören würden.
Das Gleichheitsprinzips
Nach Rawls würden die Menschen im Urzustand zuerst ein Prinzip der Gleichheit von
Grundrechten und Grundpflichten beschließen. Die erste Grundregel lautet also:
„Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten
haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“ Es geht also darum,
möglichst viele Freiheiten für den Einzelnen zu garantieren, aber so, dass alle anderen die
gleichen Grundfreiheiten haben. Die wichtigsten Grundfreiheiten sind die politische Freiheit
(zu wählen, öffentliche Ämter zu bekleiden), Rede- und Versammlungsfreiheit, Gewissensund Gedankenfreiheit, persönliche Freiheit, Schutz von Unterdrückung und Misshandlung,
willkürlicher Verhaftung, Recht auf persönliches Eigentum. Die Menschen würden also nach
Rawls in erster Linie einen Rechtsstaat auf der Grundlage formaler Freiheitsrechte
beschließen.
Das Differenzprinzip
Als zweiten Grundsatz würden die Menschen im Urzustand nach Rawls ein Prinzip wählen,
dass zwar soziale Ungleichheit zulässt, aber nur in dem Maß, bei dem die jeweils am
schlechtesten Gestellten noch den größten Nutzen haben. Sie würden also eine Gesellschaft
bevorzugen, in der es Unternehmer mit hohem Einkommen und Arbeiten mit geringerem
Einkommen gibt, das insgesamt aber so produktiv ist, dass der Arbeiter immer noch besser
gestellt ist als in einem System mit Gleichverteilung (Kommunismus). Nur unter diesen
Bedingungen können, so Rawls, auch die Begabten und Begünstigten damit rechnen, dass sie
Unterstützung durch die weniger Privilegierten bekommen, weil für diese immer noch das
best mögliche Resultat herauskommt. Wenn dagegen die Begabten und Begünstigten
überhaupt nicht besser gestellt wären, hätten diese kein Interesse, ihre Fähigkeiten der
Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Ähnlich hätten die Unternehmer sonst kein Interesse,
ihr Kapital zu investieren, so dass sich kein ökonomisches Wachstum ergäbe und so weniger
zu verteilen wäre, was den Arbeiter absolut schlechter stellen würde als in einem System,
wo zwar relative Ungleichheit herrscht, aber absolut für den nicht Bevorzugten noch das
bester Ergebnis herauskommt.
Kritik
Gegen das Differenzprinzip von Rawls ist eingewandt worden, dass nach Prinzipien der
Gerechtigkeit nicht alle sozialen Leistungen und Sicherungssyteme auf einen strategisch
kalkulierten Vertrag zurückgeführt werden können. Nach Kriterien der Menschenrechte
muss jedem Menschen Zugang zu Nahrung, Obdach und medizinischer Versorgung
zugestanden werden, unabhängig davon, ob Menschen in einem Naturzustand aus Furcht,
selbst betroffen sein zu können, eine solche Versorgung beschlossen hätten. In der
gesellschaftlichen Realität weiß auch bereits jeder, ob er zu den Begünstigten gehört oder
nicht, dennoch müssen aber bestimmte Grundrechte auch Unterprivilegierten zugestanden
werden. Es lässt sich also fragen, welchen Nutzen der „Schleier des Nichtwissens“ in der
konkreten Begründung von sozialen Rechten in der gesellschaftlichen Praxis hat.
Zudem kann schon gegen das Maximin-Prinzip eingewandt werden, dass nur pessimistische
oder
risikoaversive
Menschen
ein
worst-case-Szenario
zugrundelegen
würden.
Risikofreudige Menschen würde sich vielleicht für Prinzipien entscheiden, die den Begabten
und Privilegierten mehr Rechte zugestehen in der Hoffnung, selbst dazuzugehören. Auch
dann müssten aber soziale Mindestsicherungen begründet werden, die sich aus der
Vertragstheorie nicht begründen lassen.
Schließlich ist auch die Annahme, dass Menschen um höherer absoluter Vorteile willen
soziale Ungleichheit akzeptieren würden, fraglich, weil dabei die von Rawls im Urzustand
vorausgesetzte strategische Rationalität eine entscheidende Rolle spielt. Möglicherweise
würde reale Menschen Ungleichheit als solche gefühlsmäßig ablehnen, selbst dann, wenn sie
dadurch absolut besser gestellt sind als in einem System von Gleichheit (vgl.
Managergehälter).
Die Kritik, die von Seiten des Kommunitarismus an Rawls geübt wurde, geht aber noch
weiter, sie bestreitet im Grunde, dass die Grundannahmen in allen Vertragstheorien
zugrundegelegt werden, unsinnig sind. Alle diese Vertragstheorien gehen nämlich immer von
einzelnen Individuen mit strategischen Interessen aus, blenden dabei aber aus, dass reale
Menschen immer schon in einem sozialen Kontext gebunden sind. Die Kritik richtet sich also
hier gegen die Grundannahme des ungebundenen Selbst und eines Staates, der bloß als
Aggregat von Individuen verstanden wird.
Insbesondere Charles Taylor hat gegen die Grundannahmen von Rawls geltend gemacht,
dass Menschen nicht einfach Interessen, Werte und Wünsche haben, sondern diese erst in
der sozialen Gemeinschaft, in der Auseinandersetzung mit ihr und der Kommunikation mit
anderen Menschen entwickeln. Die liberale Theorie geht also nicht nur von Menschen aus,
die es nicht gibt, sondern auch von Menschen, die die Voraussetzungen nicht haben, um
Werte durch eine Wahl zu realisieren, weil sie diese eben nur in einer sozialen Gemeinschaft
entwickeln können.
Staaatstheorie von Charles Taylor
In seinem Aufsatz „Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?“ geht Taylor davon aus,
dass nur die Demokratie in der Lage ist, die Freiheit der Person und Wahrung der Rechte zu
garantieren. Zu fragen ist aber, was eine Demokratie lebensfähig macht. Zu diesem Zweck
untersucht er die sogenannte ökonomische Theorie und die holistische Theorie, um
schließlich eine eigene Lösung vorzuschlagen.
Kritik an der ökonomischen Theorie
Zur ökonomischen Theorie zählt Taylor Hobbes, Locke und Schumpeter. Zentrales Kriterium
der Zuordnung ist die Vorstellung, dass die Gesellschaft ein Instrumentarium ist, das die
einzelnen Individuen in Anspruch nehmen, um ihre individuellen Interessen durchzusetzen.
Die Stärke des demokratischen Staates besteht dann darin, dass es eine Gerechtigkeit gibt, in
der die Ziele jedes Einzelnen denselben Wert haben wie die anderer Individuen. Als
Methode
zur
Erzielung
dieser
Gerechtigkeit
gelten
regelmäßige
Wahlen
und
Parteienpluralismus als Methode einer Verfahrensgerechtigkeit, die nicht bestimmte Werte
(das Gute) vorgibt, sondern lediglich ein formale Prinzip (das Rechte), das sicherstellt, dass
alle Interessen gleichberechtigt behandelt werden.
Taylor wendet gegen dieses Modell ein, dass jede Regierungsform eine starke Indentifikation
der Bürger mit ihr voraussetzt. Die Bürger müssen bereit sein, sich für das demokratische
System einzusetzen und ggf. auch Opfer zu bringen (z.B. Steuern zahlen). Das heißt, die
Bürger müssen letztlich Patrioten sein. Dies widerspricht aber der Annahme, dass die Bürger
den Staat nur als Instrument für die Durchsetzung ihrer privaten Interessen ansehen. Es
können also zumindest nicht alle Zielsetzungen in einem Staat individuell sein, wenn dieser
auf Dauer als Demokratie Bestand haben soll. Es muss also auch gemeinsame Ziele geben.
Kritik an holistischen Modell Rousseaus
Das holistische Modell des Staates geht den umgekehrten Weg. Sie setzt voraus, dass Bürger
sich selbst regieren wollen und dass es einen Gemeinwillen gibt, die volonté générale. Nach
Taylor ist der Marxismus der geistige Erbe dieses von Rousseau formulierten Anspruchs.
Dieses
Modell
überzieht
jedoch
nach
Taylor
das
(staatlich
verordnete)
Gemeinschaftsinteresse. Es übersieht, dass die Menschen die meiste Zeit über individuelle
Interessen verfolgen. Diese Differenzen kann man nicht einfach übergehen. Im holistischen
System wird diesen divergierenden Interessen aber jegliche Legitimität abgesprochen.
Patriotismus als Garant der Demokratie
Taylors drittes Modell versucht die beiden kritisierten zusammenzuführen und deren
Stärken zu vereinen. Darin soll Konkurrenz und Streit der Stellenwert zugesprochen werden,
der ihnen in einer Demokratie gebührt, gleichzeitig aber ein zentraler, einheitsstiftender
Identifikationpol definiert werden. Dieser Indentifikationspol besteht seiner Meinung nach
im „Gesetz“ als Inbegriff von Institutionen und Verfahren des politischen Systems.
Alle Bürger sollen sich als Beteiligte am gemeinsamen Unternehmen der Wahrung von
Bürgerrechten verstehen (vgl. ähnlich das Modell von Hannah Arendt). Sie sollen sich
verpflichtet fühlen, diese Bürgerrechte zu verteidigen.
Eine zweite wesentliche Bedingung dafür, dass Demokratie als Identifikation erlebt wird,
bezeichnet Taylor die Partizipation. Seiner Meinung nach schwindet nämlich der Bürgersinn
in einer Demokratie, die die Partizipation der Bürger auf die bloße Stimmabgabe beschränkt.
Taylor denkt bei dieser Partizipation an verschiedene einzelne Bewegungen zu einzelnen
Zwecken, in denen die Bürger sich beteiligen und versuchen, Druck auf die Regierungen
auszuüben und bestimmte Leute in politische Ämter zu bringen. Manchmal könnten, meint
Taylor, aber auch solche Bürgerbewegungen Dinge selbst in die Hand nehmen und autonom
regeln. Taylor meint, dass auf diese Weise das Gemeinschaftsgefühl wachsen könnte ohne
dass ein Gemeininteresse im Sinne der volonté générale auf der Ebene des gesamten Staates
mit entsprechenden Einschränkungen oktroyiert werden muss.
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