Seite 1 von 41 furchtlos Und deine Angst nährt den Wahnsinn bis er dich und dein Innerstes zerfrisst und du sitzt da ganz allein mit der Leere in dir weißt du nicht mehr wer du bist und du fragst nach deinem Sein und du fragst nach deinem Sinn Carmen Rebecca Seite 2 von 41 Ein später Sommertag von Carmen Rebecca Ophelia wurde an jenem späten Tag des Jahres 1968 ungewohnt früh geweckt. Sie wurde wach, als das Knirschen die letzten Stufen der Holztreppe emporstieg. Ophelia lauschte der Dunkelheit, gefasst und erwartend. Jenes jammervolle und wehe Knirschen alter Holzdielen, breitete sich in der Wohnküche aus, verteilte sich um den Herdofen herum und schlich sich immer näher an sie heran. Als das hölzerne Seufzen der aufwehenden Tür in die Schlafkammer hauchte, hielt Ophelia angespannt den Atem an. Sie bewegte sich nicht, während die knirschenden Schritte auf sie zukamen. Sie waren weder bedrohlich schwer noch überwältigend eindringlich noch waren sie in irgendeiner Weise aufdringlich. Sie waren vielmehr schüchtern und scheu, und manchmal wichen sie erst vor Demut zurück, bevor sie sich weiter vorwagten. Auf zwei Schritte vorwärts folgte ein halber zögernder rückwärts, als näherte sich ihr ein Tanz. Sie empfand keine Furcht vor den fremden Füßen der Finsternis in ihrem Schlafgemach, überhaupt gab es nichts und niemanden auf der Welt, der Ophelia Seite 3 von 41 das Fürchten hätte lehren können. Sie war ohnehin schon zu alt, wie sie meinte, um noch etwas Neues zu erlernen. Deshalb blieb sie selbst dann noch ganz still und regungslos daliegend, als die Dunkelheit nach ihr griff. Es war ihr, der Tod greife mit seiner kalten, schwarzen Hand nach ihr, und der klammen Anziehung bittersüß verfallend gab sie sich ihm sehnlich hin für diesen einen kühlen zeitstarren Moment. Selbst das Sterben fürchtete sie nicht mehr in ihren endlichen Tagen, es war ihr eine längst erlösende Sehnsucht geworden. „Ophelia, Ophelia, wach doch bitte auf!“ Die Stimme klang zart und zerbrochen, war scheu und demütig wie ihre Schritte. „Du dummes Ding! Du hast mich bereits geweckt, als du die Treppe hochgeschlichen kamst“, keifte sie aus ihrem Bett hervor und warf die Decke von ihrem Körper. Als sie sich mühevoll aufraffte, zerrte die Schwerkraft des Schmerzes an ihrem alten Gebein. Sie griff sich an den krampfenden Unterleib und schob die Beine aus dem Bett. „Es tut mir leid.“ Seite 4 von 41 „Was denn!? Du wolltest mich doch wecken, oder etwa nicht? Himmel, Arsch und Zwirn“, sie fluchte noch immer in die Dunkelheit hinein. „Hat er wieder getrunken?“ Ophelia erahnte ein Nicken in der Finsternis. Sie kramte energisch in ihrem Nachttischkästchen, solange bis sie eine Taschenlampe ertastete. Mit einem Klicken sprang ein Lichtstrahl dem Eindringling ins Gesicht. „Lass dich ansehen.“ Der Lichtkegel tanzte in Kreisen auf dem verblendeten Angesicht. Erschreckend weiß hielt es dem Schein stand, nur die Augen verbargen sich vor dem grellen Schmerz. Ophelia sah sich das bleich erleuchtete Frauengesicht im schwarzen Raum sehr genau an, und obwohl sie Demütigungen und Verletzungen darauf erkennen konnte, empfand sie weder Bestürztheit noch irgendein verwandtes Gefühl von Mitleid. „Er, er hat ein Messer. Und die Kinder, die Kinder sind bei ihm“, stotterte die Frau im Schein. „Ach Kindchen, du weißt doch, dass er damit nichts anzufangen weiß. Er ist ein …“ Seite 5 von 41 Eine mannhaft schwere Stimme wütete in der dunklen Morgenluft wie ein tosender Sturm: „Martha! Wo steckst du?! Du verdammtes Miststück! Ich bring’ dich um, wenn du nicht zurückkommst! Hörst du? “ Ophelia schnaubte erbost. Sie stieg, mit murmelndem und fluchendem Schmerz, aus dem Bett. Der Lichtstrahl kämpfe sich durch das Schwarz von der einen Ecke zur anderen, blitzte hoch zur Decke und dann wieder auf den Fußboden, während Ophelia mit der freien Hand den Mantel ergriff und ihn sich überzog. Dann stampfte sie über den knarrenden Holzboden nach draußen. „Na los, komm schon!“ Und die zaghaften Schritte folgten ihr. Seite 6 von 41 Der Lichtstrahl kroch knirschend über die Außentreppe in den Hof hinab, über knisternd weiße Kieselsteine hinweg und hielt vor grobem Schuhwerk. Ophelia leuchtete nun dem Mann ins angetrunkene Gesicht, es verzog sich gar grausam zu einer diabolischen Fratze, furchteinflößend und hässlich. In seinen Augen trieb der entbrannte Wahnsinn, schwappte wie entzündeter Treibstoff darin. Und es fletschten seine Zähne wie die einer wildgewordenen Bestie. Drohend richtete der Betrunkene das Küchenmesser gegen Martha, die ihre Angst hinter Ophelia verbarg. „Martha! Komm hervor aus deinem Versteck, du Miststück! Komm zu mir zurück!“ Ophelia aber stellte sich dem Ungetüm entgegen und tat sich vor ihm auf wie eine Bärin, dass sie an Größe über ihn hinweg wuchs, und brüllte einschüchternd auf ihn herab: „Was ist nur los mit dir?! Sag, schämst du dich nicht? Was bist du für ein Ehemann und Vater geworden? So habe ich dich nicht erzogen. Ich habe dir beigebracht, wie man seine Familie beschützt. Jetzt muss ich meine vor dir beschützen. Welch eine Schmach für mich! Geh mir aus den Augen, Sohn. Und lass das Seite 7 von 41 Messer fallen, du elendiger Hitzkopf! Du könntest es sowieso nie gegen jemanden wenden.“ Das Messer fiel zu Boden. Die Fratze wich aus dem Gesicht wie ein vertriebener Dämon und das Angesicht wurde blass wie das seiner Frau, demütig und scheu. „Du wolltest doch nur gefürchtet werden, du Narr. Aber wer wahre Stärke hat, der muss niemanden das Fürchten lehren. Weil er selbst ohne Angst ist und niemanden durch Einschüchterung fernhalten muss. Du hast nichts von meiner Kraft. Du bist schwach wie die meisten Menschen, die sich selber fürchten. Verschwinde und schlafe deinen Rausch aus, du verdammter Dreckskerl! Schande über dich, deine Familie so zu behandeln. Nun geh schon!“ Als sich Martha schüchtern bei ihr bedankte, strafte Ophelia aber auch sie mit verachtendem Blick. Sie sah den beiden gebrochenen Gestalten nach, wie sie in die Dunkelheit eintraten und sich jene hinter ihnen wieder verschloss. Noch eine Weile starrte sie ins verschlingende Schwarz und Novembermorgenstunden hinein. horchte in die Stille der Seite 8 von 41 Ophelia stand mit dem Rücken zum Herdofen, in dem Hitze krachend Holz aufbrach. Verglimmende Holzscheite und aufbackendes Brot, olfaktorische Wärme breitete sich wohlig in der kleinen Wohnküche aus. Auf der Platte spuckte und zischte ein kleiner Wasserkocher heißen Dampf aus, während er lebhaft vor sich hin pfiff. Und aus der Schachtel neben dem Ofen war ein dünnes, schlafmurmelndes Fiepen zu vernehmen, zarte, pfeifende Seufzer von versteckten Geschöpfen. Ophelia stand am Küchenfenster, die knorpeligen, dünnhäutigen Hände ruhten auf ihrem Leib, um den Schmerz darin zu wärmen. Sie sah nach draußen, beobachtete, wie die Morgenröte den Nachthimmel sprengte und wie die Bauern aus ihren Häusern krochen und sich durch die Felder gruben. Und mit ihnen kroch das frühe Sonnenlicht übers Land, streckte sich purpurn, aber noch wässrig, über das Ackerschwarz hinweg. In diesem sommerlichen Morgenlicht beachtete sie vor allem einen der Bauern. Er sah noch gut aus für sein Alter, etwas geschunden von harter Arbeit und Zeit, aber da war noch immer etwas an ihm, das ihn ansehnlich machte. Vielleicht war es etwas, das in ihm drinnen war, ein Lebensfunke, sie konnte es sich nicht so genau erklären, aber nach all den Jahren empfand sie noch immer etwas, wenn sie ihn ansah; wenn sie auch nie zu definieren vermochte, was dies gewesen sein Seite 9 von 41 mochte. Von Weitem konnte man seine flatterige Haut an den Armen nicht sehen und auch nicht das zerfurchte Gesicht, und daher war es ihr nun, da sie so dastand und ihn beobachtete, als wäre er wieder dieser junge Knabe, der er einst gewesen war. Ja, aus dieser Entfernung verschwommen die Details des Alters, sie waren unscharf geworden und sie machten aus einem in die Jahre gekommen Mann einen munteren Jüngling. Sie nahm die Hände vom Bauch weg und legte sie sich auf die welken Wangen, um sie glattzustreichen und ihr ursprüngliches Angesicht zum Vorschein zu bringen. Wie die Handflächen nun so ihr Gesicht wärmten, da schloss sie für einen Moment die Augen, und sie spürte durch die dünngewordene Haut hindurch, wie sie damals ausgesehen hatte. Schön war sie gewesen, so schön. Die junge Ophelia tanzte ausgelassen im Geiste, und die alte seufzte bezähmt. Sie öffnete die wulstigen, hautfaltigen Augenlider und sah erneut den junggewordenen Mann auf dem Feld, wie er den Sparten in die feste Erde trieb und sie umgrub. Wie schön er war, so schön. Jetzt klang sie in Gedanken schon wie die anderen alten Menschen, die nur davon reden konnten, wie viel schöner damals alles gewesen war, und sie tadelte sich dafür. Was stand sie auch da und schmachtete ihre Jugendliebe an? Nach dieser Nacht, die doch Seite 10 von 41 Bestätigung genug dafür gewesen war, dass sie sich richtig entschieden hatte, für ein Leben mit sich selbst. Seite 11 von 41 Es klopfte leise, aber bestimmt. Kinderfäustchen. Ophelia erkannte sie sofort. Lara war von der Treppe lautlos nach oben getragen worden. Die alte Dame öffnete dem kleinen Mädchen die Tür, und als es eintrat, wurde es sogleich von der Ofenwärme eingefangen, umarmt von Geborgenheit. Lara sog die Wärme durch ihre zarten Nasenflügel empor. Sie berauschte sich euphorisch am rauchigen Duft des Brotes. „Du kommst zur rechten Zeit.“ Ophelia klang stets belanglos und gleichgültig. Äußerte sich beiläufig und nebensächlich. Als wäre die Sprache an sich etwas Überflüssiges und alles Gesagte der Welt in seiner Sinnhaftigkeit unwesentlich, so sehr war sie gelangweilt von der Trivialität der menschlichen Aussage selbst. Manchmal überschlug sich ihr Desinteresse, schlug um in garstige Gereiztheit, dann äußerte sie sich unverhohlen in ihrer Schroffheit und all das Gezeter und Gekeife aus ihrem dürren Mund diente der Vertreibung und Abschreckung von langweilenden Gesprächspartnern. Genervt von jedem sozialen Austausch reagierte Ophelia abweisend, denn sie bevorzugte vor allem ihre eigene ungestörte Anwesenheit und den inneren Dialog mit sich selbst, um sich gänzlich mit sich selber auseinandersetzen zu Seite 12 von 41 können. Sie wollte nicht unerkannt sterben, unerkannt von ihr selbst. Wenn sie nie jemand gewesen war, dann hatte es sie niemals wirklich gegeben. Zu viele Menschen waren um sie herum, und waren gar nicht da. Lara hockte auf der Eckbank, sie liebte diese Nestwärme in Großmutters Stube. Es war ihr, als sei die Welt hier ganz und gar heil und sie sei über alles hinaus beschützt. Ophelia hielt den dampfenden Brotlaib auf ihren eigenen Leib gepresst und verdeckte wieder den Schmerz, dann nahm sie ein Messer und teilte das Brot in zwei Hälften. Erst danach schnitt sie aus der Mitte eine große atmende Scheibe für Lara heraus. „Hier, damit du ein ordentliches Stück Brot bekommst.“ Laras Augen schimmerten vor Bezauberung, als sei Weihnachten, gerade in diesem Moment, und sie hielte ihr Geschenk in Händen. Und dann versank ihr kleiner Mund melodisch im lockeren, wolkenhaften Brotteig. Es gab nichts Fabelhafteres, das sich Lara vorstellen konnte, als wenn Großmutter gebacken hatte und ihr davon abgab. „Und, hast du noch gut geschlafen nach dem Vorfall?“, fragte Ophelia. Sie war wohl besorgt, aber sie klang so hart und beiläufig dabei. Lara nickte kauend. Seite 13 von 41 „Na dann ist’s ja gut. Los, iss’ schneller, Kind. Die Kleinen haben Hunger. Hörst du sie rufen?“ Nun konnte Lara das Fiepen hören, das ihr entgangen war. Schnell stopfte sie die letzten Bissen in die ausgebeulten Wangen und sprang auf den Boden hinab. Gleich neben dem Ofen stand jene seufzende Schachtel. Ophelia fischte ein gelbes Knäuel heraus und setzte das ungeschickte Ding auf die Holzdielen. Ein piepsendes Etwas nach dem anderen hob sie vorsichtig aus dem Karton und setzte es zu dem ersten. Schnell drängten sich die Küken enger aneinander, und dort hockten sie dann, ein flauschiger, gelber Haufen, wie ein dichter Strauß von Löwenzahn. Ophelia streichelte zärtlich über das winzige, zittrige Federvieh und murmelte dabei ein sanftes Lied. Kaum einer traute dieser unbewegten Dame so viel Empfindsamkeit zu, man konnte sie ihr nirgends ablesen, in ihrem Gesicht war Strenge, in ihren Worten Kälte und auch in ihren Gesten und Handlungen war wenig sichtbare Güte. Sie war nicht von schlechter Natur, sie schien nur ein wenig entmenscht in ihrer gefühlsarmen Art. All die überkompensierte Stärke in ihr ließ keine Weichheit zu, keine Schwäche wie Mitgefühl oder Bedauern. Es ekelte ihr sogar ein wenig davor, wenn Menschen zu sehr menschlich waren, wenn sie zu weinerlich waren oder andersrum zu gehässig, kurzum, wenn sie zu schwach waren. Seite 14 von 41 „Sie sind erst gestern geschlüpft. Sie wissen noch gar nichts von dieser Welt, nicht einmal, wie man frisst und trinkt. Wir müssen ihnen alles zeigen.“ Die alte Hand streute etwas gemahlenen Mais vor die kleine Löwenzahnherde, dann klopfte der Zeigefinger pickend auf dem Maisschrot herum und bald wippten alle gelben Köpfchen zu Boden. Lara klatschte ganz entzückt die Hände aneinander: „Sieh nur wie schnell sie lernen! Oh, das ist ganz großartig! Wie süß sie sind! Und wie trinken sie nun?“ Das war der schwierigere Teil an der Sache. Ophelia bereitete dafür eine flache Schüssel mit Wasser. „Erst tippst du mit deinem Zeigefinger auf ihr Hinterköpfchen und dann tunkst du sie ganz vorsichtig ins Wasser ein, nur das Schnäbelchen. So, siehst du?“ Das Mädchen tat wie ihr geheißen und stupste eines nach dem anderen zum Wasser hin. Manch ein Küken brauchte etwas mehr Zeit als das andere, bis es zu schlucken verstand. Schon bald fühlten sich alle wohlgenährt, und sie piepsten ganz laut und streckten ihre dürren Beinchen durch, und sie flatterten mit ihren quietschgelben Stummelflügeln. Seite 15 von 41 „Siehst du, jetzt sind sie gestärkt und kräftig“, brummte Ophelia zufrieden. „Das sind doch so winzige, kleine Wesen, sie sehen ganz zerbrechlich aus.“ „Lara, du bist weder die Größte noch du die Älteste deiner Geschwister, aber du bist die Mutigste von allen.“ Ophelia nahm das zarteste und kleinste Küken und versteckte es in ihren bauchigen Händen, wo es wegen der Wärme sogleich schläfrig wurde und die Augenlider fallen ließ. „Hat er euch etwas getan?“, Ophelia beobachtete die Reaktion des Mädchens forsch. „Nein, aber wir wissen nie, wann er es doch tun wird.“ „Hattest du Angst heute Morgen?“ „Nein, ich habe schon lange keine Angst mehr. Ich bin nur noch wütend. Wütend auf Papa, weil er uns etwas tun könnte. Wütend auf Mama, weil sie nichts tut. Und wütend auf mich, weil ich nichts tun kann“, auch jetzt glänzte die Wut zerbrechlich gläsern in ihren Augen. Seite 16 von 41 „Wut ist gut, sie beschützt dich. Die Angst liefert dich aus. Die Angst macht aus Menschen Opfer. Martha hat euch also nicht beschützt?“ „Nein, sie fürchtet sich vor ihm.“ „Für sie ist er ein Gott. Sie betet ihn an und sie fürchtet ihn zugleich.“ Lara beobachtete das Gesicht ihrer Großmutter, wie es sich verformte im Ekel. Aber sie schwieg. „Lara, Eltern sind eigentlich anders als du sie kennst. Sie sind da, um euch Kinder zu beschützen vor allem Bösen und aller Gewalt in dieser Welt“, Ophelia schloss die Hände um das Küken, dass es ganz sicher und verschlossen darin ward. „Sie sollten euch diese Dinge nicht nachhause in eure heile Welt bringen, sie sollten sie abwehren.“ Lara streichelte nun über die alte Hand, in der das kauernde Wesen verborgen war, und fühlte sich bei ihrer Großmutter ebenso aufgehoben. „Manchmal, wenn er so betrunken nachhause kommt und uns alle bedroht, möchte ich ihn die Kellertreppe hinunterstoßen, und dann Seite 17 von 41 wünsche ich mir, dass er sich das Genick breche“, flüsterte Lara dunkel. „Du hast meine Stärke, Kind. Du scheinst ganz nach mir zu kommen. Du bist viel stärker als dein dummer Vater. Bewahre dir diese Wut. Solange du sie hast, macht sie dich stark. Die Menschen jammern viel zu schnell darüber, dass das Leben es nicht gut mit ihnen meine, sie geben zu schnell auf, haben zu viel Angst, sich dem entgegenzustellen. Es geht überhaupt nicht darum, was das Leben meint; weil es uns gehört, geht es nur darum, wie gut wir es damit meinen. Wie gut meinst du es mit deinem Leben? Verstehst du? Das Verzagen und die Angst begraben die Menschen lebendig und machen sie zu Opfern ihres eigenen Lebens. Beklage dich niemals über das, was das Leben dir gibt oder nimmt. Es ist nun mal so, das Leben wird immer geben und nehmen, und der Mensch wird es sich niemals aussuchen können. Finde dich damit ab, wie alles ist, und habe keine Angst davor, was dir gegeben oder genommen wird. Habe niemals Angst. Wenn du welche hast, dann sagst du dir selbst, dass du dich dem Leben nicht gewachsen fühlst. Aber ein jedes Wesen ist von Natur aus stark genug für diese Welt. Selbst diese Küken hier.“ Ophelia öffnete die Hände zu Flächen und ließ das befreite Küken langbeinig auf den Boden staksen. „Ich sag’s dir, fürchte auf keinen Fall deinen bescheuerten Vater, werde Seite 18 von 41 nicht sein Opfer, tritt ihm stattdessen gegenüber, egal wie angsteinflößend er sein mag, beschütze deine Geschwister mit dieser Wut. Und merke dir, deine Angst nährt seinen Wahnsinn.“ Seite 19 von 41 Ophelia redete einzig gerne zu Lara, weil es ihr war, als rede sie zu sich selber, so ähnlich war ihr ihre Enkelin. Sie sah sich selbst auf den Holzdielen sitzen und mit den Küken spielen. Dort ließ sie ihr jüngeres Ich verweilen, um sich um den Haushalt zu kümmern. Sie fegte und wischte, rieb und schrubbte, räumte und wischte, hackte und kochte, und wie sie dies tat, mit dieser Geschwindigkeit und diesem Elan, es war Lara, als mache sie alles gleichzeitig und als sei sie überall zur selben Zeit anwesend. Ihr geschäftiges Handeln verteilte sich in der ganzen Stube und füllte diese mit Ophelias gesamter und absoluter Anwesenheit an. Unbegreifliche Kräfte hatten sich freigesetzt, als die betagte Frau arbeitswütig über die kleine Küche herfiel. Der Schmerz blieb ihr, aber er konnte sie weder aufhalten noch bremsen. Sie kämpfte sich einfach durch ihn hindurch, so wie er sich durch sie kämpfte. Unbändig und unzähmbar. Lara bestaunte ihre Großmutter, wie sie um sie herum wirbelte und mal hier mal da war. Übermenschlich war ihre Aufbietung, dass sich das Mädchen nur vom Zusehen erschöpft fühlte und sich über eine zweite Brotzeit freute. „Mit echter Butter!“, schwärmte Lara. „Nicht diese ranzige Margarine.“ Lara vernahm gar nicht, dass es klopfte, so gierig aß Seite 20 von 41 sie in sich hinein. Eine altfaltige Frau kam etwas schwerfällig in die Stube herein. „Du bist spät“, warf ihr Ophelia scharf vor. „Ach ja, bin ich das?“, die Alte strich sich das Tuch vom Kopf und knüllte es in ihre Manteltasche. „Ja, bist du.“ „Ach Ophelia, wir hatten doch noch niemals eine genaue Zeit vereinbart. Ich komme nun schon seit genau zwanzig Jahren immer dann, wann es mir gerade passt.“ „Und deshalb kommst du auch schon seit genau zwanzig Jahren immer zu spät.“ „Und das sagst du mir seit zwanzig Jahren, und es hat noch nichts an meinem Erscheinen verändert.“ Der späte Gast nahm gleichmütig neben Ophelia Platz. „Ach Nora, du kannst mich mal!“, fluchte Ophelia in gewohnter Schroffheit. „Weil ich recht habe“, ein zartes Lächeln triumphierte im zerknitterten Gesicht der alten Dame. Seite 21 von 41 „Schwafle nicht. Trink’ einfach deinen scheißblöden Tee“, genervt schob Ophelia die Tasse näher an ihre Freundin heran. „Weißt du Lara, alte Bäume kann man nicht mehr umpflanzen. Die bewegen sich keine zehn Minuten weiter. Deshalb bin ich seit zwanzig Jahren zu spät“, sie klimperte den Teelöffel im Kreis der Tasse. „Ich weiß Nora, das sagt Großmutter ja selber immer“, Lara lächelte beschämt dabei, als sie dies sagte. „Weil es auch stimmt“, keifte Ophelia trotzig einem Kind gleich. „Weißt du, wenn man so jung ist wie du, ist man noch flexibel, aber irgendwann ist man festgefahren in seinen Gewohnheiten. So ist das nun mal.“ „Man weiß einfach irgendwann, was gut für einen ist und was eben nicht. Und es ist nicht gut für mich, wenn ich jeden Tag zehn Minuten auf dich warten muss.“ „Ach Ophelia. Und warum setzt du dich dann nicht einfach zehn Minuten später zu Tisch?“ „Weil ich alt bin und weiß, was das Beste für mich ist. Und zehn Uhr ist nun einmal die beste Zeit für mich, um meinen Tee Seite 22 von 41 einzunehmen, und nicht zehn Minuten nach zehn“, Ophelias Faust polterte gesetzgebend auf den Tisch. „Also schön, meine liebe Ophelia, dann komme ich schon morgen zehn Minuten früher.“ „Nein, das musst du gar nicht, du musst nur endlich einmal pünktlich kommen.“ „Ach, du änderst dich wohl nie mehr“, Nora besaß gar zu viel an der Gutmütigkeit, die Ophelia ganz zu fehlen schien. „Das Thema hatten wir schon“, Ophelias rümpfende Nase schob sich durch die Falten nach oben. „Freilich, liebe Freundin. Du bist, wie du bist, und es ist wunderbar, wie du bist. Lara, erzähl du uns doch etwas aus deinen jungen Tagen.“ „Aber ich höre doch euch so gerne zu, wenn ihr von früher erzählt. Ich stelle mir alles so viel schöner vor, als ihr jung gewesen seid.“ „Ach Kindchen, das war es auch. Früher war alles schöner“, Nora seufzte schwermütig vor Sehnsucht in ihre Tasse Tee. „Nichts war früher schöner, gar nichts. Nur anders war es. Schöner waren nur die Menschen, weil sie früher noch jünger waren. Du Seite 23 von 41 bist damals auch noch nicht so furchtbar hässlich gewesen, Nora“, Ophelia spuckte die Worte unachtsam und geradewegs ins verrunzelte Gesicht der empörten Freundin. „Ja, sag mal, Ophelia!“ Lara verkniff sich das unhöfliche Kichern, doch ihre dreiste Großmutter zwinkerte ihr ermutigend zu. „Ach Nora, jetzt sei doch einmal ehrlich zu dir selber. Du warst so ein schönes Mädchen, so schön. Und jetzt, sieh dich an. Ein Zustand ist das. Dir hängt das ganze Gesicht bis übers Kinn hinunter. Und sieh mich an. Meine Falten werfen schon Falten. So ist das Alter eben, eine faltige Angelegenheit. Als deine Gesichtszüge noch nicht so verunstaltet waren, da hast du was hergemacht. Und als ich noch nicht verschwunden war unter meinen Runzeln. Ja, früher waren wir schöner.“ „Du und deine direkte Art. Du bist schon immer viel zu ehrlich gewesen, hast nie gewusst, wann du dein Maul halten hättest sollen“, japste Nora leicht beleidigt. „Nein, das stimmt nicht, ich habe es immer gewusst. Ich wollte nur niemals den Mund halten, wenn es andere von mir erwartet haben.“ Seite 24 von 41 „Lara, deine Großmutter wollte nie irgendwelchen Erwartungen gerecht werden. Nicht umsonst ist sie in ihren alten Tagen noch unverheiratet. Die Leute haben sich immer das Maul zerrissen. Aber das hat sie nie gekümmert.“ „Nein, das hat es nie“, kommentierte Ophelia knapp. „Hast du zu ihm nein gesagt, weil man von dir ein Ja erwartet hätte?“, Nora zeigte mit zittrigem Finger aufs Feld, durch das sich der verjüngte Mann noch immer grub. „Nein, das habe ich nicht“, Ophelia sah ihn in der Mittagssonne, die ihn seit dem Morgenaufgang kein bisschen altern hatte lassen. „Warum hast du nicht ja gesagt?“, fragte Lara neugierig. „Weil ich nein gesagt habe“, antwortete sie forsch. Während Lara empfindsam zusammenzuckte, schmunzelte Nora unbeeindruckt, denn sie kannte Ophelia schon ein Leben lang: „Aber zwei Söhne hast du von ihm. Da konntest du wohl nicht nein sagen, du altes Luder. Du warst schon immer anders als die anderen. Alleinerziehende Mutter zweier lediger Kinder. Das Gespräch des Dorfes seit Jahrzehnten.“ Seite 25 von 41 „Mich interessiert aber nicht, was das Volk schwätzt. Wenn sie über andere als sich selbst sprechen und dabei nichts Gutes zu sagen haben, dann sind sie es nicht wert, das man sie anhört. Es taugt nichts, was diese Menschen sagen. Es taugt sowieso kaum etwas, was der Mensch zu sagen hat. Keiner von denen kennt sich selbst, aber sie meinen mich zu kennen“, Ophelias Stimme bebte aufgebracht und der Zorn ließ auch ihre knochigen Hände zittern. „Aber in einem haben sie recht, du wirst alleine sterben. Hättest du ihn lieber mal geheiratet, Ophelia. Was hat dir nicht gepasst an ihm?“ „Der Mensch stirbt lieber allein für sich, dann ist er näher bei Gott. Ein jeder Mensch ist alleine, wenn er zur Welt kommt und wenn er sie wieder verlässt, und dazwischen ist er auch allein. Denn in dir drinnen wird niemals jemand wissen, wie es aussieht, da bist du immer allein. Ich bin allein. Aber du bist es auch, Nora.“ „Du irrst dich, Ophelia. Mein Mann kennt eine jede meiner Gewohnheiten, er weiß, wann ich aufstehe und dass ich morgens gerne etwas heiße Milch in meinem Tee habe. Er weiß, dass ich immer zuerst die Erbsen mit der Gabel aus dem Reis an den Tellerrand rolle und dass ich keine Pflanzen mag, die an Stauden wachsen, Gott weiß warum. Wenn wir ausgehen, geht er stets an Seite 26 von 41 meiner rechten Seite und hält meine Hand, weil er weiß, dass ich rechts schon schwer gehe. Abends macht er dann den Fernseher lauter, weil er weiß, dass ich nicht mehr so gut höre, obwohl es für ihn dann eigentlich zu laut ist; und er macht mir eine Tasse heiße Milch und gibt zweieinhalb Teelöffeln Honig in die Tasse, weil er weiß, dass zwei Löffeln zu wenig, aber drei Löffeln zu süß für mich schmecken. Und bevor wir einschlafen, steht er auf, noch bevor ich etwas sagen kann, um das Licht zu löschen, weil er weiß, dass es meinen Blutdruck hochschnellen lassen würde, wenn ich noch einmal aus dem Bett steigen müsste und dann könnte ich nicht mehr schlafen. Er kennt mich noch besser als ich mich selbst kenne, er erkennt meine Schwächen, noch bevor sie mir bewusst sind, er weiß, was ich denke und was ich sagen will, er ist in mir drinnen. Mein Mann ist in meinem Herzen. Und ich weiß, dass ich in seinem bin. Mein Mann liebt mich, obwohl mir das Gesicht übers Kinn hängt. Wenn er stirbt, wird er nicht alleine sterben. Ich werde mit ihm sterben“, Nora hatte sich während ihrer gesamten Rede ans Herz gefasst. „Nun gut, anscheinend habe ich mich geirrt. Du abartiges Biest, du willst wohl, dass ich in meinen alten Tagen noch Reue zeige“, sie lachte grimmig, stand auf und sah noch einmal zu ihrem Liebsten hinab. „Nein, glaubt mir, ich bereue nichts in meinem Leben. Ich Seite 27 von 41 habe gelebt, so gut ich es eben konnte, und ich habe keine Entscheidung getroffen, die nicht aus meinem tiefsten Inneren gekommen wäre. Und wenn mich manchmal die Sehnsucht zu ihm zurücktreibt, dann ist das deswegen, weil jene dann auch ihn zu mir zurückbringt.“ „Aber wieso habt ihr dann niemals geheiratet?“, Nora empfand Ergriffenheit und Verwirrung in ihrem Herzen, als sie ihre gute Freundin nun so ansah, wie sie sich geöffnet hatte, berührend, aber auch befremdend. „Man darf der Verliebtheit nicht zu sehr nachgeben und man darf sie nicht vertiefen, denn sonst zerstört man sie.“ „Aber wenn die Verliebtheit kaputt geht, dann kommt die Liebe.“ „Ich war schon immer in ihn verliebt, aber nicht so sehr, dass ich ihn ertragen könnte. Nur die Liebe erträgt. Und er ist nicht der Mann, den ich lieben könnte“, als sie ihn vom Fenster aus beobachtete, wurden ihre Gesichtszüge hart und sie wandte sich fühllos ab. „Aber er könnte es werden.“ „Er kann nicht mehr der werden, der er einmal war.“ Seite 28 von 41 „Ach, das Alter verändert uns alle, Ophelia.“ „Ich spreche nicht vom Alter. Ich spreche im Übrigen überhaupt nicht mehr über ihn. Es reicht. Ich muss das Mittagessen fertig kochen. Schluss mit dem Unsinn“, Ophelia warf noch ein paar Holzscheite ins Feuer und rührte dann in ihren Töpfen. Eine Hand hielt sie aber wieder über ihrem Unterleib, um ihren Schmerz zu beruhigen. „Ach, die Zeit ist wie verflogen. Bei uns gibt es ja auch bald Essen. Meine Schwiegertochter kocht. Es gibt Erbsenreis“, angeekelt streckte Nora ihre Zunge aus dem zerknüllten Gesicht hervor und brachte Lara damit erneut zum Kichern. „Nun verzieh dich schon nachhause!“, Ophelia winkte ihr mit dem Kochlöffel hinterher, als Nora die Stube schwerbeinig verließ. „Ja ja, schon gut liebste Ophelia, ich liebe dich ja auch. Bis morgen!“, dann zog sie die Tür hinter sich zu. „Um Punkt zehn Uhr!“, plärrte sie durch das Türholz hindurch. „Es riecht immer so gut bei dir“, Lara wippte ungeduldig von einem Bein auf das andere, als sie ihrer Großmutter beim Kochen zusah. Seite 29 von 41 „Du isst doch mit, oder?“ Lara nickte. Ophelia legte Braten und Kraut auf die beiden Teller und stellte sie dann auf den Tisch. „Bist du denn nicht einsam?“, fragte Lara während des Essens. „Natürlich bin ich das.“ „Macht dich das nicht traurig?“, fragte Lara weiter und sah dabei ganz mitleidend aus. „Wieso sollte Einsamkeit etwas Trauriges sein? Nur Menschen, die sich selbst nicht kennen, sind einsam mit sich selber. Weil sie dann niemanden haben. Nur die, die nichts mit sich selber anzufangen wissen, leiden an der Einsamkeit. Und man muss Mut haben, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, um herauszufinden, was man mit sich anzufangen vermag. Verstehst du? Also iss’ jetzt weiter.“ Aber kaum krachte ein Bratenbissen zwischen Laras Zähnen, da klopfte es erneut an der Tür. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, raunte die Alte überreizt. Martha schob die Tür nur einen furchtsamen Spalt weit auf und lugte unsicher in die Stube: „Ich, ich wollte nur meine Tochter holen. Lara komm, wir essen bald zu Mittag.“ Seite 30 von 41 „Wie du siehst, isst Lara aber hier bei mir.“ „Na gut, dann soll es heute so sein“, Martha gab schnell auf. Sie schloss die Tür und ging. „Du magst Mama nicht besonders, oder?“, Lara sah ihre Großmutter weinerlich an. „Red’ keinen Unsinn. Iss’“, schnaubte Ophelia bestimmt. Seite 31 von 41 Nachdem sie gegessen hatten, arbeitete sich Ophelia einmal um das kleine Häuschen herum. Und sie tat dies mit derselben Besessenheit und aus derselben Urkraft, wie sie es in ihrer Stube getan hatte. Sie trug Kisten in den Schuppen, trug Brennholz an die Mauer, trug winteruntüchtiges Werkzeug in den Keller und sie trug den Schmerz in ihrem Leib. Sie ertrug die zerreißenden Unterleibskrämpfe mit jeder Last, die es zu überwinden galt. Ja, sie tat es, wie sie es immer tat, sie trug und sie ertrug. Sie trieb den Spaten durch den Garten. Sie trieb die Axt durchs Holz. Sie trieb den Schmerz durch ihren Leib. Ophelia hatte sich in den vielen selbstversorgenden Jahren beigebracht, allem Unheilvollen eine Gestalt zu verleihen. So war es ihr möglich, sich Emotionalem zu stellen. Es war schwierig, sich etwas zu stellen, das man sich noch nicht einmal vorstellen konnte. Ophelia war keine Frau, die verdrängte oder davonlief. Sie stellte sich allem, was sich ihr in den Weg stellte. Und dies gelang ihr eben, indem sie sich emotionale Gestalten ansah, sie musste nur hinsehen, dann sah sie den Tod schattenhaft ummantelt, sah die Einsamkeit und den Schmerz. Nur die Angst war ihr völlig fremd, sie hatte sie vor langer Zeit vertrieben. Die Einsamkeit war eine alte Dame, vom selben Aussehen wie sie, sie konnte Schach mit ihr spielen oder ihr Seite 32 von 41 aus einem Buch vorlesen. Und dann war da noch der Schmerz im samtblutroten Mantel, mit Krallen wie die eines Raubtieres, widerspenstig wie Sägemesser. Aber Ophelia hatte keine Angst. Wer den Schmerz ertragen wollte, durfte ihn nicht fürchten. Und sie hatte gelernt alles zu ertragen, besonders jenes, das sie nicht zu verändern mochte. Die Welt und das Leben, alles war, wie es war, und sie empfand es als selbstquälend, sich immer wieder davon enttäuschen und empören zu lassen. Alles war, wie es war, und es war wunderbar, schön und wunderbar grausam. So wie der Schmerz einfach da war. Er drängte seine Hand in ihren Schoß und ergriff, was er fassen konnte, manchmal stach er in ihre somatische Weiblichkeit, manchmal schloss er seine Faust darum und zerrte daran, als wollte er sie ihr entreißen. Tag für Tag und Nacht für Nacht wütete er in ihr, er hatte bereits zu viel in ihr verletzt, hatte immer wieder Zerstörung und Verwüstung hinterlassen. Und jedes Mal, wenn der Schmerz wütete, ließ er auch Wut zurück, die ihr zu ertragen half. Aber schon bald würde er auch den Tod in ihr zurücklassen, das fühlte sie bestimmt. Sie griff oft an ihren Unterleib, hielt die Hand des Schmerzes fest, sie wärmend, damit sie Ruhe gab, wie in diesem schmerzstillen Moment. Sie stand nur da, die Axt hing schwer in der einen Hand, die andere Hand streichelte den Schmerz und auf ihr welkes Gesicht schien die Seite 33 von 41 Sonne. Von Angesicht zu Angesicht. Wie wunderbar dieser Tag war. Und es war ihr, als begreife sie einmal mehr das Leben, sie spürte es in sich, wie wunderbar schön es war, wie wunderbar grausam. Sie gab die marternde Hand wieder frei, jagte die Axt ein letztes Mal ins Holz und den Schmerz in den Leib. Lara hatte auf der besonnten Treppe gesessen und ihre Großmutter beobachtet, wie sie mit dem Beil Luft und Scheite entzweit hatte. Nun setzte sich Ophelia an ihre Seite, schweigsam schwelgend. Dem Novembergrau war ein Sommertag entsprungen, farbgewaltig und seelenwärmend. Morgens hatte sich der späte Sommer tauwarm über das entschlafene Novemberland gelegt und es ein finales Mal in diesem Jahr wiederbelebt. Nach den ersten erloschenen Tagen schimmerte nun das Lebendige lichtwarm auf Ophelias verfallende Haut. Durchdringendes Sonnenlicht sickerte bis in ihr innerstes Sein, schmolz die Glieder aus der Eisstarre und brannte den Schmerz aus den Gelenken. Es floss durch sie hindurch und schlug euphorische Wellen in ihrem Gemüt. Sie brannte lichterloh. Seite 34 von 41 Und wie sie da so saßen und die letzten Sommerstrahlen genossen, da legte Lara ihre Hand auf Ophelias Schoß, da, wo der Schmerz war, ohne ihn selber zu spüren, und er wurde erneut ruhig, als er nun von ihr festgehalten wurde. Obgleich Lara nichts von seiner Anwesenheit wahrnahm, als eine kindliche Ahnung, fragte sie eingebend nach dem Sterben. „Großmutter, hast du denn eigentlich Angst vor dem Tod?“ „Hast du denn Angst vor ihm?“ „Ja, etwas fürchte ich mich schon.“ „Du solltest den Tod nicht fürchten, er fürchtet dich auch nicht.“ „Es ist wahrscheinlich nur, weil er mir so fremd ist und ich fürchte mich ja so vor Fremden. Ich weiß doch so wenig über ihn.“ „Die meisten Menschen fürchten sich vor dem Tod. Erinnerst du dich an die letzten Tage? Sie sind heute ebenso schwer vorstellbar wie der heutige Tag es gestern noch gewesen ist. Es war kalt geworden. Die Kälte war bis in die Knochen gekrochen und die Novembernebel haben das Land verdunkelt. Wenn es langsam Winter wird, beginnt sich der Mensch zu fürchten, vor der Kälte Seite 35 von 41 und der Dunkelheit. Und dann, ganz unerwartet, wie Schnee im Juni, reißt ein später Sommertag das Nebelgrab auf und die Sonne wärmt das schmerzende Gebein und die frierende Seele. Sterben ist, wie wenn die Nebel alles in ihr eisiges Schweigen hüllen, und wenn die Sonne dieses Schweigen bricht, dann bleibt die Stille, aber sie verwandelt sich in Staunen, denn niemand hat noch an wärmendes Licht geglaubt. Ich glaube, der Tod ist so ein später Sommertag, der uns aus der Kälte und der Dunkelheit befreit, der uns ausgräbt aus dem Nebel und uns staunen lässt. So ein Tag wie heute.“ Im schwindenden Abendlicht verglomm schwerrot eine sehnliche Schwermut auf Ophelias vergehendem Angesicht. Lara beobachtete ihre Großmutter, mit kindlicher Bewunderung und jener staunender Faszination, von der Ophelia eben gesprochen hatte. Sie studierte ihren Ausdruck und sie erkannte den Wunsch nach diesem endgültigen Spätsommertag, der ewig verweilen wollte, doch begriff sie ihn nicht. Und sie nahm wahr, wie sich Ophelias Wangenhaut verknitterte, sich verzerrte und vergrub, in jenem Moment, als Lara ihre Hand wieder an sich nahm und den Schmerz freigab. Seite 36 von 41 Martha fand Lara und Ophelia im Untergang der Sonne, rotverkleidet vom Abenddämmerlicht. Sie war gekommen, um ihre Tochter zu holen, und diesmal wollte sie Stärke bewahren und nicht wieder ohne sie heimkehren. „Lara, komm jetzt, es ist Zeit zu gehen. Vater hat nach dir gefragt.“ Angewidert ahnde Ophelia ihre Schwiegertochter mit Herabwürdigung: „Ach, spricht dein Gott wieder zu seiner Dienerin? Du und deine abgöttische Liebe zu diesem Unmenschen. Kriechst vor ihm wie eine Sklavin. Was bist du deiner Tochter für ein Vorbild? Was lebst du ihr bloß vor?“ „Hör auf vor meiner Tochter so mit mir zu sprechen, Ophelia. Was für ein Recht hast du überhaupt, mich zu verurteilen? Wie du auf die Menschen herabsiehst, mit welcher Verachtung! Du hast es doch selbst nicht ausgehalten bei deinem Mann. Wieso hältst du es mir dann vor, dass ich es auch nicht schaffe? Wieso verabscheust du mich so? Was macht dich so erhaben und übermenschlich? So viel besser als mich. Hast du dich niemals schwach gefühlt? Fühlst du überhaupt irgendetwas?“ Seite 37 von 41 „Denkst du, ich habe niemals gelitten?“, Ophelia biss sich verbittert auf die Lippen, und verbarg in trauernder Verneigung einen alten Schmerz, der ihr Gesicht zerfraß, ein anderes Gefühl von Schmerz. „Die Leute haben darüber geredet, dass er tot sei. Noch nie habe ich dem Reden der Leute geglaubt, aber in diesen kalten Tagen im Sommer habe ich zu zweifeln begonnen. Tag für Tag habe ich auf der Wiese dort drüben gesessen und auf ihn gewartet. Der späte Löwenzahn hatte sich wie ein weißer Teppich darüber ausgebreitet, und als der Wind über ihn hinwegfegte, ließ er es schneien im Juni. Und alles ist mir wie ein Wunder vorgekommen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er damals ausgesehen hat, als er heimgekehrt ist, wie er durch den Junischnee geschritten kam, und ich erinnere mich, dass ich damals für einen Moment gewusst habe, er war zu mir zurückgekehrt. Dieser eine Moment war so klar und sicher gewesen, so unbezweifelbar und unzerbrechlich. Ich trage ihn noch heute in meinem Herzen, wie eine Hoffnung, die erst mit dem Menschen stirbt der sie trägt. Aber viele sind damals nicht wieder als die zurückgekommen, als die sie fortgezogen waren. Als du meinem Sohn dein Wort gegeben hast, hast du dich für jemanden entschieden, den du kanntest. Ich konnte das nicht, weil ich ihn nicht wiedererkannt hatte. Die Leute hatten doch Recht behalten. Wochenlang bin ich nicht aus dem Bett Seite 38 von 41 gekommen, ich habe mich so schwach gefühlt, habe nur geweint. Ich war so traurig und wütend, traurig über seinen Verlust und wütend auf die ganze Welt, und irgendwann war ich nur noch wütend und die Wut machte mich stark, um wieder aufzustehen. Du kannst dir aussuchen, ob du ein Opfer bist oder eine Kämpferin, ob du aufgibst und dich bemitleidest, oder ob du mutig bist und kämpfst, für dein Leben, weil es dir gehört. Wann wirst du aufstehen? Wie lange willst du dich noch von mir retten lassen, Martha?“ „Es tut mir leid, ich denke, ich verstehe dich jetzt, Ophelia.“ Martha legte beschämt ihre Hand auf den offenen Mund. „Nein, du verstehst gar nichts! Ich verabscheue dich. Ich verabscheue dich, weil ich dich nicht kämpfen sehe. Ich verabscheue dich, weil du liegen bleibst. Ich verabscheue dich, weil du Angst hast. Ich verabscheue dich deshalb, weil du ein Opfer bist. Wohin wirst du gehen, um Hilfe zu holen, wenn ich nicht mehr da bin?“ Martha nahm die Abscheu wortlos hin, wie sie es gewohnt war. „Ich werde auf sie aufpassen.“ Lara war aufgesprungen und ihrer Mutter zu Hilfe geeilt. Seite 39 von 41 „Das weiß ich.“ Ophelia zwinkerte ihr vertrauensvoll zu, dann erhob sie sich schwerfällig und die Treppe gab knirschend unter ihr nach. „Aber was soll ich nur gegen ihn machen?“, fragte Martha hilflos. „Eben das, was ich mache. Er hat nur so viel Macht, wie du ihm gibst. Und du gibst ihm alle Macht über dich. Beweise Stärke.“ „Ich werde es versuchen.“ „Nein, versuche es nicht. Versuchen ist so ein schwaches Wort, es sagt voraus, dass du aufgeben wirst. Ein Versuch ist nicht mehr, als ein Ansatz einer Tat, vorbestimmt zu scheitern. Er macht dich zaghaft und zögernd. Mach es einfach. Stell dich deiner Angst.“ „Großmutter, ich habe keine Angst.“ „Ich weiß, Lara. Ihr beide braucht mich nicht, um stark zu sein. Geht jetzt und lasst mich“, danach wandte sie sich ab und das Knirschen trug ihre trägen Füße ins Haus. Seite 40 von 41 Ophelia stand am Wegrand, umschleiert von karminrotem Tuch und spähte wieder unscharf in die Ferne, in der er noch jung und anfänglich war. Die Sommersonne war bereits hinter den schwarzen Novemberhügeln erloschen und das Feld lag dunkel in deren Schatten. Er hatte die Erde bearbeitet, um sie für den anstehenden Winter vorzubereiten. Als er nun auf sie zukam, da sah er aus wie damals und sie spürte für diesen einen unbeirrbaren Moment ihres Lebens, dass er zu ihr zurückgekommen war, und in der aufziehenden Nähe erkannte sie fürwahr, dass er wieder bei ihr war. An manchem Tag gab ihn die Vergangenheit frei. An guten Tagen. An späten Sommertagen oder an verschneiten Junitagen. Kam er zu ihr zurück. An jenen Tagen konnte sie ihm seine Wiederkehr ansehen, dann wurde sie selbst, in ihrer unzerbrechlichen Klarheit, wieder das wartende Mädchen auf der Löwenzahnwiese, wunderbargewiss und wunderglaubend. Und was hatte sich in all den Jahren auch geändert? Da stand noch immer der Junge vor seinem Mädchen und reichte ihm seine Hand, und das Mädchen hielt sie so fest, dass er niemals wieder fortziehen könne. Seite 41 von 41 Ophelia lag lange wach und fühlte den wütenden Schmerz in ihrem Leib, der reißender als je in ihr tobte. Selbst die wärmenden, ruhenden Hände vermochten den Schmerzsturm nicht zu stillen und sie fühlte, welches Unheil er mit sich brachte. Aber sie blieb geduldig mit ihm liegen und ertrug ihn, bis der Schlaf ihn verdeckte. Als sie am Ende dieser Nacht erneut vom Knirschen der Schritte geweckt wurde, wusste sie bereits, wer gekommen war, um sie zu holen, und sie fühlte sich bereit dafür. Und Ophelia hatte keine Angst.