Seite von 41 furchtlos Und deine Angst nährt den Wahnsinn bis er

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furchtlos
Und deine Angst nährt den Wahnsinn
bis er dich und dein Innerstes zerfrisst
und du sitzt da ganz allein
mit der Leere in dir
weißt du nicht mehr wer du bist
und du fragst nach deinem Sein
und du fragst nach deinem Sinn
Carmen Rebecca
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Ein später Sommertag
von Carmen Rebecca
Ophelia wurde an jenem späten Tag des Jahres 1968
ungewohnt früh geweckt. Sie wurde wach, als das Knirschen die
letzten Stufen der Holztreppe emporstieg. Ophelia lauschte der
Dunkelheit, gefasst und erwartend. Jenes jammervolle und wehe
Knirschen alter Holzdielen, breitete sich in der Wohnküche aus,
verteilte sich um den Herdofen herum und schlich sich immer
näher an sie heran. Als das hölzerne Seufzen der aufwehenden Tür
in die Schlafkammer hauchte, hielt Ophelia angespannt den Atem
an. Sie bewegte sich nicht, während die knirschenden Schritte auf
sie zukamen. Sie waren weder bedrohlich schwer noch
überwältigend eindringlich noch waren sie in irgendeiner Weise
aufdringlich. Sie waren vielmehr schüchtern und scheu, und
manchmal wichen sie erst vor Demut zurück, bevor sie sich weiter
vorwagten. Auf zwei Schritte vorwärts folgte ein halber zögernder
rückwärts, als näherte sich ihr ein Tanz. Sie empfand keine Furcht
vor den fremden Füßen der Finsternis in ihrem Schlafgemach,
überhaupt gab es nichts und niemanden auf der Welt, der Ophelia
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das Fürchten hätte lehren können. Sie war ohnehin schon zu alt,
wie sie meinte, um noch etwas Neues zu erlernen. Deshalb blieb
sie selbst dann noch ganz still und regungslos daliegend, als die
Dunkelheit nach ihr griff. Es war ihr, der Tod greife mit seiner
kalten, schwarzen Hand nach ihr, und der klammen Anziehung
bittersüß verfallend gab sie sich ihm sehnlich hin für diesen einen
kühlen zeitstarren Moment. Selbst das Sterben fürchtete sie nicht
mehr in ihren endlichen Tagen, es war ihr eine längst erlösende
Sehnsucht geworden.
„Ophelia, Ophelia, wach doch bitte auf!“
Die Stimme klang zart und zerbrochen, war scheu und demütig wie
ihre Schritte.
„Du dummes Ding! Du hast mich bereits geweckt, als du die
Treppe hochgeschlichen kamst“, keifte sie aus ihrem Bett hervor
und warf die Decke von ihrem Körper. Als sie sich mühevoll
aufraffte, zerrte die Schwerkraft des Schmerzes an ihrem alten
Gebein. Sie griff sich an den krampfenden Unterleib und schob die
Beine aus dem Bett.
„Es tut mir leid.“
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„Was denn!? Du wolltest mich doch wecken, oder etwa nicht?
Himmel, Arsch und Zwirn“, sie fluchte noch immer in die
Dunkelheit hinein. „Hat er wieder getrunken?“
Ophelia erahnte ein Nicken in der Finsternis. Sie kramte energisch
in ihrem Nachttischkästchen, solange bis sie eine Taschenlampe
ertastete. Mit einem Klicken sprang ein Lichtstrahl dem
Eindringling ins Gesicht.
„Lass dich ansehen.“
Der Lichtkegel tanzte in Kreisen auf dem verblendeten Angesicht.
Erschreckend weiß hielt es dem Schein stand, nur die Augen
verbargen sich vor dem grellen Schmerz. Ophelia sah sich das
bleich erleuchtete Frauengesicht im schwarzen Raum sehr genau
an, und obwohl sie Demütigungen und Verletzungen darauf
erkennen konnte, empfand sie weder Bestürztheit noch irgendein
verwandtes Gefühl von Mitleid.
„Er, er hat ein Messer. Und die Kinder, die Kinder sind bei ihm“,
stotterte die Frau im Schein.
„Ach Kindchen, du weißt doch, dass er damit nichts anzufangen
weiß. Er ist ein …“
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Eine mannhaft schwere Stimme wütete in der dunklen Morgenluft
wie ein tosender Sturm:
„Martha! Wo steckst du?! Du verdammtes Miststück! Ich bring’
dich um, wenn du nicht zurückkommst! Hörst du? “
Ophelia schnaubte erbost. Sie stieg, mit murmelndem und
fluchendem Schmerz, aus dem Bett. Der Lichtstrahl kämpfe sich
durch das Schwarz von der einen Ecke zur anderen, blitzte hoch
zur Decke und dann wieder auf den Fußboden, während Ophelia
mit der freien Hand den Mantel ergriff und ihn sich überzog. Dann
stampfte sie über den knarrenden Holzboden nach draußen.
„Na los, komm schon!“
Und die zaghaften Schritte folgten ihr.
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Der Lichtstrahl kroch knirschend über die Außentreppe in
den Hof hinab, über knisternd weiße Kieselsteine hinweg und hielt
vor grobem Schuhwerk. Ophelia leuchtete nun dem Mann ins
angetrunkene Gesicht, es verzog sich gar grausam zu einer
diabolischen Fratze, furchteinflößend und hässlich. In seinen
Augen trieb der entbrannte Wahnsinn, schwappte wie entzündeter
Treibstoff darin. Und es fletschten seine Zähne wie die einer
wildgewordenen Bestie. Drohend richtete der Betrunkene das
Küchenmesser gegen Martha, die ihre Angst hinter Ophelia
verbarg.
„Martha! Komm hervor aus deinem Versteck, du Miststück!
Komm zu mir zurück!“
Ophelia aber stellte sich dem Ungetüm entgegen und tat sich vor
ihm auf wie eine Bärin, dass sie an Größe über ihn hinweg wuchs,
und brüllte einschüchternd auf ihn herab:
„Was ist nur los mit dir?! Sag, schämst du dich nicht? Was bist du
für ein Ehemann und Vater geworden? So habe ich dich nicht
erzogen. Ich habe dir beigebracht, wie man seine Familie
beschützt. Jetzt muss ich meine vor dir beschützen. Welch eine
Schmach für mich! Geh mir aus den Augen, Sohn. Und lass das
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Messer fallen, du elendiger Hitzkopf! Du könntest es sowieso nie
gegen jemanden wenden.“
Das Messer fiel zu Boden. Die Fratze wich aus dem Gesicht wie
ein vertriebener Dämon und das Angesicht wurde blass wie das
seiner Frau, demütig und scheu.
„Du wolltest doch nur gefürchtet werden, du Narr. Aber wer wahre
Stärke hat, der muss niemanden das Fürchten lehren. Weil er selbst
ohne Angst ist und niemanden durch Einschüchterung fernhalten
muss. Du hast nichts von meiner Kraft. Du bist schwach wie die
meisten Menschen, die sich selber fürchten. Verschwinde und
schlafe deinen Rausch aus, du verdammter Dreckskerl! Schande
über dich, deine Familie so zu behandeln. Nun geh schon!“
Als sich Martha schüchtern bei ihr bedankte, strafte Ophelia aber
auch sie mit verachtendem Blick. Sie sah den beiden gebrochenen
Gestalten nach, wie sie in die Dunkelheit eintraten und sich jene
hinter ihnen wieder verschloss. Noch eine Weile starrte sie ins
verschlingende
Schwarz
und
Novembermorgenstunden hinein.
horchte
in
die
Stille
der
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Ophelia stand mit dem Rücken zum Herdofen, in dem Hitze
krachend
Holz
aufbrach.
Verglimmende
Holzscheite
und
aufbackendes Brot, olfaktorische Wärme breitete sich wohlig in
der kleinen Wohnküche aus. Auf der Platte spuckte und zischte ein
kleiner Wasserkocher heißen Dampf aus, während er lebhaft vor
sich hin pfiff. Und aus der Schachtel neben dem Ofen war ein
dünnes, schlafmurmelndes Fiepen zu vernehmen, zarte, pfeifende
Seufzer
von
versteckten
Geschöpfen.
Ophelia
stand
am
Küchenfenster, die knorpeligen, dünnhäutigen Hände ruhten auf
ihrem Leib, um den Schmerz darin zu wärmen. Sie sah nach
draußen, beobachtete, wie die Morgenröte den Nachthimmel
sprengte und wie die Bauern aus ihren Häusern krochen und sich
durch die Felder gruben. Und mit ihnen kroch das frühe
Sonnenlicht übers Land, streckte sich purpurn, aber noch wässrig,
über das Ackerschwarz hinweg. In diesem sommerlichen
Morgenlicht beachtete sie vor allem einen der Bauern. Er sah noch
gut aus für sein Alter, etwas geschunden von harter Arbeit und
Zeit, aber da war noch immer etwas an ihm, das ihn ansehnlich
machte. Vielleicht war es etwas, das in ihm drinnen war, ein
Lebensfunke, sie konnte es sich nicht so genau erklären, aber nach
all den Jahren empfand sie noch immer etwas, wenn sie ihn ansah;
wenn sie auch nie zu definieren vermochte, was dies gewesen sein
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mochte. Von Weitem konnte man seine flatterige Haut an den
Armen nicht sehen und auch nicht das zerfurchte Gesicht, und
daher war es ihr nun, da sie so dastand und ihn beobachtete, als
wäre er wieder dieser junge Knabe, der er einst gewesen war. Ja,
aus dieser Entfernung verschwommen die Details des Alters, sie
waren unscharf geworden und sie machten aus einem in die Jahre
gekommen Mann einen munteren Jüngling. Sie nahm die Hände
vom Bauch weg und legte sie sich auf die welken Wangen, um sie
glattzustreichen und ihr ursprüngliches Angesicht zum Vorschein
zu bringen. Wie die Handflächen nun so ihr Gesicht wärmten, da
schloss sie für einen Moment die Augen, und sie spürte durch die
dünngewordene Haut hindurch, wie sie damals ausgesehen hatte.
Schön war sie gewesen, so schön. Die junge Ophelia tanzte
ausgelassen im Geiste, und die alte seufzte bezähmt. Sie öffnete die
wulstigen,
hautfaltigen
Augenlider
und
sah
erneut
den
junggewordenen Mann auf dem Feld, wie er den Sparten in die
feste Erde trieb und sie umgrub. Wie schön er war, so schön. Jetzt
klang sie in Gedanken schon wie die anderen alten Menschen, die
nur davon reden konnten, wie viel schöner damals alles gewesen
war, und sie tadelte sich dafür. Was stand sie auch da und
schmachtete ihre Jugendliebe an? Nach dieser Nacht, die doch
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Bestätigung genug dafür gewesen war, dass sie sich richtig
entschieden hatte, für ein Leben mit sich selbst.
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Es klopfte leise, aber bestimmt. Kinderfäustchen. Ophelia
erkannte sie sofort. Lara war von der Treppe lautlos nach oben
getragen worden. Die alte Dame öffnete dem kleinen Mädchen die
Tür, und als es eintrat, wurde es sogleich von der Ofenwärme
eingefangen, umarmt von Geborgenheit. Lara sog die Wärme
durch ihre zarten Nasenflügel empor. Sie berauschte sich
euphorisch am rauchigen Duft des Brotes.
„Du kommst zur rechten Zeit.“ Ophelia klang stets belanglos und
gleichgültig. Äußerte sich beiläufig und nebensächlich. Als wäre
die Sprache an sich etwas Überflüssiges und alles Gesagte der Welt
in seiner Sinnhaftigkeit unwesentlich, so sehr war sie gelangweilt
von der Trivialität der menschlichen Aussage selbst. Manchmal
überschlug sich ihr Desinteresse, schlug um in garstige Gereiztheit,
dann äußerte sie sich unverhohlen in ihrer Schroffheit und all das
Gezeter und Gekeife aus ihrem dürren Mund diente der
Vertreibung
und
Abschreckung
von
langweilenden
Gesprächspartnern. Genervt von jedem sozialen Austausch
reagierte Ophelia abweisend, denn sie bevorzugte vor allem ihre
eigene ungestörte Anwesenheit und den inneren Dialog mit sich
selbst, um sich gänzlich mit sich selber auseinandersetzen zu
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können. Sie wollte nicht unerkannt sterben, unerkannt von ihr
selbst. Wenn sie nie jemand gewesen war, dann hatte es sie
niemals wirklich gegeben. Zu viele Menschen waren um sie
herum, und waren gar nicht da.
Lara hockte auf der Eckbank, sie liebte diese Nestwärme in
Großmutters Stube. Es war ihr, als sei die Welt hier ganz und gar
heil und sie sei über alles hinaus beschützt. Ophelia hielt den
dampfenden Brotlaib auf ihren eigenen Leib gepresst und
verdeckte wieder den Schmerz, dann nahm sie ein Messer und
teilte das Brot in zwei Hälften. Erst danach schnitt sie aus der Mitte
eine große atmende Scheibe für Lara heraus.
„Hier, damit du ein ordentliches Stück Brot bekommst.“
Laras Augen schimmerten vor Bezauberung, als sei Weihnachten,
gerade in diesem Moment, und sie hielte ihr Geschenk in Händen.
Und dann versank ihr kleiner Mund melodisch im lockeren,
wolkenhaften Brotteig. Es gab nichts Fabelhafteres, das sich Lara
vorstellen konnte, als wenn Großmutter gebacken hatte und ihr
davon abgab.
„Und, hast du noch gut geschlafen nach dem Vorfall?“, fragte
Ophelia. Sie war wohl besorgt, aber sie klang so hart und beiläufig
dabei. Lara nickte kauend.
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„Na dann ist’s ja gut. Los, iss’ schneller, Kind. Die Kleinen haben
Hunger. Hörst du sie rufen?“
Nun konnte Lara das Fiepen hören, das ihr entgangen war. Schnell
stopfte sie die letzten Bissen in die ausgebeulten Wangen und
sprang auf den Boden hinab. Gleich neben dem Ofen stand jene
seufzende Schachtel. Ophelia fischte ein gelbes Knäuel heraus und
setzte das ungeschickte Ding auf die Holzdielen. Ein piepsendes
Etwas nach dem anderen hob sie vorsichtig aus dem Karton und
setzte es zu dem ersten. Schnell drängten sich die Küken enger
aneinander, und dort hockten sie dann, ein flauschiger, gelber
Haufen, wie ein dichter Strauß von Löwenzahn. Ophelia streichelte
zärtlich über das winzige, zittrige Federvieh und murmelte dabei
ein sanftes Lied. Kaum einer traute dieser unbewegten Dame so
viel Empfindsamkeit zu, man konnte sie ihr nirgends ablesen, in
ihrem Gesicht war Strenge, in ihren Worten Kälte und auch in
ihren Gesten und Handlungen war wenig sichtbare Güte. Sie war
nicht von schlechter Natur, sie schien nur ein wenig entmenscht in
ihrer gefühlsarmen Art. All die überkompensierte Stärke in ihr ließ
keine Weichheit zu, keine Schwäche wie Mitgefühl oder Bedauern.
Es ekelte ihr sogar ein wenig davor, wenn Menschen zu sehr
menschlich waren, wenn sie zu weinerlich waren oder andersrum
zu gehässig, kurzum, wenn sie zu schwach waren.
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„Sie sind erst gestern geschlüpft. Sie wissen noch gar nichts von
dieser Welt, nicht einmal, wie man frisst und trinkt. Wir müssen
ihnen alles zeigen.“
Die alte Hand streute etwas gemahlenen Mais vor die kleine
Löwenzahnherde, dann klopfte der Zeigefinger pickend auf dem
Maisschrot herum und bald wippten alle gelben Köpfchen zu
Boden. Lara klatschte ganz entzückt die Hände aneinander:
„Sieh nur wie schnell sie lernen! Oh, das ist ganz großartig! Wie
süß sie sind! Und wie trinken sie nun?“
Das war der schwierigere Teil an der Sache. Ophelia bereitete
dafür eine flache Schüssel mit Wasser.
„Erst tippst du mit deinem Zeigefinger auf ihr Hinterköpfchen und
dann tunkst du sie ganz vorsichtig ins Wasser ein, nur das
Schnäbelchen. So, siehst du?“
Das Mädchen tat wie ihr geheißen und stupste eines nach dem
anderen zum Wasser hin. Manch ein Küken brauchte etwas mehr
Zeit als das andere, bis es zu schlucken verstand. Schon bald
fühlten sich alle wohlgenährt, und sie piepsten ganz laut und
streckten ihre dürren Beinchen durch, und sie flatterten mit ihren
quietschgelben Stummelflügeln.
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„Siehst du, jetzt sind sie gestärkt und kräftig“, brummte Ophelia
zufrieden.
„Das sind doch so winzige, kleine Wesen, sie sehen ganz
zerbrechlich aus.“
„Lara, du bist weder die Größte noch du die Älteste deiner
Geschwister, aber du bist die Mutigste von allen.“
Ophelia nahm das zarteste und kleinste Küken und versteckte es in
ihren bauchigen Händen, wo es wegen der Wärme sogleich
schläfrig wurde und die Augenlider fallen ließ.
„Hat er euch etwas getan?“, Ophelia beobachtete die Reaktion des
Mädchens forsch.
„Nein, aber wir wissen nie, wann er es doch tun wird.“
„Hattest du Angst heute Morgen?“
„Nein, ich habe schon lange keine Angst mehr. Ich bin nur noch
wütend. Wütend auf Papa, weil er uns etwas tun könnte. Wütend
auf Mama, weil sie nichts tut. Und wütend auf mich, weil ich
nichts tun kann“, auch jetzt glänzte die Wut zerbrechlich gläsern in
ihren Augen.
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„Wut ist gut, sie beschützt dich. Die Angst liefert dich aus. Die
Angst macht aus Menschen Opfer. Martha hat euch also nicht
beschützt?“
„Nein, sie fürchtet sich vor ihm.“
„Für sie ist er ein Gott. Sie betet ihn an und sie fürchtet ihn
zugleich.“
Lara beobachtete das Gesicht ihrer Großmutter, wie es sich
verformte im Ekel. Aber sie schwieg.
„Lara, Eltern sind eigentlich anders als du sie kennst. Sie sind da,
um euch Kinder zu beschützen vor allem Bösen und aller Gewalt
in dieser Welt“, Ophelia schloss die Hände um das Küken, dass es
ganz sicher und verschlossen darin ward. „Sie sollten euch diese
Dinge nicht nachhause in eure heile Welt bringen, sie sollten sie
abwehren.“
Lara streichelte nun über die alte Hand, in der das kauernde Wesen
verborgen war, und fühlte sich bei ihrer Großmutter ebenso
aufgehoben.
„Manchmal, wenn er so betrunken nachhause kommt und uns alle
bedroht, möchte ich ihn die Kellertreppe hinunterstoßen, und dann
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wünsche ich mir, dass er sich das Genick breche“, flüsterte Lara
dunkel.
„Du hast meine Stärke, Kind. Du scheinst ganz nach mir zu
kommen. Du bist viel stärker als dein dummer Vater. Bewahre dir
diese Wut. Solange du sie hast, macht sie dich stark. Die Menschen
jammern viel zu schnell darüber, dass das Leben es nicht gut mit
ihnen meine, sie geben zu schnell auf, haben zu viel Angst, sich
dem entgegenzustellen. Es geht überhaupt nicht darum, was das
Leben meint; weil es uns gehört, geht es nur darum, wie gut wir es
damit meinen. Wie gut meinst du es mit deinem Leben? Verstehst
du? Das Verzagen und die Angst begraben die Menschen lebendig
und machen sie zu Opfern ihres eigenen Lebens. Beklage dich
niemals über das, was das Leben dir gibt oder nimmt. Es ist nun
mal so, das Leben wird immer geben und nehmen, und der Mensch
wird es sich niemals aussuchen können. Finde dich damit ab, wie
alles ist, und habe keine Angst davor, was dir gegeben oder
genommen wird. Habe niemals Angst. Wenn du welche hast, dann
sagst du dir selbst, dass du dich dem Leben nicht gewachsen fühlst.
Aber ein jedes Wesen ist von Natur aus stark genug für diese Welt.
Selbst diese Küken hier.“ Ophelia öffnete die Hände zu Flächen
und ließ das befreite Küken langbeinig auf den Boden staksen. „Ich
sag’s dir, fürchte auf keinen Fall deinen bescheuerten Vater, werde
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nicht sein Opfer, tritt ihm stattdessen gegenüber, egal wie
angsteinflößend er sein mag, beschütze deine Geschwister mit
dieser Wut. Und merke dir, deine Angst nährt seinen Wahnsinn.“
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Ophelia redete einzig gerne zu Lara, weil es ihr war, als
rede sie zu sich selber, so ähnlich war ihr ihre Enkelin. Sie sah sich
selbst auf den Holzdielen sitzen und mit den Küken spielen. Dort
ließ sie ihr jüngeres Ich verweilen, um sich um den Haushalt zu
kümmern. Sie fegte und wischte, rieb und schrubbte, räumte und
wischte, hackte und kochte, und wie sie dies tat, mit dieser
Geschwindigkeit und diesem Elan, es war Lara, als mache sie alles
gleichzeitig und als sei sie überall zur selben Zeit anwesend. Ihr
geschäftiges Handeln verteilte sich in der ganzen Stube und füllte
diese mit Ophelias gesamter und absoluter Anwesenheit an.
Unbegreifliche Kräfte hatten sich freigesetzt, als die betagte Frau
arbeitswütig über die kleine Küche herfiel. Der Schmerz blieb ihr,
aber er konnte sie weder aufhalten noch bremsen. Sie kämpfte sich
einfach durch ihn hindurch, so wie er sich durch sie kämpfte.
Unbändig und unzähmbar. Lara bestaunte ihre Großmutter, wie sie
um sie herum wirbelte und mal hier mal da war. Übermenschlich
war ihre Aufbietung, dass sich das Mädchen nur vom Zusehen
erschöpft fühlte und sich über eine zweite Brotzeit freute.
„Mit echter Butter!“, schwärmte Lara. „Nicht diese ranzige
Margarine.“ Lara vernahm gar nicht, dass es klopfte, so gierig aß
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sie in sich hinein. Eine altfaltige Frau kam etwas schwerfällig in
die Stube herein.
„Du bist spät“, warf ihr Ophelia scharf vor.
„Ach ja, bin ich das?“, die Alte strich sich das Tuch vom Kopf und
knüllte es in ihre Manteltasche.
„Ja, bist du.“
„Ach Ophelia, wir hatten doch noch niemals eine genaue Zeit
vereinbart. Ich komme nun schon seit genau zwanzig Jahren immer
dann, wann es mir gerade passt.“
„Und deshalb kommst du auch schon seit genau zwanzig Jahren
immer zu spät.“
„Und das sagst du mir seit zwanzig Jahren, und es hat noch nichts
an meinem Erscheinen verändert.“ Der späte Gast nahm
gleichmütig neben Ophelia Platz.
„Ach Nora, du kannst mich mal!“, fluchte Ophelia in gewohnter
Schroffheit.
„Weil ich recht habe“, ein zartes Lächeln triumphierte im
zerknitterten Gesicht der alten Dame.
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„Schwafle nicht. Trink’ einfach deinen scheißblöden Tee“, genervt
schob Ophelia die Tasse näher an ihre Freundin heran.
„Weißt du Lara, alte Bäume kann man nicht mehr umpflanzen. Die
bewegen sich keine zehn Minuten weiter. Deshalb bin ich seit
zwanzig Jahren zu spät“, sie klimperte den Teelöffel im Kreis der
Tasse.
„Ich weiß Nora, das sagt Großmutter ja selber immer“, Lara
lächelte beschämt dabei, als sie dies sagte.
„Weil es auch stimmt“, keifte Ophelia trotzig einem Kind gleich.
„Weißt du, wenn man so jung ist wie du, ist man noch flexibel,
aber irgendwann ist man festgefahren in seinen Gewohnheiten. So
ist das nun mal.“
„Man weiß einfach irgendwann, was gut für einen ist und was eben
nicht. Und es ist nicht gut für mich, wenn ich jeden Tag zehn
Minuten auf dich warten muss.“
„Ach Ophelia. Und warum setzt du dich dann nicht einfach zehn
Minuten später zu Tisch?“
„Weil ich alt bin und weiß, was das Beste für mich ist. Und zehn
Uhr ist nun einmal die beste Zeit für mich, um meinen Tee
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einzunehmen, und nicht zehn Minuten nach zehn“, Ophelias Faust
polterte gesetzgebend auf den Tisch.
„Also schön, meine liebe Ophelia, dann komme ich schon morgen
zehn Minuten früher.“
„Nein, das musst du gar nicht, du musst nur endlich einmal
pünktlich kommen.“
„Ach, du änderst dich wohl nie mehr“, Nora besaß gar zu viel an
der Gutmütigkeit, die Ophelia ganz zu fehlen schien.
„Das Thema hatten wir schon“, Ophelias rümpfende Nase schob
sich durch die Falten nach oben.
„Freilich, liebe Freundin. Du bist, wie du bist, und es ist
wunderbar, wie du bist. Lara, erzähl du uns doch etwas aus deinen
jungen Tagen.“
„Aber ich höre doch euch so gerne zu, wenn ihr von früher erzählt.
Ich stelle mir alles so viel schöner vor, als ihr jung gewesen seid.“
„Ach Kindchen, das war es auch. Früher war alles schöner“, Nora
seufzte schwermütig vor Sehnsucht in ihre Tasse Tee.
„Nichts war früher schöner, gar nichts. Nur anders war es. Schöner
waren nur die Menschen, weil sie früher noch jünger waren. Du
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bist damals auch noch nicht so furchtbar hässlich gewesen, Nora“,
Ophelia spuckte die Worte unachtsam und geradewegs ins
verrunzelte Gesicht der empörten Freundin.
„Ja, sag mal, Ophelia!“
Lara verkniff sich das unhöfliche Kichern, doch ihre dreiste
Großmutter zwinkerte ihr ermutigend zu.
„Ach Nora, jetzt sei doch einmal ehrlich zu dir selber. Du warst so
ein schönes Mädchen, so schön. Und jetzt, sieh dich an. Ein
Zustand ist das. Dir hängt das ganze Gesicht bis übers Kinn
hinunter. Und sieh mich an. Meine Falten werfen schon Falten. So
ist das Alter eben, eine faltige Angelegenheit. Als deine
Gesichtszüge noch nicht so verunstaltet waren, da hast du was
hergemacht. Und als ich noch nicht verschwunden war unter
meinen Runzeln. Ja, früher waren wir schöner.“
„Du und deine direkte Art. Du bist schon immer viel zu ehrlich
gewesen, hast nie gewusst, wann du dein Maul halten hättest
sollen“, japste Nora leicht beleidigt.
„Nein, das stimmt nicht, ich habe es immer gewusst. Ich wollte nur
niemals den Mund halten, wenn es andere von mir erwartet haben.“
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„Lara, deine Großmutter wollte nie irgendwelchen Erwartungen
gerecht werden. Nicht umsonst ist sie in ihren alten Tagen noch
unverheiratet. Die Leute haben sich immer das Maul zerrissen.
Aber das hat sie nie gekümmert.“
„Nein, das hat es nie“, kommentierte Ophelia knapp.
„Hast du zu ihm nein gesagt, weil man von dir ein Ja erwartet
hätte?“, Nora zeigte mit zittrigem Finger aufs Feld, durch das sich
der verjüngte Mann noch immer grub.
„Nein, das habe ich nicht“, Ophelia sah ihn in der Mittagssonne,
die ihn seit dem Morgenaufgang kein bisschen altern hatte lassen.
„Warum hast du nicht ja gesagt?“, fragte Lara neugierig.
„Weil ich nein gesagt habe“, antwortete sie forsch.
Während Lara empfindsam zusammenzuckte, schmunzelte Nora
unbeeindruckt, denn sie kannte Ophelia schon ein Leben lang:
„Aber zwei Söhne hast du von ihm. Da konntest du wohl nicht nein
sagen, du altes Luder. Du warst schon immer anders als die
anderen. Alleinerziehende Mutter zweier lediger Kinder. Das
Gespräch des Dorfes seit Jahrzehnten.“
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„Mich interessiert aber nicht, was das Volk schwätzt. Wenn sie
über andere als sich selbst sprechen und dabei nichts Gutes zu
sagen haben, dann sind sie es nicht wert, das man sie anhört. Es
taugt nichts, was diese Menschen sagen. Es taugt sowieso kaum
etwas, was der Mensch zu sagen hat. Keiner von denen kennt sich
selbst, aber sie meinen mich zu kennen“, Ophelias Stimme bebte
aufgebracht und der Zorn ließ auch ihre knochigen Hände zittern.
„Aber in einem haben sie recht, du wirst alleine sterben. Hättest du
ihn lieber mal geheiratet, Ophelia. Was hat dir nicht gepasst an
ihm?“
„Der Mensch stirbt lieber allein für sich, dann ist er näher bei Gott.
Ein jeder Mensch ist alleine, wenn er zur Welt kommt und wenn er
sie wieder verlässt, und dazwischen ist er auch allein. Denn in dir
drinnen wird niemals jemand wissen, wie es aussieht, da bist du
immer allein. Ich bin allein. Aber du bist es auch, Nora.“
„Du irrst dich, Ophelia. Mein Mann kennt eine jede meiner
Gewohnheiten, er weiß, wann ich aufstehe und dass ich morgens
gerne etwas heiße Milch in meinem Tee habe. Er weiß, dass ich
immer zuerst die Erbsen mit der Gabel aus dem Reis an den
Tellerrand rolle und dass ich keine Pflanzen mag, die an Stauden
wachsen, Gott weiß warum. Wenn wir ausgehen, geht er stets an
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meiner rechten Seite und hält meine Hand, weil er weiß, dass ich
rechts schon schwer gehe. Abends macht er dann den Fernseher
lauter, weil er weiß, dass ich nicht mehr so gut höre, obwohl es für
ihn dann eigentlich zu laut ist; und er macht mir eine Tasse heiße
Milch und gibt zweieinhalb Teelöffeln Honig in die Tasse, weil er
weiß, dass zwei Löffeln zu wenig, aber drei Löffeln zu süß für
mich schmecken. Und bevor wir einschlafen, steht er auf, noch
bevor ich etwas sagen kann, um das Licht zu löschen, weil er weiß,
dass es meinen Blutdruck hochschnellen lassen würde, wenn ich
noch einmal aus dem Bett steigen müsste und dann könnte ich
nicht mehr schlafen. Er kennt mich noch besser als ich mich selbst
kenne, er erkennt meine Schwächen, noch bevor sie mir bewusst
sind, er weiß, was ich denke und was ich sagen will, er ist in mir
drinnen. Mein Mann ist in meinem Herzen. Und ich weiß, dass ich
in seinem bin. Mein Mann liebt mich, obwohl mir das Gesicht
übers Kinn hängt. Wenn er stirbt, wird er nicht alleine sterben. Ich
werde mit ihm sterben“, Nora hatte sich während ihrer gesamten
Rede ans Herz gefasst.
„Nun gut, anscheinend habe ich mich geirrt. Du abartiges Biest, du
willst wohl, dass ich in meinen alten Tagen noch Reue zeige“, sie
lachte grimmig, stand auf und sah noch einmal zu ihrem Liebsten
hinab. „Nein, glaubt mir, ich bereue nichts in meinem Leben. Ich
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habe gelebt, so gut ich es eben konnte, und ich habe keine
Entscheidung getroffen, die nicht aus meinem tiefsten Inneren
gekommen wäre. Und wenn mich manchmal die Sehnsucht zu ihm
zurücktreibt, dann ist das deswegen, weil jene dann auch ihn zu
mir zurückbringt.“
„Aber wieso habt ihr dann niemals geheiratet?“, Nora empfand
Ergriffenheit und Verwirrung in ihrem Herzen, als sie ihre gute
Freundin nun so ansah, wie sie sich geöffnet hatte, berührend, aber
auch befremdend.
„Man darf der Verliebtheit nicht zu sehr nachgeben und man darf
sie nicht vertiefen, denn sonst zerstört man sie.“
„Aber wenn die Verliebtheit kaputt geht, dann kommt die Liebe.“
„Ich war schon immer in ihn verliebt, aber nicht so sehr, dass ich
ihn ertragen könnte. Nur die Liebe erträgt. Und er ist nicht der
Mann, den ich lieben könnte“, als sie ihn vom Fenster aus
beobachtete, wurden ihre Gesichtszüge hart und sie wandte sich
fühllos ab.
„Aber er könnte es werden.“
„Er kann nicht mehr der werden, der er einmal war.“
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„Ach, das Alter verändert uns alle, Ophelia.“
„Ich spreche nicht vom Alter. Ich spreche im Übrigen überhaupt
nicht mehr über ihn. Es reicht. Ich muss das Mittagessen fertig
kochen. Schluss mit dem Unsinn“, Ophelia warf noch ein paar
Holzscheite ins Feuer und rührte dann in ihren Töpfen. Eine Hand
hielt sie aber wieder über ihrem Unterleib, um ihren Schmerz zu
beruhigen.
„Ach, die Zeit ist wie verflogen. Bei uns gibt es ja auch bald Essen.
Meine Schwiegertochter kocht. Es gibt Erbsenreis“, angeekelt
streckte Nora ihre Zunge aus dem zerknüllten Gesicht hervor und
brachte Lara damit erneut zum Kichern.
„Nun verzieh dich schon nachhause!“, Ophelia winkte ihr mit dem
Kochlöffel hinterher, als Nora die Stube schwerbeinig verließ.
„Ja ja, schon gut liebste Ophelia, ich liebe dich ja auch. Bis
morgen!“, dann zog sie die Tür hinter sich zu.
„Um Punkt zehn Uhr!“, plärrte sie durch das Türholz hindurch.
„Es riecht immer so gut bei dir“, Lara wippte ungeduldig von
einem Bein auf das andere, als sie ihrer Großmutter beim Kochen
zusah.
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„Du isst doch mit, oder?“
Lara nickte. Ophelia legte Braten und Kraut auf die beiden Teller
und stellte sie dann auf den Tisch.
„Bist du denn nicht einsam?“, fragte Lara während des Essens.
„Natürlich bin ich das.“
„Macht dich das nicht traurig?“, fragte Lara weiter und sah dabei
ganz mitleidend aus.
„Wieso sollte Einsamkeit etwas Trauriges sein? Nur Menschen, die
sich selbst nicht kennen, sind einsam mit sich selber. Weil sie dann
niemanden haben. Nur die, die nichts mit sich selber anzufangen
wissen, leiden an der Einsamkeit. Und man muss Mut haben, sich
mit sich selbst auseinanderzusetzen, um herauszufinden, was man
mit sich anzufangen vermag. Verstehst du? Also iss’ jetzt weiter.“
Aber kaum krachte ein Bratenbissen zwischen Laras Zähnen, da
klopfte es erneut an der Tür.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, raunte die Alte überreizt.
Martha schob die Tür nur einen furchtsamen Spalt weit auf und
lugte unsicher in die Stube: „Ich, ich wollte nur meine Tochter
holen. Lara komm, wir essen bald zu Mittag.“
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„Wie du siehst, isst Lara aber hier bei mir.“
„Na gut, dann soll es heute so sein“, Martha gab schnell auf. Sie
schloss die Tür und ging.
„Du magst Mama nicht besonders, oder?“, Lara sah ihre
Großmutter weinerlich an.
„Red’ keinen Unsinn. Iss’“, schnaubte Ophelia bestimmt.
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Nachdem sie gegessen hatten, arbeitete sich Ophelia einmal
um das kleine Häuschen herum. Und sie tat dies mit derselben
Besessenheit und aus derselben Urkraft, wie sie es in ihrer Stube
getan hatte. Sie trug Kisten in den Schuppen, trug Brennholz an die
Mauer, trug winteruntüchtiges Werkzeug in den Keller und sie trug
den Schmerz in ihrem Leib. Sie ertrug die zerreißenden
Unterleibskrämpfe mit jeder Last, die es zu überwinden galt. Ja, sie
tat es, wie sie es immer tat, sie trug und sie ertrug. Sie trieb den
Spaten durch den Garten. Sie trieb die Axt durchs Holz. Sie trieb
den Schmerz durch ihren Leib. Ophelia hatte sich in den vielen
selbstversorgenden Jahren beigebracht, allem Unheilvollen eine
Gestalt zu verleihen. So war es ihr möglich, sich Emotionalem zu
stellen. Es war schwierig, sich etwas zu stellen, das man sich noch
nicht einmal vorstellen konnte. Ophelia war keine Frau, die
verdrängte oder davonlief. Sie stellte sich allem, was sich ihr in
den Weg stellte. Und dies gelang ihr eben, indem sie sich
emotionale Gestalten ansah, sie musste nur hinsehen, dann sah sie
den Tod schattenhaft ummantelt, sah die Einsamkeit und den
Schmerz. Nur die Angst war ihr völlig fremd, sie hatte sie vor
langer Zeit vertrieben. Die Einsamkeit war eine alte Dame, vom
selben Aussehen wie sie, sie konnte Schach mit ihr spielen oder ihr
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aus einem Buch vorlesen. Und dann war da noch der Schmerz im
samtblutroten Mantel, mit Krallen wie die eines Raubtieres,
widerspenstig wie Sägemesser. Aber Ophelia hatte keine Angst.
Wer den Schmerz ertragen wollte, durfte ihn nicht fürchten. Und
sie hatte gelernt alles zu ertragen, besonders jenes, das sie nicht zu
verändern mochte. Die Welt und das Leben, alles war, wie es war,
und sie empfand es als selbstquälend, sich immer wieder davon
enttäuschen und empören zu lassen. Alles war, wie es war, und es
war wunderbar, schön und wunderbar grausam. So wie der
Schmerz einfach da war. Er drängte seine Hand in ihren Schoß und
ergriff, was er fassen konnte, manchmal stach er in ihre somatische
Weiblichkeit, manchmal schloss er seine Faust darum und zerrte
daran, als wollte er sie ihr entreißen. Tag für Tag und Nacht für
Nacht wütete er in ihr, er hatte bereits zu viel in ihr verletzt, hatte
immer wieder Zerstörung und Verwüstung hinterlassen. Und jedes
Mal, wenn der Schmerz wütete, ließ er auch Wut zurück, die ihr zu
ertragen half. Aber schon bald würde er auch den Tod in ihr
zurücklassen, das fühlte sie bestimmt. Sie griff oft an ihren
Unterleib, hielt die Hand des Schmerzes fest, sie wärmend, damit
sie Ruhe gab, wie in diesem schmerzstillen Moment. Sie stand nur
da, die Axt hing schwer in der einen Hand, die andere Hand
streichelte den Schmerz und auf ihr welkes Gesicht schien die
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Sonne. Von Angesicht zu Angesicht. Wie wunderbar dieser Tag
war. Und es war ihr, als begreife sie einmal mehr das Leben, sie
spürte es in sich, wie wunderbar schön es war, wie wunderbar
grausam. Sie gab die marternde Hand wieder frei, jagte die Axt ein
letztes Mal ins Holz und den Schmerz in den Leib. Lara hatte auf
der besonnten Treppe gesessen und ihre Großmutter beobachtet,
wie sie mit dem Beil Luft und Scheite entzweit hatte. Nun setzte
sich Ophelia an ihre Seite, schweigsam schwelgend. Dem
Novembergrau war ein Sommertag entsprungen, farbgewaltig und
seelenwärmend. Morgens hatte sich der späte Sommer tauwarm
über das entschlafene Novemberland gelegt und es ein finales Mal
in diesem Jahr wiederbelebt. Nach den ersten erloschenen Tagen
schimmerte nun das Lebendige lichtwarm auf Ophelias verfallende
Haut. Durchdringendes Sonnenlicht sickerte bis in ihr innerstes
Sein, schmolz die Glieder aus der Eisstarre und brannte den
Schmerz aus den Gelenken. Es floss durch sie hindurch und schlug
euphorische Wellen in ihrem Gemüt. Sie brannte lichterloh.
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Und wie sie da so saßen und die letzten Sommerstrahlen
genossen, da legte Lara ihre Hand auf Ophelias Schoß, da, wo der
Schmerz war, ohne ihn selber zu spüren, und er wurde erneut
ruhig, als er nun von ihr festgehalten wurde. Obgleich Lara nichts
von seiner Anwesenheit wahrnahm, als eine kindliche Ahnung,
fragte sie eingebend nach dem Sterben.
„Großmutter, hast du denn eigentlich Angst vor dem Tod?“
„Hast du denn Angst vor ihm?“
„Ja, etwas fürchte ich mich schon.“
„Du solltest den Tod nicht fürchten, er fürchtet dich auch nicht.“
„Es ist wahrscheinlich nur, weil er mir so fremd ist und ich fürchte
mich ja so vor Fremden. Ich weiß doch so wenig über ihn.“
„Die meisten Menschen fürchten sich vor dem Tod. Erinnerst du
dich an die letzten Tage? Sie sind heute ebenso schwer vorstellbar
wie der heutige Tag es gestern noch gewesen ist. Es war kalt
geworden. Die Kälte war bis in die Knochen gekrochen und die
Novembernebel haben das Land verdunkelt. Wenn es langsam
Winter wird, beginnt sich der Mensch zu fürchten, vor der Kälte
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und der Dunkelheit. Und dann, ganz unerwartet, wie Schnee im
Juni, reißt ein später Sommertag das Nebelgrab auf und die Sonne
wärmt das schmerzende Gebein und die frierende Seele. Sterben
ist, wie wenn die Nebel alles in ihr eisiges Schweigen hüllen, und
wenn die Sonne dieses Schweigen bricht, dann bleibt die Stille,
aber sie verwandelt sich in Staunen, denn niemand hat noch an
wärmendes Licht geglaubt. Ich glaube, der Tod ist so ein später
Sommertag, der uns aus der Kälte und der Dunkelheit befreit, der
uns ausgräbt aus dem Nebel und uns staunen lässt. So ein Tag wie
heute.“
Im schwindenden Abendlicht verglomm schwerrot eine sehnliche
Schwermut auf Ophelias vergehendem Angesicht.
Lara beobachtete ihre Großmutter, mit kindlicher Bewunderung
und jener staunender Faszination, von der Ophelia eben
gesprochen hatte. Sie studierte ihren Ausdruck und sie erkannte
den Wunsch nach diesem endgültigen Spätsommertag, der ewig
verweilen wollte, doch begriff sie ihn nicht. Und sie nahm wahr,
wie sich Ophelias Wangenhaut verknitterte, sich verzerrte und
vergrub, in jenem Moment, als Lara ihre Hand wieder an sich
nahm und den Schmerz freigab.
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Martha fand Lara und Ophelia im Untergang der Sonne,
rotverkleidet vom Abenddämmerlicht. Sie war gekommen, um ihre
Tochter zu holen, und diesmal wollte sie Stärke bewahren und
nicht wieder ohne sie heimkehren.
„Lara, komm jetzt, es ist Zeit zu gehen. Vater hat nach dir gefragt.“
Angewidert
ahnde
Ophelia
ihre
Schwiegertochter
mit
Herabwürdigung: „Ach, spricht dein Gott wieder zu seiner
Dienerin? Du und deine abgöttische Liebe zu diesem Unmenschen.
Kriechst vor ihm wie eine Sklavin. Was bist du deiner Tochter für
ein Vorbild? Was lebst du ihr bloß vor?“
„Hör auf vor meiner Tochter so mit mir zu sprechen, Ophelia. Was
für ein Recht hast du überhaupt, mich zu verurteilen? Wie du auf
die Menschen herabsiehst, mit welcher Verachtung! Du hast es
doch selbst nicht ausgehalten bei deinem Mann. Wieso hältst du es
mir dann vor, dass ich es auch nicht schaffe? Wieso verabscheust
du mich so? Was macht dich so erhaben und übermenschlich? So
viel besser als mich. Hast du dich niemals schwach gefühlt? Fühlst
du überhaupt irgendetwas?“
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„Denkst du, ich habe niemals gelitten?“, Ophelia biss sich
verbittert auf die Lippen, und verbarg in trauernder Verneigung
einen alten Schmerz, der ihr Gesicht zerfraß, ein anderes Gefühl
von Schmerz. „Die Leute haben darüber geredet, dass er tot sei.
Noch nie habe ich dem Reden der Leute geglaubt, aber in diesen
kalten Tagen im Sommer habe ich zu zweifeln begonnen. Tag für
Tag habe ich auf der Wiese dort drüben gesessen und auf ihn
gewartet. Der späte Löwenzahn hatte sich wie ein weißer Teppich
darüber ausgebreitet, und als der Wind über ihn hinwegfegte, ließ
er es schneien im Juni. Und alles ist mir wie ein Wunder
vorgekommen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er damals
ausgesehen hat, als er heimgekehrt ist, wie er durch den Junischnee
geschritten kam, und ich erinnere mich, dass ich damals für einen
Moment gewusst habe, er war zu mir zurückgekehrt. Dieser eine
Moment war so klar und sicher gewesen, so unbezweifelbar und
unzerbrechlich. Ich trage ihn noch heute in meinem Herzen, wie
eine Hoffnung, die erst mit dem Menschen stirbt der sie trägt. Aber
viele sind damals nicht wieder als die zurückgekommen, als die sie
fortgezogen waren. Als du meinem Sohn dein Wort gegeben hast,
hast du dich für jemanden entschieden, den du kanntest. Ich konnte
das nicht, weil ich ihn nicht wiedererkannt hatte. Die Leute hatten
doch Recht behalten. Wochenlang bin ich nicht aus dem Bett
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gekommen, ich habe mich so schwach gefühlt, habe nur geweint.
Ich war so traurig und wütend, traurig über seinen Verlust und
wütend auf die ganze Welt, und irgendwann war ich nur noch
wütend und die Wut machte mich stark, um wieder aufzustehen.
Du kannst dir aussuchen, ob du ein Opfer bist oder eine
Kämpferin, ob du aufgibst und dich bemitleidest, oder ob du mutig
bist und kämpfst, für dein Leben, weil es dir gehört. Wann wirst du
aufstehen? Wie lange willst du dich noch von mir retten lassen,
Martha?“
„Es tut mir leid, ich denke, ich verstehe dich jetzt, Ophelia.“
Martha legte beschämt ihre Hand auf den offenen Mund.
„Nein, du verstehst gar nichts! Ich verabscheue dich. Ich
verabscheue dich, weil ich dich nicht kämpfen sehe. Ich
verabscheue dich, weil du liegen bleibst. Ich verabscheue dich,
weil du Angst hast. Ich verabscheue dich deshalb, weil du ein
Opfer bist. Wohin wirst du gehen, um Hilfe zu holen, wenn ich
nicht mehr da bin?“
Martha nahm die Abscheu wortlos hin, wie sie es gewohnt war.
„Ich werde auf sie aufpassen.“ Lara war aufgesprungen und ihrer
Mutter zu Hilfe geeilt.
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„Das weiß ich.“ Ophelia zwinkerte ihr vertrauensvoll zu, dann
erhob sie sich schwerfällig und die Treppe gab knirschend unter ihr
nach.
„Aber was soll ich nur gegen ihn machen?“, fragte Martha hilflos.
„Eben das, was ich mache. Er hat nur so viel Macht, wie du ihm
gibst. Und du gibst ihm alle Macht über dich. Beweise Stärke.“
„Ich werde es versuchen.“
„Nein, versuche es nicht. Versuchen ist so ein schwaches Wort, es
sagt voraus, dass du aufgeben wirst. Ein Versuch ist nicht mehr, als
ein Ansatz einer Tat, vorbestimmt zu scheitern. Er macht dich
zaghaft und zögernd. Mach es einfach. Stell dich deiner Angst.“
„Großmutter, ich habe keine Angst.“
„Ich weiß, Lara. Ihr beide braucht mich nicht, um stark zu sein.
Geht jetzt und lasst mich“, danach wandte sie sich ab und das
Knirschen trug ihre trägen Füße ins Haus.
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Ophelia stand am Wegrand, umschleiert von karminrotem
Tuch und spähte wieder unscharf in die Ferne, in der er noch jung
und anfänglich war. Die Sommersonne war bereits hinter den
schwarzen Novemberhügeln erloschen und das Feld lag dunkel in
deren Schatten. Er hatte die Erde bearbeitet, um sie für den
anstehenden Winter vorzubereiten. Als er nun auf sie zukam, da
sah er aus wie damals und sie spürte für diesen einen unbeirrbaren
Moment ihres Lebens, dass er zu ihr zurückgekommen war, und in
der aufziehenden Nähe erkannte sie fürwahr, dass er wieder bei ihr
war. An manchem Tag gab ihn die Vergangenheit frei. An guten
Tagen. An späten Sommertagen oder an verschneiten Junitagen.
Kam er zu ihr zurück. An jenen Tagen konnte sie ihm seine
Wiederkehr
ansehen,
dann
wurde
sie
selbst,
in
ihrer
unzerbrechlichen Klarheit, wieder das wartende Mädchen auf der
Löwenzahnwiese, wunderbargewiss und wunderglaubend. Und
was hatte sich in all den Jahren auch geändert? Da stand noch
immer der Junge vor seinem Mädchen und reichte ihm seine Hand,
und das Mädchen hielt sie so fest, dass er niemals wieder
fortziehen könne.
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Ophelia lag lange wach und fühlte den wütenden Schmerz
in ihrem Leib, der reißender als je in ihr tobte. Selbst die
wärmenden, ruhenden Hände vermochten den Schmerzsturm nicht
zu stillen und sie fühlte, welches Unheil er mit sich brachte. Aber
sie blieb geduldig mit ihm liegen und ertrug ihn, bis der Schlaf ihn
verdeckte.
Als sie am Ende dieser Nacht erneut vom Knirschen der Schritte
geweckt wurde, wusste sie bereits, wer gekommen war, um sie zu
holen, und sie fühlte sich bereit dafür. Und Ophelia hatte keine
Angst.
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