ZWEIG, Stefan Die Welt von Gestern

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ZWEIG, Stefan
Die Welt von Gestern - Kapitel 3
Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich
aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten
zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer
fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und
der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen
Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung
des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische
Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit.
Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was
verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. Wer ein
Vermögen besaß, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich
zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalender verläßlich das Jahr,
in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde. Jede Familie
hatte ihr bestimmtes Budget, sie wußte, wieviel sie zu verbrauchen hatte für
Wohnen und Essen, für Sommerreise und Repräsentation, außerdem war
unweigerlich ein kleiner Betrag sorgsam für Unvorhergesehenes, für Krankheit und
Arzt bereitgestellt. Wer ein Haus besaß, betrachtete es als sichere Heimstatt für
Kinder und Enkel, Hof und Geschäft vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht;
während ein Säugling noch in der Wiege lag, legte man in der Sparbüchse oder der
Sparkasse bereits einen ersten Obolus für den Lebensweg zurecht, eine kleine
›Reserve‹ für die Zukunft. Alles stand in diesem weiten Reiche fest und
unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er
sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts
sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an
Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits
unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.
Ungeduld des Herzens
›Die Welt ist auf verschiedene Weisen.‹ Ein schöner Satz, wie ich finde, offen,
geraderaus, belehrungsfrei, allenfalls etwas prätentiös. Er begegnete mir vor vielen
Jahren auf einem Plakat, das ein Freund im gemeinsamen Bad unserer WG
aufhängte. Seither ist er fester Bestandteil meines inneren Almanachs, meiner
eigenen Weltformel. Er bringt etwas sehr Grundsätzliches auf den Punkt, das
gerade deshalb gerne vergessen geht: Das gemeinsame Nichtgemeinsame; das
Bewusstsein für das Andere in deinem Gegenüber, deinen Mitmenschen, das, zu
dem du keinen Zugang hast. Das Gemeinsame, das uns voneinander trennt also.
Der Satz steht damit in einem Spannungsverhältnis zu einer anderen Wahrheit,
eine, die unser verbindendes Gemeinsame unterstreicht: dass wir uns alle nach
demselben sehnen, genauer: dass wir voneinander alle dasselbe erhoffen – nämlich
Liebe, Bestätigung und Anerkennung.
***
Immer hatte ich junger und wenig erfahrener Mensch bisher Sehnsucht und Not
der Liebe für die schlimmste Qual des Herzens gehalten. In dieser Stunde aber
begann ich zu ahnen, daß es noch eine andere und vielleicht grimmigere Qual gibt,
als sich zu sehnen und zu begehren, nämlich geliebt zu werden wider seinen Willen
und dieser andrängenden Leidenschaft sich nicht erwehren zu können. […] Wer
selbst unglücklich liebt, vermag zuweilen seine Leidenschaft zu bezähmen, weil er
nicht nur Geschöpf, sondern zugleich selber Schöpfer seiner Not ist […] Vielleicht
nur ein Mann kann das Auswegslose einer solchen Bindung ganz erfühlen, nur für
ihn wird das ihm aufgezwungene Widerstrebenmüssen gleichzeitig Marter und
Schuld. Denn wenn eine Frau gegen unerwünschte Leidenschaft sich wehrt,
gehorcht sie im tiefsten dem Gesetz ihres Geschlechts; gleichsam urtümlich ist
jedem Weibe die Geste der anfänglichen Weigerung eingetan, und selbst wenn sie
glühendstem begehren sich verweigert, kann man sie nicht unmenschlich nennen.
Aber verhängnisvoll, wenn die Waage umstellt, sobald eine Frau ihre Scham so weit
bezwungen hat, um einem Manne ihre Leidenschaft zu offenbaren, wenn sie ohne
Gewissheit der Gegenliebe schon ihre Liebe bietet, und er, der Umworbene, bleibt
abwehrend und kalt! Unlösbare Verstrickung dies immer, denn das Verlangen einer
Frau nicht erwidern, heißt auch ihren Stolz zernichten, ihre Scham verstören […]
***
»Keine neuen Erfindungen jetzt… nur keine neuen Unwahrheiten, ich ertrag keine
mehr! Mit Lügen bin ich überfüttert bis zum Erbrechen. Von früh bis abends löffelt
man sie mir ein:›Wie gut du heute aussiehst, wie famos du heute marschierst …
großartig, es geht schon viel, viel besser‹ – immer dieselben Beruhigungspillen von
früh bis abends, und keiner merkt, dass ich daran ersticke. Warum sagen Sie mir
nicht kerzengerade: Ich habe gestern keine Zeit, keine Lust gehabt. Wir haben doch
kein Abonnement auf Sie und nichts hätt mich mehr gefreut, als wenn Sie mir
durchs Telephon hätten sagen lassen: ›Ich komm heut nicht hinaus, wir bummeln
lieber in der Stadt lustig herum.‹ Halten Sie mich für so albern, daß ich’s nicht
verstehen sollte, wie Ihnen das manchmal über sein muß, hier tagtäglich den
barmherzigen Samariter zu spielen, und daß ein erwachsener Mann lieber
herumreitet oder seine gesunden beine spazierenführt, statt an einem fremden
Lehnstuhl herumzuhocken? Nur eins ist mir widerlich und eins ertrag ich nicht:
Ausreden und Schwindel und Lügereien – damit bin ich eingedeckt bis an den Hals.
[…]
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