Ethische Entscheidungen am Lebensende Ethik in der Geriatrie

Werbung
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Ethik in der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
im Geriatriezentrum am Wienerwald
2.Kärntner Ethiktag, Velden
25.November 2005
Ethik in der Geriatrie
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Inhalte
•
•
•
•
•
•
Was ist Ethik?
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen?
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende
Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende
Alte Menschen in Institutionen der Langzeitpflege
Kasuistik
Was ist Ethik?
nach E.H.Loewy
• Ethik ist ein Fach welches versucht, die Frage „Wie soll
ich handeln, wenn es einen anderen betreffen könnte?“
in den Raum zu stellen.
• Ethik fragt (theoretisch) nach dem „Guten“ und nach
dem „Schlechten“, für gewöhnlich aber nach dem
„Schlechten“ und dem noch „Schlechteren“...
• Ethik befasst sich sowohl mit allgemeinen Richtlinien
und Regeln, als auch mit Problemen in Einzelfällen.
Dabei bedient sie sich der Werkzeuge der Philosophie.
Was ist Ethik?
nach U.H.J.Körtner, 2004
•
Ethik ist die selbstreflexive Theorie der Moral, d.h. die
Reflexion, welche das menschliche Handeln anhand der
Beurteilungsalternativen von Gut und Böse bzw. Gut und
Schlecht auf seine Sittlichkeit überprüft.
•
Im Unterschied zur Ethik (der Begriff stammt von
Aristoteles) bezeichnet der Begriff ‚Ethos‘ (griechisch)
bzw. der Begriff ‚Moral‘ (lat.) die Verhaltensnormen der
gesamten Gesellschaft oder einer Gruppe die aufgrund
von Tradition akzeptiert und stabilisiert werden.
Was ist Ethik?
•
Nicht persönliche Moral - diese ist von Religion,Gewissen
Weltanschauung, Tradition, Kultur, bestimmt und abgeleitet.
•
„In der säkularen und pluralistischen Gesellschaft ist die Ethik
von allen religiösen und weltanschaulichen Prämissen
freizuhalten.“ H.Pauer-Studer, 2003
•
Ethik trachtet gemeinsame Nenner zwischen verschiedenen
Weltanschauungen, Religionen und Kulturen zu finden und
dort wo möglich gemeinsame Richtlinien vorzuschlagen.
•
Ethiker sollen sich hüten, „Antworten“ zu liefern. Sie sollen
Vorurteile hinterfragen, Begriffe darlegen, auf Evidenz
basierende Fakten einfordern, auf genaue Definitionen
bestehen, beim logischen Durchdenken des Problems helfen.
Sie sollen systematisch und strukturiert Fragen stellen.
Was ist Medizinethik?
Nach G.Pöltner, 2002
Medizinethik: ist nicht „nur“
• Besprechung von Fallbeispielen
• Anwendung des „moralischen Hausverstandes“ von
ÄrztInnen/PP, oder „nur“ berufsständische Pflichtenregelung
Medizinethik:
• ist keine Sonderethik, sondern eine Ethik besonderer
Situationen
• bezieht sich nicht nur auf das ärztliche Handeln und das
Verhalten von Patienten, also auf Handlungssituationen in
Klinik, Krankenhaus, Pflegeheim, Arztpraxis… sie umfasst
auch die ethischen Probleme des institutionellen Handelns
(z.B. Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen)…
Ethische Prinzipien
Die vier Prinzipien der mittleren Ebene, Beauchamp & Childress, 1995
• Benefizprinzip: Verpflichtung Gutes zu tun.
• Non-Malefizprinzip: Verpflichtung Schlechtes abzuwehren,
nicht schaden.
• Autonomie: Verpflichtung, die individuelle Persönlichkeit und
deren Recht auf unabhängige Selbstbestimmung zu
respektieren, wenn es um ihre eigenen Lebensprojekte und
um ihre eigene physische und psychische Integrität geht.
• Gerechtigkeit: Verpflichtung, Diskriminierung zu vermeiden,
nicht auf Grundlage irrelevanter Merkmale zu
unterscheiden. Verpflichtung, Ressourcen gleich, nicht
willkürlich zu teilen (Verteilungsgerechtigkeit,
Verteilungsethik).
Warum Beschäftigung mit Fragen der Ethik in der
Geriatrie?
Ethik: u.a. Suche nach Prinzipien und Grundlagen für ein
gerechtes, sinnvolles, vernünftiges, einsichtiges, gutes
Handeln…
• Umgang mit sehr vulnerablen Menschen.
• Umgang mit Menschen, die zunehmend in ihrer
Autonomie und Selbständigkeit behindert und deshalb
hilfsbedürftig sind.
• Umgang mit Menschen am Ende ihres Lebens. Der Tod
sollte in diesem Bereich der Medizin nicht der absolute
Gegner, nicht unbedingt Symbol des Versagens sein,
wenn er eintritt.
• Es werden Menschen nicht nur einen mehr oder minder
kurzen Ausschnitt ihrer Biographie lang, sondern meist
während ihres gesamten letzten Lebensabschnitts
betreut und das oft in einem Umfeld, welches von den
wenigsten von ihnen freiwillig gewählt wurde.
Ethik in der Geriatrie
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Inhalte
•
•
•
•
•
•
•
Was ist Ethik?
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen?
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende
Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende
Alte Menschen in Institutionen der Langzeitpflege
Zum Thema Euthanasie
Kasuistik
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
nach E.H.Loewy
• Fragen, die zunächst gefragt werden sollten:
- Wer ist berechtigt, eine Entscheidung zu treffen?
- Wer wird hier behandelt?
• Falsche erste Frage: Was sollen wir tun? „Sollen wir eine
PEG-Sonde legen?“
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Forts. 1
Prinzip der Reiseplanung…
Ethiker = Reiseberater mit 3 Fragen in fixer Reihenfolge:
1) Wo sind wir? (Wo fängt die Reise an?)
2) Wo wollen wir hin? („Quo vadis“ Frage…)
3) Wie kommen wir zum gewünschten Ziel?
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Forts. 2
1) Wo sind wir?
medizintechnische Frage…
a) die ÄrztInnen, Pflegepersonen, TherapeutInnen …
informieren über die Situation: Diagnose, Prognose, noch
zu klärende Probleme
b) der Ethiker/die Ethikerin muss sicher sein, dass wirklich
Experten die Fragen beantwortet haben und dass der
Patient und die Angehörigen informiert wurden
c) bei Uneinigkeit des Teams in sachlichen Fragen kann der
Ethiker nicht helfen
Gute Ethik beginnt mit guten Fakten.
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Forts. 3
2) Wo wollen wir hin?
Die „quo vadis“ Frage…
a) nur wenig medizintechnisch… der Arzt/die Ärztin erstellt
die Prognose, sagt was „im besten“ und was „im
wahrscheinlichsten Fall“ geschehen wird
b) hauptsächlich biografische Frage: individuelle Werte,
Lebensgeschichte, Lebensziele des Patienten
bestimmen die Antwort
Metaphern:
Das Leben als Kunstwerk...
Orchestrierung des Lebensendes...
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Forts. 4
3) Wie kommen wir zum gewünschten Ziel?
Welche Mittel zum Erreichen des Ziels gibt es?
Eine „technische“ Frage, mit der allzu oft begonnen wird.
Die Verbindung zwischen diesen 3 Punkten (Fakten, Ziel
und Mittel zum Erreichen des Ziels) wird relativ einfach
zu machen sein
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Forts. 5
Bei Unvereinbarkeit von Werten:
Verhandeln…
• Unterschiedliche Ansichten müssen respektiert werden.
Der Patient ist nicht Gefangener des Arztes, der Arzt
nicht Diener des Patienten. Beide sind ethisch à priori
gleichwertige und gleichberechtigte Menschen
• PatientInnen müssen die ethischen Grundlagen einer
Institution respektieren
• Sollte kein Kompromiss möglich sein, werden sich
Patient und Arzt trennen müssen
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen Forts. 6
Entscheidungsfähigkeit und kognitive Kompetenz?
Kriterien, Vorbedingungen der Annehmbarkeit eines
Entschlusses:
– Genügend Wissen: der Patient / die Patientin muss
die Fakten verstehen, er / sie muss die Optionen
verstehen (z.B.: was passiert bei Behandlung / bei
Nicht-Behandlung), klar und deutlich sagen, welche
der Optionen er/sie bevorzugt...
– Genügend Zeit zum Überlegen
– Kein Druck, oder Zwang
– Authentizität: er/sie muss eine Erklärung (warum er/sie
das eine, oder das andere vorzieht) im Einklang mit
den eigenen Werten geben können. Es ist gleichgültig,
ob man selbst damit übereinstimmt, oder nicht…
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Forts. 7
Beim Fehlen von Entscheidungsfähigkeit, bzw. kognitiver
Kompetenz hilft:
• Frage nach dem mutmaßlichen Willen: Hinweise
durch Angehörige, durch v. Pat. früher designierte
Stellvertreter. Tatsächliche Funktion der schriftlichen
Verfügungen, Patiententestamente...
• Frage, was der Patient bestimmt nicht wollen würde:
Schmerzen, Hunger und Durst spüren, Kälte,
Entblößung, verlassen sein…
Ethik in der Geriatrie
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Inhalte
•
•
•
•
•
•
Was ist Ethik?
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen?
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende
Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende
Alte Menschen in Institutionen der Langzeitpflege
Kasuistik
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie
und am Lebensende
• Zu welchem Zweck soll unser therapeutisches,
pflegerisches, rehabilitatives Vorgehen gut sein?
• Wer wird eigentlich behandelt? Der Patient, der Arzt, die
Angehörigen, die Institution, die Gesellschaft?
• Wie erfasst man den Willen des nicht (mehr)
kommunikationsfähigen Menschen (z.B. bei Demenz,
sensorischen Störungen, apallischem Syndrom)?
• Patientenverfügung, Patiententestament, vom Patienten
designierte Stellvertreter - würden die Erfassung des
mutmaßlichen Willens des nicht mehr
kommunikationsfähigen Patienten erleichtern. Wie geht
man mit ihnen um?
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie
und am Lebensende, Forts.
• Was darf (muss) therapeutisch unternommen werden,
was darf (muss) unterlassen werden? Wann und wie
entscheidet man über einen Therapieabbruch?
• Nichts ist einfacher, als alles zu tun, was machbar ist. Es
ist viel schwieriger sich zu rechtfertigen, wenn man nicht
alles medizinisch Machbare macht... Wie schafft man es?
• Ist unvollständige Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr
tolerierbar? Wann und unter welchen Voraussetzungen
setzt man eine PEG-Sonde?
• Ist künstliche Ernährung mit einer medizinischen
Therapie, die man ja absetzen darf, vergleichbar?
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie
und am Lebensende, Forts.
• Heißt medizinisch therapeutisch „nichts mehr zu tun“
wirklich nichts tun? (Ganz im Gegenteil: die
pflegerische, palliative, soziale Zuwendung muss
intensiviert werden...)
• Optimale Autonomie mag ein entscheidender Faktor
der subjektiven und auch objektiven Einschätzung der
Lebensqualität sein. Was geschieht mit ihr am
Lebensende?
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
Leben:
Bei den Griechen zwei Bedeutungen: ‚zoe‘ und ‚bios‘ ...
1) am Leben sein… ‚zoe‘: biologisches Substrat
2) ein Leben haben… ‚bios‘: subjektiver Begriff, der nur von
dem bewertbar ist, der ein Leben hat, eine Biografie,
Pläne, Gedanken, Hoffnungen, Ängste…
Kushner, 1984
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
“Am Leben sein (‘zoe’) ist eine biologische Tatsache die einem
Feigenbaum, einer Amoebe, einem Hund und sogar einem
Bioethiker zugeschrieben werden kann...
Ein Leben haben (‘bios’) heißt selbstbewußt sein, Schmerzen
und Freude erleben können… Leider kann so ein Mensch
anhedonisch sein - also nur Schmerzen aber keine Freude
empfinden können...
Um ein Leben zu haben muß man am Leben sein und die
Qualität dieses ‘am Leben sein’ kann nur der oder die deren
Leben es ist einschätzen.”
Loewy, 2004
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
„Im Kontext des Lebensendes stellt sich immer öfter auch
die ethische Frage des Negierens, des Hinausschiebens
des be- und verhindern Wollens des Lebensendes als ein
von der Geriatrie anzustrebendes Ziel…
Dabei diskutiert man nicht, ob man bereit wäre, die Welt als
ein ewiges Alters-, oder Pflegeheim zu akzeptieren…“
William Schwartz, 1998
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
Ein anderes Extrem:
Überlegungen, ob man das Lebensende unter dem Druck
demografischer Entwicklungen und mit ökonomischen
Argumenten quasi „verordnen“ sollte, sozusagen als
gesellschaftliche Verpflichtung der Alten…
John Hardwig: „Is There a Duty to Die?“, 1997
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
„Der Tod erscheint nicht mehr als eine zur Natur des
Lebendigen gehörende Notwendigkeit, sondern als eine
vermeidbare, jedenfalls im Prinzip traktable und lange
aufschiebbare organische Fehlleistung.“
Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung“, 1979
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
• Was ist ein „guter Tod“? Kann er überhaupt je „gut“ sein?
Niemand will à priori nicht leben...
• Diejenigen, von denen man glaubt, dieses Nicht-LebenWollen signalisiert zu bekommen meinen meist, dass sie
SO nicht leben wollen...
• An diesem SO gilt es im Rahmen der Palliative Care
anzusetzen!
Ethik in der Medizin
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Inhalte
•
•
•
•
•
•
Was ist Ethik?
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen?
Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende
Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende
Alte Menschen in Institutionen der Langzeitpflege
Kasuistiken
Autonomie am Lebensende
Autonomie:
Ein Faktor der subjektiven und auch objektiven
Einschätzung der Lebensqualität
Der Begriff ‚Freiheit‘ beinhaltet nach Kant 2 Teile
1) Freiheit des Willens - bei Dementen nicht vorhanden...
2) Freiheit des Handelns - am Lebensende oft verloren...
Erosion der Autonomie am Lebensende
= Zweifache Erosion, insb. in der stationären geriatrischen
Langzeitbetreuung
1) Demenz:
Führt zur weitgehenden Zerstörung der Autonomie. Hat der
demente Mensch dann keine Lebensqualität mehr? Erfreut
er / sie sich nicht der Dinge des Lebens?
2) Institutionalisierung:
Bedeutet eine zusätzliche Erosion der Autonomie:
Reduktion der Privatsphäre des Patienten, Einschränkung
seines Willens durch die Regeln und die Ordnung der
Institution. Das Autonomieprinzip des Individuums wird vom
Wohltätigkeitsprinzip der Institution untergraben…
Ethik in der Medizin
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Inhalte
•
•
•
•
•
•
Was ist Ethik?
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen?
Einige Fragen zur Ethik am Lebensende
Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende
Alte Menschen in Institutionen der Langzeitpflege
Kasuistik
Die Situation eines alten Menschen vor der Aufnahme in
eine Institution der Langzeitpflege (Pflegeheim):
Serie von Verlusten in rascher Abfolge:
– Verlust der somatischen und psychischen Gesundheit
– Verlust der Selbständigkeit und Autonomie
– Verlust des Partners
– Verluste im sozialen Netzwerk
Es gibt wenig Gelegenheit zur Anpassung, zur Kompensation,
stückweise verliert der alte Mensch seine Identität...
Die Situation eines alten Menschen bei der Aufnahme in
eine Institution der Langzeitpflege (Pflegeheim):
Verlust des Zuhause und der materiellen Symbole, die er/sie
damit ein Leben lang assoziierte...
Verlust der Hoffnung…
Der soziale Tod kommt vor dem biologischen Tod...
Pflicht der Gesellschaft wäre es, zu helfen diesen Verlusten
vorzubeugen, sie zu minimieren: u. A. durch zeitgemäße
geriatrische Therapie und Rehabilitation, welche im Sinne der
modernen rehabilitativen Geriatrie die Minimierung des
Bedarfs an Institutionalisierung zum Ziel haben...
Was wird mit dem Begriff Langzeitpflege assoziiert?
• Das Pflegeheim - der Bereich des Betreuungssystems
alter Menschen vor dem man Angst hat, der das negativste
Image besitzt, der Ablehnung provoziert, den es zu meiden
gilt, der beim sozialen Umfeld der Betroffenen
Schuldgefühle auslöst.
• George Agich (1993): „... perverser Zustand des lebend tot
Seins, nur ganz knapp diesseits der Grenze zum
Wahnsinn“ in diesen „Strukturen ohne Gefühls der
Kontrollierbarkeit, der Würde, der Identität...“
• Goffman (1960): „... totale, fremd bestimmende Institution“
die isoliert, kontrolliert, das Alltagsleben der Menschen
darin manipuliert... die Essensgewohnheiten, den SchlafWachrhythmus, das Intimleben, die sozialen Kontakte
reglementiert ...“
Positivere Aspekte der Langzeitpflege?
• Die Kritik am Pflegeheim berücksichtigt lediglich eine
oberflächliche Realität der Existenz in der
Langzeitinstitution.
• Eine andere, tiefere Realität des Pflegeheimdaseins wird
vergessen: Die Tatsache, dass man trotz allem alt,
gebrechlich, im somatischen, psychischen und sozialen
Bereich behindert und hilfsbedürftig ist...
• Es gibt andere, weiter reichende ethische Probleme als
„nur“ das der gefährdeten individuellen Autonomie..• Ist nicht in diesem Bereich ein weicher Paternalismus
sogar ethisch geboten?
Positive Perspektiven für die Langzeitbetreuung
Das Pflegeheim sollte in Zukunft einen genau definierten
Teil des Spektrums des Betreuungsangebotes für den
behindert, unselbständig, kontinuierlicher pflegerischer
und/oder medizinischer Betreuung bedürftig gewordenen
alten Menschen darstellen.
Es sollte in seiner infrastrukturellen und organisatorischen
Gestaltung der Tatsache gerecht werden, dass es für
einen bestimmten Anteil der alt werdenden Menschen eine
Wohnform, eine Alternative zum bisherigen Lebensraum
darstellen soll.
Positive Perspektiven für die Langzeitbetreuung
Das Pflegeheim sollte eine Betreuungsform nur für schwer
pflegebedürftige und/oder schwer kognitiv beeinträchtigte
Menschen sein, es soll anbieten:
– kompetente, wenn nötig auch medizinische, geriatrisch
qualifizierte Betreuung rund um die Uhr
– Wohnlichkeit, Wahrung der Privatsphäre
– aktivierende Pflege, Förderung der Selbständigkeit und
Autonomie
– alltagsnahe, anregende, „therapeutische“ bauliche
Umgebung
– palliative Betreuung
– Bezug zum bisherigen Lebenszusammenhang
– „Pflegeheimat“ (Sibylle Heeg)
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Kasuistik
Frau W., 95a
• PH-Aufnahme, Transfer aus einer Internen Abteilung, die
dortigen Diagnosen: Zustand nach Sturz,
Subduralhämatom, Beckenvenenthrombose, paroxysmales
Vorhofflimmern, Demenz…
• Pat. immobil, inkontinent, schweres kognitives Defizit, lehnt
aktivierende Pflege u. Rehabilitationsmaßnahmen ab.
• Absetzen der wegen Agitiertheit verordneten
neuroleptischen Medikation. Pat. bleibt ruhig, freundlich,
kooperativ, wenn man ihr ruhig und freundlich begegnet.
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Kasuistik
Forts. 1
• Rasche Progression der Demenz. Passive
Mobilisierung, Kontrakturprophylaxe, Rollstuhl...
Regelmäßige Besuche des einzigen Sohnes - sie
erkennt ihn nicht...
• Sie plaudert gerne, zunehmend inkohärent,
unverständlich, verbale Kommunikation unmöglich...
Non-verbale Kommunikation leicht: die Mimik und Gestik
sind sehr klar, ausdrucks- u. humorvoll.
• Nach 1 Jahr: häufiges Ablehnen von Essen u. Trinken,
progressive Verschlechterung des Ernährungsstatus
(Hypoalbuminämie, niedriger BMI, niedrige BCM etc.).
Klagt nie über Hunger oder Durst, scheint glücklich, nicht
leidend.
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Kasuistik - Forts. 2
• Nach weiteren 6 Mo. aktive Abwehr von Versuchen, ihr
einen Venenkatheter anzulegen, kratzt und schlägt die
Pflegepersonen, entfernt sich wiederholt alle Katheter...
Subkutane Infusionen toleriert sie besser.
• Besprechung der Situation mit dem Sohn unmöglich - er ist
wegen terminaler Krebserkrankung selbst hospitalisiert...
• Multidisziplinäre Fallbesprechung („Ethics Rounds“)
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Kasuistik - Forts. 3
Fragen, Diskussionspunkte für die „Ethics Rounds“:
•
•
•
•
•
Sollte die Pat. ausreichend ernährt und hydriert werden?
Auch wenn dies das Anlegen einer PEG - Sonde bedeutete?
Wäre in diesem Fall ein solcher Eingriff sinnvoll?
Wie holt man die OP-Einwilligung einer dementen Person ein?
Trotz objektiver Malnutrition, scheint sie darunter subjektiv nicht
zu leiden, leidet sie doch?
• Wie ist die Abwehr der invasiven Maßnahmen zu
interpretieren? Als Hinweis, dass sie sie nicht will?
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Kasuistik - Forts. 4
• Eine Pflegehelferin schildert, dass Frau W. regelmäßig
das ihr angebotene Essen mit der freundlichen
Aufforderung "Iss doch was? Willst Du was trinken? "
zurückreicht...
• Es wird empfohlen, dass die Pat. u. die jeweilige
Bezugspflegeperson gemeinsam die Mahlzeiten
einnehmen...
Ethische Entscheidungen am Lebensende
Kasuistik - Forts. 5
• Etwa 6 Wochen geschieht dies, Frau W. isst und trinkt
normal, solange die Pflegeperson mitisst und mittrinkt.
Die Gesellschaft anderer Patienten lehnt sie dabei ab...
• Danach isst und trinkt sie selbständig auch allein. Nach 6
Mo. erleidet sie einen Schlaganfall. Bis zu ihrem Tod
bleibt sie eine Woche komatös, erhält keine Infusionen.
• Frau W.stirbt am Tag des Begräbnisses ihres Sohnes.
Danke!
<[email protected]>
Herunterladen