PowerPoint-Präsentation - UNESCO

Werbung
UNESCO-Vorlesung WS 2006-07
Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler
Deutsche Abteilung „Wissenskulturen, Transkulturalität, Menschenrechte“
des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris)
www.unesco-phil.uni-bremen.de
Geschichte und Theorie des modernen
Staates: Vom Nationalstaat zur
transnationalen Rechtsordnung und zu
Vereinten Nationen
1
Thema der Vorlesung
Der Staat der europäischen Neuzeit entsteht im 15. und 16. Jahrhundert in
zentralistischen oder dezentralisierten Ordnungsstrukturen (Frankreich vs. Deutschland,
Italien) als Territorial- und Nationalstaat mit Souveränen, die als absolutistische Herrscher
›von den Gesetzen entbunden‹ sind. Der bald beginnende Kampf der bürgerlichen
Gesellschaft um den Rechtsstaat geht einher mit dem Kampf um Grund- und
Menschenrechte: Die zunächst als Abwehrrechte gegen den Staat begründeten
Ansprüche gegen staatliche Bevormundung bzw. Unterdrückung entwickeln sich mit den
unterschiedlichen Vertragstheorien zunehmend zur Konzeption ›Freiheit gesichert durch
Recht, Recht gesichert durch den Staat‹ und damit zu einer problematischen Struktur. Seit
dem beginnenden 19. Jahrhundert setzen der Liberalismus auf Entstaatlichung und der
Sozialismus/Kommunismus auf das ›Absterben des Staates‹. Zugleich entwickeln sich im
internationalen Staatensystem und Recht neue Formen transnationaler
Konfliktbewältigung, im 20. Jahrhundert zunächst u.a. als Völkerbund und dann nach den
Unrechtserfahrungen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust als Vereinte Nationen
und deren Unterorganisationen wie die UNESCO. In diesem Prozeß entstehen
transnationale Bündnissysteme wie NATO, Europäische Gemeinschaft, ASEAN u.a. Die
Vorlesung ist (philosophisch begründeten) Staatskonzeptionen und der Frage nach
Rechts- und Sozialstaatsfunktionen unter den Bedingungen nationalstaatlicher
Souveränitätsabtretung gewidmet.
2
Gliederung der Vorlesungsthemen
1. Was ist der Staat?
Perspektiven auf den Staat I
Theoretische Perspektiven auf den Staat
Praktische Perspektiven auf den Staat: Unrechtserfahrungen
Beispiele staatlichen Unrechts – Menschenrechtsverletzungen
(i) Verbrechen gegen die Menschlichkeit
(ii) Der ‘Krieg gegen den Terrorismus’
(iii) Völkerrechtswidrige Aggressionskriege
(iv) Unzulässige Abwägung von Menschenrechten und Sicherheit
(v) Folter
(v) Armut
(vii) Privatisierung des Staates und Korruption
Der Status und die Aufgabe der UNESCO-Vorlesung
3
Staatstheorie und Staat
Definitionen
Staatsformen
Entstehung des modernen Staatsbegriffs
Perspektiven auf den Staat II
Perspektive 1: Skepsis gegenüber einer philosophischen Theorie des Staates
Perspektive 2: Herrschaft und Unterdrückung
Franz Oppenheimer: Der Staat
Die soziologische Staatsidee
Perspektive 3: Der Staat als Form des Politischen
DOLF STERNBERGER: Von den drei Wurzeln der Politik
Perspektive 4: Der Staat als rechtlich verfaßte Gemeinschaft
REINHOLD ZIPPELIUS: Definition des modernen Staates
Perspektive 5: Staat und Kapitalismus
Stefan Breuer: Der Staat
Transnationale, internationale und supranationale Verflechtungen
4
2. Staat und Recht
Paradigmenwechsel vom „Staatsdenken“ zum „Verfassungsdenken“
Demokratie
Demokratieprinzip und Verfassunggebung
3. Staat und Verfassung: Das Grundgesetz und die Grundrechte
Staatliche Gewalt und Rechtsbindung durch Grundrechte: Art. 1 GG Menschenwürde
4. Pluralismus und Relativismus – Gründe für den Staat als Rechtsstaat
5. Die Rechtfertigung des Staates durch soziale und Rechtsfunktionen
Koordination durch eine wirksame rechtliche Normenordnung
Koordination durch eine homogene Normenordnung
6. Abschied vom Staat?
5
7. Etappen der Geschichte der modernen Staatstheorie
Niccolò Machiavelli: Il Principe (1513)
Jean Bodin: Les six livres de la république (1576)
Johannes Althusius (1557-1638), Hugo Grotius (1583-1645), Samuel Pufendorf
(1632-1694)
Thomas Hobbes: Leviathan, or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth,
Ecclesiastical and Civil (1651)
John Locke : Two Treatises on Government (1690)
Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu: De l´esprit des lois
ou rapport que les lois doivent avoir avec la constitution de chaque
gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce etc. (1748)
Jean-Jacques Rousseau : Du contrat social ; ou, principes du droit politique (1754)
Alexander Hamilton, James Madison, John Jay: The Federalist Papers: An das Volk
des Staates New York (1787/88)
Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des
Staats zu bestimmen (1792)
Immanuel Kant : Die Metaphysik der Sitten (Metaphysische Anfangsgründe der
Rechtslehre) (1797), Zum ewigen Frieden (1795)
6
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus
(1800); Das Recht als ‘zweite Natur’ und die Staatskritik
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821);
Recht, Staat und bürgerliche Gesellschaft
Von Marx bis Lenin und zum Marxismus: Staatslehre ohne Staat?
Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911); Sozialismus und Staat.
Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus (1920); Reine
Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (1934)
Hermann Heller: Staatslehre (1934)
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1928), Der Hüter der Verfassung (1931),
Legalität und Legitimität (1932), Staat, Bewegung, Volk: Die Dreigliederung der
politischen Einheit (1933), Der Führer schützt das Recht (1934)
Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946)
Franz Neumann: Demokratischer und autoritärer Staat (Aufsätze 1937-1954)
7
Perspektiven auf den Staat I
Theoretische Perspektiven auf den Staat
Der Staat wird in der Theoriegeschichte und aktuell von verschiedenen
wissenschaftlichen Disziplinen – vor allem: Rechts- und Staatswissenschaft,
Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie, Theologie – in unterschiedlichen
Perspektiven thematisiert. Der wichtigste Unterschied ist der zwischen deskriptiven und
normativen Theorien:
- Deskriptive Theorien sind ihrem Anspruch nach wertfreie Theorien, die auf der
Grundlage
der empirischen Untersuchung faktischer Staaten entstehen;
·
-
Normative Theorien sind durch Werturteile geprägte, kritische oder aber Zustände
verteidigende Theorien, die als Konstruktionen dessen entstehen, was der Staat sein
soll.
8
Wesentliche Unterschiede zwischen den Theorien bestehen auch in den
Rechtfertigungen des Staates, den Fragen nach dem Grund des Staates, und in
den Grundtypen staatstheoretischer Legitimation:
- aus dem faktischen bzw. historiographisch konstruierten Anfangszustand,
- aus dem gewollten Endzustand,
· - aus dem Willensursprung bzw. aus dem Zweck.
Die Soziologin grenzt sich vom Philosophen ab, „denn der interessiert sich nur für
den Staat, wie er sein soll“ (Oppenheimer)
Praktische Perspektiven auf den Staat: Unrechtserfahrungen
Staat und Recht, gesellschaftliche Wirklichkeit und Verfassung, Demokratie und
Abbau des Rechtsstaats – dies sind brisante Themen, gegen deren
wissenschaftliche Behandlung sich viele aufgrund negativer Erfahrungen mit dem
Staat und des Wissens um weltweite Probleme mit dem Rechtsstaat, dem
Sozialtaat und der Demokratie sperren. Von Abu Ghreib bis Guantánamo, von
Hartz IV bis zu schlechten Studienbedingungen – die Liste des Negativen ist
schier unerschöpflich. Wie soll man in der Staatstheorie, in der
Rechtswissenschaft und in der Rechtsphilosophie damit umgehen?
9
Der Status und die Aufgabe der UNESCO-Vorlesung
Ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Situation von Staat und Recht bzw. Unrecht
wäre eine Vorlesung zur Geschichte und Theorie des modernen Staates empirisch
blind und dementsprechend begrifflich leer. Eine Vorlesung an der Universität Bremen
ist deren Leitzielen verpflichtet, in denen es u.a. heißt: „Lehrende und Lernende der
Universität Bremen orientieren sich an den Grundwerten der Demokratie,
Menschenrechte und sozialen Gerechtigkeit“. Und eine UNESCO-Vorlesung an der
Universität Bremen ist mit den Zielen der Vereinten Nationen und der UNESCO dem
Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller
Ausdrucksformen (2005) verpflichtet, d.h. sie steht ein „für die volle Verwirklichung der
in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in anderen allgemein
anerkannten Übereinkünften verkündeten Menschenrechte und Grundfreiheiten [...]“.
In dieser Perspektive hat die Vorlesung den Status einer Einführung in die normative
Theorie des Staates und des Rechts und die Aufgabe, im Blick auf die geschichtliche
Entwicklung der Staatstheorien zu erklären, was der Staat sein soll und sein kann.
Hieraus ergibt sich ihre kritische Funktion: Von ‘Kritik’ ist hier in zweifacher Bedeutung
die Rede: (i) geht es entsprechend dem philosophischen Begriff von Kritik darum, die
Bedingungen der Möglichkeit (Kant) des Staates zu analysieren; und (ii) geht es um
die praktische Kritik an Deformationen des Staates und seiner normativ begründeten
Funktionen.
10
Was ist die Grundlage der Kritik? Die Ethik? Aber welche? Also eine Ethik? Gegen die Annahme,
Ethik könne nicht nur in der Theorie, sondern auch mit praktischer Wirkung die – gar die einzige
– Grundlage einer Staatskritik sein, sprechen zwei Gründe: (i) Der erste Grund ergibt sich
daraus, daß Menschen nicht uneingeschränkt gut sind und nach Maßstäben des Guten handeln.
Mit den Worten, die Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht gibt: „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz
Gerades gezimmert werden“. Kant hat hieraus – nicht zuletzt in seiner staats- und
völkerrechtlichen Schrift zum ewigen Frieden (1795) – eine Konsequenz gezogen, die auch für
diese Vorlesung der Wegweiser ist:
„Was die Natur in dieser Absicht beziehungsweise auf den Zweck, den dem Menschen seine
eigene Vernunft zur Pflicht macht, mithin zu Begünstigung seiner moralischen Absicht thue, und
wie sie die Gewähr leiste, daß dasjenige, was der Mensch nach Freiheitsgesetzen thun sollte,
aber nicht thut, dieser Freiheit unbeschadet auch durch einen Zwang der Natur, daß er es thun
werde, gesichert sei, und zwar nach allen drei Verhältnissen des öffentlichen Rechts, des Staats, Völker- und weltbürgerlichen Rechts. – Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder
jenes geschehe, so heißt das nicht soviel als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun (denn das
kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie thut es selbst, wir mögen wollen oder
nicht [...].
11
1. Wenn ein Volk auch nicht durch innere Mißhelligkeit genöthigt würde, sich unter den Zwang
öffentlicher Gesetze zu begeben, so würde es doch der Krieg von außen thun, indem nach der
vorher erwähnten Naturanstalt ein jedes Volk ein anderes es drängende Volk zum Nachbar vor
sich findet, gegen das es sich innerlich zu einem Staat bilden muß, um /VIII366/ als Macht gegen
diesen gerüstet zu sein. Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht
der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu
erhalten ist, dermaßen daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen
mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären.
Aber nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohnmächtigen allgemeinen, in der
Vernunft gegründeten Willen und zwar gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen zu Hülfe, so
daß es nur auf eine gute Organisation des Staats ankommt (die allerdings im Vermögen der
Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, daß eine die anderen in ihrer
zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt,
als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter
Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung
ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)
auflösbar und lautet so: »Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine
Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen
geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren
Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem
öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen
hätten.« Ein solches Problem muß auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung
der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt,
wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen
in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst
nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen.“
12
(ii) Der zweite Grund ergibt sich daraus, daß de facto moderne Gesellschaften durch
einen Pluralismus von moralischen Einstellungen, Bedürfnissen, Interessen und Kulturen
charakterisiert sind. Eine allgemeine, in der Praxis durchsetzbare Verpflichtung auf die
eine Ethik gehört nicht zu den Merkmalen moderner Gesellschaften. Bedeutet dies die
Ohnmacht ethischer Normen im Verhältnis zu Staat und Recht? Otfried Höffe schreibt
hierzu in seinen ‘Philosophischen Versuchen zur Rechts- und Staatsethik’: Die
„moralische Beurteilung [wird] an die Rechts- und Staatsverhältnisse nicht von außen
herangetragen. Sie ist ihnen vielmehr in gewisser Weise immanent. Denn ob wir
politische Kritik üben, ob wir gegen Unrecht protestieren oder aber eine legitime Rechtsund Staatsordnung frei anerkennen: in all diesen Fällen werfen wir die Frage auf, ob die
gegebenen politischen Verhältnisse auch gut und richtig seien. Und diese Frage nach
dem Guten und Richtigen beschränken wir nicht auf die Angemessenheit an beliebige
Ziele oder Zwecke. Wir geben uns auch nicht mit dem Wohlergehen von Minderheiten
oder Mehrheiten zufrieden. Wir beanspruchen ein darüber hinausgehendes, ein
moralisches Gutsein. Die moralische Beurteilung von Recht und Staat kann in
unterschiedlicher Radikalität erfolgen. Entsprechend gibt es verschiedene Stufen einer
Rechts- und Staatsethik.“
13
Die aus theoretischen (anthropologischen) und praktischen Gründen zu ziehende
Schlußfolgerung lautet, daß nicht (private) Ethiken und (private) Moralvorstellungen die
in der gesellschaftlichen Praxis wirksame Grundlage der Kritik von Staat und Recht sein
kann, sondern dies vom Recht geleistet werden muß. Es muß dann allerdings gesagt
werden, von welchem Recht. Die Rede kann hier nicht von Recht schlechthin sein,
sondern vom Recht, das nach dem Maßstab der Menschenwürde, der Gleichheit,
Freiheit und Gerechtigkeit genügt. Das Recht, das Grundlage der Staatskritik ist, muß
selbst permanent im Lichte dieses Maßstabs der Kritik unterzogen werden. Um zu
vermeiden, daß diese Argumentation zirkulär wird, führe ich zwei Prämissen ein:
14
Prämisse 1:
Die Basis einer Staats- und Rechtskritik kann aus pragmatischen Gründen nicht aus
einer bestimmten materialen wertethischen Begründung gewonnen werden – sie wäre
nicht konsensfähig –, sondern nur im Rahmen einer formalen Rechtskonzeption.
Wenn der Pluralismus und das Recht auf Dissens auch die Antworten auf die Frage
nach dem richtigen Recht dominieren, dann ist zu fragen, welche Begründungen des
Rechts und Legitimationen des Staates Chancen einer möglichst breiten
Anerkennung eröffnen. Die moderne Demokratie verlangt nach formalen, den
Weltinterpretationen gegenüber neutralen Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gleichheit
und der Allgemeinheit des Rechts.
[1]
Prämisse 2:
Die formale Rechtskonzeption ist verwirklicht im System der aus den
Menschenrechten entwickelten bzw. zu entwickelnden Grundrechte. Die Legitimation
des Staates und die Gesetzgebung aus richtigem Recht ist ohne die Tieferlegung der
Begründung der Grundrechte durch die Menschenrechte nicht möglich. Die einzige
heute denkbare materiale Grundlage der ‘Grundnorm Verfassung’ und der in ihr
positivierten Grundrechte besteht in der Gesamtheit der positivierten
Menschenrechte. Die Verfassung muß sich mit der Entwicklung des positiven
Menschenrechte-Rechts weiterentwickeln. So wird sie zur letzten Grundlage der Kritik
an Zuständen in Staat und Recht.
15
16
l. Zur Begründung des säkularen Verfassungsstaates aus den Quellen praktischer
Vernunft
Der politische Liberalismus (den ich in der speziellen Form eines Kantischen
Republikanismus verteidige) versteht sich als eine nichtreligiöse und nachmetaphysische
Rechtfertigung der normativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates.
Diese Theorie steht in der Tradition eines Vernunftrechts, das auf die starken
kosmologischen oder heilsgeschichtlichen Annahmen der klassischen und religiösen
Naturrechtslehren verzichtet. Die Geschichte der christlichen Theologie im Mittelalter,
insbesondere die spanische Spätscholastik gehören natürlich zur Genealogie der
Menschenrechte. Aber die Legitimationsgrundlagen der weltanschaulich neutralen
Staatsgewalt stammen am Ende aus den profanen Quellen der Philosophie des 17. und
18. Jahrhunderts. Erst sehr viel später bewältigen Theologie und Kirche die geistigen
Herausforderungen des revolutionären Verfassungsstaates. [...]
Die nachkantische Begründung liberaler Verfassungsprinzipien hat sich im 20.
Jahrhundert weniger mit den Nachwehen des objektiven Naturrechts (sowie der
materialen Wertethik) auseinandersetzen müssen als mit historistischen und
empiristischen Formen der Kritik. Nach /19/ meiner Auffassung genügen schwache
Annahmen über den normativen Gehalt der kommunikativen Verfassung soziokultureller
Lebensformen, um gegen den Kontextualismus einen nicht-defaitistischen Vernunftbegriff
und gegen den Rechtspositivismus einen nicht-dezisionistischen Begriff der
Rechtsgeltung zu verteidigen.
17
Die zentrale Aufgabe besteht darin zu erklären,
 warum der demokratische Prozess als ein Verfahren legitimer Rechtsetzung gilt, und
 warum sich Demokratie und Menschenrechte im Prozess der Verfassungsgebung
gleichursprünglich miteinander verschränken.
Die Erklärung besteht in dem Nachweis,
 dass der demokratische Prozess in dem Maße, wie er Bedingungen einer inklusiven und
diskursiven Meinungs- und Willensbildung erfüllt, eine Vermutung auf die rationale
Akzeptabilität der Ergebnisse begründet, und
 dass die rechtliche Institutionalisierung eines solchen Verfahrens demokratischer
Rechtsetzung die gleichzeitige Gewährleistung sowohl der liberalen wie der politischen
Grundrechte erfordert.
Der Bezugspunkt dieser Begründungsstrategie ist die Verfassung, die sich die assoziierten
Bürger selber geben, und nicht die Domestizierung einer bestehenden Staatsgewalt. Diese soll
auf dem Wege der demokratischen Ver- /20/ fassungsgebung erst erzeugt werden. Eine
„konstituierte“ (und nicht nur konstitutionell gezähmte) Staatsgewalt ist bis in ihren innersten
Kern hinein verrechtlicht, so dass das Recht die politische Gewalt ohne Rest durchdringt. [Es
gibt] im Verfassungsstaat kein Herrschaftssubjekt, das von einer vorrechtlichen Substanz
zehrte. [...]
Wenn man [...] das demokratische Verfahren nicht (wie Hans Kelsen oder Niklas Luhmann)
positivistisch versteht, sondern als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität
begreift, entsteht kein Geltungsdefizit, das durch „Sittlichkeit" ausgefüllt werden müsste.
Habermas, J./ J. Ratzinger, 2005, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorw. hrsg. v. F.
Schuller, Freiburg/ Brsg. [Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005], S. 18-20.
18
Transformation der Menschenrechte in positives Recht
Als moralische Rechte können Menschenrechte zwar eingefordert werden, und es ist
auch möglich, ihre Verletzung moralisch zu verurteilen, derartige
Durchsetzungsinstrumente bestehen aber [...] treffend bemerkt hat, »aus einem sehr
ätherischen Material«. Niemand wäre »vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher«.
Wenn es ein moralisches, also gegenüber jedem begründbares Recht zum Beispiel auf
Leben gibt, dann muß es auch ein gegenüber jedem begründbares Recht darauf geben,
daß eine gemeinsame Instanz geschaffen wird, die jenes Recht durchsetzt. Andernfalls
wäre die Anerkennung moralischer Rechte keine ernsthafte Anerkennung, was ihrem
fundamentalen und vorrangigen Charakter widerspräche. Die zur Durchsetzung der
Menschenrechte einzurichtende gemeinsame Instanz ist der Staat. Es gibt also ein
Menschenrecht auf den Staat. Durch die Einrichtung eines Staates als
Durchsetzungsinstanz werden die moralischen Rechte, die die einzelnen gegeneinander
haben, in inhaltsgleiche Rechte des positiven Rechts transformiert. Zusätzlich entstehen
als neue Rechte die Rechte der einzelnen gegen den Staat auf Abwehr, Schutz und
Verfahren. (R. Alexy)
19
Der Staat: Definitionen
Allgemein kann ‘Staat’ als der gesellschaftliche Gesamt-Apparat bezeichnet werden,
die über eine institutionalisierte Zentralgewalt mit funktionsfähigem Apparat von
ausreichender Stabilität und territorialer Erstreckung verfügt und die in einer durch
Interessenkonflikte strukturierten Gesellschaft das Gewaltmonopol ausübt.
Der Pluralismus der Erwartungen gegenüber dem Staat und der faktischen
Staatsformen und -funktionen ist die Ursache dafür, daß ein einheitlicher und allgemein
konsentierter Staatsbegriff nicht existiert. Die klassische Bestimmung Max Webers, der
Staat sei „ein auf das Mittel der legitimen [...] Gewaltsamkeit gestütztes
Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ ist zu einseitig auf das Merkmal
der Gewalt abgestellt, als daß sie die heute feststellbaren Staatsfunktionen erfassen
könnte. Eine dynamischere und dem Staat in seiner historischen Entwicklung und
Veränderbarkeit angemessenere Definition findet sich bei H. Heller: „Der Staat ist ein
durch repräsentativ aktualisiertes Zusammenhandeln von Menschen dauernd sich
erneuerndes Herrschaftsgefüge, das die gesellschaftlichen Akte auf einem bestimmten
Gebiet in letzter Instanz ordnet“.
20
Def. 1: „Staat (von lat. status, Stand, Zustand; engl. state, franz. état, ital. stato),
Terminus der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie [...] zur
Bezeichnung einer politischen Herrschaftsordnung und ihrer konkreten, territorial
und historisch abgegrenzten Ausformungen. (1) Der Terminus >S.< bezieht sich auf
die allge’meine Form rechtlich geordneter, gebietsbezogener politischer Herrschaft
als Versuch, dem Zusammenleben der Menschen eine dauerhafte, gerechte und
friedliche Ordnung zu geben. Ein vereinfachter, die geschichtliche und kulturelle
Gebundenheit staatlicher Herrschaftsorganisation beiseite lassender S.sbegriff
reiht die drei >Elemente< S.svolk, S.sgebiet und S.sgewalt aneinander. Im
engeren Sinne bezeichnet der Terminus >S.< den Nationalstaat der europäischen
Neuzeit, der sich in einer vielgestaltigen Entwicklung seit dem Zerbrechen des
mittelalterlichen Universalismus von Kaiser und Papst, dem Hundertjährigen Krieg
Englands und Frankreichs, der italienischen Renaissance, der Reformation und
den konfessionellen Bürgerkriegen bis zu den bürgerlichen Revolutionen
herausgebildet hat, gekennzeichnet durch Souveränität nach innen und außen,
territoriale Ausschließlichkeit der Herrschaftsausübung und eine selbständige
positive Rechtsordnung.“
21
Def. 2: „Staat. 1. Eine unabhängige, politisch organisierte Gemeinschaft, näher bestimmt
als die selbständige, politische Organisatìon einer solchen Gemeinschaft, die über ein
eigenes Rechtssystem und eine zentrale Regierungsmacht verfügt und die die
Souveränität über ein bestimmtes Gebiet (Territorium) innehat. 2. Das System politischer
Institutionen, das durch seine Autoritätsstruktur die souveräne oder letztlich
entscheidende Macht in einer Gesellschaft ausübt. 3. Ein konzentrierter (zentralisierter)
institutioneller Apparat, der in größerem oder kleinerem Maß die Verhältnisse zwischen
den Individuen und den Gruppen in einer Gesellschaft beherrscht. Inhaltlich läßt sich
diese Bestimmung in verschiedener Weise verstehen: Als ein notwendiges, aber
grundsätzlich begrenztes Machtinstrument. eine Rechtsordnung sicherzustellen, die die
Freiheit der Individuen (Liberalismus) schützt; als ein Macht- oder
Unterdrückungsapparat, der für die bestehende Kluft zwischen Herrschenden und
Beherrschten in einer Gesellschaft verantwortlich ist (die negative Einschätzung des S.
wird etwa im Anarchismus vertreten); oder den Interessen der ökonomisch herrschenden
Klasse dient (vgl. Marxismus).“
22
Def. 3: „The modern state has been defined in different ways by anthropologists,
sociologists, political scientists, historians and lawyers, as well as by philosophers.
There is much overlap between the definitions and broad agreement on the main
features which a political organization must exhibit in order to belong to the class ‘the
state’ […] (1) There is a population which reproduces itself and whose members are
socially related. (2) There is territory. (3) There is a single government, which: (a) is a
distinct body of rule, supported by a judicial, administrative and military machine; (b) is
the ultimate prescriber and enforcer of law for all those within its jurisdiction; (c) claims
exclusive control of the use of force within the territory and has preponderant control of
its use; (d) claims authority for its existence and actions and is generally accepted as
authoritative. (4) The state is legally and politically independent from other states,
and recognized by other states as an independent or sovereign state.”
23
Def. 4: „ÉTAT [pol.] Si l´étymologie renvoie au latin status (de stare), le sens du mot
renvoie au grec pólis (cité) et au latin Civitas. Le mot Etat n'apparaît qu'au xviè siècle
chez Guichardin et Machiavel. Il désigne alors une «physionomie historique» du
politique. L'Etat ne se confond donc pas avec la catégorie entière du politique. […]
L'idée d'Etat n'apparaîtra qu'avec la volonté de distinguer les rapports de gouvernants à
gouvernés, c'est-à-dire d'autorité à obéissance, des rapports privés de chef à sujets. La
notion d'Etat implique, comme telle, l´idée d'un Pouvoir qui transcende les volontés
particulières de ceux qui commandent. […] Le concept d'Etat, qui naît avec la
Modernité et qui correspond, historiquement, à la transformation politique de l´Europe,
implique que l´on dissocie la réalité politique qui représente de tous les autres
phénomènes communautaires qui, tels le clan, la tribu on même la nation, sont
naturels. En conséquence, on ne peut réduire l´Etat aux éléments qui - territoire, réalité
ethnique et même nation - sont assurément subsumés par son concept, mais ne le
constituent pas en son essence. Toutefois, L´Etat n'est pas une entité purement
formelle: il a bel et bien une réalité, que nous ressentons d'ailleurs quotidiennement
lorsque, par exemple, nous accusons l'Etat d'être injuste ou trop exigeant. Mais cette
réalité est celle d'une idée. L'Etat, qui procède de l´institutionnalisation du
Pouvoir conformément à des exigences rationnelles d'ordre, est d'abord et
fondamentalement une réalité pensée: la réalité de l´Etat est d'ordre conceptuel.
Elle requiert, en son existence même, un artifice intellectuel. L'Etat n'est donc pas un
donnée de la nature ; il est une construction de l´esprit. C'est pourquoi ce ne sont pas
des éléments de fait mais seulement des éléments de droit qui en déterminent
24
l'essence.”
Staatsformen
Klassische Einteilung (nach Platon und Aristoteles)
Einherrschaft
Herrschaft weniger
Volksherrschaft
Positiv
Monarchie:
Monarch
regiert im Interesse des
Gemeinwohls
Aristokratie: Herrschaft
der Besten zum Wohle
aller
Demokratie:
Gerechtigkeit durch
Herrschaft aller
Negativ
Despotie/Tyrannis:
Willkürherrschaft
Ochlokratie/Plutokratie:
Eigennützige,
willkürliche
Gruppenherrschaft
Ochlokratie: Keine
Herrschaft, es gilt das
Recht des Stärkeren
25
Staatsformen: Moderne Einteilung (seit Machiavelli)
Einzelherrschaft
Diktatur
Mehrherrschaft,
Herrschaft von Gruppen oder aller
Fürstenherrschaft/Monarchie
Gruppenherrschaft
Mittelbare Demokratie
Absolute Monarchie
Ständische
Monarchie
Volksherrschaft
Unmittelbare Demokratie
Beschränkte Monarchie
Konstitutionelle
Monarchie
Parlamentarische
Monarchie
Präsidialdemokratie
Parlamentarische Demokratie
26
Perspektiven auf den Staat II
Perspektive 1: Skepsis gegenüber einer philosophischen Theorie des Staates
„STAAT. I. Eine philosophische Analyse des Staates ist heute nicht möglich, ohne zuvor
die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu nennen - so sehr sind sowohl Gegenstand als
auch Methode in Zweifel geraten.
I.I Die erste und zugleich grundlegende Frage bezieht sich auf die Möglichkeit, den
Staat überhaupt als Phänomen oder Problem unter einem spezifisch philosophischen
Blickwinkel zu betrachten. Sie gründet in den bekannten Selbstzweifeln der neueren
Philosophie, ob ihr heute neben den »positiven« Natur-, Sozial- und
Geisteswissenschaften noch ein legitimer Raum bleibt. Der Versuch, diese Zweifel
aufzulösen, müßte schließlich zu einer Kritik der der Skepsis zugrunde liegenden
nominalistischen Metaphysik führen. Es muß der Hinweis genügen, daß die
philosophische Staatslehre nur als praktische Philosophie entwickelt werden kann, die
eine realistische Metaphysik voraussetzt. Unter praktischer Philosophie wird hier im
Gegensatz zu einer quasi naturwissenschaftlichen, statistische Gesetzmäßigkeiten
erforschenden Betrachtung des menschlichen Handelns (Praxis) die Reflexion des
Menschen auf sich selbst als Handelnden verstanden.“
27
Perspektive 2: Herrschaft und Unterdrückung
Franz Oppenheimer: Der Staat
Ältere staatsphilosophische Systeme haben den Versuch einer solchen umfassenden
Abstraktion gemacht und sind zu dem noch heute vielfach gelehrten Ergebnis gelangt,
daß das Wesen des Staates das einer Schutzanstalt sei: der Grenzschutz nach außen,
der Rechtsschutz nach innen sei seine ratio fiendi et essendi. [...]
Und in der Tat hat die Anschauung einen richtigen Kern: aber sie ist nicht vollständig. Sie
hat einen wichtigen, allen Staaten gemeinsamen Charakterzug übersehen: jeder Staat
der Vergangenheit und Geschichte, dem dieser Name unbestritten zukommt, jeder Staat
vor allem, der in seiner Entwicklung zu höheren Stufen der Macht, der Größe und des
Reichtums weltgeschichtlich bedeutsam geworden ist, war oder ist ein Klassenstaat,
d. h. eine Hierarchie von einander über- und untergeordneten Schichten oder Klassen
mit verschiedenem Recht und verschiedenem Einkommen.
Unsere Erörterung wird zeigen, daß dieser Zug der wichtigste, /13/ der entscheidende,
der primäre Charakter des Staates ist, aus dem allein seine Entstehung und sein Wesen
erkannt werden kann; sie wird es nämlich klar machen, daß die Schutzfunktion des
Staates nach innen und außen verstanden werden muß als sekundäre, von der
Oberklasse im Interesse ihrer Herrschafts- und Einkunftsrechte übernommene Pflicht.
Der Staat entsteht nicht im Interesse der Schutzfunktion, sondern es entsteht umgekehrt
die Schutzfunktion im Interesse des schon bestehenden Staates.
28
Perspektive 3: Der Staat als Form des Politischen
DOLF STERNBERGER: Von den drei Wurzeln der Politik
Wir haben es in unserer Welt und Sprache nicht mit einem einzigen Begriff des
Politischen, nicht mit einem einzigen Bedeutungsstrang, einer einzigen Tradition der
Theorie, einer einzigen Klasse von Phänomenen zu tun, sondern mit deren dreien.
Politik erwächst nach Begriff und Erscheinung aus drei getrennten Wurzeln: der
aristotelischen oder anthropologischen, der machiavellistischen oder dämonologischen,
der augustinischen – auch leninischen – oder eschatologischen.
Aus der ersten resultiert die Lehre vom Staat und der Staatsverfassung und von der
Politik als derjenigen gemeinschaftlichen Tätigkeit, die auf „Glückseligkeit“ in der
organisierten menschlichen Gesellschaft gerichtet ist. Aus der zweiten resultiert die
Lehre von den Kunstmitteln der Herrschaft, ihrer Gewinnung und Erhaltung,
einschließlich der Mittel der Gewalt und des Krieges. Aus der dritten Wurzel erwachsen
die Lehren von der großen Veränderung und ihrer Vorbereitung [...].
29
Von den drei Wurzeln der Politik
Aus: Park Körner Digitale Schulbücher
30
Perspektive 4: Der Staat als rechtlich verfaßte Gemeinschaft
REINHOLD ZIPPELIUS: Definition des modernen Staates
1. Staaten als rechtlich verfasste Gemeinschaften mit oberster Regelungsmacht: [...] Die staatliche
Rechtsgemeinschaft ist eine Gemeinschaft, deren Zusammenleben durch „garantiertes Recht“
geordnet ist, d.h. durch Normen, deren Befolgung durch rechtlich organisierte Erzwingungsverfahren
gewährleistet ist. Durch die zuverlässige Rechtsgewährleistung wird eine wesentliche Aufgabe des St
erfüllt: Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu sichern. Um ihre Befriedungsfunktion zu erfüllen, muss
die staatliche Gemeinschaft das Recht wirksam durchsetzen und hierbei insbesondere das „Monopol
legitimer physischer Gewaltsamkeit“ (Max Weber) gegen nichtstaatliche (kriminelle oder politische)
Gewalttätigkeiten behaupten. [...]
2. Das Staatsvolk: Unverzichtbares Element jedes St ist ein St-Volk, verstanden als die Gesamtheit der
unter der Regelungsmacht dieses St stehenden Menschen. Zu ihnen gehören im Territorial-St. alle im
St-Gebiet befindlichen Menschen, ohne Rücksicht auf ihre St-Angehörigkeit. [...]
Der Begriff des St-Volkes im soeben genannten Sinne deckt sich nicht ganz mit der Gesamtheit der StBürger (St-Angehörigen). Nur den mündigen St-Bürgern (nicht auch den Ausländern und den
Staatenlosen) kommt in der Demokratie auch die Rolle zu, die obersten Organe zu bestellen,
möglicherweise auch Volksentscheide zu treffen und auf diese Weise Quelle und Legitimationsbasis
aller St-Gewalt zu sein [...].
3. Das Staatsgebiet: Im Personenverbands-St (etwa der Völkerwanderungszeit) hat die Einheit des
Herrschaftsverbandes personale Bezüge (Zugehörigkeit zu einem Stammesverband). Demgegenüber
ist im Territorial-St ein fest umgrenztes Gebiet Grundlage der Einheit des Herrschaftsverbandes: Wer
immer sich auf dem Territorium befindet, unterliegt der territorialen Regelungsgewalt. Der moderne
Staat ist also „Gebietskörperschaft“. Juristisch gesehen ist das St-Gebiet jener Bereich, auf dem die
Regelungsmacht eines staatlichen Herrschaftsverbandes wirksam ausgeübt werden kann.
31
Perspektive 5: Staat und Kapitalismus
Stefan Breuer: Der Staat
Es ist [...] für die gegenwärtige Identifikation von Staat und Wirtschaft kennzeichnend,
dass der Staat in eine Dienstfunktion gegenüber dem industriell-wirtschaftlichen Prozeß
gerät. Es wächst zwar die Weite seiner Aufgaben, aber in gleichem Maße wächst die
Schwäche seiner eigenen Entscheidungsmacht. Bei seiner Regulierungs- und
Steuerungsfunktion ist er nicht in der Position des <höheren Dritten>, der selbst die
Zügel in der Hand hält, sondern Träger einer Komplementärfunktion für den industriellwirtschaftlichen Prozeß. Er setzt nicht seinerseits die für die Entwicklung und
Regulierung des wirtschaftlichen Prozesses maßgeblichen Daten, sondern handelt reaktiv auf die aus dem wirtschaftlichen Prozeß ihm gegenüber autonom sich ergebenden
Daten und Tendenzen. Subjekt des sogenannten globalen Steuerungsprozesses ist
nicht der Staat, sondern der industriell-wirtschaftliche Prozeß selbst; der Staat ist ihm
gegenüber <Erfüllungsgehilfe>, leistet die <Ausfallbürgschaften>, um sein immanentes,
auf Wachstum, Produktivität und Ertrag ausgerichtetes Funktionieren zu gewährleisten
[...].
32
Staat und Recht
Man kann nicht über den Staat reden, ohne über das Recht zu sprechen. Die Situation ist
paradox. In der Moderne hat die Durchsetzung von Subjektivität und Individualrechten
Interessenkollisionen bewirkt und deshalb eine Verrechtlichung von Lebensbeziehungen
der Menschen, die zuvor als durch Konformität in Moral und Sittlichkeit geregelt galten.
Das Paradox läßt sich auf die einfache Formel bringen:
Je mehr Freiheit, desto mehr Recht; je mehr Recht, desto mehr Staat; je mehr Staat,
desto weniger Freiheit; je weniger Freiheit, desto größer der Bedarf an Recht – und
Staat, und Recht usf.
Die Grundrechte und Menschenrechte sind Ausgestaltungen des Rechts auf Rechte, sie
kommen jedem Individuum ‘von Natur’ aus zu. Will man naturalistische oder
metaphysische Mißverständnisse vermeiden, so kann ‘von Natur aus’ nur bedeuten: vor
ihrer Positivierung durch den Staat. ‘Vor’ bezeichnet nicht die Genesis (Enstehung)
dieser Rechte in der Zeit, sondern ist Merkmal der Geltungsbegründung: Rechte
kommen den Menschen als Menschen zu und werden nicht vom Staat ‘gewährt’; der
Staat hat vielmehr die Funktion, den Individuen als Rechtspersonen Menschenwürde,
Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit als Menschen- und Grundrechte zu garantieren, die
Rechte zu schützen und für Bedingungen ihrer Verwirklichung zu sorgen.

33
1. Die Ideale der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit wurden in der Moderne auf der
Basis der Trennung von Gesellschaft und Staat entwickelt. In diesem Prozeß spielt die
Trennung von Staat und Religion eine wichtige Rolle (ein aktuell diskutiertes Thema: „Der
Islam ist Religion und Staat“). Die Idee der Rechte, die jedem Individuum von (Vernunft-)
Natur aus zukommen, ist die Idee der Sicherung der Freiheit durch Recht gegen staatliche
Bevormundung bzw. Unterdrückung. Gleichwohl wird ihre Verwirklichung dem Staat als
Recht erzwingender Institution überantwortet. Die Grundrechte sind in ihrer Beschränkung
auf politische, vom Staat gewährte Bürgerrechte eine problematische „Antwort auf die
gleichbleibende Grundfrage des Verhältnisses zwischen individueller Freiheit und
politischer Ordnung.“
34
2. Angesichts der widersprüchlichen Wechselbedingtheit von Rechtsidee und
Rechtsdurchsetzung, von Recht und Staat, haben die meisten Rechtsphilosophien in
der Moderne die Strategie verfolgt, Gründe des richtigen Rechts in substantiellen
Voraussetzungen zu finden: im Menschen als Kreatur Gottes, in der Natur und Vernunft
des Menschen. Aus dieser Strategie gehen der normative Status und die doppelt
kritische Funktion der Rechts- und Staatstheorie hervor: a) Recht als Kritik (Zähmung)
des Staats; b) Staat als Kritik (Unterbindung) individueller Willkür. Zunehmend
kritisch und normativ, wird die Rechts- und Staatsphilosophie zum Spiegel
schwindenden Vertrauens in verwirklichte Gerechtigkeit und somit in die Geltung des
Rechts; ein wesentlicher Grund hierfür ist, daß – in Kompensation der Pluralität der
Interessen und subjektiven Rechts-Verständnisse – Institutionen des Rechts, der
Herrschaft und des Staats eine Ordnung garantieren müssen, die zunehmend als
abstrakt und der Lebenswelt fremd wahrgenommen werden. „Ständige Ausbreitung [des
Rechts], Auseinandertreten von Moral und Recht, zunehmende Verflechtung von Recht
und Politik“ kennzeichnen diesen historischen Prozeß. Die „ständige Ausbreitung
staatlicher Herrschaft“ ist aber zugleich „verbunden mit Bemühungen, sie auf
dem Rechtswege wieder einzuschränken. Beides ist die Funktion von Recht
heute. Auf der einen Seite ist es ein Herrschaftsinstrument. [...] Auf der anderen
Seite dient es der Einschränkung staatlicher Macht.“
35
Transformation der Menschenrechte in positives Recht
Als moralische Rechte können Menschenrechte zwar eingefordert werden, und es ist
auch möglich, ihre Verletzung moralisch zu verurteilen, derartige
Durchsetzungsinstrumente bestehen aber [...] treffend bemerkt hat, »aus einem sehr
ätherischen Material«. Niemand wäre »vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher«.
Wenn es ein moralisches, also gegenüber jedem begründbares Recht zum Beispiel
auf Leben gibt, dann muß es auch ein gegenüber jedem begründbares Recht darauf
geben, daß eine gemeinsame Instanz geschaffen wird, die jenes Recht durchsetzt.
Andernfalls wäre die Anerkennung moralischer Rechte keine ernsthafte Anerkennung,
was ihrem fundamentalen und vorrangigen Charakter widerspräche. Die zur
Durchsetzung der Menschenrechte einzurichtende gemeinsame Instanz ist der
Staat. Es gibt also ein Menschenrecht auf den Staat. Durch die Einrichtung
eines Staates als Durchsetzungsinstanz werden die moralischen Rechte, die die
einzelnen gegeneinander haben, in inhaltsgleiche Rechte des positiven Rechts
transformiert. Zusätzlich entstehen als neue Rechte die Rechte der einzelnen
gegen den Staat auf Abwehr, Schutz und Verfahren. (R. Alexy)
36
Staat, Grund- und Menschenrechte
1215
1679
England. Magna Charta Libertatum
Habeas-Corpus-Gesetz
1689
England. Bill of Rights
Die angemaßte Macht, durch königliche Autorität ohne Zustimmung des
Parlaments Gesetze oder die Ausführung von Gesetzen auszusetzen, ist
ungesetzlich.
Die angemaßte Macht, durch königliche Autorität Gesetze oder die Ausführung
von Gesetzen aufzuheben, wie sie in der Vergangenheit angemaßt und ausgeübt
wurde, ist ungesetzlich.
*
37
1776
Virginia. Bill of Rights
Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und
besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft
durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche
Verbindung eingehen, und zwar den Genuß des Lebens und der Freiheit, die
Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen
von Glück und Sicherheit.
Alle Macht ruht im Volke und leitet sich folglich von ihm her; die Beamten sind
nur seine Bevollmächtigten und Diener und ihm jederzeit verantwortlich.
1789
Frankreich. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
1791
Verfassung der Vereinigten Staaten
38
39
Der Staat als Bedroher und Beschützer der Menschenrechte
Menschenrechte wurden erkämpft gegen staatliche Allmacht und Übermacht.
Vom Ursprung der Menschenrechtsidee her ist der Staat gewissermaßen ihr
natürlicher Gegner. Traurige Beispiele der Gegenwart belegen weltweit, daß
dieses Konzept noch nicht überholt ist. Zugleich hat die Analyse aber gezeigt,
daß Staaten und Staatengemeinschaften auch die unentbehrlichen und allein
wirkmächtigen Beschützer der Menschenrechte sind. Sie sind es um so mehr, je
mehr die Inhalte der Menschenrechte auf staatliche Leistungen gerichtet sind.
Wirksamen Schutz wird es letzten Endes nicht gegen, sondern nur in
Übereinstimmung mit der jeweils betroffenen staatlichen Gewalt geben. Er
schwindet oder wächst mit der gesamten Rechtskultur eines Volkes.
Denninger, E., 1994, Menschenrechte zwischen Universalitätsanspruch und staatlicher Souveränität. In:
ders., Menschenrechte und Grundgesetz, Weinheim, S. 99.
40
Freiheitsanspruch und Freiheitssicherung
Die Doppeldeutigkeit des Staates gründet in der Problematik der Differenz, oft auch
Gegensätzlichkeit von Freiheitsanspruch und Freiheitssicherung: „Damit die Individuen
ihre Rechte genießen und ihre Interessen fördern können, brauchen sie den Staat. Er
schützt die Freiheit eines jeden und schränkt sie zugleich so ein, daß sie die gleichartige
Freiheit jedes anderen nicht beeinträchtigt.“ Andererseits: „Insofern der Staat zur
Erfüllung dieser Aufgabe mit Macht und Zwangsmitteln ausgestattet ist, muß diese
Macht des Staates ihrerseits so beschränkt werden, daß sie die Freiheit der Individuen
nicht bedroht.“ Auf eine knappe Formel gebracht: „Der Rechtszustand, der Freiheit
gewährleistet, macht sich nicht von selbst, er bedarf auch der Instanz, die das Recht
gegebenenfalls festlegt, es konkret ausspricht und seine Befolgung gegenüber
Widerstrebenden sichert. Recht fordert den Staat als Institution seiner eigenen
Gewährleistung“.
Die Debatten über Funktionen und Grenzen des Staates seit dem ausgehenden 18. Jh.
pendeln zwischen Positionen, die
von den Freiheitsrechten und Schutzbedürfnissen des Individuums ausgehen und die
Staatsfunktionen minimieren oder aber
die Notwendigkeit des Staates angesichts einer antagonistischen bürgerlichen
Gesellschaft aus dem kollektiven Interesse an einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft
begründen und Staatsfunktionen maximieren.


41
Paradigmenwechsel vom „Staatsdenken“ zum „Verfassungsdenken“
Staats-, rechts- und demokratietheoretisch ist heute von einem Befund auszugehen, der
folgenreich ist für den Status und die Funktion von Staat und Recht: es gibt – nicht nur in
Deutschland – einen Paradigmenwechsel vom „Staatsdenken“ zum „Verfassungsdenken“.
Mit der Konzeption des Sozialstaats, der „planender, verteilender, gestaltender, individuelles
wie soziales Leben erst ermöglichender Staat“ geworden ist, erweisen sich die Lösung aus
bisheriger „Staatsfixiertheit“, die „Orientierung an der auf Staat und Gesellschaft bezogenen
Verfassung“ und an der „Demokratie als ‘Lebensform’“ als Momente eines Übergangs „vom
Bezugspunkt ‘Staat’ auf den Bezugspunkt ‘Verfassung’.“ War in der deutschen Rechts- und
Staatstradition die Verfassung primär „Staatsverfassung“ im Dienste „der nachträglichen
Rechtsbindung der als immer schon bestehend gedachten Staatsmacht“, so reagiert das
nun im Zentrum stehende Verfassungsdenken „auf die in der modernen
interessenpluralistischen Gesellschaft offensichtliche Tatsache, daß politische Macht und
gesamtgesellschaftliche Entscheidungsfähigkeit nicht einfach vorausgesetzt, sondern in
komplexen Prozessen der politischen Einheitsbildung erst gebildet werden müssen“.
Entsprechend kann Demokratie nicht mehr allein „als bloßes Staatsorganisationsprinzip“
verstanden werden; Demokratie ist vielmehr – das gesamte gesellschaftliche Leben
umfassend – „das die verfassungsmäßige Ordnung ‘primär bestimmende Prinzip’“. Die
Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung galt in den Vereinigten Staaten schon 1803;
in Deutschland wurde sie erst mit dem Grundgesetz 1949 eingeführt; dieser
Paradigmenwechsel ist nichts Selbstverständliches.
42
Nicht jede Konzeption von Staat und Recht erfüllt in gleicher Weise die Funktionen,
 den Staat von der Verfassung her zu begründen (und nicht umgekehrt),
 die Autonomie des Rechts gegenüber politischer Herrschaft
rational zu begründen,
 den Steuerungs- und Integrationserfordernissen einer pluralistischen
Gesellschaft angemessen zu sein und
 Demokratie als Form der Gestaltung aller Bereiche des Sozialstaats
und der Gesellschaft zu begründen und zu verwirklichen.
43
Demokratie
„Daß sich Staatsverfassung und Gesellschaftsverfassung nicht trennen lassen, kann
am Beispiel der Grundrechte verdeutlicht werden. [Sie] enthalten [...] eine objektive
Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des
Rechts gilt. Jedenfalls verpflichten sie die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und
die Rechtsprechung dazu, auch im Bereich der Gesellschaft für die Verwirklichung der
Grundentscheidungen zu sorgen, die der Verfassungsgeber durch Normierung der
Grundrechte getroffen hat. Hierbei geht es nicht um das Problem der Drittwirkung.
Vielmehr ist der Staat selbst als primärer Adressat der Grundrechtsartikel verpflichtet,
diese Bindungen der Staatsgewalt auch bei der rechtlichen Regelung, Überwachung
und Lenkung der Gesellschaft zu beachten.
Was aber für die Grundrechte gilt, trifft auch auf die Grundprinzipien der
Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zu. Auch sie sind
verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts. [...] das
moderne Demokratieprinzip [beinhaltet] auch eine Entscheidung gegen jede
Unterdrückung, insbesondere gegen eine Unterdrückung der unteren
Gesellschaftsschichten. Ihr hat der Staat auch außerhalb seiner eigenen Organisation
entgegenzuwirken, soweit sein Einfluß reicht. Daher folgt aus dem Demokratieprinzip
unmittelbar das Gebot der Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche, in denen es
Macht und damit die Möglichkeit ihres Mißbrauchs zur Unterdrückung gibt.“
44
(1)
(2)
Demokratie ist – so Norberto Bobbio – als Ensemble von fundamentalen Regeln zu
verstehen, „die festlegen, wer zur Teilnahme an den kollektiven Entscheidungen
berechtigt ist und mit welchen Verfahren diese Entscheidungen getroffen werden.
[...]. Was nun die Subjekte betrifft, die dazu berufen sind, kollektive Entscheidungen
zu treffen (oder an ihnen mitzuwirken), so ist ein demokratisches Regime dadurch
gekennzeichnet, daß diese Entscheidungsmacht (die, wenn sie durch das Gesetz
autorisiert ist, zu einem Recht wird) einer sehr hohen Anzahl der Gruppenmitglieder
zukommt.“
Doch selbst eine minimale Definition von Demokratie muß zwei weitere Elemente
enthalten:
„Die zur Entscheidung (oder zur Wahl derjenigen, die dann entscheiden sollen)
Aufgerufenen müssen vor reale Alternativen gestellt sein und in die Lage versetzt
werden, sich für eine von ihnen zu entscheiden. Damit nun diese Bedingung
verwirklicht werden kann, müssen den zur Entscheidung Berufenen die sogenannten
Freiheitsrechte garantiert sein: Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit.“ Dies ist der Kontext, der anzeigt, warum auf den Anspruch
nicht verzichtet werden darf, die Urteilsfähigkeit der Menschen zu fördern.
(2) Demokratie kann nur in der Form des Rechtsstaats existieren, „d.h. eines
Staates, der seine Gewalt nicht nur sub lege ausübt, sondern sie innerhalb von
Grenzen ausübt, die durch die verfassungsmäßige Anerkennung der sogenannten
‘unverletzlichen’ Rechte des Individuums gezogen sind.“
45
Direkte Demokratie =
Identitätstheorie
Repräsentative Demokratie =
Konkurrenztheorie
direkte Teilnahme aller Bürger am
politischen Willensbildungs- und
Entscheidungsfindungs-prozess
Wahl von Repräsentanten
(Gemeinderäte, Stadträte,
Abgeordnete u.Ä.)
Plebiszite
Parlamentarismus
imperatives Mandat
freies Mandat
keine Teilinteressen
Interessenvielfalt
reine Ziel- und Inhaltsorientierung
Konsens über die ‘Spielregeln’ der
Konfliktaustragung
Gemeinwohl ist vorgegeben (a
priori)
Gemeinwohl ist das Ergebnis des
Interessenausgleichs (= regulative
Idee; a posteriori)
46
Einwände gegen das Modell der direkten Demokratie
1.
Die Zahl der Gesellschaftsmitglieder ist für einen unmittelbaren
Meinungsaustausch zu groß.
2.
3.
Der Zeitaufwand ist sehr hoch.
Der Kenntnisstand des Normalbürgers reicht zur Beurteilung
der Problemlage oft nicht aus Experten.
4.
Die Menschen handeln nicht immer rational.
5.
Die Direkte Demokratie setzt ein gleichbleibend großes Interesse
der Bürger voraus.
6.
Kleine, radikale und von daher aktive Gruppen gewinnen
überproportional an Bedeutung.
7.
Gefahr der Diktatur der Mehrheit (Erziehungsdiktatur).
Aus: Park Körner Digitale Schulbücher
47
Hierarchie der Rechtsnormen
Achtung und Schutz der menschlichen Würde
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Nachfolgende Menschenrechtspakte
Speziellere Konventionen,
z.B. gegen Folter, zum Schutz der Frauen, zum Schutz der Kinder...
Nationale Verfassungen
Allgemeine Grundrechtenormen
Spezielle Normen
48
Jus cogens
A peremptory norm (also called jus cogens, Latin for "compelling law") is a fundamental principle of
international law considered to have acceptance among the international community of states as a whole.
Unlike ordinary customary law that has traditionally required consent and allows the alteration of its
obligations between states through treaties, peremptory norms cannot be violated by any state. Under the
Vienna Convention on the Law of Treaties (1960, 1980), any treaty in violation of a peremptory norm is
null and void. The treaty allows for the emergence of new peremptory norms, but does not itself specify
any peremptory norms (see Art. 53 of the Vienna Convention).
The number of peremptory norms is considered limited but not exclusively catalogued. They are not listed
or defined by any authoritative body, but arise out of case law and changing social and political attitudes.
Generally included are prohibitions on waging aggressive war, crimes against humanity, war
crimes, piracy, genocide, slavery, and torture.
Article 53
Treaties conflicting with a peremptory norm of general international law (jus cogens)
A treaty is void if, at the time of its conclusion, it conflicts with a peremptory norm of general international
law. For the purposes of the present Convention, a peremptory norm of general international law is a
norm accepted and recognized by the international community of States as a whole as a norm from which
no derogation is permitted and which can be modified only by a subsequent norm of general international
law having the same character.
Article 64
Emergence of a new peremptory norm of general international law (jus cogens)
Erga omnes
Verpflichtungen erga omnes gelten ausnahmslos gegen der gesamten internationalen Gemeinschaft
49
Die rechtslogische Struktur der Verfassung – die Grundrechte und die Hierarchie der
Normen (am Beispiel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland)
Um die Bindungswirkung der Grundrechte für alle staatliche Gewalt und für alles
individuelle Verhalten unter den heute gegebenen Bedingungen zu begründen, leiten
Interpretationen, die nicht naturrechtlich, sondern vorrangig
gesellschaftsgeschichtlich argumentieren, den Grundrechtskatalog des GG und die
rechtslogische Struktur der Verfassung von gesellschafts- und staatshistorischen
Unrechts- und Leidenserfahrungen aus:
„1. die in der Kriegs-und Nachkriegsnot des Ersten Weltkriegs erlebte Unsicherheit der
´bürgerlichen Existenz´, das Ohnmachtserlebnis im Hinblick auf die elementaren
Daseinsbedingungen, der Verlust an individuell ´beherrschten Lebensraum.´ [...]; 2.
das Bewußtsein von den menschheitsbedrohenden Risiken des technischen
´Fortschritts´, von der akuten Gefahr der Selbstzerstörung der species Mensch durch
ausbeutende oder gar durch militärische Vernichtung der natürlichen
Daseinsgrundlagen; 3. Wirklichkeit und Wiederholungsmöglichkeit einer kollektiven
und individuellen sittlichen Rebarbarisierung in einem für unvorstellbar gehaltenen
Ausmaß: die Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtungslager und der
menschenverachtenden Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges; 4. schließlich der
in Deutschland nach 1945 nur mühsam und hindernisreich in Gang gekommene
Prozeß einer aktivbürgerlich demokratischen Bewußtseinsbildung, mithin die
Vorstellung, daß grundrechtlich geschützte Freiheit auch zur Hervorbringung eines auf
Bürgeraktivität gegründeten demokratischen Staates genutzt werden kann und genutzt
werden soll.“
50
Staatliche Gewalt und Rechtsbindung durch Grundrechte:
Menschenwürde
CHARTA DER VEREINTEN NATIONEN (1945)
Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter
vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten
unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die
Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen
Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen
Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen,
unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus
Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den
sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu
fördern, [...]
51
Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (1966, 1976)
Die Vertragsstaaten dieses Paktes, In der Erwägung, daß nach den in der Charta
der Vereinten Nationen verkündeten Grundsätzen die Anerkennung der allen
Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der
Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte die Grundlage von Freiheit,
Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, In der Erkenntnis, daß sich diese
Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten, In der
Erkenntnis, daß nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Ideal
vom freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei
von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden kann, wenn Verhältnisse
geschaffen werden, in denen jeder seine bürgerlichen und politischen Rechte
ebenso wie seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genießen
kann, In der Erwägung, daß die Charta der Vereinten Nationen die Staaten
verpflichtet, die allgemeine und wirksame Achtung der Rechte und Freiheiten des
Menschen zu fördern, [...]
52
Verfassung der Europäischen Union, Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004,
Teil II, Die Charta der Grundrechte der Union, Titel I, Art. II-61 – Menschliche
Würde.
In der Präambel heißt es: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und
sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte
der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“
In der „Erklärung betreffend die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ heißt
es hierzu: „Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht an sich,
sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte. [...] In seinem Urteil
vom 9. Oktober 2001 [...] bestätigte der Gerichtshof, dass das Grundrecht auf
Menschenwürde Teil des Unionsrechts ist. Daraus ergibt sich insbesondere, dass
keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die
Würde eines anderen Menschen zu verletzen, und dass die Würde des Menschen
zum Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört. Sie darf daher
auch bei Einschränkungen eines Rechtes nicht angetastet werden.“
53
In diesem Horizont des internationalen Rechts entfaltet das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland das Prinzip Menschenwürde als Basisnorm der
Grundrechte.
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
54
Art. 2 (1): Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, „soweit er nicht die
Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder
das Sittengesetz verstößt“. / Art. 2 (2): das „Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur
auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ / Art. 3: Gleichheit vor dem
Gesetz gleich; Gleichberechtigung der Geschlechter; negative und positive
Nichtdiskriminierung wegen Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat
und Herkunft, Glaubens, religiöser oder politischer Anschauungen. / Art. 4:
Unverletztlichkeit der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und Freiheit des
religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses; Recht auf ungestörte
Religionsausübung; Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (vgl.
aber Einschränkungen in Art 12a). / Art. 5: Recht der freien Meinungsäußerung
und -verbreitung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und
auf ungehinderte Information; Medienfreiheit, Zensurverbot. Freiheit von Kunst
und Wissenschaft, Forschung und Lehre. / Art. 6: Schutz von Ehe und Familie;
Recht auf Pflege und Erziehung der Kinder; Mutterschutz; Gleichstellung
unehelicher Kinder./ Art. 7 (Schulwesen) / Art. 8: Versammlungsrecht. / Art. 9:
Recht auf Bildung von Vereinen und Gesellschaften/ Koalitionsrecht. / Art. 10:
Unverletztlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. /
55
Art. 11: Recht auf Freizügigkeit. / Art. 12: Freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und
Ausbildungsstätte. / Art. 13: Unverletztlichkeit der Wohnung. / Art. 14:
Gewährleistung von Eigentum und das Erbrecht; Verpflichtung des Eigentums auf
das Wohl der Allgemeinheit; Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit und
Recht auf Entschädigung. / Art. 15: Überführung von Grund und Boden,
Naturschätzen und Produktionsmitteln zum Zwecke der Vergesellschaftung in
Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft. / Art. 16: Recht auf
Staatsangehörigkeit; Schutz vor Auslieferung. / Art. 16a: Asylrecht. / Art. 17:
Petitionsrecht. / Art. 18: Grundrechtsverwirkung: „Wer die Freiheit der
Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die
Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die
Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel
10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16 Abs. 2) zum Kampfe
gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese
Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das
Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“ / Art. 19: Grundrechtseinschränkung
nur durch allgemein geltendes Gesetz; Wesensgehaltssperre; Eröffnung des
Rechtsweges bei Verletzung von Rechten durch die öffentliche Gewalt.
56
Der Satz über die ,Unantastbarkeit der Menschenwürde’ ist ein Gesellschaft und
Staat bindender Rechtssatz. ,Menschenwürde’ ist die „Basisnorm für die
nachfolgenden Grundrechte“. Erst im Rechtssatz wird die Würde – jenseits der
Fronten des Streits über moralische Begründungen – zur letzten Grundlage von
Ansprüchen, auf die wir als Individuen ein Recht haben und deren Schutz interindividuell und kollektiv, politisch, sozial und kulturell, als unbedingt garantiert
werden muß. Das Würdeprinzip ist zwar für ethische Reflexion offen; die
Würdenorm aber bleibt hiervon in ihrem Kern unberührt; sie ist durch die
Wesensgehaltssperre des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt. Die Unbedingtheit der
Garantie schließt den staatlichen Zugriff auf die Rechtsnortm aus: „Würde ist
Bedingung der Demokratie und daher ihrer Verfügung entzogen.“
,Würde der menschlichen Person’ ist zu einem operationalen rechtlichen Begriff
geworden, um zu bezeichnen, was im Menschen menschlich und deshalb
schützenswert ist. Alles, was zur Entmenschlichung des Menschen führt, gilt als
Beschädigung dieser Würde. Man kann also bilanzieren: das Prinzip der
Menschenwürde fordert die Unbedingtheit der Garantie; zugleich ist
,Menschenwürde’ ein dynamischer Rechtsbegriff.
[5]
57
Im Begriff ‘Grundrechte’ sind drei Dimensionen von Merkmalen zu unterscheiden:
formelle, materielle und prozedurale. Der formelle Grundrechtsbegriff „stellt auf
die Art und Weise der positivrechtlichen Normierung ab. Nach ihrer einfachsten
Variante sind Grundrechte alle in einer Verfassung enthaltenen Rechte, die diese
Verfassung ausdrücklich als Grundrechte einstuft, was in aller Regel dadurch
geschieht, daß sie in einem Rechtekatalog zusammengefaßt werden. Diese
Definition hat den Vorteil der Einfachheit. Ihr Nachteil ist, daß häufig auch
außerhalb des Grundrechtskatalogs Grundrechte statuiert werden. [...] Ohne einen
materiellen Grundrechtsbegriff wäre schon die Frage, ob ein Grundrechtskatalog
oder eine verfassungsprozeßrechtliche Norm zu wenig oder zu viel enthält,
sinnlos. Das ist sie jedoch nicht. Formelle Grundrechtsbegriffe können daher bei
gelungenen Katalogen oder gelungenen verfassungsprozeßrechtlichen Normen
praktisch gut brauchbar sein, hinter ihnen hat aber ein materielles Kriterium zu
stehen.“ Der materielle Grundrechtsbegriff erfaßt, daß Grundrechte „wesentlich in
positives Verfassungsrecht transformierte Menschenrechte [sind]. Ein
Grundrechtskatalog kann zwar mehr Rechte enthalten als zum Kreis der vor- und
überpositiven, also nur mit moralischer Geltung ausgestatteten Menschenrechte
gehören, wenn er aber nicht alle Menschenrechte enthält, ist er notwendig
fehlerhaft, wobei streitig ist, ob diese Fehlerhaftigkeit nur eine moralische oder
auch eine rechtliche ist. Auch die Definition der G. als in positives
Verfassungsrecht transformierte Menschenrechte hat Schwächen. Die
bedeutendste resultiert aus der Unbestimmtheit des Begriffs der Menschenrechte.
Welche Rechte Menschenrechte sind, ist umstritten.“
58
Der prozedurale Grundrechtsbegriff beantwortet die Frage, „warum Menschenrechte
überhaupt als Grundrechte auf die Ebene der Verfassung gehoben werden. Man
könnte ihre Realisierung ja auch dem demokratischen Prozeß überlassen. An dieser
Stelle kommt ein prozeduraler Gesichtspunkt ins Spiel, der formelle und materielle
Elemente verbindet. Als Rechte von Verfassungsrang entziehen Grundrechte der
einfachen Mehrheit im Parlament Entscheidungsbefugnisse. Das Verhältnis der
Grundrechte zur Demokratie hat damit zwei Seiten. Mit der Garantie der politischen
Freiheiten sichern die Grundrechte einerseits die Funktionsbedingungen des
demokratischen Prozesses. Mit der Bindung auch des demokratisch legitimierten
Gesetzgebers schränken sie andererseits den demokratischen Prozeß ein. Dem
entspricht eine Definition, nach der Grundrechte Rechte sind, die so wichtig sind,
daß ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen
Mehrheit überlassen werden kann. Diese Definition ist prozedural, weil sie darauf
abstellt, wer auf welche Weise über die Grundrechte zu entscheiden hat. Die
Positivierung der Grundrechte ist nach ihr Sache der verfassunggebenden Gewalt.
[...] Dabei verpflichtet der Anspruch auf menschenrechtliche Richtigkeit den
Verfassungsgeber und die Verfassungsinterpreten zur dauernden Suche nach der
besten Menschenrechtskonzeption.“ (R. Alexy)
59
Das Grundrechtssubjekt
Während der Staat (und seine Institutionen) und Formen nichtstaatlicher
sozialer Gewalt der Adressat der Inanspruchnahme von Grundrechten ist, ist
das Grundrechtssubjekt (die Grundrechtsträgerschaft) das Individuum (alle
natürlichen Personen), dem die „Grundrechtsfähig’keit“ zugesprochen wird.
Grundrechte sollen in erster Linie die Freiheitssphäre des einzelnen gegen
Eingriffe der staatlichen Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die
Voraussetzung für eine freie, aktive Mitwirkung und Mitgestaltung im
Gemeinwesen sichern. Die Grundrechtsträgerschaft beginnt mit der Geburt und
endet mit dem Tod. Von der Grundrechtsträgerschaft ist die
Grundrechtsmündigkeit zu unterscheiden, d.h. die Fähigkeit, Grundrechte
selbständig, wahrzunehmen.
60
Im demokratischen Rechtsstaat wissen die Bürger als Normadressaten, daß
ihnen ihre Zustimmung zur Demokratie als gesellschaftlicher und staatlicher
Ordnung nur unter einer bestimmten Bedingung abverlangt werden kann; diese
Bedingung ist, daß die Rechts- und Staatsordnung bestimmte minimale
Garantien der Würde gewährt:
•
•
die Sicherheit des Lebens und die Freiheit von Existenzangst wird garantiert;
tatsächliche Ungleichheit von Geschlecht, Rasse, Sprache, soziale Herkunft
etc. sind kein Grund zu normativer Ungleichheit;
•
das selbstverantwortliche Individuum kann im Rahmen der Grundrechte der
freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Gleichbehandlung verschiedener
Glaubensüberzeugungen und religiöser und politischer Anschauungen, der
Gewissens- und Religionsfreiheit und anderer Grundrechte frei handeln;
• der Rechtsstaat schützt vor willkürlicher Gewaltanwendung;
• die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrheit werden geachtet.
61
Die „Wesensgehaltssperre“
Art. 19 GG
(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf
Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein
und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das
Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.
(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet
werden.
Art. 79 GG
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des
Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der
Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze
berührt werden, ist unzulässig.
62
Staatsziele: GG Art. 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer
Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und
Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden
Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende
Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle
Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
63
Der Rechtsstaat
(Aus: GG-Kommentar H. Dreier zu Art. 20)
Die Idee der Herrschaft des Rechts im Verfassungsstaat
Rn. 1: Der Rechtsstaat formuliert verfassungstheoretisch den Anspruch,
politische und gesellschaftliche Macht im Gemeinwesen primär nach Maßgabe
von Recht und Gerechtigkeit auszuüben, auch im Widerspruch zur politischen
Opportunität der Macht. Rechtsstaatlichkeit prägt die Strukturen und die Ziele
staatlichen Handelns, das nicht nur begrenzt, sondern auch gewährleistet wird.
64
Die deutsche Rechtsstaatsentwicklung
Rn. 10: Der »Rechtsstaat« ist begrifflich ein der deutschen Sprache eigentümliches
Wort und sachlich ein zentraler Kristallisationspunkt der deutschen
Verfassungsentwicklung: An seine Ausgestaltung knüpfen sich die politischen
Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert; sein Verhältnis zur Demokratie ist
staatstheoretisch Kern und Erbe Weimarer Grundsatzstreitigkeiten; seine
antitotalitären Gehalte gaben der Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und 1989
Formen und Maßstäbe Das Rechtsstaatsprinzip ist deshalb in Deutschland
umfassend dogmatisch ausgestaltet worden und läßt sich mit seinen damit
verbundenen spezifischen Verengungen als Teil des »Sonderweges« des deutschen
Konstitutionalismus interpretieren.
65
Voraussetzungen und Kontexte des Rechtsstaats
Rn. 17: Die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats, seiner Institutionen und
Verfahren, setzt bestimmte tatsächliche personale Fähigkeiten und
organisatorische Rahmenbedingungen in der gesellschaftlichen Infrastruktur
voraus Die Gesamtheit dieser Bedingungen läßt sich unter die Begriffe der
Rechts- oder Verfassungskultur [...] oder der Verfassungsvoraussetzungen
einordnen. Dazu gehören etwa: eine funktionsfähige Behörden- und
Gerichtsorganisation; ein leistungsfähiger Öffentlicher Dienst einschließlich der
freien Berufe in der Rechtspflege; das Bewußtsein aller Amtswalter in
Staatsorganen, um der Bürger willen dazusein; [...] das Ethos des Respekts vor
dem Recht; eine Sozialisation in Familie, Gesellschaft und Schule, die private und
öffentliche Verantwortung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und politisches
und soziales Engagement in Vereinen, Kirchen oder politischen Parteien ale
freiwillige und selbstverständliche Aufgaben annimmt; partnerschaftliche
Toleranz im weltanschaulich-religiösen, politischen und sozialen Pluralismus;
Verhandlungs- und Kompromißfähigkeit. Solche kulturellen
Rechtsstaatsvoraussetzungen wachsen über Jahrzehnte und müssen von
Generation zu Generation weitervermittelt und gewandelt werden; ohne sie
könnten komplexe Gesellschaften und ihre politischen Institutionen ihr
Entwicklungsniveau nicht halten. Der Rechtsstaat ist mithin weit mehr als ein
»System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit«:
Seine Institutionen und Verfahren sind auf Menschen angewiesen, die die
politische Kultur des Rechtsstaats leben.
66
Rn. 36: Der Rechtsstaat schützt seine Bürger durch die Gewährleistung
elementarer Rechtlichkeit. Verfassungsrechtsdogmatisch umfaßt der
grundgesetzliche Rechtsstaat die Gesamtheit der Regeln, Grundsätze und
Prinzipien, die in Anknüpfung an internationale Traditionen wie in spezifisch
deutscher Ausbildung im Grundgesetz normativen Niederschlag gefunden haben
und als Ausprägung des Rechtsstaats gelten, indem sie staatliche
Machtausübung rechtlich binden, organisieren und begrenzen. Der Rechtsstaat
läßt sich deshalb nicht auf eine gewaltenteilige Organisation des Staates und das
»Verteilungsprinzip« reduzieren, demzufolge die Freiheit des einzelnen prinzipiell
unbegrenzt und die staatliche Macht durch den Rechtsstaat limitiert werde, weil
der Staat nicht der Freiheit antinomisch vorgelagert ist, sondern im Rechtsstaat
alles staatliche Handeln auch dem Bürger gegenüber von vornherein durch Recht
konstituiert, maßgebend geregelt und angemessen abgestimmt wird.
67
Rn. 37: Zu nennen sind als Kernelemente vor allem die grundrechtlichen
Freiheits- und Gleichheitsrechte um der Menschenwürde des einzelnen willen;
die staatsorganisatorische Gewaltenteilung (Art.20 II GG), insbesondere die
Unabhängigkeit neutraler Richter (Art. 92, 97 GG); die Herrschaft des
demokratischen und ausreichend bestimmten Gesetzes unter Berücksichtigung
der ungeschriebenen Prinzipien der Rechtssicherheit und des
Vertrauensschutzes sowie die Rechtsgebundenheit von Verwaltung und
Gerichten (Art.20 III GG) einschließlich der Rechtmäßigkeitsrestitution bzw. der
Entschädigung bei staatlichen Eingriffen. Hinzu treten als Konkretisierungen
und/oder Ergänzungen zumindest die Garantie umfassenden gerichtlichen
Rechtsschutzes gegenüber Akten der öffentlichen Gewalt einschließlich
wirksamen Rechtsschutzes für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten, das Recht auf
rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) und auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG),
die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und ihre verfassungsgerichtliche
Kontrolle, vor allem bei Grundrechtsbeschränkungen am Maßstab des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und bei der Lösung rechtsstaatlicher InSich-Konflikte, und die Orientierung staatlichen Handelns an der Idee materieller
Gerechtigkeit.
68
Rechtsstaat und materielle Gerechtigkeit
Rn. 48: Das Grundgesetz kodifiziert mit dem Rechtsstaatsprinzip grundlegende
Gerechtigkeitspostulate der naturrechtlichen Verfassungstraditionen; sie
verpflichten durch den Vorrang der Verfassung das gesamte Staatshandeln auf das
Ziel materieller Gerechtigkeit als Rechtsprinzip und binden auch den
verfassungsändernden Gesetzgeber (Art. 79 III). Alle maßgeblichen
Gerechtigkeitsprinzipien sind im Grundgesetz konstitutionalisiert und i.S. eines
»ethischen Minimums« u. a. in Art. 20 II, III GG verankert.
Rn. 49: Der Begriff der Gerechtigkeit zielt auf ein offenes Prinzip, ohne Einfallstor
für »beliebige« Gerechtigkeitsvorstellungen zu sein: Die materiellen Anforderungen
müssen vielmehr aus der Verfassung abgeleitet werden, weil das Grundgesetz
selbst zahlreiche Anknüpfungspunkte für Gerechtigkeitsvorstellungen enthält; man
denke nur an den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), der einen allgemeinen
Rechtsgrundsatz formuliert, der aus dem Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit
folgte, oder an das Sozialstaatsprinzip als Gebot sozialer Gerechtigkeit. Vor allem
ist es geboten, statt eines bloßen Vertrauens in den politischen
Entscheidungsprozeß im Wege einer »Reformalisierung des Rechtsstaats« die
materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen inhaltlich als Verfassungsprinzipien zu
diskutieren, um ggf. Verfassungsmaßstäbe gegen eine Instrumentalisierung des
Gerechtigkeitsprinzips durch Ideologien zu gewinnen. Zudem verlangt das Streben
nach Gerechtigkeit, bei der Anwendung des Rechts die fallspezifischen
Besonderheiten im Sinn einer angemessenen Einzelfallgerechtigkeit in Rechnung
zu stellen.
69
Naturrecht
Die Rechtsphilosophie ist mit der Frage konfrontiert, ob es Kriterien des Richtigen
gibt, die nicht schon einer von einem staatlichen Gesetzgeber erlassenen Norm oder
richterlichen Entscheidungspraxis entnommen werden können, ob sich also sinnvoll
von ‘vorpositivem’ oder ‘überpositivem’ Recht sprechen läßt.
Was ‘Naturrecht’ ist bzw. bedeutet, ist angesichts vielfältiger Bedeutungsvarianten
kaum eindeutig zu definieren. Es ist in der Antike im Prozeß des Zerfalls der
Anerkennung der Autorität aristokratischer Herrschaft und des mythischen
Weltverständnisses als ein Oppositionsdenken entstanden, das für eine ‘gerechte
Ordnung’ eine ‘natürliche’ Legitimation verlangt, die Angemessenheit an die
kosmische Ordnung. Naturrecht ist, so eine allgemeine Formel seit Justinian (6. Jh.),
was die Natur alle Lebewesen lehrt. Es verändert freilich seinen Inhalt je nach den
Naturbegriffen, die ihm zugrundegelegt werden: Natur als Schöpfungsordnung
Gottes, aus der das Naturrecht als transcriptio folgt (Augustinus), Natur als
Wesenseigenart, Natur als das Ursprüngliche gegenüber Sitten und Gewohnheiten,
Natur als Vernunft... „In einem weiteren Sinne bezeichnet [das Naturrecht]
schlechthin solche Grundsätze einer verbindlichen Ordnung, die unabhängig von
menschlicher Zustimmung und Satzung und somit unabhängig vom positiven Recht
gültig sind.“ (Zippelius)
70
Phasen der neuzeitlichen Staats- und Rechtstheorie
Mittelalterliche Doktrin
Weltliche Ordnung in Analogie zur göttlichen Ordnung: Gottesstaat  Legitimation
der weltlichen Ordnung, Kirche  Staat
Begründungsmerkmal der neuen Doktrinen: negative Anthropologie
1. Phase: Renaissance, 15.-16. Jh. (Machiavelli, Bodin u.a.):
Krisen (Zersplitterung, Religionskriege, Bürgerkriege) sind Ursache der Legitimation
absoluter souveräner Macht ohne rechtliche Kontrolle des Souveräns.
Legitimitätsbegründung ohne Zurückführung auf Gott noch nicht möglich.
2. Phase: Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft/Vertragstheorien, 17. –18. Jh.
(Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau u.a.)
Ausgang aus dem vorstaatlichen Naturzustand mittels Hypothese des Vertrags aller
mit allen. Sicherheit durch absolute staatliche Souveränität (Hobbes) bzw. rechtliche
Gestaltung der Herrschaft (Locke, Montesquieu): Völkerrecht, Staatsrecht,
bürgerliches Recht. Entstehung der Idee der Gewaltenteilung und der
Volkssouveränität. Repräsentative Ordnung (Locke) vs. direkte Volksherrschaft
(Rousseau).
71
Begründungsmerkmal: Natur- und geschichtsphilosophische Idee des Fortschritts
und der Perfektibilität der Menschengattung
3. Phase: Naturrechtliche Begründung der Menschen- und Grundrechte und
Revolutionen, 18. Jh.:
Virginia Bill, Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Französische Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte
4. Phase: Nachrevolutionäre Theorien der Begrenzung staatlicher Macht und
der Definition des Staates als Rechtsstaat, 18. Jh.:
W. v. Humboldts liberale Theorie der Grenzen des Staates, Kants Theorie
universeller bürgerlicher Rechtsverhältnisse zwischen Individuen
und zwischen Staaten.
Begründungsmerkmal: Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und metaphysische
Rechtfertigung eines die Freiheit substantiell ermöglichenden Staates:
5. Phase: Kritik des Fortschritts- und Perfektibilitäts-Optimismus und
metaphysische Begründungen von Recht und Staat, frühes 19. Jh.:
Der Staat als Zweite Natur bzw. als Ausdruck des Absoluten und Kritik am Staat
der bürgerlichen Gesellschaft (Schelling), die Kritik der bürgerlichen
Gesellschaft und der Staat als Explikation der sittlichen Idee (Hegel).
Begründungsmerkmal: Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus und
revolutionäre Überwindung des Staates
6. Phase: Sozialistisch-kommunistische revolutionäre Kritik am feudalen Staat
und am bürgerlich-gesellschaftlichen Rechtssystem
72
N. Machavelli (1469-1527): Pessimistische Anthropologie und autokratische Politik
Machiavelli war durch eigene Erfahrung als ‘Außenpolitiker’ der Republik Florenz
und die Lektüre klassischer Texte zu der Überzeugung gelangt, „daß der, welcher
einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle
Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie
Gelegenheit dazu haben.“ (Disc. I, 3)
Über die menschliche Natur schreibt Machiavelli in den Discorsi: „Wenn nämlich die
Menschen einmal nicht aus Not zu kämpfen brauchen, so tun sie es aus Ehrgeiz; [...]
Die Ursache dieser Erscheinung liegt darin, daß die Natur die Menschen so
geschaffen hat, daß sie zwar alles begehren, aber nicht alles erreichen können. Da
nun das Verlangen, etwas zu erwerben, immer größer ist als die Fähigkeit hierzu, so
entsteht daraus Unzufriedenheit mit dem, was man besitzt, und ferner die
Erkenntnis, welch geringe Befriedigung der Besitz gewährt. Hierauf ist der Wechsel
der menschlichen Schicksale zurückzuführen; denn da der eine Teil der Menschen
mehr haben möchte, und der andere das, was er hat, zu verlieren fürchtet, so kommt
es zu Feindseligkeiten und Krieg, der den Ruin des einen und die Erhöhung des
anderen Landes zur Folge hat“ (Disc. I,37, S. 100 f.).
Aus diesen Prämissen ergab sich für Machiavelli die Zweitrangigkeit moralischer
Bedenken gegenüber den einzelnen Handlungen eines Staatsgründers;
entscheidend ist der Erfolg.
73
Jean Bodin (1530 – 1596): Souveränität als absolute Macht des Staates
[...] ist es klar, daß ein Staat nicht gut organisiert sein kann, wenn er für längere Zeit die
lebensnotwendigen Dinge unterläßt: die Pflege des Rechts, Schutz und Verteidigung der
Untertanen, die Beschaffung der erforderlichen Lebensmittel. [...] Dasselbe können wir von einem
wohlgeordneten Staat sagen, dessen höchste Bestimmung zwar in den geistigen Tugenden
besteht. Zuerst aber kommt die praktische Politik, und die gewöhnlichsten Aufgaben stehen an
erster Stelle, nämlich die notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung und zum Schutz des Lebens der
Untertanen.
Der Begriff Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Gewalt eines Staates, die im
Lateinischen majestas heißt. [...] Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt. [...] Ich sagte, daß
es sich um eine dauernde Gewalt handelt. Es kann nämlich sein, daß absolute Gewalt auf einen
einzelnen oder mehrere für begrenzte Zeit übertragen wird, nach deren Ablauf sie wieder einfache
Untertanen sind. Darum können sie, auch solange sie an der Macht sind, nicht als souveräne
Herrscher betrachtet werden. Sie sind nur Treuhänder und Hüter dieser Gewalt, bis es dem Volk
oder dem Fürsten gefällt, diesen Zustand zu widerrufen. Der wirkliche Souverän bleibt stets im
Besitz der Staatsgewalt. [...] Wäre es anders und würde die einem Stellvertreter des Herrschers
übertragene absolute Gewalt Souveränität genannt, so könnte dieser die Gewalt auch gegen den
Herrscher einsetzen, der dies dann nur noch dem Namen nach wäre. Der Untertan würde dann
seinem Fürsten befehlen, der Diener dem Herrn. Dies wäre absurd, bedenkt man, daß die Person
des Herrschers immer und in aller Form rechtens ausgenommen ist, wie viel Macht oder Autorität
er auch delegiert; immer behält er die größere Machtvollkommenheit für sich selbst. [...]
Souveränität wird weder durch irgendeine Gewalt, noch durch menschliche Satzung, noch durch
eine Frist begrenzt. [...] Souverän ist nur derjenige, der allein Gott als Größeren über sich
anerkennt. [...] Was allerdings die Gesetze Gottes und der Natur betrifft, so sind alle Fürsten auf
dieser Erde an sie gebunden. Es liegt nicht in ihrer Macht, gegen sie zu verstoßen, wenn sie nicht
des beleidigenden Aufbegehrens gegen Gott schuldig werden wollen [...]
74
Ist der Fürst nun den Gesetzen des Landes unterworfen, die er zu halten
geschworen hat? [...] Unser Grundsatz bleibt also bestehen, daß der Fürst weder
seinen eigenen Gesetzen noch denen seiner Vorgänger unterworfen ist, sehr
wohl aber seinen rechtmäßigen und vernünftigen Verträgen, an deren Einhaltung
alle Untertanen interessiert sind. [...]
Wir müssen also feststellen, daß durch die Existenz von Ständevertretungen die
Souveränität eines Herrschers weder verändert noch geschmälert wird. [...]
Aus alldem wird deutlich, daß das Hauptmerkmal der souveränen Majestät und
absoluten Gewalt vor allem darin besteht, allen Untertanen ohne deren
Zustimmung Gesetze auferlegen zu können. [...] Der souveräne Fürst muß die
Gesetze nach seinem Ermessen und gemäß den jeweiligen Umständen ändern
können [...] wie der Lotse in eigener Entscheidung das Ruder betätigen muß,
weil sonst das Schiff unterginge, wollte man zuerst den Rat aller Mitfahrer
einholen. [...] Wer ohne Einschränkung sagt, die Fürsten seien weder den
Gesetzen noch ihren vertraglichen Versprechungen unterworfen, beleidigt Gott,
wenn er nicht die Gesetze Gottes und der Natur sowie alle gerechten Verträge
und Vereinbarungen ausnimmt. [...] Es besteht ein Unterschied zwischen Recht
und Gesetz. Das eine bezieht sich auf Gerechtigkeit, das andere auf Befehl.
Denn ein Gesetz ist nichts anderes als eine Anordnung des Souveräns, der
seine souveräne Macht gebraucht. [...]
75
Der Gesellschaftsvertrag (Theorie des Kontraktualismus)
‘Gesellschaftsvertrag’ bezeichnet den (fiktiven) Akt, mit dem die Menschen eine
feste Form des Zusammenlebens mit gegenseitigem Einverständnis geschaffen
haben, um damit einer natürlichen Situation, die durch den Mangel an politischen
Institutionen gekennzeichnet war (Naturzustand), ein Ende zu setzen. Entsprechend
unterschiedlichen Traditionen der politischen Theorie ist zwischen
Gesellschaftsvertrag (pactum societatis: der Pakt ist, mittels dessen sich eine
Menge von Individuen vereinigt) und Herrschaftsvertrag/Unterwerfungsvertrag
(pactum subjectionis oder dominationis: in dem die Gesellschaft eine höchste
Autorität anerkennt und sich dieser unterwirft) zu unterscheiden. Einige Theorien
unterstellen den Vertrag als wirkliche historische Tatsache (so Locke), andere aber
– die Mehrzahl – unterstellen ihn als ein theoretisches Konstrukt, das geeignet ist,
die Grundlage eines politischen Programms (Hobbes) oder die
Beurteilungsgrundlage für die Gesetzmäßigkeit der bestehenden politischen
Regierungen zu bilden (Rousseau, Kant).
Vertragstheorien sind politikphilosophische Konzeptionen, die die „rationale
Grundlage der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die
Legitimationsbedingungen politischer Herrschaft in einem hypothetischen,
zwischen freien und gleichen Individuen in einem wohldefinierten
Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit die allgemeine
Zustimmungsfähigkeit zum fundamentalen normativen Gültigkeitskriterium
erklären. Vertragstheorien basieren wie die ihnen eng verwandten Konsenstheorien
auf einem rechtfertigungstheoretischen Prozeduralismus.“ (W. Kersting)
76
Thomas Hobbes (1588 – 1679): Der Gesellschaftsvertrag als Unterwerfungsvertrag
Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und
übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen
ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst.
Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf
lateinisch civitas.
Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger
auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott
unseren Frieden und Schutz verdanken.
Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht
ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind,
daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den
Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen
auswärtige Feinde hinzulenken. (Leviathan, Kap. 17)
77
Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur
Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen
Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in
dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder
mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle
gerettet zu werden. Dieser Zustand ist aber notwendig wegen der menschlichen
Leidenschaften mit der natürlichen Freiheit so lange verbunden, als keine Gewalt
da ist, welche die Leidenschaften durch Furcht vor Strafe gehörig einschränken
kann und auf die Haltung der natürlichen Gesetze und der Verträge dringt. Alles,
was die natürlichen Gesetze fordern, wie z.B. Gerechtigkeit, Billigkeit und kurz,
andern das zu tun, was wir wünschen, daß es uns von andern geschehe, ist, wenn
die Furcht vor einer Zwangsmacht wegfällt, den natürlichen Leidenschaften, Zorn,
Stolz und den Begierden aller Art, gänzlich zuwider.
Gesetze und Verträge können an und für sich den Zustand des Krieges aller gegen
alle nicht aufheben; denn sie bestehen in Worten, und bloße Worte können keine
Furcht erregen; daher fördern sie die Sicherheit der Menschen allein und ohne
Hilfe der Waffen nicht. Hat man sich vor keiner allgemeinen Macht zu fürchten,
dann können Gesetze, welche jemand nur deshalb beobachtet, weil er sieht, daß
sie von andern beobachtet werden, ebenso wenig verpflichten als hindern, daß ein
jeder es für erlaubt hält, soviel als möglich durch Stärke und Klugheit für seine
Sicherheit zu sorgen [...]
78
Um aber eine allgemeine Macht zu gründen, unter deren Schutz gegen auswärtige
und innere Feinde die Menschen bei dem ruhigen Genuß der Früchte ihres Fleißes
und der Erde ihren Unterhalt finden können, ist der einzig mögliche Weg folgender:
jeder muß alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen,
wodurch der Willen aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird, so daß dieser
eine Mensch oder diese eine Gesellschaft eines jeden einzelnen Stellvertreter
werde und ein jeder die Handlungen jener so betrachte, als habe er sie selbst
getan, weil sie sich dem Willen und Urteil jener freiwillig unterworfen haben. [...]
Staat ist eine Person, deren Handlungen eine große Menge Menschen, kraft der
gegenseitigen Verträge eines jeden mit einem jeden, als ihre eigenen ansehen, auf
daß diese nach ihrem Gutdünken die Macht aller zum Frieden und zur
gemeinschaftlichen Verteidigung anwende.
79
John Locke (1632 – 1704): Der Naturzustand der Freiheit und die rechtliche Ordnung
Die Menschen sind [...] von Natur alle frei, gleich und unabhängig, und niemand kann
ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt
eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit
aufzugeben und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, daß man
mit anderen Menschen übereinkommt, sich zusammenzuschließen und in eine
Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich miteinander
zu leben – in dem sicheren Genuß des Eigentums und in größerer Sicherheit
gegenüber allen, die ihr nicht angehören.[...]
Sobald eine Anzahl von Menschen auf diese Weise übereingekommen ist, eine
Gemeinschaft oder Regierung zu bilden, haben sie sich ihr sogleich einverleibt, und
sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu
handeln und die übrigen Glieder mitzuverpflichten. Hat nämlich eine Anzahl von
Menschen unter Zustimmung jedes einzelnen eine Gemeinschaft gebildet, dann
haben sie diese Gemeinschaft zu einem einzigen Körper gemacht, mit der Macht, wie
ein einziger Körper zu handeln, was allein durch den Willen und den Beschluß der
Mehrheit geschehen kann. Allein die Zustimmung der Individuen, die ihr angehören,
kann eine Gemeinschaft zum Handeln befähigen. [...]
80
Ein jeder also, der mit anderen übereinkommt, einen einzigen politischen Körper
unter einer Regierung zu bilden, verpflichtet sich gegenüber jedem einzelnen
dieser Gesellschaft, sich dem Beschluß der Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm
zu fügen. Dieser ursprüngliche Vertrag, durch den er sich mit anderen in eine
Gesellschaft vereinigt, würde ohne alle Bedeutung sein und kein Vertrag, wenn
der einzelne weiterhin frei bliebe und unter keinen anderen Verpflichtungen
stünde als zuvor im Naturzustande. [...]
Das große Ziel, mit welchem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist der
Genuß ihres Eigentums in Frieden und Sicherheit, und das große Werkzeug und
Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen worden sind. Das
erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten ist daher die Begründung
der legislativen Gewalt – so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz,
welches selbst über der legislativen Gewalt gelten muß, die Erhaltung der
Gesellschaft und (soweit es vereinbar ist mit dem öffentlichen Wohl) jeder
einzelnen Person in ihr ist.
[Es] darf und kann die Legislative die Gewalt, Gesetze zu geben, nicht auf irgend
jemand anders übertragen, und sie kann sie nirgendwo anders hinlegen als dort,
wohin sie das Volk gelegt hat.
81
Naturzustand:
Der Mensch lebt in
- vollkommener Freiheit
und
- absoluter Gleichheit
allerdings eingeschränkt durch ein „natürliches
Gesetz“ (= Naturrecht), das es verbietet einem anderen
im Hinblick auf Leben und Eigentum Schaden
zuzufügen
Naturrecht:
 ist vorstaatlich und unveräußerlich
 hat gegenüber staatlichen Gesetzen Vorrang
Problem:
Die Nutznießung des Besitzes ist sehr unsicher, der
Mensch ist zwar frei, aber sein Leben ist voller
Gefahren.
Schaffung des Staates:
Schutz des „Eigentums“ (= Leben, Vermögen, Freiheit)
Gewaltenteilung:
aber nur in Exekutive und Legislative
Widerstandsrecht:
Staatsmacht ist durch „Naturgesetze“ eingeschränkt
und muss dem „öffentlichen Wohl“ der Gesellschaft
dienen
82
Das Verfassungsideal der „gemäßigten Monarchie“ nach Locke
Monarch
Steuerbewilligung
EXEKUTIVE *
Einberufung
LEGISL ATIVE
Widerstandsrecht
Wahl
V o l l b ür g e r
(= Besitzbürgertum)
VOLK

Locke ist der Meinung, dass in der „gemäßigten Monarchie“ die - wie er es nennt
-„föderative Gewalt“ (Recht, über Krieg und Frieden sowie Bündnisse zu
befinden) sowie die „Prärogative“ (Notstandsrecht für Fälle, in denen schnelles
Handeln notwendig ist) in der Hand der ausführenden Gewalt (Exekutive) liegen
83
Charles de Montesquieu (1689 – 1755): Der Geist der Gesetze
Allen [...] Gesetzen voran stehen die Naturgesetze; sie heißen so, weil sie einzig
und allein aus unserer Wesensart entspringen. Um sie recht zu verstehen, muß man
sich einen Menschen vor der Gründung der Gemeinschaften vorstellen. Gesetze,
die er in einem solchen Zustand empfangen würde, werden Naturgesetze sein. Das
Gesetz, das uns die Vorstellung eines Schöpfers einprägt und so zu ihm hinführt,
ist, nach der Bedeutung, nicht nach der Zeitfolge betrachtet, das erste aller
Naturgesetze. Im Naturzustand würde der Mensch eher die Fähigkeit zur Erkenntnis
haben, daß er keine Kenntnisse besitzt. Es ist klar, daß seine ersten Gedanken
keine spekulativen Ideen sein würden: Er würde eher an seine Selbsterhaltung
denken, als über den Ursprung seines Wesens nachsinnen. Ein solcher Mensch
würde zunächst nur seine Schwäche empfinden und äußerst furchtsam sein; und
bedürfte es hierzu eines Erfahrungsbeweises, so hat man ihn bei den Wilden der
Urwälder gefunden: Alles macht sie zittern, alles treibt sie zur Flucht. In diesem
Zustand fühlt sich jeder unterlegen und dem anderen kaum gewachsen. Man wird
also nicht den Angriff suchen, und Friede wäre so das erste Naturgesetz. Mit
Unrecht legt Hobbes den Menschen als ersten den Wunsch bei, einander zu
unterjochen. [...]
[...] der Drang, in Gesellschaft zu leben, ist ein [...] Naturgesetz.
84
Sobald die Menschen in Gesellschaft leben, verlieren sie das Gefühl ihrer Schwäche;
die Gleichheit, die unter ihnen bestand, geht verloren und der Kriegszustand beginnt.
Jede einzelne Gesellschaft gelangt zum Gefühl ihrer Kraft, und damit wird ein
Kriegszustand von Volk zu Volk hervorgerufen. Die einzelnen in jeder Gemeinschaft
werden sich allmählich ihrer Kraft bewußt; sie versuchen, sich die größten Vorteile
dieser Gemeinschaft zu sichern, und dadurch kommt es zu einem Kriegszustand
zwischen ihnen. Diese beiden Arten von Kriegszustand führen zur Schaffung der
Gesetze unter den Menschen. Als Bewohner eines Planeten, der so groß ist, daß es
notwendigerweise mehrere Völker geben muß, haben sie Gesetze, die ihre
Beziehungen untereinander regeln: Das ist das Völkerrecht. Als Glieder einer
Gesellschaft, die aufrechterhalten werden soll, haben sie Gesetze, die sich auf das
Verhältnis der Regierenden zu den Regierten beziehen: Das ist das Staatsrecht. Und
weiter haben sie Gesetze, die sich auf das Verhältnis aller Bürger zueinander
beziehen: Das ist das bürgerliche Recht. Das Völkerrecht ist naturgemäß auf dem
Grundsatz aufgebaut, daß sich die verschiedenen Völker, soweit das mit ihren
wahren Interessen vereinbar ist, im Frieden möglichst viel Gutes und im Kriege
möglichst wenig Böses zufügen sollen.
85
Das Verfassungsmodell Montesquieus
86
Jean Jacques Rousseau (1712 – 1778): Natürliche Freiheit und
Gesellschaftsvertrag
Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen
Da die Menschen im Naturzustand untereinander weder irgendeine Art sozialer
Beziehung noch bewusster Verpflichtungen besaßen, ist es zunächst einmal
offensichtlich, dass sie weder gut noch schlecht zu sein vermochten und weder
Tugenden noch Laster besaßen [...].
Schließen wir vor allem nicht mit Hobbes, der Mensch sei von Natur böse, weil er
keine Vorstellung von Güte hat, er sei lasterhaft, weil er die Tugend nicht kennt, er
werde stets seinesgleichen die Dienste verweigern, die er ihnen nicht zu schulden
glaubt. [...] Hobbes hat nicht gesehen, dass dieselbe Ursache, welche die Wilden
am Gebrauch ihres Verstandes hindert, [...] sie zur gleichen Zeit am Missbrauch
ihrer Fähigkeiten hindert, den er selbst annimmt. Auf diese Weise kann man sagen,
dass sie gerade deswegen nicht böse sind, weil sie nicht wissen, was gut sein
heißt. Denn weder der Fortschritt ihrer Erkenntnisse noch der Zaum des Gesetzes,
vielmehr die Unberührtheit von den Leidenschaften und die Unkenntnis des
Lasters verhindern sie, böse zu sein. [...]
87
Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes
Ich nehme an, dass sich die Menschen bis zu der Stufe emporgeschwungen haben,
wo die Hindernisse, die ihrer Erhaltung in dem Naturzustand schädlich sind, durch
ihren Widerstand die Oberhand über die Kräfte gewinnen, die jeder Einzelne
aufbieten muss, um sich in diesem Zustand zu behaupten. Dann kann dieser
ursprüngliche Zustand nicht länger fortbestehen, und das menschliche Geschlecht
müsste zu Grunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte. Da nun die
Menschen unfähig sind, neue Kräfte hervorzubringen, sondern lediglich die einmal
vorhandenen zu vereinigen und zu lenken vermögen, so haben sie zu ihrer
Erhaltung kein anderes Mittel, als durch Vereinigung eine Summe von Kräften zu
bilden, die den Widerstand überwinden kann, und alle diese Kräfte durch eine
einzige Triebkraft in Bewegung zu setzen und sie im Einklang wirken zu lassen.
Eine solche Summe von Kräften kann nur durch das Zusammenwirken mehrerer
entstehen. Da jedoch die Stärke und die Freiheit jedes Menschen die
Hauptwerkzeuge seiner Erhaltung sind, wie kann er sie hergeben, ohne sich
Schaden zu tun und die Sorgfalt zu versäumen, die er sich schuldig ist? Diese
Schwierigkeit lässt sich, wenn man sie auf den Gegenstand meiner Betrachtung
anwendet, in die Worte zusammenfassen: Wie findet man eine Gesellschaftsform,
die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes
Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt, und kraft derer jeder Einzelne, obgleich
er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie
vorher? Dies ist die Hauptfrage, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag gibt. [...]
88
Scheidet man also vom Gesellschaftsvertrag alles aus, was nicht zu seinem Wesen
gehört, so wird man sich überzeugen, dass er sich in folgende Worte
zusammenfassen lässt: „Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und
seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir
nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“
An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragsschließenden setzt solcher
Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, dessen Mitglieder aus
sämtlichen Stimmabgebenden bestehen, und der durch ebendiesen Akt seine
Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält. Diese
öffentliche Person, die sich auf solche Weise aus der Vereinigung aller übrigen
bildet, wurde ehemals Stadt genannt und heißt jetzt Republik oder Staatskörper.
[...]
Die erste und wichtigste Schlussfolge aus den bis jetzt aufgestellten Grundsätzen
ist die, dass der allgemeine Wille allein die Kräfte des Staates dem Zweck seiner
Einrichtung gemäß, der in dem Gemeinwohl besteht, leiten kann; denn wenn der
Gegensatz der Privatinteressen die Errichtung der Gesellschaften nötig gemacht
hat, so hat sie doch erst die Übereinstimmung der gleichen Interessen ermöglicht.
Das Gemeinsame in diesen verschiedenen Interessen bildet das gesellschaftliche
Band; und gäbe es nicht irgendeinen Punkt, in dem alle Interessen
übereinstimmen, so könnte keine Gesellschaft bestehen.
89
Oft ist ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen
Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus; ersterer zielt auf das
Privatinteresse und ist nur eine Summe von Einzelwillen. Zieht man aber von diesen
selben Einzelwillen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt
als Summe der Unterschiede der allgemeine Wille übrig.[...]
Ich behaupte also, dass die Staatshoheit, die nichts anderes als die Ausübung des
allgemeinen Willens ist, nie veräußert werden kann und sich das Staatsoberhaupt
als ein kollektives Wesen nur durch sich selbst darstellen lässt. Die Macht kann
wohl übertragen werden, aber nicht der Wille. [...]
Aus dem Vorhergehenden folgt, dass der allgemeine Wille immer richtig ist und
immer auf den gemeinen Nutzen abzielt; es folgt jedoch nicht, dass Volksbeschlüsse
immer ebenso richtig sind. Man will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein,
worin es besteht. Das Volk lässt sich nie korrumpieren, wohl aber oft hinter das
Licht führen, und nur dann scheint es Böses zu wollen. [...]
Da das Staatsoberhaupt keine andere Macht hat als die gesetzgebende Gewalt, so
wirkt es nur durch Gesetze, und da die Gesetze nichts anderes als authentische
Kundgebungen des allgemeinen Willens sind, so kann das Staatsoberhaupt nur
wirken, wenn das Volk versammelt ist. Das Volk versammelt! wird man sagen, welch
ein Hirngespinst! Heutzutage ist es allerdings ein Hirngespinst, aber vor
zweitausend Jahren war es das nicht. Hat sich die Natur der Menschen denn
geändert? [...]
90
Kennzeichen des Rousseauschen Demokratiemodells
•
•
•
•
•
direkte Demokratie (der „allgemeine Wille“ lässt sich nicht vertreten)
keine Gewaltenteilung
kein Minderheitenschutz
Volkssouveränität
Mehrheitswille = allgemeiner Wille = Gemeinwohl
• Voraussetzungen
 „hinlänglich unterrichtetes Volk“
 „keine Verbindung untereinander“
(keine Absprachen, keine Parteien oder
Interessengruppen)

„regelmäßige
Versammlungen“
und
periodische
91
Begründungsmerkmal: Natur- und geschichtsphilosophische Idee des
Fortschritts und der Perfektibilität der Menschengattung
3. Phase: Naturrechtliche Begründung der Menschen- und Grundrechte und
Revolutionen, 18. Jh.:
Virginia Bill, Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Französische
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
4. Phase: Nachrevolutionäre Theorien der Begrenzung staatlicher Macht und
der Definition des Staates als Rechtsstaat, 18. Jh.:
W. v. Humboldts liberale Theorie der Grenzen des Staates, Kants Theorie
universeller bürgerlicher Rechtsverhältnisse zwischen Individuen
und zwischen Staaten.
92
Grundrechte von Virginia vom 12. Juni 1776
Art. 1. Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und
besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie, wenn sie den Status einer
Gesellschaft annehmen, durch keine Abmachung ihre Nachkommenschaft
berauben und entkleiden können, und zwar den Genuß des Lebens und der
Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und
Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.
93
Die Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika vom 4.
Juli 1776
Wenn es im Zuge der menschlichen Geschichte für ein Volk notwendig wird, die
politischen Bande zu lösen, die es mit einem anderen Volke verbunden haben, und
unter den Mächten der Erde den selbstständigen und gleichen Rang einzunehmen, zu
dem Naturrecht und göttliches Gesetz es berechtigen, so erfordert eine geziemende
Rücksichtnahme auf die Meinung der Menschheit, dass es die Gründe darlegt, die es
zur Trennung veranlassen.
Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich
geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten
ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören;
dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden,
die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wann
immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht
des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen
und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu
organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes
geboten zu sein scheint. Gewiss gebietet die Weisheit, dass von alters her bestehende
Regierungen nicht aus geringfügigen und vorübergehenden Anlässen geändert werden
sollten; und demgemäß hat jede Erfahrung gezeigt, dass die Menschen eher geneigt
sind zu dulden, solange die Missstände noch erträglich sind, als sich unter Beseitigung
altgewohnter Formen Recht zu verschaffen. Aber wenn eine lange Reihe von
Missbräuchen und Übergriffen [...] die Absicht erkennen lässt, sie absolutem
Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht und ihre Pflicht, eine solche Regierung
zu beseitigen und neue Wächter für ihre künftige Sicherheit zu bestellen.
94
Die Federalist Papers
AN DAS VOLK DES STAATES NEW YORK – Nr. 1 – „Man hat oft festgestellt, daß es
dem Volk dieses Landes vorbehalten zu sein scheint, durch sein Verhalten und sein
Vorbild die wichtige Frage zu entscheiden: Sind menschliche Gesellschaften
wirklich dazu fähig, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger
Überlegung und freier Entscheidung einzurichten, oder sind sie für immer dazu
verurteilt, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von Zufall und Gewalt
abhängig zu sein? [...]
Es wäre ein Glück, wenn unsere Wahl von einer vernünftigen Einschätzung unserer
wahren Interessen geleitet wäre und unbeeindruckt und unbeeinflußt von
Überlegungen bliebe, die nichts mit dem Gemeinwohl zu tun haben. Aber das ist
wohl eher sehnlich zu wünschen als ernstlich zu erwarten. Der Entwurf, über den wir
beraten sollen, berührt zu viele partikulare Interessen, sieht zu viele Neuerungen bei
Einrichtungen der Einzelstaaten vor, als daß nicht eine Vielzahl sachfremder
Aspekte in die Diskussion hineingezogen würde, und ebenso eine Vielzahl von
Meinungen, Leidenschaften und Vorurteilen, die der Wahrheitsfindung nicht gerade
dienen.
Unter den größten Hindernissen, auf die die neue Verfassung stoßen wird, sind
leicht folgende auszumachen: das augenfällige Interesse einer bestimmten Klasse
von Menschen in jedem Einzelstaat, allen Veränderungen Widerstand zu leisten, die
die Gefahr einer Verringerung von Macht, Pfründen und Einfluß aus den Ämtern in
sich bergen, die sie innerhalb der Einrichtungen ihres Staates einnehmen. [...]
95
Nr. 39 – „Die erste Frage, die sich dabei [bei der Begutachtung des
Verfassungsentwurfs] stellt, ist, ob die allgemeine Form und Erscheinungsweise der
Regierung als streng republikanisch zu betrachten ist. Es ist offensichtlich, daß keine
andere Regierungsform vereinbar wäre mit dem Geist des amerikanischen Volkes,
mit den fundamentalen Prinzipien der Revolution oder mit der ehrbaren
Entschlossenheit, die jeden Verfechter der Freiheit dazu bewegt, alle unsere
politischen Experimente auf dem Grundsatz aufzubauen, daß die Menschheit dazu
befähigt ist, sich selbst zu regieren. [...]
Welches sind nun die charakteristischen Züge der republikanischen
Regierungsform? Wollte man eine Antwort auf diese Frage nicht durch Rückgang auf
Prinzipien suchen, sondern indem man prüft, wie politische Autoren diesen Begriff
bei der Untersuchung der Verfassungen verschiedener Staaten anwenden, so würde
man nie zu einer befriedigenden Antwort kommen. [...]
Wenn wir bei der Suche nach einem Kriterium auf die verschiedenen Prinzipien
zurückgreifen, auf denen die verschiedenen Regierungsformen basieren, können wir
die Regierung als Republik definieren oder zumindest mit dem Namen versehen, die
all ihre Befugnisse direkt oder indirekt vom gesamten Volk herleitet und von
Personen geführt wird, welche ihre Ämter nach Ermessen für begrenzte Zeit
innehaben oder solange sie ihr Amt korrekt ausüben. Für eine solche Regierung ist
es wesentlich, daß sie sich von der ganzen Gemeinschaft herleitet, nicht von einem
unbedeutenden Teil oder einer privilegierten Klasse.“
96
Weltbürgerrecht: Kant
Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur
nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein
allgemeines Gesetz werde.
Alle Rechtspflichten sind qua Pflichten auch Tugendpflichten. Aber nur das Recht,
nicht aber die Ethik kann der Politik und den Politikern Normen vorschreiben:
Mit der Moral im ersteren Sinne (als Ethik) ist die Politik leicht einverstanden, um
das Recht der Menschen ihren Oberen preis zu geben: aber mit der in der zweiten
Bedeutung (als Rechtslehre), vor der sie ihre Kniee beugen müßte, findet sie es
rathsam, sich gar nicht auf Vertrag einzulassen, ihr lieber alle Realität abzustreiten
und alle Pflichten auf lauter Wohlwollen auszudeuten.
Das Recht ist [...] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen
mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen
vereinigt werden kann.
Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür
eines jeden mit jedermannns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen
bestehen kann.
97
Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit
jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann,
ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit
zustehende Recht.
Die Staatsverfassung oder „bürgerliche Verfassung“, deren Begriff in § 45 der
Rechtslehre angegeben wird, ist der Kernbegriff der öffentlichrechtlichen
„bürgerlichen“ (politischen) Ordnung:
Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter
Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori nothwendig, d.i. aus Begriffen
des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend, (nicht statutarisch) sind, ist
seine Form die Form eines Staats überhaupt, d.i. der Staat in der Idee, wie er nach
reinen Rechtsprincipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem
gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.
Die Verfassung ist „Republik“, wie der „erste Definitivartikel zum ewigen Frieden“
der gleichnamigen Schrift aus dem Jahre 1795 zeigt:
Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. Die erstlich
nach Principien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens
nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen
Gesetzgebung (als Unterthanen) und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit
derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung – die einzige, welche aus der
Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung
eines Volks gegründet sein muß – ist die republikanische. Diese ist also, was das
Recht betrifft, an sich selbst diejenige, welche allen Arten der bürgerlichen
Constitution ursprünglich zum Grunde liegt; und nun ist nur die Frage: ob sie auch
die einzige ist, die zum ewigen Frieden hinführen kann. [...]
98
Kants Völkerrechtstheorie ist systematisch integriert in eine umfassende
rechtsphilosophische Konzeption. Sie richtet sich nach den drei möglichen
Dimensionen rechtlich-politischer Beziehungen.
Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1)
die nach dem Staatsbürgerrecht der Menschen in einem Volke (ius civitatis), 2)
nach dem Völkerrecht der Staaten in Verhältnis gegeneinander (ius gentium), 3) die
nach dem Weltbürgerrecht, sofern Menschen und Staaten, in äußerem aufeinander
einfließendem Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats
anzusehen sind (ius cosmopoliticum).
Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.
99
Begründungsmerkmal: Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und metaphysische
Rechtfertigung eines die Freiheit substantiell ermöglichenden Staates:
5. Phase: Kritik des Fortschritts- und Perfektibilitäts-Optimismus und
metaphysische Begründungen von Recht und Staat, frühes 19. Jh.:
Der Staat als Zweite Natur bzw. als Ausdruck des Absoluten und Kritik am Staat
der bürgerlichen Gesellschaft (Schelling), die Kritik der bürgerlichen
Gesellschaft und der Staat als Explikation der sittlichen Idee (Hegel).
100
Staat und Recht –
Die semantische und strukturelle Offenheit der Grundrechtsbestimmungen
Das im Staat geltende Rechtssystem hat „den Charakter eines durch die
Verfassung inhaltlich determinierten Rechtssystems“. Die sich hieraus ergebende
Problematik sieht R. Alexy in der „Art der inhaltlichen Determination. Die inhaltliche
Determination wäre eine recht unproblematische Sache, wenn stets feststünde, was
aufgrund der Grundrechtsnormen gesollt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der
Grund hierfür liegt nicht nur in der semantischen und strukturellen Offenheit der
Grundrechtsbestimmungen, sondern wesentlich auch im Prinzipiencharakter der
Grundrechtsnormen. Ihr Prinzipiencharakter impliziert die Notwendigkeit von
Abwägungen. Das Verfahren der Abwägung ist zwar [...] ein rationales Verfahren, es
ist aber kein Verfahren, das in jedem Fall zu genau einer Lösung führt. Welche
Lösung nach einer Abwägung für richtig gehalten wird, hängt von Wertungen ab,
die durch das Verfahren der Abwägung selbst nicht kontrollierbar sind. In diesem
Sinne ist die Abwägung ein offenes Verfahren. Die Offenheit der Abwägung aber
führt zu einer Offenheit des inhaltlich durch Grundrechtsnormen determinierten
Rechtssystems.“
101
Darüber hinaus bedeutet die „Geltung der Grundrechtsnormen [...], daß das
Rechtssystem ein gegenüber der Moral offenes System ist. Am deutlichsten
wird dies bei den materialen grundrechtlichen Grundbegriffen, den Begriffen
der Würde, der Freiheit und der Gleichheit. Diese Begriffe sind zugleich
Grundbegriffe der praktischen Philosophie. Mit ihnen sind die wichtigsten
Prinzipien des neuzeitlichen Vernunftrechts in die Verfassung und damit ins
positive Recht inkorporiert. Die Präzisierung dieser Prinzipien und die
Abwägung zwischen ihnen führt zu Problemen der Gerechtigkeit. Dies
machen auf exemplarische Weise die von Rawls formulierten Grundsätze der
Gerechtigkeit deutlich, die nichts anderes sind als ein Versuch, Freiheit und
Gleichheit ins Verhältnis zu setzen. Wenn das Bundesverfassungsgericht
sagt, daß der Verfassungsgeber bemüht war, ‘im Grundgesetz die Idee der
Gerechtigkeit zu verwirklichen’, dann ist dies vor allem auf die
grundrechtlichen Prinzipien zu beziehen. Das Ausstrahlen der Grundrechte
als positives Recht auf alle Bereiche des Rechtssysterns schließt also ein
positiv-rechtlich gefordertes Ausstrahlen der Idee der Gerechtigkeit auf alle
Bereiche des Rechts ein.“
102
Rechtskultur
Erst unter dieser Bedingung entsteht die „Integrität einer Rechtskultur“. Sie
„besteht darin, daß Verfassungsbestimmungen, Gesetze und
Einzelfallentscheidungen, die für richtig gehalten werden, sich mit allgemeinen
Prinzipien und Zielsetzungen in eine allgemeine politische Theorie einfügen lassen.
Dies ist dann der Rechtfertigungszusammenhang von Rechtsnormen. Die Integrität
einer Rechtskultur ist die regulative Idee, die jede Setzung und Anwendung von
Recht anzustreben hat.“ (G. Mohr)
Sie geht – so J. Habermas – „aus einem der Verfassungswirklichkeit
eingeschriebenen normativen Selbstverständnis rechtsstaatlicher Ordnungen
hervor“. Sie muß unter Pluralismus-Bedingungen interpretiert werden, und zwar mit
dem Ziel, daß die „durch den Gründungsakt der Verfassung bezeugte Verpflichtung
der Bürger“ berücksichtigt wird, „die Integrität ihres Zusammenlebens dadurch zu
wahren, daß sie sich an Prinzipien der Gerechtigkeit orientieren und einander als
Mitglieder einer Assoziation von Freien und Gleichen achten.“
103
Bestimmungen dessen, was ‘gerecht’ oder ‘rechtens’ ist, sind mit dem Problem
der ‘Faktizität des Pluralismus’ konfrontiert. J. Habermas formuliert dies so: „In
einer pluralistischen Gesellschaft wird die Theorie der Gerechtigkeit nur dann auf
Akzeptanz rechnen dürfen, wenn sie sich auf eine Konzeption beschränkt, die im
strikten Sinne nachmetaphysisch ist, nämlich vermeidet, im Streit konkurrierender
Lebensformen und Weltanschauungen Partei zu ergreifen. Auch der öffentliche
Gebrauch der Vernunft führt in vielen theoretischen, erst recht in praktischen
Fragen nicht zu dem angestrebten rational motivierten Einverständnis. [...] Nun
muß eine auf moderne Lebensverhältnisse zugeschnittene Theorie der
Gerechtigkeit mit einer Mannigfaltigkeit gleichberechtigt koexistierender
Lebensformen und Lebenspläne rechnen; über diese wird aus der Perspektive
verschiedener Traditionen und Lebensgeschichten vernünftigerweise Dissens
bestehen. Sie muß sich deshalb auf den engen Kreis jener politisch-moralischen
Grundsatzfragen beschränken, in denen ein ‘überlappender Konsens’
vernünftigerweise erwartet werden darf; dies sind nämlich genau die Fragen, die
weltanschaulich neutrale und allgemein akzeptable Werte betreffen. Gesucht
werden Grundsätze oder Normen, die verallgemeinerungsfähige Interessen
verkörpern.“
104
Unter Bedingungen, unter denen das Rechtsbewußtsein und die Anerkennung von
Rechtsnormen schwindet, weil der Wert der Gerechtigkeit nicht mehr gesehen und
Gerechtigkeit in der Gesellschaft immer weniger erlebt wird, kommt es darauf an,
den Relativismus zu relativieren: Der mit der Freiheit und dem Pluralismus
verbundene Relativismus kann nicht absolut, sondern nur relativ sein. Dies
bedeutet, die Beziehungen zwischen den Individuen so zu regeln, daß der Dissens
verträglich ist mit gleichen Freiheitsansprüchen und Rechten aller. Die
Verträglichkeit wird hergestellt durch rechtliches Sollen, d.h. durch Normen, die
mit Sanktionen bewehrt sind. Pluralismus und Relativismus sind insofern keine
Bedingungen, die aufzuheben wären, sondern Bedingungen, unter denen die
rechtliche Ordnung ermöglicht werden muß – und ermöglicht werden kann.
105
Pluralismus, Relativismus und Rechtsstaat
Gustav Radbruch hat in Der Relativismus in der Rechtsphilosophie geltend
gemacht, die Verfassung müsse „im Dienste der sozialen Ordnung und der
Rechtssicherheit“ stehen und die Kraft entfalten, „den Kampf der
Überzeugungen“ in Formen der Koexistenz konkurrierender Einstellungen und
Interessen überführen zu können, in denen sich die Individuen wechselseitig ihre
Grundrechte und die aus ihnen ableitbaren Rechte gewähren.
Es ist gerade die mit dem faktischen Pluralismus verbundene Relativität der
Interessen, die eine rechtsstaatliche Ordnung erforderlich macht: Relativität der
Interessen und Interessendurchsetzung in Relation zum Recht.
Die rechtsstaatliche Ordnung kann freilich – so Radbruch – die Sicherheitsaufgabe nur unter der Voraussetzung erfüllen, daß [sie] nicht allein die
Rechtsunterworfenen verpflichte, sondern auch den Gesetzgeber selbst. [...] Die
Gesetzgebung ist dem Gesetzgeber anvertraut nur unter der Bedingung, daß er
sich selbst der Herrschaft des Gesetzes unterwerfe. Ein Staat, der sich seinem
eigenen Gesetz unterworfen weiß, heißt [...] Rechtsstaat. Der Relativismus fordert
den Rechtsstaat.“
106
Koordination von Staat und Gesellschaft durch eine wirksame rechtliche
Normenordnung
Unter den Bedingungen des ‘faktischen Pluralismus’ orientiert sich das Verhalten der
Staatsbürger in der Gesellschaft an unterschiedlichen Normen, sozialethischen
Vorstellungen, Zwecksetzungen und Weltbildern. Die sozialen Lebensverhältnisse werden
zu einem großen Teil außerstaatlich und nicht durch Rechtsnormen, sondern durch
Moralnormen von Individuen und Gruppen (Familie, Vereine etc.: gegenseitige Hilfe)
geregelt.
„Die Normen des staatlich garantierten Rechts unterscheiden sich von außerrechtlichen
Sozialnormen vor allem durch ihre spezifische Wirksamkeit (‘Effektivität’), nämlich durch
die Technik der Rechtsdurchsetzung. [...] Die Befolgung der Rechtsnormen [...] wird
(auch) in rechtlich organisierten und normierten Durchsetzungsverfahren erzwungen, etwa
nach den Bestimmungen von Straf- und Zivilprozeßordnungen. Die in einem solchen
‘Erzwingungsverfahren’ zu beachtenden Rechtspflichten [...] stehen ihrerseits unter
rechtlich geregelten Sanktionen, deren Anwendung wiederum rechtlich gewährleistet ist.
Auf diese Weise bildet die Rechtsordnung“ ein Maschenwerk von „Regelungs- und
Kontrollsystem“, in dem die Normen zu „garantiertem Recht“ werden. Da der freiwillige
Normengehorsam oft nicht genügt, sind Rechtsnormen mit Sanktionsdrohungen ‘bewehrt’,
„um die Rechtsordnung als allgemeines Verhaltensschema funktionieren zu lassen. [...]
Das Verhalten der zu einem Staat vereinten Rechtsgenossen ist also dadurch koordiniert,
daß es sich nach Normen richtet, die eine sichere Chance haben, in einem rechtlich
organisierten Erzwingungsverfahren durchgesetzt zu werden. Diese Chance ist im
durchorganisierten Staat durch ein arbeitsteilig gegliedertes Gefüge staatlicher
Institutionen (Gerichte, Staatsanwaltschaften, Verwaltungsbehörden usw.) gewährleistet,
die sich auch gegenseitig in ihrem geordneten Funktionieren kontrollieren.“
107
Es ist der Staat, dem in höchster Instanz die Verfügung über das normative
Steuerungsinstrument (die ‘Kompetenzenhoheit’) zugeschrieben wird. Die
Normenbefolgung und die Akzeptanz einer solchen „höchstrangigen
Regelungsmacht“ hängt wesentlich ab
a)
b)
c)
von der Legitimität des Staates,
der ‘Richtigkeit’ des Rechts,
der Homogenität des Rechts.
Diese drei Momente müssen
1. in der Verfassung als ‘Grundnorm’ ihren Niederschlag gefunden haben
und
2. in einem für allgemeine Zustimmung hinreichenden Maße auch als
gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren werden können.
108
Herunterladen