Einführung in die Literaturwissenschaft

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Einführung in die
Literaturwissenschaft
Themenübersicht
• Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte
von anderen sprachlichen Äußerungen?
• Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte
den Bezug sprachlicher Äußerungen auf
›Wirklichkeit‹ dar?
• Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹?
• Narration: Wie entstehen Geschichten?
• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift
Schreiben in Wirklichkeit ein?
• Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen
sich literarische Texte auf andere Texte / andere
Medien?
›Realismus‹ und ›Verfremdung‹
Schreibweisen des Realismus lassen sich in gewissem Maße
als Verfahren der Verfremdung bestimmen:
•
•
•
•
sofern sie in Beschreibungen den Erzählfluß unterbrechen
sofern sie den Anspruch auf ›Allgemeinheit‹ relativieren
sofern sie mit ›Bedeutungslosigkeit‹ arbeiten
sofern sie Prozesse der Wahrnehmung gegen
Automatismen des Verstehens stärken.
Andererseits können ›realistische‹ Schreibweisen zu einer
Konvention werden, die ihrerseits in der modernen Literatur
durch andere Verfahren der Verfremdung in Frage gestellt
wird.
›Realismus‹ und Rhetorik
Nach Barthes lösen moderne ›realistische‹
Schreibweisen ältere Konzepte des ›Wahrscheinlichen‹
ab. Das ›Wahrscheinliche‹ ist das als möglich, als
denkbar Erscheinende, und an ihm sollte sich sowohl
der Dichter als auch der gute Redner orientieren. Die
Rhetorik als die Lehre von der Redekunst zielt auf den
Versuch, durch sprachliche Verfahren einen Eindruck
des ›Wahrscheinlichen‹ zu erzeugen bzw. eine
Übereinkunft darüber, was als ›wahrscheinlich‹ gilt.
›Realistische‹ Schreibweisen hingegen erzeugen den
Eindruck des ›Wirklichen‹.
Schriften zur Rhetorik
Aristoteles: (384-322 v. Chr.): »Rhetorik« (vor 347 v. Chr.)
Cicero (106-43 v. Chr.):
»Von der Erfindungskunst« (»De
inventione«) (zwischen 91 und 88 v. Chr.)
»Über den Redner« (»De oratore«)
(55 v. Chr.)
»Der Redner« (»Orator«) (46 v. Chr.)
Anonym:
»Rhetorik an Herennius« (zwischen
86 und 82 v. Chr.)
Quintilian (ca. 40-ca. 96 n. Chr.): »Ausbildung des Redners« (»Institutio
oratoria« (vor 96 n. Chr.)
Jean-Jacques Rousseau: Confessions
»Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung
auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen
einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch
werde ich sein.
Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne die Menschen.
Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von allen, die leben. Wenn ich nicht
besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. Ob die Natur gut oder übel
daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das
wird man nur beurteilen können, wenn man mich gelesen hat.
Die Posaune des jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will,
ich werde vor den höchsten Richter treten, dies Buch in der Hand, und laut
werde ich sprechen: ›Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was
ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse
gesagt. Vom Bösen habe ich nichts verschiegen, dem Guten nichts
hinzugefügt, und sollte es mir widerfahren sein, irgendwo im
Nebensächlichen ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem
anderen Grunde geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die mein
Gedächtnis verursacht hat. Ich habe für wahr halten dürfen, was
meines Wissens hätte wahr sein können, niemals aber etwas, von
dem ich wußte, daß es falsch sei. Ich habe mich so gezeigt, wie ich
gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso
edelmütig und groß, wo ich es war: ich habe mein Inneres so
enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist. Versamlle
um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen, sie mögen
meine Bekenntnisse anhören, mögen ob meiner Schändlichkeiten
seufzen und rot werden ob meiner Schwächen. Jeder von Ihnen
entblöße am Fuß Deines Thrones sein Herz mit derselben
Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es dann noch wagt, der mag
geruhig hervortreten und sprechen: ›Ich war besser als dieser
Mann dort.‹‹«
1. Sind Rousseaus »Bekenntnisse«
›wahrscheinlich‹?
»Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen
Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird.«
»[I]ch kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie
irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu
glauben, daß ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von
allen, die leben.«
Aus der Zurückweisung des Postulats der ›Wahrscheinlichkeit‹
gewinnt Rousseau die Notwendigkeit und die Möglichkeit der
Autobiographie. Er muß von sich sprechen, weil er als
Individuum einzigartig (das heißt im höchsten Maße
›unwahrscheinlich‹) ist, und er kann von sich sprechen, weil die
rednerische Norm des ›Wahrscheinlichen‹ nicht mehr als
bindend aufgefaßt wird.
Die drei Redegattungen (genera orationis)
Man kann eine Rede hören, um sie zu genießen
(Lobrede) oder um ein Urteil zu fällen; letzteres geschieht
entweder als Mitglied einer Versammlung, die über
künftiges Handeln diskutiert (Beratungsrede) oder als
Richter, der über Vergangenes befindet (Gerichtsrede).
Die drei Redegattungen (genera orationis)
Redegattungen
Gerichtsrede
(genus judiciale)
vor Gericht
Vergangenheit
Beratungsrede (genus
deliberativum)
Urteil fällen
in der Versammlung
Zukunft
Lobrede
(genus demonstrativum)
genießen
Gegenwart
2. Zu welcher Redegattung gehören
Rousseaus »Bekenntnisse«?
Rousseau ist mit der Vergangenheit befaßt, er legt
Rechenschaft vor den Menschen ab, aber er beugt sich
keinem irdischen Richter, allenfalls dem jüngsten
Gericht.
Er knüpft an die Gattung der Gerichtsrede an, um über
sie hinauszugehen und die Unvergleichbarkeit und
Singularität seines Lebens als Individuum zu
postulieren.
Die vier Frageweisen hinsichtlich der
Anlage der Rede
Frageweisen
Vermutungsfrage Definitionsfrage
(status
(status finitionis)
coniecturae)
Rechtsfrage
Verfahrensfrage
(status qualitatis) (status
translationis)
ja/nein?
zu Recht?
was?
Beispiele:
Hat der Angeklagte die Tat wirklich begangen?
Was genau hat er getan?
Hat er die Tat möglicherweise zu Recht begangen?
Ist das Verfahren überhaupt zulässig?
ob überhaupt?
3. Welche Frageweise strukturiert
Rousseaus »Bekenntnisse«?
Rousseau stellt die Vermutungsfrage, die Definitionsfrage und die
Rechtsfrage zurück, um die Verfahrensfrage aufzuwerfen und sie
zu verneinen.
Rousseau stellt die Zulässigkeit einer Anklageerhebung gegen ihn
zur Diskussion:
»Versammle um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen,
sie mögen meine Bekenntnisse anhören [...]. Jeder von ihnen
entblöße am Fuße Deines Thrones sein Herz mit derselben
Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es dann noch wagt, der mag
geruhig hervortreten und sprechen: ›Ich war besser als dieser
Mann dort.‹«
Die drei Aufgaben des Redners
Aufgaben des Redners (officia oratoris)
intellektuell
affektiv
Einsicht
Besänftigung
Erregung
Logik
Ethos
Pathos
belehren (docere)
beweisen (probare)
gewinnen (conciliare)
erfreuen (delectare)
bewegen (movere)
aufstacheln (concitare)
4. Welche der Aufgaben des Redners
macht Rousseau sich zu eigen?
Rousseaus »Bekenntnisse« wollen weder in erster Linie belehren
oder einen Beweis führen, noch wollen sie den Leser erregen und
aufstacheln. Vielmehr zielen sie vor allem darauf, Sympathie und
Verständnis für seinen Charakter, seine Menschlichkeit und seine
Individualität zu erwecken. Den Leser für sich einzunehmen wird
dabei zur Selbstermöglichung und zum Selbstzweck der
Autobiographie. Die Geneigtheit des Adressaten, die angestrebt
wird, gründet sich nicht auf eine Abwägung von Tugenden und
Lastern, sondern allein auf den Akt der Rede.
Die fünf Bearbeitungsphasen der Rede
(partes artis)
Bearbeitungsphasen
Gedanken
(res)
Erfindung
der
Gedanken
(inventio)
Gliederung
der
Gedanken
(dispositio)
Sprache
(verbum)
Memorieren sprachliche
Vortrag der
der Rede
Darstellung
Rede
der Gedanken
(memoria)
(elocutio)
(pronuntiatio)
Die Unterscheidung von res und verbum
»Die Rhetorik konstituiert sich wesentlich dadurch, daß sie das
Reich der Gedanken (des Inhalts) von dem der Sprache (der Form)
trennt, auch wenn dann viel dafür getan wird, beide wieder zu einer
Einheit zusammenzufügen. Der eigentümlich ›konkrete‹ Status der
Gedanken gegenüber der sprachlichen Darstellung bildet jedoch
genau den Punkt, an dem dann die modernen Sprachtheorien seit
dem späten 18. Jahrhundert Anstoß nahmen.«
(K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik. München 1998, S. 25)
Noch bei Maupertuis läßt sich die Trennung von res und verbum
beobachten. In der Zeichentheorie Saussures dagegen sind
›Vorstellung‹ und ›Lautbild‹ zur Einheit des Zeichens
zusammengefaßt.
5. Wird bei Rousseau zwischen ›res‹ und
›verbum‹ unterschieden?
Bei Rousseau geht es um den Akt der Rede selbst. Es gibt keine
›Form‹, die sich von einem ›Inhalt‹ der Rede trennen lassen
könnte. Die Worte als solche sind das Wesentliche, worin der
Redner nichts anderes als sich selbst bekundet. Das Sprechen
wird als die authentische Artikulation eines Subjekts verstanden,
worin es sich in seiner Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, mit
seinem Begehren und mit seinen Stärken und Schwächen zum
Ausdruck bringt. Es ist diese Rede selbst, die das Subjekt von allen
anderen unterscheidet und die seine Besonderheit und Indiviualität
konstituiert:
»Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat [...]. Ich will vor
meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur
zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.«
Die Rede ist ein Akt der Selbstschöpfung.
Rhetorik der Anti-Rhetorik
Rousseaus Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Authentizität geht mit
einem anti-rhetorischen Affekt einher. Dieser gehorcht aber selbst
wiederum den Regeln der Rhetorik.
Aristoteles: »Daher ist es erforderlich, die Kunstfertigkeit
anzuwenden, ohne daß man es merkt, und die Rede nicht als
verfertigt,sondern als natürlich erscheinen zu lassen – dies nämlich
macht sie glaubwürdig, jenes aber bewirkt das Gegenteil; denn die
Zuhörer nehmen wie gegen jemanden, der etwas im Schilde führt,
Anstoß daran wie gegen gemischte Weine.«
Rousseau: »Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller
Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.«
Schmuck (ornatus)
in Einzelwörtern
in Wortverbindungen
Tropen
Wortfiguren
Ersetzung
Hinzufügung
Sinnfiguren
Auslassung
Wortfügung
Umstellung Lizenz
RythApostrophe
mus
KlauMetapher
Anapher
Ellipse
Hyperbaton rhetorische
Fragen
seln
Katachrese Epipher
Zeugma ParallelisKonzession
Metonymie Paronomasie
mus
AnheimSynekdoche Polyptoton
Antithese
stellung
Emphase
Synonymie
Chiasmus
Evidenz
Hyperbel
Polysyndeton
PersonifiUmschreiAsyndeton
kation
bungen
Prosopopoiia
Allegorie
6. Welcher ›Schmuck‹ der Rede findet
sich bei Rousseau?
»Sollte es mir widerfahren sein, irgendwo im Nebensächlichen
ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem anderen
Grunde geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die mein
Gedächtnis verursacht hat.«
›Schmuck‹ ist für Rousseau gleichbedeutend mit
›Ausschmückung‹, und ›Ausschmückung‹ wiederum wird von
vornherein mit ›Nebensächlichem‹ in Zusammenhang gebracht.
Das ›Nebensächliche‹ aber kann in Vergessenheit geraten (was
impliziert: alles Wichtige bleibt im Gedächtnis). Nur dadurch
wiederum wird ›Schmuck‹ bedingt.
Wichtige Tropen und Figuren bei Rousseau
Es gibt eine Reihe von Figuren und Tropen, die alle den Akt des
›Wortergreifens in Rousseaus Autobiographie betreffen.
Beispiele:
Metonymie: im Modus der Ersetzung steht das Buch für den
Menschen ein.
Apostrophe: Der »höchste Richter« – Gott – wird angerufen; dadurch
wird das Jüngste Gericht vorweggenommen und alle irdische
Gerichtsbarkeit in ihre Schranken verwiesen.
Prosopopoiia: Das Ich des Textes gibt sich selbst nach seinem Tode
eine Stimme: »Laut werde ich sprechen: ›Hier ist, was ich
geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen [...]‹«
Dadurch wird der Akt des autobiographischen Schreibens als solcher
noch einmal gespiegelt.
Resümee: 6 Fragen an Rousseau
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Sind Rousseaus »Bekenntnisse« ›wahrscheinlich‹?
Zu welcher Redegattung gehören Rousseaus
»Bekenntnisse«?
Welche Frageweise strukturiert Rousseaus »Bekenntnisse«?
Welche der Aufgaben des Redners macht Rousseau sich zu
eigen?
Wird bei Rousseau zwischen ›res‹ und ›verbum‹
unterschieden?
Welcher ›Schmuck‹ der Rede findet sich bei Rousseau?
Die Aktualität der Rhetorik
Rousseaus »Bekenntnisse« stehen am Beginn einer Literatur, die
zunehmend auf ihren Autor hin gelesen wird, als authentisches
Zeugnis eines Subjekts, das in seinem Werk zum Ausdruck
gelangt. Dies geht mit einer Distanzierung von den Regeln und
Überzeugungstechniken der Rhetorik einher.
Dennoch ist noch die Distanzierung von der Rhetorik auf eminente
Weise rhetorisch verfaßt. Noch die Absage an die Rhetorik steht in
Abhängigkeit von dieser, auch wenn sie darüber hinwegtäuschen
will.
Literaturwissenschaftliche Ansätze tragen dem Rechnung, indem
sie nach literarischen Verfahren fragen. Literarische Verfahren
werden im Spannungsfeld von Konvention und Innovation
untersucht (Beispiel Šklovskij).
Texte und Folien im Netz unter:
www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/
Paßwort für die Texte:
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