Vertiefungstext Gedächtnis

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bei der Schmerz- und Angstvermittlung hat. Außerdem verläuft die
Formatio reticularis durch das Mesenzephalon.
Das dorsal gelegene Tectum besteht aus vier Hügeln und wird
daher auch Vierhügelplatte genannt. Die inferioren Hügel vermitteln
auditive, die superioren Hügel visuelle Funktionen.
Tectum
Das Dienzephalon
| 3.7.4
Das Dienzephalon besteht aus zwei Strukturen, dem Thalamus und
Hypothalamus mit seinem Ausführungsorgan, der Hypophyse.
Thalamus: Der Thalamus besteht aus paarweise angelegten taubeneigroßen Kernen, die durch die Adhesio interthalamica verbunden
sind. Er ist eines der komplexesten Gebilde des ZNS. Sein wichtigstes
Merkmal sind die intensiven wechselseitigen Faserverbindungen zum
Kortex. Er moduliert ein- und ausgehende Informationen zum Kortex
und wird deshalb Tor zum Kortex genannt. Es werden spezifische und
unspezifische Thalamuskerne unterschieden.
Die spezifischen Thalamuskerne projizieren je nach Sinnesqualität
zu abgrenzbaren Bereichen der Kortexrinde und stellen die letzte
sensorische (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken), sensible (Tasten, Vibration, Schmerz) und motorische Umschaltstelle vor dem Eingang in
die Großhirnrinde dar. Die Verschaltung ist dabei reziprok, d. h. der
Kortex steuert deszendierend das Erregungsniveau der spezifischen
Thalamuskerne und damit seinen Informationsinput.
Die unspezifischen Thalamuskerne leiten das Erregungsniveau der
Formatio reticularis an den Kortex weiter. Indem sie die spezifischen
Thalamuskerne aktivieren, kommt es zu einer unspezifischen Vorerregung der Hirnareale, die durch die spezifischen Thalamuskerne
innerviert werden.
Der Thalamus verfügt außerdem über ein eigenes Arousalsystem,
das thalamische Retikulärsystem. Es sitzt dem Thalamus als Netzwerk
von Dendriten wie eine Kappe auf. Das thalamische Retikulärsystem wird vom Kortex gemäß einer Kopie der durch die spezifischen Thalamuskerne erregten Hirnareale innerviert. Es senkt das
Erregungsniveau der spezifischen Thalamuskerne und damit ihre
Durchlässigkeit für Information. Über diese negative Feedbackschleife
verhindert der Kortex Überaktivierung durch die sich reziprok verstärkenden Arousalmechanismen der spezifischen und unspezifischen
Thalamuskerne.
spezifische
Thalamuskerne
unspezifische
Thalamuskerne
thalamisches Retikulärsystem
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NEUROANATOMIE
Hypothalamus: Der Hypothalamus steuert über chemische Botenstoffe
das vegetative Nervensystem und das endokrine System. Dabei integriert er den Output aus vielen Hirnarealen wie dem limbischen
System und dem thalamokortikalen System und vermittelt diese
Information über Botenstoffe an die Peripherie. Sein Ausführungsorgan ist die Hypophyse. Der Hypothalamus reguliert folgende Funktionen des vegetativen Nervensystems:
˘ Aufrechterhaltung der Homöostase (Temperatur, Blutdruck, Osmolarität),
˘ Regulation der Nahrungs- und Wasseraufnahme,
˘ zirkadiane Rhythmik und Schlaf,
˘ Steuerung des Sexual- und Fortpflanzungsverhaltens.
Hypophyse
Hypophysenhinterlappen
Neurosekretion
Hypophysenvorderlappen
Die Hypophyse ist mit dem Hypothalamus über den Hypophysenstiel
verbunden. Sie unterteilt sich in zwei morphologisch und entwicklungsgeschichtlich unterschiedliche Strukturen, den Hinterlappen
(Neurohypophyse), der Teil des Hypothalamus ist, und den Vorderlappen (Adenohypophyse), der eine endokrine Drüse ist.
Der Hypophysenhinterlappen besteht aus Nervenfasern, die vom Hypothalamus produzierte Botenstoffe ins Blut abgeben. Hierzu gehören
Vasopressin, ein Hormon, das die Wasserrückretention aus dem Urin
steuert, und Oxytozin, das Kontraktionen des Uterus herbeiführt.
Die Nerven des Hypophysenhinterlappens sind zur Sekretion von
Botenstoffen in die Blutbahn in der Lage. Sie benutzen wie das endokrine System das Kreislaufsystem, um ihr Zielorgan zu erreichen. Mit
der Neurosekretion erfolgt eine Umwandlung neuronaler Information
in endokrine Signale. Sie stellt damit ein Bindeglied zwischen den
chemischen Signalsystemen dar und ermöglicht es dem Gehirn, kontinuierlich Information an die Peripherie zu senden und am Zielorgan
langfristige Regulationsprozesse zu bewirken.
Der Hypophysenvorderlappen, eine endokrine Drüse, produziert einerseits Releasing- und Inhibiting-Hormone, die zur Freisetzung von Hormonen aus peripheren endokrinen Drüsen führen, beispielsweise der
Definition
Hormone werden in endogenen Drüsen oder Gewebe synthetisiert.
Sie werden in die Blutbahn ausgeschüttet und benutzen das Kreislaufsystem, um die Zielzelle zu erreichen. Sie legen dabei eine große
Distanz zwischen Signal- und Zielzelle zurück und entfalten an der
Zielzelle eine langsame, kontinuierliche Wirkung.
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Schilddrüse, den Ovarien, Testes und der Nebennierenrinde. Andererseits produziert er Effektorhormone, die direkt auf das Effektororgan
wirken, wie Prolactin und das Wachstumshormon.
Das Telenzephalon
| 3.7.5
Das Telenzephalon wiegt etwa 1.400 Gramm und besteht aus zwei
Hemisphären. Sie sind durch einen tiefen Einschnitt, die Fissura
longitudinalis cerebri, voneinander getrennt, jedoch durch einen dicken Nervenstrang, das Corpus callosum (Balken), miteinander verbunden. Die äußere graue 2–5 mm dicke Schicht, die das Telenzephalon
wie eine Rinde umgibt, wird zerebraler Kortex oder Neokortex genannt.
Er besteht aus grauer Substanz, weil er viele Nervenzellkörper
enthält. Er weist eine starke Faltung auf mit kleinen Vertiefungen, den
Sulci, und wenigen großen Einschnitten, den Fissuren. Die dazwischen
liegenden Wölbungen heißen Gyri. Durch die Faltung kann die Oberfläche des Kortex auf 2.360 cm2 vergrößert werden, ohne dass eine
physiologisch vertretbare Schädelgröße überschritten wird.
Unter dem Kortex liegt die weiße Substanz, die aus vielen Millionen
Nervenfasern besteht. Ihre Gesamtlänge umfasst den Abstand von
der Erde zum Mond oder den 145-fachen Erdumfang. Wichtige Teilstrukturen des Telenzephalon sind das limbische System und die Basalganglien. Sie bestehen aus grauer Substanz, die unterhalb des Kortex liegt.
Es handelt sich um subkortikale Teilstrukturen des Kortex.
Der zerebrale Kortex besteht aus sechs Schichten. In die Schichten
III, IV und V geht die Information aus den Sinnessystemen über die
spezifischen Thalamuskerne ein, in die Schichten I und II Assoziationsfasern aus anderen ipsilateralen kortikalen Regionen, die Kommissurenfasern aus der kontralateralen Hemisphäre und die Eingänge
aus den unspezifischen Thalamuskernen. Die Ausgänge erfolgen über
die Schichten V und VI, die an die weiße Substanz angrenzen.
Das Telenzephalon wird pro Hemisphäre in vier Lappen untergliedert: Den Frontallappen, den Parietallappen, den Okzipitallappen und
den Temporallappen. Frontal- und Parietallappen trennt der Sulcus centralis, der Temporallappen wird durch den Gyrus temporalis superior
vom Frontal- und Parietallappen getrennt.
Die Information aus den Sinnesorganen wird nach Umschaltung
auf die kontralaterale Hemisphäre im primären visuellen, auditorischen, motorischen und somatosensorischen Kortex gespeichert und
verarbeitet. Um die primären Kortizes liegen die Assoziationsareale der
Sinnesmodalitäten, in denen die Information aus den primären Korti-
zerebraler Kortex
(Neokortex)
graue Substanz
weiße Substanz
6 Schichten
2 x 4 Lappen
primäre Kortizes und
Assoziationsareale
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NEUROANATOMIE
zes integriert und zu einem Gesamteindruck aus allen Sinnesmodalitäten verarbeitet wird. So ist es möglich, sich beim Anblick eines Gesichtes an den Klang der Stimme zu erinnern oder Körpersensationen
mit einem visuellen Eindruck zu verbinden.
Definition
Der vorderste Bereich des motorischen Assoziationskortex wird präfrontaler Kortex genannt. Hier finden höhere kognitive Funktionen statt,
wie schlussfolgerndes Denken und Handlungsplanung.
Motorische und somatosensorische Information wird nicht entsprechend der Körperproportionen in den primären Kortizes abgelegt,
sondern entsprechend der Stärke der Innervation der jeweiligen Körperregion. Dadurch sind Hand und Gesicht, speziell Mund und Zunge,
überdimensional im Kortex repräsentiert.
Definition
Wegen der Unproportioniertheit der abgebildeten Körperverhältnisse
wird vom motorischen bzw. somatosensorischen Homunculus gesprochen.
Subkortikale
Kerngruppen
Zum Telenzephalon gehören subkortikal gelegene Kerngruppen: das
limbische System und die Basalganglien.
Gedächtnisfunktionen
Limbisches System: Das limbische System bildet anatomisch den Saum
(lat. limbus = Saum) um den Balken und ist die Grenze zwischen zerebralem Kortex und Hirnstamm. Markante Strukturen sind der
Hippocampus mit Fornix, die Mamillarkörper, die Amygdala, der
zinguläre Kortex und das Septum. Teilweise wird das Septum nicht
dazugezählt. Funktionell ist das limbische System ein Schlagwort für
Emotionslokalisation und -genese, was jedoch ungenau ist, da der
Hippocampus Gedächtnisfunktionen vermittelt.
Über Verbindungen zum Hypothalamus werden durch das
limbische System auch endokrine und vegetative Funktionen gesteuert.
Der zinguläre Kortex als Teilstruktur des limbischen Systems liegt
dem Balken auf und geht in den Temporallappen über. Er weist im
Gegensatz zum zerebralen Kortex nur drei Zellschichten auf und
gehört zum entwicklungsgeschichtlich alten Archikortex, der bei
Reptilien oberstes Integrationsorgan ist. Er vermittelt vegetative
Funktionen.
vegetative Funktionen
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Die Genese von Emotionen lässt sich in den Mamillarkörpern und der
Amygdala lokalisieren. Über diese Strukturen werden jedoch auch
vegetative und sexuelle Funktionen vermittelt.
Informationen, die langfristig gespeichert werden, müssen den
Hippocampus durchlaufen. Der Hippocampus ist eine nach innen
eingerollte Rindenformation. Er ist die wichtigste Struktur des Archikortex. Bei seiner Zerstörung sind langfristige Speicherprozesse nicht
mehr möglich.
Alle Strukturen des limbischen Systems sind neuronal eng miteinander verschaltet. Der Papez-Neuronenkreis vom Hippocampus über
Fornix, Mamillarkörper, Thalamus, Gyrus parahippocampalis zurück
zum Hippocampus muss bei der Langzeitspeicherung durchlaufen
werden.
Basalganglien: Die Basalganglien liegen unterhalb des vorderen Teils der
Seitenventrikel. Markante Strukturen sind der Nucleus caudatus, Putamen und Globus pallidus. Nucleus caudatus und Putamen werden wegen ihrer gestreiften Oberfläche auch als Striatum zusammengefasst.
Das Striatum dient der Steuerung der Motorik im Sinne einer
somatosensorischen Integration, wodurch organisiertes Verhalten
möglich wird. Es erhält Afferenzen aus allen Teilen des Kortex
(optisch, akustisch, taktil) und seinen Assoziationsarealen. Es ist
die oberste Integrationsstelle des extrapyramidalen Systems. Beim
Morbus Parkinson sind Neuronen in der Substantia nigra degeneriert,
die zum Striatum ziehen. Hierdurch entsteht die typische Symptomtrias: Rigor (Steifheit), Tremor (Zittern) und Hypokinese (Bewegungsverarmung / -verlangsamung).
Emotionsgenese
Hippocampus
Papez-Neuronenkreis
Striatum
Kasten
Zusammenspiel bei Informationsverarbeitung und Erhaltung des
Organismus
Obwohl das Gehirn eine außerordentlich funktionstüchtige
Informationszentrale ist, wäre es vollkommen überfordert, wenn
nicht viele wichtige Funktionen der Informationsverarbeitung
und der Erhaltung des Organismus subkortikal gesteuert würden.
Dazu gehören die vitalen Funktionen, die im Myelenzephalon und
Metenzephalon über Reflexe sehr rasch und effizient ablaufen.
Wichtige Filterfunktionen für die Flut von eingehender Information
aus der Peripherie hat der Thalamus im Dienzephalon. Die Selektion
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NEUROANATOMIE
von Information zur langfristigen Speicherung und ihre Ergänzung
durch emotionale und motivationale Inhalte geschieht im subkortikal
gelegenen Hippocampus. Auch die Ansteuerung der Motorik durch
Integration der zentralnervösen Information geschieht in einem subkortikalen Kerngebiet, dem Striatum. Die Synthese von chemischen
Botenstoffen zur langfristigen Steuerung der Peripherie erfolgt
ebenfalls subkortikal im Hypothalamus und der Hypophyse.
3.8 | Stütz- und Ernährungsgewebe
Astrozyten
Über 50 % der Zellen im Gehirn sind Stütz- und Ernährungsgewebe.
Diese Zellen werden Gliazellen genannt. Hierzu gehören Astrozyten,
Oligodendrozyten, Schwann’sche Zellen und Mikroglia. Dieses „Bindegewebe“ hat Ernährungs- und Stützfunktion und löst keine Nervenimpulse aus.
Die Astrozyten erfüllen eine Vielzahl von Funktionen:
˘ Sie dienen der Ortsstabilisierung der Neuronen, indem sie eine
Matrixstruktur bilden.
˘ Sie sind Müllabfuhr, weil sie Proteinfragmente und Stoffwechselprodukte entfernen.
˘ Sie isolieren die Synapsen und begrenzen damit die Neurotransmitteraktion.
˘ Sie ernähren die Nervenzellen, indem sie den Blutgefäßen Glukose
und Aminosäuren entnehmen und dem Zellkörper zuführen. Sie
speichern Glykogen.
˘ Sie regulieren das extrazelluläre Milieu.
˘ Sie bilden eine Lipidschicht um die Blutgefäße als Barriere für chemische Substanzen (Blut-Hirn-Schranke).
˘ Sie nehmen die Neurotransmitter Glutamat und GABA auf und
speichern sie in Form ihres gemeinsamen Vorläufers Glutamin.
˘ Sie nehmen den Überschuss an Kalium-Ionen nach dem Aktionspotenzial auf, der von der Natrium-Kalium-Pumpe nicht ins Zellinnere befördert wird.
˘ Sie erhalten die Zusammensetzung der extrazellulären Flüssigkeit
aufrecht, die die Neuronen umgibt.
Oligodendrozyten
Oligodendrozyten myelinisieren die Axone des zentralen Nervensystems. Die Myelinscheide isoliert die Neuronen voneinander und
beschleunigt die Reizweiterleitung. Das Myelin besteht zu 80 % aus
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