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Wie von den Koronararterien Besitz
ergriffen wurde
Was hat die Umwandlung der Medizin von einem humanen
Beruf zu einer teuren Technokratie vorangetrieben? Es geschah scheinbar in einer einzigen Lebensspanne, und ich
war bei vielem Zeuge. Lassen Sie mich berichten, was geschehen ist. Seien Sie jedoch vorgewarnt: Die Geschichte
gleicht eher einer „Rashomon“-Erfahrung1 als Bekenntnissen, die auf dem Sterbebett gesammelt werden.
Bei der Metamorphose zur medizinischen Moderne haben Kardiologen die führende Rolle gespielt. Der Fokus
ihrer Besorgnis war das epidemische Überhandnehmen der
koronaren Herzkrankheit. Während der letzten 50 Jahre
oder länger noch ist sie die häufigste Todesursache. Sie tötet und invalidisiert Menschen während der produktivsten
Phase ihres Lebens. Frauen sind etwa zehn Jahre später
davon betroffen, wobei sich die koronare Herzkrankheit
gewöhnlich nach der Menopause manifestiert: Im Alter
von 70 Jahren ist ungefähr ein Fünftel der Amerikaner beiderlei Geschlechts von irgendeiner Form der Herzkrankheit
befallen.
Die überwältigende Macht – nein, der verführerische
Charme oder sogar der Würgegriff – der Technologie in der
Medizin wurde zuerst in Verbindung mit der koronaren
Herzkrankheit manifest. Der Teufelspakt des Doktor Faustus war ebenso heimtückisch wie alles verschlingend. Des
Teufels Sendbote versprach Reichtum, wissenschaftliche
1 Das heißt sie führt vor, wie die Wahrnehmung einer Situa­tion
durch unterschiedliche Interessenlagen maßgeblich beeinflusst wird.
In anderen Theorien wird das Phänomen zum Beispiel als kognitive
Verzerrung oder selektive Wahrnehmung bezeichnet.
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Meriten von unanfechtbarer Glaubwürdigkeit, die Führungsrolle bei hoch modernen medizinischen Neuerungen
und – absolut unwiderstehlich – die Transformation der
Arbeit in ein Kinderspiel mit ganz neuen, unvorstellbar
vielseitigen Spielsachen. Seinerseits versprach der Doktor
die Einhaltung der Anforderungen der Arbeitsplatz-Indus­
trialisierung und damit die Vermehrung von Effizienz und
Profitabilität. Während die Kardiologen triumphierten,
ging dem ärztlichen Tun etwas ganz Vitales verloren. Es
bedeutete, weniger Zeit mit den Patienten zu verbringen
und die althergebrachten Fähigkeiten des Zuhörens sowie
die vollendete Kunst der körperlichen Untersuchung aufzugeben. Einige Ärzte empfanden einen Schmerz wie beim
Tod eines lieben Freundes. Die meisten jedoch betrauerten
diesen Verlust keineswegs. Diese humanitären Fähigkeiten,
die an den Medizinischen Hochschulen nicht gelehrt oder
in den Krankenhäusern nicht gefördert werden, hatten sie
niemals erworben und sie gingen ihnen somit auch niemals
verloren.
Der Vormarsch des technologischen Fortschritts
Dieser Faust’sche Teufelspakt startete nicht hochtourig auf
einen Streich. Seine Umsetzung erfolgte tröpfchenweise in
kleinen Vorstößen über mehr als ein Jahrhundert. Die objektive Herausforderung war, wie der Strom des Blutes
durch blockierte Herzkranzgefäße verbessert werden könne. Eigentlich gab es nur zwei Optionen: entweder die
Umgehung des verengten Segments oder die Erweiterung
einer verschlossenen Gefäßlichtung. Ehe man sich um die
Läsion kümmern konnte, musste man ihre genaue Lokalisation bestimmen. Dies war keine Kleinigkeit. Die Arterien,
welche den Durchmesser eines Schnürsenkels haben, umfangen das Herz wie ein entrolltes Fischernetz. Die Heraus40
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forderung bestand darin, in diese winzigen Gefäße hineinzuschauen, die Blockierung zu lokalisieren und ihr Ausmaß
zu bestimmen.
Es begann in den 1860er-Jahren, als der große französische Physiologe Claude Bernard einen dünnen Gummischlauch in ein schlagendes Tierherz schob. Fast 70 Jahre
später führte der deutsche Arzt Werner Forssmann eine Katheterisierung an einem lebenden Menschenherz durch.
Auf verschiedenen Punkteskalen rangierte dieses Experiment an erster Stelle in den Annalen exzentrischer medizinischer Überlieferungen. Das Objekt des Experiments war
nämlich kein anderer als Forssmann selbst. Er betäubte
seinen Unterarm und schob dann vorsichtig einen langen
Harnkatheter in seine Ellenbeugenvene ein, bis dieser in der
rechten Herzkammer angelangte. Dann marschierte Forssmann zur Röntgenabteilung und machte Röntgenaufnahmen, die zeigten, dass sich die Katheterspitze in der Tat
in seinem Herz befand. Es gab keinerlei unerwünschte
Nebenwirkungen, außer dass Forssmann aus seiner ärzt­
lichen Anstellung entlassen wurde. Schlussendlich wurde er
jedoch rehabilitiert und sehr geehrt, indem er den Nobelpreis für Medizin erhielt.
Die Transformation der Katheterisierung von einer Kuriosität zu einem unentbehrlichen Werkzeug ist mit den
Namen zweier amerikanischer Ärzte verbunden: André
Cournand und Dickinson Richards vom Bellevue bzw.
Presbyterian Hospital in New York City. Da sie in erster
Linie an der Funktion der Lungen interessiert waren, mussten sie die Blutgaskonzentration wie Sauerstoff und Kohlendioxid im Herzen bestimmen. Cournand war mit Forssmanns unorthodoxer Methode vertraut und adaptierte
dessen Technik, um die Funktion des Herzens zu untersuchen. Beide Ärzte bestätigten sehr rasch die Sicherheit der
Methode, standardisierten die Prozedur der Herz-Katheterisierung und etablierten ihren großen Nutzen für die Dia41
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gnostik der angeborenen sowie der rheumatischen Herzklappenerkrankung. Damit eröffneten Cournand und
Richards ein neues Grenzland in der Medizin und begründeten eine neue Disziplin in der Kardiologie. Für diese Leistungen teilten sie sich im Jahr 1956 mit Forssmann den
Nobelpreis für Physiologie und Medizin.
Ein großer Schritt wurde von Mason Sones an der
Cleveland Clinic getan. Das Datum ist erwähnenswert, da
es den rasanten Beginn kardialer Interventionen markiert.
Am 30. Oktober 1958 katheterisierte Sones das Herz eines
jungen Mannes mit rheumatischer Herzklappenerkrankung. Sein Ziel war es, eine erkrankte Aortenklappe durch
Injektion eines Kontrastmittels in die linke Herzkammer
sichtbar zu machen. Sones war bestürzt, dass die Katheterspitze unabsichtlich in die rechte Herzkranzarterie geglitten
war. Noch ehe er die vorgesehene Injektion stoppen konnte, war eine riesige Menge an Kontrastmittel in die kleine
Arterie eingeflossen. Das Herz hörte auf zu schlagen, nahm
jedoch nach wenigen Minuten seinen normalen Schlag wieder auf. Dieser Unfall, der tödlich hätte enden können, war
eine umwälzende Erfahrung. Sones, ungerührt, ging diesen
Weg weiter und führte die moderne bildliche Darstellung
der Koronararterien ein. (1)
Ganz und gar nicht überraschend fand der nächste Vorstoß ebenfalls an der Cleveland Clinic statt. Im Jahr 1967
führte Sones’ Kollege, Dr. René Favaloro, die erste Koro­
nararterien-Bypass-Operation der Welt durch, um die
Revaskularisierung des Herzens zu erreichen. Er benutzte
eine Beinvene (Saphena-Vene) als Leitungsrohr für die Umgehung des Herzkranzgefäß-Verschlusses. Dies wäre ohne
die koronare Angiografie nicht möglich gewesen.
Ein Wort des Bekennens ist angebracht. Ich war ganz
am Rande an diesen Entwicklungen beteiligt. Der Gleichstrom-Defibrillator und der Kardioverter, die ich beide
eingeführt hatte, erleichterten die Revaskularisierung des
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Herzens. Die Koronararterien-Chirurgie ist am erfolgreichsten an einem ruhig gestellten, nicht schlagenden Herzen. Der Weg, den Herzschlag zu stoppen, besteht im Auslösen von Kammerflimmern. (2) Aber wie kann man dann
wieder einen normalen Herzrhythmus herstellen? Paul
Zolls Wechselstrom-Defibrillator war bereits verfügbar.
Die Pulswelle von Zolls Defibrillator ist jedoch schädlich
für den Herzmuskel und vermag in einer großen Zahl der
Fälle nicht, einen normalen Rhythmus wieder herzustellen.
Seine Anwendung führte zu einer inakzeptablen Ope­
ra­
tionssterblichkeit. Die Gleichstrom-Defibrillierung, die
vergleichsweise harmlos ist, begünstigte die neue Ära der
Herzchirurgie.
Ich vermochte diesen Zusammenhang nicht zu realisieren, bis ich ihn auf eine kuriose Art und Weise begriff.
Eines Tages erhielt ich einen Telefonanruf von Dr. Don
Effler, dem Direktor der Herzchirurgie an der Cleveland
Clinic. In seiner Abteilung waren die Weichen für die
Revolution gestellt worden. Er hielt Vorlesungen in Boston
und fragte, ob er vorbeikommen und „Hallo“ sagen könne. Da ich den Mann nie zuvor getroffen hatte, war ich
überrascht. Dieser baumlange feine Herr erschien, und
noch ehe er ein Wort sagte, hob er mich in einer bären­
starken Umarmung in die Luft und verkündete mit einer
dröhnenden Stimme und einer für einen Chirurgen nicht
ungewöhnlichen Übertreibung: „Danke, Bernard, dass du
die moderne Herzchirurgie möglich gemacht hast!“
Die Revaskularisierung des Herzens
Die Bypass-Chirurgie war ein wesentlicher Fortschritt in
der Behandlung von Patienten mit schwerer symptoma­
tischer koronarer Herzkrankheit. Sie wurde sowohl in den
USA als auch im Rest der industrialisierten Welt und für
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reiche Patienten in der Dritten Welt sehr rasch zu einer fast
wie von Gott verordneten Standardbehandlung von Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Während die Vorteile
der Revaskularisierung stets hoch gerühmt wurden, wurde
über das Leid, das mitunter durch diese Operationen verursacht wurde, gewöhnlich nur wenig berichtet.
Muss eine Prozedur, nur weil sie möglich ist, auch un­
bedingt nötig sein? Und falls sie nötig ist: Wer gewinnt und
wer verliert? Immer gibt es einen Preis zu zahlen in Form
von Verletzungen, die manchmal lange bestehen bleiben
oder irreversibel sind – und gelegentlich ist der Preis so­gar der Tod. Ich bin vielen Patienten begegnet, die als
Folge einer Bypass-Operation schwer geschädigt waren,
obgleich die Chirurgen die Resultate als erfolgreich gerühmt hatten. Noch eine weitaus größere Zahl an Opfern
kommt mir in den Sinn, an die ich mich aber lieber nicht
erinnern möchte.
Etwa 15 Jahre hindurch hatte ich H. W. betreut, der an
ausgeprägter koronarer Herzkrankheit dreier Gefäße litt.
(3) Ich überwies ihn zur Revaskularisierung, da seine zunehmende Angina pectoris nicht länger auf eine Fülle von
Medikamenten ansprach. Die Operation verlief gut. Jedoch
trat die Angina pectoris nach sechs Monaten wieder in Erscheinung. Zusätzlich war er durch Schmerzen nach dem
Zerschneiden des Brustbeins beeinträchtigt. (4) Noch viel
mehr behinderten ihn aber die unaufhörlichen Beschwerden in seinem oberen linken Bein an der Stelle, an der man
das Venentransplantat entnommen hatte. Kläglich bat er
mich: „Doktor Lown, können Sie nicht die Abschnürung
um meinen Oberschenkel entfernen?“
Noch heute packt mich Reue, wenn ich an M. K. denke,
einen hageren, in sich gekehrten Mann mit gemeißelten,
Abraham-Lincoln-ähnlichen Gesichtszügen. Beeindruckend
war seine klaglose Würde angesichts einer schweren Angina
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pectoris, die mir in dieser Form niemals zuvor begegnet
war. Er war unfähig, irgendeine Entfernung zurückzulegen.
Lähmende Brustbeschwerden zwangen ihn, jäh stehen zu
bleiben. Eine Handvoll Nitroglycerin verschaffte kaum
Erleichterung. Vorwärtslehnen und Bücken linderten ein
wenig die Qual. Das Heben einer Gabel zu seinem Mund
reichte aus, um einen Anfall von Schmerzen zu provozieren.
Seine Frau fütterte ihn. Mit jeder Angina-Episode fühlte
er sein Leben dahinschwinden. Kalter Schweiß war so in­
tensiv, dass er bald in einer Lache stand. Beim Auftreten
von Angina pectoris blieb für ihn die Zeit stehen. In seiner
Tätigkeit als Künstler, beim Anfertigen von Ölgemälden
und Aquarellen, trat die Angina pectoris jedoch niemals
auf. Er berichtete, dass die Kunst ihn befähige, von Tag
zu Tag zu überleben und dass sie ihn vor Selbstmord be­
wahre.
Ohne einen Moment zu zögern, drängte ich ihn zur
Bypass-Chirurgie. Die Operation verlief unkompliziert. Ein
paar Tage später war sein Herzchirurg begeistert: „Es ist
ein Wunder. Der Mann hat überhaupt keine Angina mehr.
Wir ließen ihn zwei Treppen steigen, und er hat nicht einmal geblinzelt.“
Als M. K. aber drei Monate später wieder zu einer
postoperativen Kontrolluntersuchung kam, schien er noch
hagerer und depressiver zu sein. Die Angina pectoris
war nicht wieder aufgetreten. Er hatte jedoch während
der Operation einen – wie der Chirurg es nannte –
„Mini“-Schlaganfall erlitten, der einen Teil seines rechten
Arms und seiner rechten Hand lähmte. Er konnte nicht
mehr malen. Hätte er das gewusst, hätte er die Angina pectoris vorgezogen, teilte er kategorisch mit. Resigniert und
ohne die geringste Spur von Ärger in seiner Stimme sagte
er: „Herr Doktor, ich wünschte, ich wäre Ihnen nie begegnet oder hätte mich nicht von Ihrer Begeisterung mitreißen
lassen.“ Ich fragte, ob er mit seinem Chirurgen über alles
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gesprochen habe. M.K. entgegnete: „Er hätte es nicht verstanden. Er war ja noch viel begeisterter als Sie!“
Letztlich ist alles, was wir tun, von der Erwartung eines
Nutzens geleitet, nicht aber im Hinblick auf ein geringes
Ausmaß an Schädigungen. Der wichtigste Aspekt ist, ob
eine neuartige Behandlung größeren Nutzen bei gleichbleibendem Risiko erbringt als bereits existierende Therapien.
Hinsichtlich der koronaren Herzkrankheit lautet die erste
Frage deshalb, ob eine Erkrankung der Koronararterien
auch ohne Angiografie diagnostiziert werden kann. Die
zweite Frage ist, ob eine medikamentöse Therapie eine normale Lebensweise bei nicht verkürzter Lebenszeit ermöglichen kann, verglichen mit einem Eingriff. Zu beiden Fragen
ist die Antwort ein entschiedenes JA!
Aber diese Art der Diskussion ist müßig, wenn sowohl
Arzt als auch Patient glauben, dass die Koronar-Angio­
grafie unerlässlich für die Diagnose der koronaren Herzkrankheit ist. (5, 6) Wenn man erst einmal mit der Koro­
nar-Angiografie als einer unverzichtbaren ersten Maßnahme
für die Diagnosestellung beginnt, befindet man sich bereits
auf einem Schlitten, der bergab saust. Das unerbittliche
Ziel ist: Man muss reparieren, was immer an Koronararterien-Verschluss vorgefunden wird. Eine derartige Fahrt
endet in einer teuren Überbehandlung (7) – eine Tatsache,
die sogar von einigen Interventions-Kardiologen eingeräumt wird. Die Versuchung, mit einer Prozedur einzugreifen, sobald eine Herzkranzgefäß-Verengung erst einmal
festgestellt worden ist, hat man als „oculo-stenotischen
Reflex“ – auch „Scheuklappen-Reflex“ – bezeichnet.
„Selbst wenn man ein gutes Ergebnis erzielt, scheint man
kein verbessertes klinisches Resultat zu erlangen. Und
wenn man Risiko und Nutzen gegeneinander abwägt, so
gibt es ein bisschen Risiko und nicht allzu viel Nutzen.
Während die hohen Kosten einer derartigen Maßnahme
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unser politisches Gespräch vollauf in Anspruch nehmen,
wird dem ethischen Bankrott des modernen ärztlichen Tuns
kaum ein Flüstern zuteil.“ (8)
Vor etwa 35 Jahren luden Führungskräfte der Krankenversicherung „Blue Cross“ von Massachusetts meinen Mitarbeiter Dr. Thomas Graboys und mich zur Beratung ein,
wie der Flut von Eingriffen an den Herzkranzgefäßen Einhalt zu gebieten sei. Unser Rat war eindeutig: Statt pausenlos die Pfütze von einem überlaufenden Waschbecken aufzuwischen, sei der Wasserhahn der Koronar-Angiografie
zuzudrehen. Übersetzt: Statt mit der bildlichen Darstellung
blockierter Gefäße zu beginnen, hole man eine zweite Meinung ein, ob der Patient überhaupt eines therapeutischen
Eingriffs bedarf. Ohne ein Angiogramm würde das Urteil
notwendigerweise konservativer ausfallen. Wenn der Arzt,
der die zweite Meinung abgibt, kein Interventions-Kardiologe wäre, würde die Flut der Überbehandlungen drastisch
reduziert.
Es gab „Hurra“-Rufe für unsere großartige Weisheit.
Doch nichts geschah. Wir erwiesen uns als die klugen Männer von Schilda, als Schildbürger. Als ich einen der Krankenversicherungschefs Jahre später wieder einmal traf,
fragte ich ihn, weshalb unser Ratschlag, der zunächst so
viel Begeisterung hervorgerufen habe, ignoriert worden sei.
Er antwortete ganz unverblümt: Wären sie unserem Rat gefolgt, wären die führenden Lehr-Krankenhäuser in Boston
Bankrott gegangen. Ihr Scheitern hätte wiederum den Nettogewinn der Versicherungsindustrie untergraben. Dann
sagte er mit einem Lachen: „Doktor, ich hätte meinen
Mercedes gegen einen Ford eintauschen müssen.“ In der
Tat haben die Krankenversicherungsindustrie, die Hospitäler und die Interventions-Kardiologen ein gemeinsames
wirtschaftliches Interesse.
Es gibt – außer den enormen Kosten – noch etliche
andere wesentliche Argumente gegen den Ansturm auf
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Interventionen. Zunächst ist da die klinische Tatsache,
wie bereits in Kapitel 3 diskutiert (9), dass die Mehrheit
der eingeengten Koronargefäße sich ruhig verhält. Das
Fortschreiten der Einengung wird durch Risikofaktoren
gefördert wie psychischer Stress, erhöhter Blutdruck, erhöhter Blut-Cholesterinspiegel, eine sitzende Lebensweise,
Diabetes mellitus und Rauchen. Alle diese Risikofaktoren
sind durch eine vernünftige ärztliche Betreuung kontrollierbar.
An zweiter Stelle folgt die pathophysiologische Beobachtung, dass die am meisten gefürchteten Komplikationen
der koronaren Herzkrankheit von scheinbar harmlosen
Plaques herrühren. (9) Diese können einen Herzinfarkt auslösen oder – viel schlimmer – eine maligne Arrhythmie wie
Kammerflimmern, das, wird es nicht unverzüglich behoben,
zu plötzlichem Herztod führt. Der entzündete bedrohliche
Plaque kann sich jedoch in einem nur mäßig blockierten
oder sogar in einem vollkommen durchgängigen Gefäß befinden. (10) Tatsächlich lässt sich der gefährliche Plaque mit
keinem der heutigen technologischen Werkzeuge nachweisen. Die Koronar-Angiografie ist nutzlos für die Lokalisierung instabiler Plaques. Drittens, und alles übertrumpfend,
ist die Zunahme des Beweismaterials. Es besagt, dass die
heutige medikamentöse Behandlung in jeder Hinsicht gleich
gute Ergebnisse liefert wie die weitaus teureren und komplikationsreicheren Interventions-Prozeduren.
Weshalb lassen dann Patienten Maßnahmen zu, die ihr
Wohlbefinden beeinträchtigen und sogar ihre Gesundheit
bedrohen? Die traurige Wahrheit ist, dass die Patienten mit
Fehlinformationen und grob vereinfachenden Vorstellungen überschwemmt werden, welche die unterhaltungsorientierten Massenmedien tagaus, tagein ausspucken. Diese
haben die Tendenz, einen jeden Lebensaspekt der ärztlichen
Behandlung oder Intervention zuzuführen. Das Paradigma,
das hinsichtlich der koronaren Herzkrankheit vermittelt
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wird, lautet, dass es sich hierbei um ein Klempner-Problem
handele, vergleichbar mit einem abgeknickten Gartenschlauch, für das die Kardiologen brillante technische Lösungen ersonnen haben. Die Beseitigung der Abknickung
des Schlauchs stelle eine lebenslange Lösung dar, die während einer einzigen Krankenhausübernachtung vollbracht
werden könne. Eine derartige Vorgehensweise ist ungeheuer verlockend. Sie befindet sich auch im Gleichschritt mit
dem Zeitgeist unserer Kultur. Wir sind in zunehmendem
Maße unfähig, Unsicherheit zu ertragen. Aus diesem Grund
sind wir nur allzu bereite Kunden für sofortige Heilmaßnahmen.
Und darin liegt eine scheinbare Kuriosität. Meiner Erfahrung nach versichern die Interventions-Kardiologen den
Patienten fast niemals direkt, dass eine angeordnete Prozedur – sei es Bypass-Chirurgie, Angioplastie oder Stent-Einpflanzung – ihr Leben verlängern werde. Stattdessen wird
den Patienten glauben gemacht, dass Untätigkeit bedroh­
liche Folgen für ihr Überleben haben könnte. Die daraus
resultierende Angst sichert eine gehorsame Zustimmung
zur interventionistischen Vorgehensweise.
Daten, die in den vergangenen 40 Jahren zusammengetragen wurden, haben keinen Überlebensvorteil bei jenen
Patienten herausgestellt, die sich dem Eingriff unterzogen
hatten. Und dennoch hat die Anwendung zugenommen.
Das derzeit vorgebrachte Argument ist fadenscheinig. Befürworter behaupten, dass die Eingriffe die Lebensqualität
durch Eliminierung der beunruhigenden Symptome der
koronaren Herzkrankheit verbessern. Was aber sind diese
Symptome? Da gibt es gar keine außer Angina pectoris, das
heißt beklemmende Beschwerden hinter dem Brustbein,
die durch körperliche Anstrengungen oder psychischen
Stress hervorgerufen werden. Da viel von der Stichhaltigkeit dieser meiner Behauptung abhängt, verdient sie eine
eingehende Erörterung.
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