WELSER-MÖST MAHLER - Staatskapelle Dresden

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11., 12. und 13. Dezember 2016
Semperoper
5. SYMPHONIEKONZERT
Franz
WELSER-MÖST
MAHLER
Symphonie Nr. 9
11., 12. und 13. Dezember 2016
Semperoper
5. SYMPHONIEKONZERT
Franz
WELSER-MÖST
5. SYMPHONIEKONZERT
SO N N TAG
11.12.16
11 U H R
M O N TAG
12.12.16
20 UHR
D IEN STAG
13.12.16
20 UHR
PROGRAMM
SE M PERO PER
D R E SD EN
Franz Welser-Möst
Gustav Mahler (1860-1911)
Dirigent
Symphonie Nr. 9
[in vier Sätzen für großes Orchester]
1. Andante comodo
2. I m Tempo eines gemächlichen Ländlers.
Etwas täppisch und sehr derb
3. Rondo-Burleske. Allegro assai
4. Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend
Werden und Vergehen
»Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik
eine Welt aufbauen.« Dieser Satz stammt von Gustav Mahler. Seine letzte
vollendete Symphonie trägt Züge eines großen Abschiedswerks. Die
fast völlige Abkehr vom Melodischen zugunsten neuer harmonischer
Strukturen führte Adorno zu der Bemerkung, Mahlers Neunte sei »das
erste Werk der Neuen Musik« – eine aufziehende Morgenröte, in der die
Schatten der Nacht von einer unbewältigten Vergangenheit künden.
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3
Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn
im Opernkeller der Semperoper
5. SYMPHONIEKONZERT
Franz Welser-Möst Dirigent
F
ranz Welser-Möst zählt zu den bedeutendsten Dirigenten
unserer Zeit. Seit 2002 ist er Musikdirektor des Cleveland
Orchestra, das er mindestens bis 2022 leiten wird. Die
New York Times attestierte dem Klangkörper, es verdiene die
Bezeichnung »bestes amerikanisches Orchester«. Außergewöhnliche Programmgestaltungen, zahlreiche Uraufführungen und
Opernproduktionen, die in der szenischen Umsetzung innovative Wege
einschlagen, zeichnen das künstlerische Profil der langjährigen Zusammenarbeit aus. Neben regelmäßigen Residenzen in den USA und Europa
gastierte Franz Welser-Möst mit dem Orchester u. a. in der Carnegie Hall,
in der Suntory Hall in Tokio, bei den Salzburger Festspielen und beim
Lucerne Festival.
Von 2010 bis 2014 wirkte Franz Welser-Möst als Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, wo er sich neben der Pflege des gesamten
Repertoires insbesondere mit Opern des zwanzigsten Jahrhunderts
auseinandersetzte, darunter Janáčeks »Kátja Kabanová«, »Aus einem
Totenhaus« und »Das schlaue Füchslein« sowie Hindemiths »Cardillac«.
Sowohl in Wien als auch in Cleveland hat er sich intensiv dem Schaffen
von Richard Strauss gewidmet: mit Aufführungen von »Salome«, »Die
Frau ohne Schatten«, »Der Rosenkavalier«, »Ariadne auf Naxos« und
»Arabella«. Franz Welser-Möst ist regelmäßig bei den Salzburger Festspielen zu Gast. Hier feierte er zuletzt u. a. mit »Rusalka«, »Der Rosenkavalier«, »Fidelio« sowie im letzten Sommer mit »Die Liebe der Danae«
große Erfolge. 2017 dirigiert er auch bei den Osterfestspielen Salzburg.
Als Gastdirigent pflegt er eine besonders enge und produktive
Beziehung zu den Wiener Philharmonikern. Er stand zweimal am Pult
des Neujahrskonzerts und dirigiert das Orchester regelmäßig in Abonnementkonzerten im Wiener Musikverein, beim Lucerne Festival, bei den
BBC Proms sowie auf Tourneen in Japan, Skandinavien und den USA, wo
er das Orchester im Februar 2017 in Programmen mit Werken von Schubert, Strauss und Bartók leiten wird. Diese besondere Beziehung wurde
im Frühjahr 2014 mit der Überreichung des Ehrenrings der Wiener
Philharmoniker gewürdigt. Franz Welser-Möst ist Träger zahlreicher
Auszeichnungen und hat CD- und DVD-Aufnahmen vorgelegt, die mehrfach internationale Preise erhielten.
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5. SYMPHONIEKONZERT
»DER TAG IST SCHÖN
AUF JENEN HÖH’N«
Gustav Mahler
* 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen
† 18. Mai 1911 in Wien
Offenbarungen der Vergänglichkeit:
Gustav Mahlers neunte Symphonie
Symphonie Nr. 9
[in vier Sätzen für großes Orchester]
1. Andante comodo
2. I m Tempo eines gemächlichen Ländlers.
Etwas täppisch und sehr derb
3. Rondo-Burleske. Allegro assai
4. Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
Erste Entwürfe im Sommer
1908, früheste Skizzen von
1905; Particelle und Niederschrift des Partiturentwurfs:
Juni 1909 bis 2. September 1909
(Altschluderbach / Toblach,
Südtirol); Partiturreinschrift:
Ende Dezember 1909 bis
1. April 1910 (New York)
4 Flöten, Piccoloflöte,
4 Oboen (4. auch Englischhorn),
3 Klarinetten, Klarinette in Es,
Bassklarinette, 4 Fagotte
(4. auch Kontrafagott), 4 Hörner,
3 Trompeten, 3 Posaunen,
Tuba, Pauken, Schlagzeug
(Große Trommel, Kleine
Trommel, Triangel, Becken,
Tamtam, Glockenspiel, 3 tiefe
Glocken), 2 Harfen und
Streicher
U R AU F F Ü H R U N G (P O S T H U M)
26. Juni 1912, Goldener Saal
im Musikverein Wien,
Wiener Philharmoniker,
Leitung: Bruno Walter
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DAU ER
ca. 80 Minuten
»S
chwarz angestrichen«, so bekannte Alma Mahler in ihren
Memoiren, sei das Jahr 1907 »im Kalender unseres Lebens«,
und ihre Erinnerungen an diese Zeit stehen vielsagend unter
dem Titel »Leid und Angst«. In jenem Sommer hatte ihre
Familie gleich drei Schicksalsschläge zu verkraften: den
tragischen Tod der nicht einmal fünf Jahre alten Tochter Maria Anna an
den Folgen einer Scharlach- und Diphtherie-Erkrankung, kurz darauf die
Diagnose eines bedrohlichen Herzleidens bei Gustav Mahler und nicht
zuletzt die von Kampagnen und antisemitischer Hetze begleitete Demission Mahlers als Hofoperndirektor in Wien. Wie stark diese Erlebnisse
auch und gerade in Gustav Mahler nachwirkten, lässt ein Bericht Bruno
Walters erahnen, der damals eine »entschiedene Wandlung« in dessen
gesamtem »Lebensgefühl« bemerkte: »Der Tod, zu dessen Geheimnis
seine Gedanken und Empfindungen so oft ihren Flug genommen hatten,
war plötzlich in Sicht gekommen (…), unverkennbar spürte ich das
Dunkel, das sich auf sein ganzes Wesen gesenkt hatte.«
Dass die Höhen und Tiefen des Lebens im Schaffen eines Künstlers tiefe Spuren hinterlassen, ist beileibe kein Einzelfall. Erinnert sei
nur an jene ergreifende Sammlung von über vierhundert Gedichten,
die Friedrich Rückert Anfang 1834 als Reaktion auf den Scharlach-Tod
zweier seiner Kinder verfasst hat. Mahler sollte daraus 1901 und 1904
in einem rätselhaften Akt kreativer Vorwegnahme eigenen familiären
Leids seine »Kindertotenlieder« schreiben. Der drei Jahre später dann
Wirklichkeit gewordene Tod seiner Tochter und die weiteren Schicksalsschläge des annus horribilis 1907 wirkten freilich in einer Weise im
Schaffen Mahlers fort, für die es in der Kulturgeschichte kaum Entsprechungen gibt.
5. SYMPHONIEKONZERT
Bekenntnishafte Züge
Eine Ahnung vom Ausmaß seiner seelischen Erschütterung, die alle
Zeichen einer bleibenden Traumatisierung trägt, vermittelt bereits das
zwischen Fatalismus, Lebensgier und verzweifelter Hoffnung schwankende »Lied von der Erde«, das 1908 abgeschlossen wird. Aus dem
Sommer ebendieses Jahres stammen überdies die ersten Skizzen zur
neunten Symphonie, deren Partiturentwurf Mahler im August 1909 in
seinem Südtiroler Feriendomizil Altschluderbach bei Toblach vollenden
kann. Bezeichnend sind die Worte, mit denen er wiederum dem Freund
Bruno Walter vom Abschluss der Arbeit unterrichtet: Das Werk sei »eine
sehr günstige Bereicherung meiner kleinen Familie. Es ist da[rin] etwas
gesagt, was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe.«
Obschon die Formulierung andeutet, dass die Neunte – wie jede
seiner früheren Symphonien – als ein persönliches Bekenntnis anzusehen ist, hat sich Mahler kaum eingehender zum gedanklichen Gehalt
des Werkes geäußert. Die Umstände der Entstehung, mehr noch aber der
beredte Charakter der Musik lassen indes keine Zweifel, dass das Stück
eine überaus intensive Auseinandersetzung mit den Leid-Erfahrungen
des Jahres 1907 darstellt – also mit den großen Themen Sterben, Tod und
Abschied. Als zentrale, bis heute vorherrschende Topoi der Rezeption
ziehen sie sich bereits durch die Besprechungen der Uraufführung.
Drastisch heißt es da: »Wenn einer das Weinen lernen will, dann
höre er sich den ersten Satz dieser Neunten an, das große, herrliche
Lied vom Nimmerwiedersehen!« Richard Specht, Mahlers Vertrauter
und früher Biograph, sprach treffend von einer »Abendsonnen- und
Abschiedsstimmung«, die in dem Werk vorherrsche. Und Paul Bekker,
dem die Mahler-Interpretation entscheidende inhaltliche Anregungen
verdankt, formulierte in Anspielung auf die programmatischen Satztitel der dreizehn Jahre älteren Dritten das knappe Resümee: »›Was mir
der Tod erzählt‹ lautet die ungeschriebene Überschrift der Neunten
Symphonie.«
»… die Neunte ist eine Grenze«
Dass die Neunte von früh auf als Symphonie des Abschieds wahrgenommen wurde, ist nicht zuletzt durch den Umstand motiviert, dass die
von Bruno Walter geleitete Uraufführung in Wien am 26. Juni 1912 erst
posthum, nämlich dreizehn Monate nach Mahlers Tod, erfolgen konnte,
nachdem vage Pläne für eine Münchner Premiere zu Lebzeiten noch
Anfang 1911 an Vorbehalten des Komponisten gescheitert waren. Dessen
abergläubische Befürchtung, dass kein bedeutender Symphoniker nach
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Gustav Mahler, 1909 in Amsterdam, wahrscheinlich im Concertgebouw
5. SYMPHONIEKONZERT
und mithin eine ungleich aktivere Rezeption als üblich abnötigt. Es gibt
gegenüber diesen musikalischen Offenbarungen der Vergänglichkeit
schlichtweg kein neutrales Genießen mehr: Man muss sich vielmehr auf
Mahlers Konfessionen mit eigenen wachen Empfindungen einlassen –
oder man steht leidlich ratlos vor immer neuen Extremen des musikalischen Ausdrucks, die sich kaum mehr zu einem geschlossenen Ganzen
fügen wollen. Gerade die Vielfalt an Charakteren, das Nebeneinander
von scheinbar grundverschiedenen Stilen und Stilhöhen, eine gewisse
Rücksichtslosigkeit gegenüber klanglichen und harmonischen Härten
sowie die Zuspitzung, ja Dringlichkeit des Ausdrucks sind freilich
Kennzeichen jenes bahnbrechenden Spätstils, der schon mit dem »Lied
von der Erde« Einzug in das Schaffen Mahlers hält. Er stößt damit die
Tore für die noch junge Moderne derart weit auf, dass Theodor W.
Adorno die Neunte, durchaus zutreffend, als das »erste Werk der Neuen
Musik« apostrophieren konnte.
Mahler und Alma in Toblach 1909. Das Ehepaar spaziert über die Hügel
in der Nähe seines Sommerdomizils.
Beethoven über die magische Neun hinauskomme, hatte sich somit in
gewisser Weise doch noch bewahrheitet.
Arnold Schönberg fasste diesen erzromantischen Glauben an
eine Vorbestimmung des Schicksals bei seiner Prager Gedenkrede auf
Gustav Mahler 1912 in die Worte: »Es scheint, die Neunte ist eine Grenze.
Wer darüber hinaus will, muß fort. Es sieht [so] aus, als ob uns in der
Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen,
wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben,
standen dem Jenseits zu nahe.« Freilich konnte Schönberg seinerzeit
nicht wissen, dass Mahler das vorausgegangene, ebenfalls ausdrücklich
als »Symphonie« klassifizierte »Lied von der Erde« gerade wegen dieses
Aberglaubens von der regulären Zählung ausgenommen hatte. Genauer
betrachtet ist Mahlers Neunte also bereits seine zehnte Symphonie!
Ob uns als Hörern dieser besonderen »Zehnten« im Sinne Schönbergs nun tatsächlich »etwas gesagt« wird, »was wir noch nicht wissen
sollen«, muss dem individuellen Zugang jedes Einzelnen überlassen
bleiben – nicht zuletzt weil hier Fragen des individuellen Glaubens und
der eigenen Einstellung gegenüber der Unabänderlichkeit des Todes
berührt sind. Fest steht freilich, dass der ungemein persönliche Tonfall
dieser symphonischen Meditation über die Endlichkeit des Daseins
jedem bewusst Hörenden eine Form der emotionalen Stellungnahme
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»Leb wo[h]l! Leb wo[h]l!«
Wie avanciert Mahler beispielsweise allein in der formalen Gestaltung
verfuhr, mag die Tatsache belegen, dass für den gut halbstündigen
Kopfsatz bis heute ein Dutzend kontroverser Deutungsmodelle diskutiert
werden, die hier die überkommene Sonatenhauptsatzform entweder kühn
erweitert, von innen heraus aufgesprengt, mit anderen Gattungen –
etwa der Doppelvariation – kunstvoll verquickt oder zugunsten einer
modernen Montage- oder gar Filmschnitttechnik gleich ganz ad acta
gelegt sehen wollen.
Ähnlich kühn mutet die Abfolge der vier Sätze an, worin –
entgegen allen Traditionen – zwei langsame Ecksätze zwei schnelle
Binnensätze umrahmen. Als mögliches Vorbild für diese Vertauschung
der klassischen Satz-Positionen wurde immer wieder Tschaikowskys
Sechste, die »Pathétique«, ins Spiel gebracht – ein Werk, das Mahler
kannte, aber angeblich wenig schätzte. In seinem eigenen Schaffen
bietet sich die Dritte mit ihrem hymnischen Adagio-Finale als Vorläufer
an. Und die Eröffnung des symphonischen Zyklus mit einem nur mäßig
bewegten Andante-Satz hatte er bereits mit dem Trauermarsch in der
fünften Symphonie erprobt. Die Fünfte ist überdies neben der Neunten
das einzige seiner Werke, bei dem die Außenteile ihrer Grundtonart nach
in keinerlei harmonischer Verbindung zueinander stehen: Während die
Fünfte vom anfänglichen cis-Moll über a-Moll, D- und F-Dur ins triumphale D-Dur mündet, sinkt die Tonartenfolge bei der Neunten von D- über
C-Dur und a-Moll ins denkbar weit entfernte (man könnte auch sagen:
»entrückte«) Des-Dur des Schluss-Adagios.
5. SYMPHONIEKONZERT
So aufschlussreich solche Beobachtungen sein mögen, nicht zuletzt weil
sie die frappierende Fortschrittlichkeit der neunten Symphonie unterstreichen – zum Kern des Werks und seiner emotionalen Wirkung dringt
man dennoch erst vor, wenn man den gedanklichen Gehalt der Musik
einbezieht. Zum Glück hat Mahler selbst in einigen Stadien der Partiturniederschrift immerhin einige versteckte Hinweise hinterlassen. Sie
können bei der Entschlüsselung des programmatischen Hintergrundes
helfen, der offenbar stark autobiographische Züge trägt.
So finden sich beispielsweise im Partiturentwurf gleich mehrere
poetische Eintragungen, darunter im Kopfsatz die Ausrufe »O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!« und wiederholt »Leb wo[h]l!
Leb wo[h]l!«. Zudem versah Mahler die Musik mit so beredten Interpretationsanweisungen wie »Schattenhaft«, »Mit Wut«, »Mit höchster
Gewalt« und »Wie ein schwerer Kondukt«, die für sich sprechen. Nimmt
man noch hinzu, dass das wehmütig singende Hauptthema des Kopfsatzes, das Mahler nach Art einer »unendlichen Melodie« über zwanzig
Takte hinweg ausspinnt, im Kern auf dem universalen Seufzermotiv der
fallenden Sekunde beruht und an etlichen Stellen sogar eine Verwandtschaft mit dem »Lebe wohl!«-Ruf aus Beethovens Klaviersonate op. 81a
(»Les Adieux«) offenbart, so kann an der Abschieds- und Todesthematik
der Musik an dieser Stelle kein Zweifel mehr bestehen.
»Freut euch des Lebens«
Freilich gewinnt Resignation – als bloße Fügung in das Unvermeidliche – nie endgültig die Oberhand: Vielmehr singt die Musik immer
aufs Neue mit verzehrender Intensität und einer von Nostalgie und Sehnsucht gleichermaßen getragenen Schönheit gegen das Sterben an. Und
schließlich lässt sich sogar das Hauptthema (am deutlichsten in den von
der Solovioline angestimmten Varianten, etwa am Satzende) als rhythmisch umgedeutete Version eines Johann-Strauß-Walzers mit dem Titel
»Freut euch des Lebens« hören! Alban Berg, für den das Andante »das
Allerherrlichste« war, was Mahler geschrieben hat, begriff dieses Nebenund Gegeneinander von Todesthematik und innigem Lebenswunsch
einfühlsam als »Ausdruck unerhörter Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht,
in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre
tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam.«
Für die beiden Mittelsätze sind die hermeneutischen Hinweise auf
den Sinngehalt der Musik weniger dicht gesät; dafür erschließt sich das
Gemeinte unmittelbar aus deren Charakter. »Menuetto infinito« lautete
der vieldeutige Titel des zweiten Satzes im Entwurf – möglicherweise
eine Anspielung auf die wild durcheinandergewürfelte Abfolge von vier
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1909, Fischleinboden. Mahler bei einem seiner regelmäßigen
Spaziergänge in der Toblacher Sommerfrische.
5. SYMPHONIEKONZERT
unterschiedlichen Ländler- und
Walzertypen, die hier nach Art
einer Collage aneinandergereiht
und bald heiter-ironisch, bald
fratzenhaft verzerrt werden. Die
inszenierte Lustigkeit des Ganzen
wächst sich mehr und mehr aus
zu einer Parodie auf die Tanz- und
Walzerseligkeit des neunzehnten
Jahrhunderts: Es ist der schräge
Abgesang einer Epoche, eine
»Danse macabre« – und nur
wenige Jahre vor dem Inferno des
Ersten Weltkriegs wohl auch eine
Art »Tanz auf dem Vulkan«.
Dieser scheint dann
Mahler in Altschluderbach, 1909
im dritten Satz, der »RondoBurleske«, gleichsam vorzeitig
auszubrechen. Scherzhaft oder »burlesk« im lediglich erheiternden
Sinne ist an dieser Musik wenig. Der Mahler-Freund Willem Mengelberg
sprach treffender von »Galgenhumor« angesichts des »vergebliche[n]
Bemühen[s], dem Tode zu entrinnen«. Nach dem Untergang aller Galanterie im zweiten Satz hebt hier nun leibhaftig ein Totentanz an, der stellenweise apokalyptische Züge trägt – namentlich in den Hauptteilen und
der wie besinnungslos dahinstürzenden Coda, die man das erste realistisch auskomponierte Chaos der Musikgeschichte nennen darf. Und hat
es nicht schon zuvor immer wieder den Anschein, als spielten die Instrumente beziehungslos durcheinander?
In Wahrheit organisiert Mahler die einzelnen Instrumentalparts streng horizontal, also weitgehend ohne Rücksicht auf die tonalen
Zusammenklänge, in einer kühnen Fugato-Technik, deren lineare Polyphonie bereits auf Paul Hindemith und den Stil der zwanziger Jahre
vorausweist. In den unvermittelt einsetzenden Zwischenteilen mäßigt
sich der Ton zwar etwas, doch dafür driftet die Musik hier stilistisch in
Bereiche ab, in denen die Trivialmelodik von Gassenhauern und Operettenschmankerln beheimatet ist – Mahler kehrt hier buchstäblich das
Unterste zuoberst!
Umso schärfer kontrastiert damit eine längere Episode gegen
Ende des Satzes, die mit ihrem visionären Tonfall im wahrsten Sinne
»entrückt« und wie von fern herübertönt. Das innige Thema der Solotrompete ist eine Vorahnung der gänzlich unirdischen Sphäre, in die der
langsame Schlusssatz der Symphonie vordringen wird. Doch noch ist der
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Sieg dieser Gegen-Welt nicht von Dauer – vielmehr karikiert die Musik
mit einem vorlauten Zwischenruf der Klarinette ihr eigenes Pathos, bevor
sie sich desto enthemmter in den finalen Untergangstaumel stürzt.
An der Schwelle
Mahlers Antwort auf diese Kulmination des Lebensekels ist ein verzehrend inniges Gebet. Mit dem Schlusssatz der Neunten zieht er die Summe
aus den großen Adagio-Bekenntnissen der dritten, vierten und sechsten
Symphonie, die inhaltlich allesamt um das große Thema der Gottsuche
kreisen, aber auch um den Zweifel am Glauben und eine Erlösung aus
irdischem Leid. Im Adagio der Neunten nähert sich Mahler dieser existenziellen Frage gleichsam aus zwei gegensätzlichen kompositorischen
Perspektiven: Die Geisteshaltung des leidenschaftlich, ja »faustisch«
Suchenden (um ein Lieblingswort jener Epoche zu verwenden), ausgedrückt in dem dichten, quasi expressionistischen Streichersatz des
Beginns, trifft auch die erhabene, geradezu fernöstlich anmutende Gelassenheit des Seitensatzes, bei dem »ohne Empfindung« zu spielende Linien
im extremen Spaltklang zwischen Diskant und Bassregister scheinbar
beziehungslos nebeneinander herlaufen. Diese beiden Prinzipien, die
man zwanglos mit Begriffspaaren wie »Ich« und »Er«, »Streben« versus
»Entsagung« oder sogar »Yin« und »Yang« assoziieren kann, treten im
Verlauf in immer neue Wechselbeziehungen.
Schließlich kommt es nach einer letzten, hymnisch gesteigerten
Wiederkehr des Hauptthemas (das hier besonders deutlich eine überraschende, aber inhaltlich sinnfällige Verwandtschaft mit dem englischen
Kirchenlied »Abide with me, fast falls the even tide. / The darkness
deepens; Lord with me abide.« erkennen lässt) zu einem einzigartigen
Auflösungsfeld, worin sich die Musik allmählich (»ersterbend«) bis auf
Einzeltöne am Rande des Verstummens reduziert. Aus der Stille entwickelt sich in den Violinen eine letzte, aufwärtsstrebende Melodie, die dem
Werk seine entscheidende Schlusswendung gibt. Es ist ein Zitat aus dem
vierten »Kindertotenlied«, mit dem hier unausgesprochenen, aber fraglos
mitgedachten Text: »[Sie sind uns nur vorausgegangen (…) / Wir holen
sie ein auf jenen Höh’n] / Im Sonnenschein! / Der Tag ist schön auf jenen
Höh’n!« Das ist ein subtiler Verweis auf den Ursprung des endzeitlichen
Lebensgefühls, das Mahlers Schaffen seit den Schicksalsschlägen des
Sommers 1907 prägt. Mehr noch aber ist es Ausdruck einer Überzeugung, die für ihn zeitlebens Gültigkeit behielt: dass auf Tod und Sterben
ein (wie auch immer geartetes) neues Leben, ein Wiedersehen »auf jenen
Höh’n im Sonnenschein« folgen wird.
CHRISTIAN WILDHAGEN
5. SYMPHONIEKONZERT
5. Symphoniekonzert 2016 | 2017
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Matthias Wollong / 1. Konzertmeister
Thomas Meining
Jörg Faßmann
Federico Kasik
Christian Uhlig
Jörg Kettmann
Susanne Branny
Barbara Meining
Birgit Jahn
Wieland Heinze
Henrik Woll
Anja Krauß
Anett Baumann
Anselm Telle
Franz Schubert
Volker Dietzsch
2. Violinen
Heinz-Dieter Richter / Konzertmeister
Reinhard Krauß / Konzertmeister
Matthias Meißner
Stephan Drechsel
Jens Metzner
Olaf-Torsten Spies
Alexander Ernst
Mechthild von Ryssel
Emanuel Held
Kay Mitzscherling
Martin Fraustadt
Paige Kearl
Robert Kusnyer
Yukiko Inose
16
17
Bratschen
Sebastian Herberg / Solo
Andreas Schreiber
Stephan Pätzold
Anya Dambeck
Uwe Jahn
Ulrich Milatz
Zsuzsanna Schmidt-Antal
Marie-Annick Caron
Susanne Neuhaus
Juliane Böcking
Luke Turrell
Harald Hufnagel *
Violoncelli
Norbert Anger / Konzertmeister
Friedwart Christian Dittmann / Solo
Tom Höhnerbach
Martin Jungnickel
Bernward Gruner
Johann-Christoph Schulze
Jörg Hassenrück
Jakob Andert
Anke Heyn
Matthias Wilde
Kontrabässe
Andreas Wylezol / Solo
Martin Knauer
Torsten Hoppe
Helmut Branny
Christoph Bechstein
Reimond Püschel
Thomas Grosche
Johannes Nalepa
Flöten
Sabine Kittel / Solo
Bernhard Kury
Jens-Jörg Becker
Giovanni Gandolfo
Eszter Simon **
Oboen
Céline Moinet / Solo
Sibylle Schreiber
Volker Hanemann
Michael Goldammer
Klarinetten
Robert Oberaigner / Solo
Dietmar Hedrich
Egbert Esterl
Jan Seifert
Christian Dollfuß
Fagotte
Joachim Hans / Solo
Philipp Zeller / Solo
Joachim Huschke
Hannes Schirlitz
Trompeten
Tobias Willner / Solo
Volker Stegmann
Sven Barnkoth
Posaunen
Uwe Voigt / Solo
Jürgen Umbreit
Frank van Nooy
Tuba
Jens-Peter Erbe / Solo
Pauken
Manuel Westermann / Solo
Schlagzeug
Simon Etzold
Jürgen May
Dirk Reinhold
Stefan Seidl
Harfen
Vicky Müller / Solo
Astrid von Brück / Solo
Hörner
Robert Langbein / Solo
Harald Heim
Julius Rönnebeck
Miho Hibino
* als Gast
** als Akademist / in
5. SYMPHONIEKONZERT
Vorschau
international
Freunde
Wunderharfe
unterstützen
patron
engagement begeistern
network
verbinden
gewinnen Staatskapelle
tradition
Dresden
junge Menschen fördern
friends
Netzwerk
Gesellschaft
close
hautnah
GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER
S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N E . V.
KÖNIGSTRASSE 1
01097 DRESDEN | GERMANY
I N F O @ G F S K D D . D E | W W W. G F S K D D . D E
Wir freuen uns auf Sie!
Come and join us!
6. Symphoniekonzert
S O N N TAG 8 .1.17 11 U H R
M O N TAG 9.1.17 2 0 U H R
D I E N S TAG 10 .1.17 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Vladimir Jurowski Dirigent
Borodin Quartet
Alexander Zemlinsky
Sinfonietta für Orchester op. 23
Erwin Schulhoff
Konzert für Streichquartett und Blasorchester WV 97
Bohuslav Martinů
Konzert für Streichquartett mit Orchester H 207
Leoš Janáček
Sinfonietta für Orchester op. 60
Kostenlose Konzerteinführungen
jeweils 45 Minuten vor Beginn im
Opernkeller der Semperoper
5. Kammerabend
M I T T WO C H 11.1.17 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Dresdner Streichquartett
Thomas Meining Violine
Barbara Meining Violine
Andreas Schreiber Bratsche
Martin Jungnickel Violoncello
Joseph Haydn
»L’Introduzione« und »Sonata I« aus
»Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz«
für Streichquartett Hob. XX / 1:B
Dmitri Schostakowitsch
Streichquartett Nr. 9 Es-Dur op. 117
Ludwig van Beethoven
Streichquartett a-Moll op. 132
5. SYMPHONIEKONZERT
IMPRESSUM
Sächsische
Staatskapelle Dresden
Künstlerische Leitung/
Orchesterdirektion
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chefdirigent Christian Thielemann
Spielzeit 2016 | 2017
H E R AU S G E B E R
Sächsische Staatstheater –
Semperoper Dresden
© Dezember 2016
R E DA K T I O N
André Podschun
G E S TA LT U N G U N D L AYO U T
schech.net
Strategie. Kommunikation. Design.
DRUCK
Union Druckerei Dresden GmbH
ANZEIGENVERTRIEB
EVENT MODULE DRESDEN GmbH
Telefon: 0351 / 25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
T E X T N AC H W E I S E
Der Artikel von Christian Wildhagen ist ein
Originalbeitrag für dieses Programmheft.
B I L D N AC H W E I S E
Michael Pöhn (S. 5); Kaplan Foundation,
New York (S. 9 / 10); Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien (S. 13 / 14)
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht
werden konnten, werden wegen nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus
urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E
20
Christian Thielemann
Chefdirigent
Katharina Riedeberger
Persönliche Referentin
von Christian Thielemann
Jan Nast
Orchesterdirektor
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg,
Künstlerische Planung
André Podschun
Programmheftredaktion,
Konzerteinführungen
Matthias Claudi
PR und Marketing
Matiss Druvins
Assistent des Orchesterdirektors
Elisabeth Roeder von Diersburg
Orchesterdisponentin
Matthias Gries
Orchesterinspizient
Steffen Tietz
Golo Leuschke
Stefan Other
Wolfgang Preiß
Orchesterwarte
Agnes Thiel
Dieter Rettig
Vincent Marbach
Notenbibliothek
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