Im Namen des Volkes URTEIL - Thüringer Verfassungsgerichtshof

Werbung
verkündet am 3.12.2014
gez.: Crémer
Angestellte beim Verfassungsgerichtshof
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
THÜRINGER VERFASSUNGSGERICHTSHOF
VerfGH 2/14
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Organstreitverfahren
der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) Landesverband Thüringen,
vertreten durch den Landesvorsitzenden,
Karlsplatz 7, 99817 Eisenach,
Antragstellerin,
bevollmächtigt:
Rechtsanwalt Dipl.-Jurist Peter Rüdiger Richter,
Birkenstraße 5, 66121 Saarbrücken,
gegen
1. die Thüringer Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit,
Werner-Seelenbinder-Straße 6, 99096 Erfurt,
VerfGH 2/14
2. die Thüringer Landesregierung,
Werner-Seelenbinder-Str. 5, 99096 Erfurt,
zu 1 und 2:
vertreten durch den Thüringer Justizminister,
Antragsgegnerinnen,
wegen
Verletzung von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz i. V. m. Art. 2 Abs. 1, Art. 9, Art. 46
Abs. 1 Thüringer Verfassung durch Eingriff in den laufenden Wahlkampf
hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof durch den Präsidenten Prof. Dr. Aschke
und
die
Mitglieder
Prof. Dr. Baldus,
Prof. Dr. Bayer,
Dr. Habel,
Heßelmann,
Dr. Martin-Gehl, Pollak, Prof. Dr. Ruffert und Prof. Dr. Schwan
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2014
für Recht erkannt:
1. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Antragstellerin ihren Antrag gegen
die Antragsgegnerin zu 2) zurückgenommen hat.
2. Es wird festgestellt, dass die Antragsgegnerin zu 1) die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes dadurch verletzt hat, dass
sie zu Protesten gegen den am 15. März 2014 stattfindenden Landesparteitag der Antragstellerin aufgerufen und auf diese Weise unter Verletzung ihrer
Pflicht zur parteipolitischen Neutralität zu Lasten der Antragstellerin in den
laufenden Landtags- und Kommunalwahlkampf eingegriffen hat.
3. Der Freistaat Thüringen hat der Antragstellerin die Hälfte ihrer notwendigen
Auslagen zu erstatten.
VerfGH 2/14
2
Gründe:
A.
Die Beteiligten streiten um die Reichweite der Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern.
I.
1. Auf der Homepage des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit wurde am 12. März 2014 die folgende Medieninformation (069/2014) eingestellt:
„Taubert ruft zur Unterstützung des Bündnisses „Kirchheimer gegen Rechts“ auf
Sozialministerin Heike Taubert (SPD): „Antidemokratischen und rechtsextremistischen Bestrebungen
die Rote Karte zeigen“
Die Thüringer Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit, Heike Taubert (SPD), hat in Erfurt zur
Beteiligung an den Protesten gegen den geplanten NPD-Landesparteitag am kommenden Samstag,
den 15. März 2014, in Kirchheim im Ilm-Kreis aufgerufen.
Heike Taubert sagte: „Zum wiederholten Mal müssen die Kirchheimer eine Veranstaltung von Neonazis mit ihrer menschenverachtenden Ideologie ertragen. Wir dürfen die Gemeinde in dieser Situation
nicht alleine lassen. Wenn die Demokratie gefährdet, Toleranz missachtet und unsere Weltoffenheit
aufs Spiel gesetzt werden, dann müssen wir dagegen gemeinsam etwas tun. Deshalb rufe ich alle
Thüringerinnen und Thüringer auf, nach Kirchheim zu kommen. Zeigen Sie Rassismus und Intoleranz
die Rote Karte.“
Hintergrund ist der für den kommenden Samstag in der Kirchheimer „Erlebnisscheune“ angekündigte
Landesparteitag der NPD. Die Thüringer Sozialministerin Heike Taubert wird die Proteste ab 8:30 Uhr
persönlich unterstützen.“
2. Mit Schreiben vom 13. März 2014 forderte die Antragstellerin die Antragsgegnerin
zu 1) auf, eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Sie verwies hierbei
auf die Neutralitätspflicht von Amtsträgern, die gerade im Vorfeld der anstehenden
Europa- und Kommunalwahlen (25. Mai 2014) sowie der Wahl zum Thüringer Landtag (14. September 2014) bestehe. Die Antragsgegnerin zu 1) reagierte auf dieses
Schreiben nicht.
VerfGH 2/14
3
3. Der Parteitag der Antragstellerin fand am 15. März 2014 statt. Nach den vorliegenden Berichten in den Medien versammelten sich zu den Protesten ca.
100 Personen. Die Demonstration verlief friedlich und der Parteitag konnte ohne Störungen von außen durchgeführt werden.
II.
1. Der Antrag auf Durchführung eines Organstreitverfahrens ist am 13. März 2014
eingegangen.
a) Die Antragstellerin trägt vor:
Die Äußerung der Antragsgegnerin zu 1) verletze sie in ihren Rechten aus Art. 21
Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1, Art. 9, Art. 46 ThürVerf. Der Meinungswettbewerb der Parteien im Wahlkampf dürfe von staatlicher Seite nicht beeinflusst oder
verfälscht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit der Exekutive sei nur zulässig, soweit sie
nicht werbenden oder plakativen Charakter habe. Sie müsse parteipolitisch neutral
sowie sachbezogen und informierend sein. Zudem habe sie sich im Rahmen des
Aufgabenbereichs zu halten, der dem Organ von der Verfassung zugewiesen sei.
Der Aufruf der Antragsgegnerin zu 1) erfülle diese Voraussetzungen nicht. Sie sei als
Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit nicht dafür zuständig, vor angeblich
verfassungswidrigen politischen Parteien und Bestrebungen zu warnen. Zudem umfasse die Warnbefugnis öffentlicher Stellen keinesfalls die Kompetenz, zu Protesten
gegen einen Parteitag aufzurufen. Der Aufruf zu politischen Aktionen sei ein typisches Instrument des Wahlkampfes, den eine Ministerin in amtlicher Eigenschaft
nicht betreiben dürfe.
Der Aufruf verstoße gegen den Grundsatz parteipolitischer Neutralität. Er habe nicht
allgemein verfassungswidrige Bestrebungen zum Inhalt, sondern ausdrücklich den
Parteitag der Antragstellerin. Die Antragsgegnerin zu 1) habe in Kauf genommen,
dass diese Veranstaltung aufgrund gewaltbereiter Gegendemonstranten oder blockierter Zufahrtsstraßen nicht stattfinden könne. Dies wiege umso schwerer, als der
Parteitag dazu diene, die Landesliste der Antragstellerin zur Landtagswahl am
14. September 2014 aufzustellen. Des Weiteren habe man sich in der „heißen Phase
VerfGH 2/14
4
des Kommunalwahlkampfes“ befunden. Die Antragsgegnerin zu 1) sei zugleich Spitzenkandidatin der SPD bei den Landtagswahlen. Ein durchschnittlicher Bürger würde
ihr Verhalten dahingehend verstehen, dass sie eine missliebige parteipolitische Konkurrenz ausschalten und den Parteitag behindern oder sogar verhindern möchte. Der
Wahlkampfcharakter des Aufrufes komme auch dadurch zum Ausdruck, dass die
Antragsgegnerin zu 1) ihre Teilnahme an dem Protest angekündigt habe.
Die Antragsgegnerin zu 1) könne sich nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit
berufen, da sie als Teil der staatlichen Verwaltung nicht grundrechtsberechtigt, sondern grundrechtsverpflichtet sei. Sie habe nicht als Privatperson zu den Protesten
aufgerufen. Vielmehr sei der Aufruf auf der amtlichen Homepage des Sozialministeriums eingestellt worden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juni 2014 zu den Äußerungsbefugnissen des Bundespräsidenten (2 BvB 4/13) sei für die Entscheidung des Falles
ohne Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht stütze seine Entscheidung auf die
besondere Stellung des Bundespräsidenten, die mit der eines Ministers nicht zu vergleichen sei.
Die angebliche Verfassungswidrigkeit der Antragstellerin und der in diesem Zusammenhang angeführte Begriff der wehrhaften Demokratie könnten das Verhalten der
Ministerin nicht rechtfertigen. Zulässig seien nur diejenigen Maßnahmen des präventiven Verfassungsschutzes, die im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen seien. Der
Aufruf zur Teilnahme an einem Protest gegen einen Listenparteitag einer konkurrierenden politischen Partei gehöre nicht zu den dort genannten Maßnahmen.
b) In der mündlichen Verhandlung am 22. Oktober 2014 hat die Antragstellerin ihren
Antrag zurückgenommen, soweit er gegen die Antragsgegnerin zu 2) gerichtet war.
c) Die Antragstellerin beantragt die Feststellung, dass
die Antragsgegnerin zu 1) die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1
Satz 1 des Grundgesetzes i. V. m. Art. 2 Abs. 1, Art. 9 und Art. 46 Abs. 1 der
Thüringer Verfassung dadurch verletzt hat, dass sie öffentlich zu Protesten
gegen den am 15. März 2014 stattfindenden Landesparteitag der Antragstellerin aufgerufen und auf diese Weise unter Verletzung ihrer Pflicht zur parteipolitischen Neutralität zu Lasten der Antragstellerin in den laufenden Landtagsund Kommunalwahlkampf eingegriffen hat.
VerfGH 2/14
5
2. Die Antragsgegnerin zu 1) beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
a) Es sei bereits zweifelhaft, ob die Antragstellerin hinreichend substantiiert dargelegt
habe, in einem in der Thüringer Verfassung gewährten Recht gefährdet oder verletzt
zu sein. Die angegriffene Äußerung entfalte keine rechtlichen Wirkungen. Die Antragstellerin könne ihre Tätigkeiten als Partei weiterhin ungehindert ausüben. Insbesondere blieben ihr Recht und ihre faktische Möglichkeit, öffentliche Einrichtungen zu
nutzen und an Wahlen teilzunehmen, uneingeschränkt erhalten. Gegen die in der
Erklärung enthaltenen Wertungen könne sie sich öffentlich zur Wehr setzen.
b) Der Antrag sei unbegründet. Die Äußerungen der Antragsgegnerin zu 1) verletzten
weder das Parteienprivileg noch die Chancengleichheit der Antragstellerin.
Der Bundesrat habe unter Beteiligung des Freistaats Thüringen beim Bundesverfassungsgericht beantragt, die NPD zu verbieten (2 BvB 1/13). In dem dortigen Antrag
werde belegt, dass die Partei darauf abziele, die freiheitlich demokratische Grundordnung im Ganzen zu beseitigen und dass sie auf lokaler Ebene eine Beeinträchtigung dieser Ordnung zum Teil bereits erreicht habe. Auch wenn eine Entscheidung
in dem Verbotsverfahren noch nicht ergangen sei, dürften amtliche Stellen weiter die
Überzeugung vertreten, dass die NPD verfassungsfeindliche Ziele verfolge.
Das Grundgesetz wie die Thüringer Verfassung seien vom Prinzip der wehrhaften
Demokratie geprägt. Hieraus folge, dass die Verfassungsorgane gegen Parteien, die
verfassungsfeindliche und extremistische Bestrebungen verfolgten, gerade keine
neutrale Position einnehmen könnten. Vielmehr habe insbesondere die Landesregierung an der öffentlichen Auseinandersetzung teilzunehmen, ob die Ziele und das
Verhalten einer Partei mit der verfassungsgemäßen Ordnung vereinbar seien. Sie
dürfe die Öffentlichkeit über ihre Feststellungen unterrichten und die Erkenntnisse mit
Wertungen verbinden. Gleichzeitig dürfe sie die Handlungsmöglichkeiten aufzeigen,
die zum Schutz der Verfassung bestünden, und die Bürger zu entsprechenden Handlungen aufrufen.
Die verfassungsrechtlichen Grenzen derartiger Äußerungen seien nicht identisch mit
denen, die zur Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit staatlicher Stellen entwickelt
VerfGH 2/14
6
worden seien. Dort stehe im Streit, die freie und offene Meinungs- und Willensbildung des Volkes gegenüber der Regierung abzuschirmen, die nicht zugunsten der
sie tragenden Parteien Einfluss nehme dürfe. Hier gehe es dagegen um die verfassungsrechtlichen Grenzen negativer Werturteile und die Beteiligung staatlicher Stellen an der öffentlichen Auseinandersetzung über die Einleitung eines gegen die NPD
gerichteten Verbotsverfahrens. Derartige Äußerungen seien erst dann verfassungswidrig, wenn sie bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich seien und sich
der Schluss aufdränge, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhten.
Dies sei nicht der Fall. Der rechtsextremistische Charakter der NPD und ihre verfassungswidrige Ideologie stünden außer Frage und würden von der Antragstellerin
auch nicht bestritten. Im Gegensatz zu ihrer Behauptung werde nicht zu einem
rechtswidrigen Handeln aufgerufen, sondern zur Teilnahme an einer angemeldeten
Versammlung. In ihrer Gesamtheit sei die Äußerung sachlich gehalten. Sie enthalte
keine Werbung für andere Parteien.
Schließlich sei die Antragsgegnerin zu 1) auch zuständig, vor verfassungsfeindlichen
Bestrebungen zu warnen. Nach dem Beschluss des Landesregierung vom 15. März
2010 über die Zuständigkeit der einzelnen Ministerien sei dem Geschäftsbereich der
Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit unter anderem zugewiesen, Maßnahmen gegen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu koordinieren und zu begleiten. Im Rahmen dieser Kompetenz sei sie für das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit zuständig. Ein Schwerpunkt dieses Programms seien lokale Aktionspläne, da vor Ort die Probleme mit
Rechtsextremismus am besten behandelt und gelöst werden könnten. Das Landesprogramm sei durch den Thüringer Landtag verabschiedet worden, die dort festgelegten Aufgaben würden umfassend durch die Antragsgegnerin zu 1) wahrgenommen. Der Aufruf zu Protesten und die Beteiligung an denselben sei Bestandteil dieses Programms.
3. Der Thüringer Landtag ist gemäß § 40 Abs. 2 ThürVerfGHG von der Einleitung
des Verfahrens in Kenntnis gesetzt worden. Er hat von einem Beitritt zum Verfahren
abgesehen.
VerfGH 2/14
7
III.
Der Verfassungsgerichtshof hat den mit dem Antrag auf Durchführung eines Organstreitverfahrens verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit
Beschluss vom 14. März 2014 abgelehnt (VerfGH 3/14).
B.
I.
Das Verfahren ist einzustellen, soweit der Antrag gegen die Antragsgegnerin zu 2)
zurückgenommen worden ist.
II.
Der gegen die Antragsgegnerin zu 1) gerichtete Antrag ist zulässig.
1. Das Organstreitverfahren ist statthaft. Im Organstreit entscheidet der Thüringer
Verfassungsgerichtshof über die Auslegung der Thüringer Verfassung aus Anlass
von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Verfassungsorgans und anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder die Geschäftsordnung des Landtags oder der Landesregierung mit eigener Zuständigkeit ausgestattet sind, Art. 80 Abs. 1 Nr. 3 ThürVerf, § 11 Nr. 3, § 38 ThürVerfGHG. Antragsteller
und Antragsgegner des Verfahrens müssen zueinander in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis stehen, aus dem sich die in Streit stehenden Rechte und
Pflichten ergeben (vgl. zum Bundesorganstreit: BVerfGE 84, 290 [297]; 73, 1, [30]).
In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist die Beteiligtenfähigkeit eines
Landesverbands einer politischen Partei anerkannt, soweit die Verletzung des verfassungsrechtlichen Status geltend gemacht wird (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom
18. Juli 2006 - VerfGH 8/05 -, LVerfGE 17, 511 [515]; BVerfGE 66, 107 [115]; 75, 34
[39]).
VerfGH 2/14
8
Der Antrag richtet sich gegen einen parteifähigen Antragsgegner. Die Landesregierung ist ein oberstes Verfassungsorgan, Art. 70 Abs. 1 ThürVerf. Eine Ministerin ist
als Mitglied der Landesregierung nach dem in der Thüringer Verfassung (Art. 76
Abs. 1 Satz 2) und der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Landesregierung (§ 1)
niedergelegten Ressortprinzip mit eigenen Rechten ausgestattet.
Im Streit stehen Rechtsbeziehungen, die sich aus der Thüringer Verfassung ergeben. Die Antragstellerin macht eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 21 GG geltend,
der als „hineinwirkendes Bundesverfassungsrecht“ Teil des materiellen Landesverfassungsrechts ist (BVerfGE 103, 332 [353]; ThürVerfGH, LVerfGE 17, 511 [515];
Urteil vom 2. November 2011 - VerfGH 13/10 -, juris Rn. 136).
2. Die Organklage richtet sich auch gegen eine rechtserhebliche Maßnahme. Die
Antragstellerin macht geltend, dass sie durch die angegriffene Äußerung in ihrem
Recht aus Art. 21 Abs. 1 GG auf Chancengleichheit bei Wahlen betroffen ist. Sie legt
hinreichend substantiiert die Möglichkeit dar, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen der Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern überschritten sind und damit
zu ihren Lasten in unzulässiger Weise in den Wahlkampf eingegriffen wurde (vgl.
BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2014 - 2 BVE 4/13 -, juris Rn. 19).
3. Der Antrag ist zutreffend gegen die Antragsgegnerin zu 1) gerichtet. Richtiger Antragsgegner eines Organstreitverfahrens ist derjenige, von dem die Maßnahme „ausgegangen“ ist (BVerfGE 96, 264 [276]; 84, 304 [321]), bzw. der sie „verursacht“ und
„rechtlich zu verantworten“ hat (BVerfGE 118, 277 [322]). Dies ist hier die Antragsgegnerin zu 1), denn die angegriffenen Äußerungen waren als wörtliche Zitate auf
der Homepage ihres Ministeriums eingestellt.
4. Das Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin, das grundsätzlich durch die geltend gemachte Rechtsverletzung indiziert ist (vgl. zum Bundesorganstreit: BVerfGE
68, 1 [77]), ist im vorliegenden Fall nicht dadurch entfallen, dass die Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen stattgefunden haben. Die Antragstellerin hat unabhängig
von diesen Wahlen ein berechtigtes Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Klärung der Frage, inwieweit sich Regierungsmitglieder zu ihr wertend äußern und gegen sie zu Protesten aufrufen dürfen (vgl. zum Fortbestehen des Rechtsschutzbe-
VerfGH 2/14
9
dürfnisses nach Durchführung von Wahlen: VerfGH Saarland, Urteil vom 1. Juli 2010
- Lv 4/09 -, S. 14). Die Antragstellerin kann auch nicht auf die Möglichkeit verwiesen
werden, ein Wahlprüfungsverfahren anzustrengen (hinsichtlich der Landtagswahl
nach §§ 50 ff. ThürLWG, § 11 Nr. 8, § 48 ThürVerfGHG). Zwar kann auch dort eine
unzulässige Einflussnahme der Regierung auf den Wahlkampf gerügt werden (vgl.
VerfGH NRW, Beschluss vom 16. Juli 2013 - VerfGH 17/12 -, S. 8 ff.). Das Begehren, über die Gültigkeit einer Wahl zu entscheiden, ist jedoch mit dem hier verfolgten
Rechtsschutzziel, die Verfassungswidrigkeit einer Äußerung festzustellen, nicht identisch (vgl. VerfGH Rh-Pf, Beschluss vom 21. Mai 2014 - 39/14 -, S. 6 f.).
5. Die Antragstellerin ist ordnungsgemäß vertreten. Sie hat auf die gerichtliche Aufforderung vom 16. Juni 2014 hin eine Vollmacht vorgelegt, die den Erfordernissen
des § 17 Abs. 4 ThürVerfGHG genügt. Diese ist von dem Landesvorsitzenden unterschrieben, der nach Punkt 10 Abs. 3 der Landessatzung den Landesvorstand im
Sinne des § 26 BGB vertritt. Nach § 11 Abs. 3 Satz 2 Parteiengesetz ist eine solche
Regelung, mit der vom Grundsatz der Vertretung durch den gesamten Vorstand abgewichen wird, zulässig.
Der Antrag ist innerhalb der 6-Monats-Frist des § 39 Abs. 3 Satz 1 ThürVerfGHG erhoben worden (Veröffentlichung der Medieninformation am 12. März 2014, Eingang
des Antrags per Fax am nächsten Tag).
III.
Der Antrag ist auch begründet.
Die Antragsgegnerin zu 1) hat auf der Homepage ihres Ministeriums zur Beteiligung
an den Protesten gegen den am 15. März 2014 stattfindenden Landesparteitag der
Antragstellerin aufgerufen. Durch diesen Aufruf hat sie unter Verletzung ihrer Pflicht
zur parteipolitischen Neutralität das aus Art. 21 GG folgende Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit der politischen Parteien verletzt.
VerfGH 2/14
10
1. Gegenstand der Prüfung ist die Medieninformation 069/2014 des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familien und Gesundheit vom 12. März 2014. Diese Veröffentlichung enthält eine Information über das Stattfinden des Landesparteitags der NPD
am 15. März 2014 in Kirchheim („Hintergrund ist der für den kommenden Samstag“
angekündigte Landesparteitag der NPD“; „…stattfindenden Protesten gegen den geplanten NPD-Landesparteitag am kommenden Samstag, den 15. März 2014, in
Kirchheim im Ilmkreis“; „Kirchheimer Erlebnisscheune“) sowie eine Information über
die Teilnahme der Antragsgegnerin an den zu erwartenden Protesten gegen den
Parteitag („Sozialministerin Taubert wird die Proteste … persönlich unterstützen“).
Zudem beinhaltet die Medieninformation mehrere auf die NPD bezogende negative
Werturteile („menschenverachtende Ideologie“, Gefährdung der Demokratie, Missachtung der Toleranz, Gefährdung der Weltoffenheit; „Rassismus“).
Ferner ist ihr die Aufforderung zu entnehmen, das Bündnis „Kirchheimer gegen
Rechts“ zu unterstützen, wie auch, sich an den Protesten in Kirchheim zu beteiligen
(Aufruf „zur Beteiligung an den Protesten gegen den NPD-Landesparteitag“; Aufruf
„nach Kirchheim zu kommen“; „wir dürfen die Gemeinde in dieser Situation nicht alleine lassen“). Adressaten des Aufrufs sind alle „Thüringerinnen und Thüringer“. Der
Aufruf zielt mithin in seinem Kern darauf ab, die wahlberechtigte thüringische Bevölkerung zu motivieren, an den Protestaktionen gegen den Parteitag der NPD teilzunehmen. Die negativen Werturteile in dieser Information dienen dazu, den Aufruf zu
begründen.
Es kommt für das Verständnis dieses Aufrufs auf die Perspektive eines objektiven
Betrachters an. Danach kann die Medieninformation nicht so verstanden werden,
dass es sich um einen Aufruf zu Protesten gegen
antidemokratische und rechts-
extremistische Bestrebungen im Allgemeinen handelt, von dem die Antragstellerin
als Partei, die solchen Positionen nahe steht, nur mehr oder weniger reflexhaft betroffen wäre. Der zeitliche und örtliche Zusammenhang mit dem Landesparteitag der
Antragstellerin ist offensichtlich und wird in der Medieninformation selbst hergestellt.
Die Antragsgegnerin zu 1) ruft gezielt zur „Beteiligung an den Protesten gegen den
geplanten NPD-Landesparteitag“ auf.
VerfGH 2/14
11
Dagegen ergeben sich weder aus der Medieninformation selbst noch aus den von
der Antragsgegnerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung dazu abgegebenen weiteren Erklärungen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Aufruf auf eine Behinderung oder gar vollständige Verhinderung des Parteitages zielte oder objektiv so verstanden werden konnte. Zu einer nennenswerten Behinderung oder gar Verhinderung ist es auch tatsächlich nicht gekommen, wie auch die Antragstellerin in der
mündlichen Verhandlung bestätigt hat.
2. Prüfungsmaßstab in diesem landesverfassungsgerichtlichen Verfahren ist eine
bundesverfassungsrechtliche Norm, nämlich Art. 21 GG. In der Rechtsprechung der
Landesverfassungsgerichte wie auch des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt,
dass die Mitwirkung von Parteien an der politischen Willensbildung zu dem in das
Landesverfassungsrecht hineinwirkenden Bundesverfassungsrecht gehört (BVerfGE
60, 53 [61]; 66, 107 [114]; VerfGH Rh-Pf, Urteil vom 27. November 2007 - 27/07 -,
juris Rn. 9; ThürVerfGH LVerfGE 17, 511 [515]; Urteil vom 2. November 2011
- VerfGH 13/10 -, juris Rn. 136).
Das in Art. 21 GG statuierte Recht gewährleistet die Chancengleichheit für alle politischen Parteien. Mit der in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG gesicherten Freiheit der Gründung einer Partei ist auch ihr freies Wirken bei Wahlen, d.h. die volle Gleichberechtigung aller Parteien, notwendigerweise verbunden (BVerfG, Urteil vom 2. März 1977
- 2 BvE 1/76 - „Öffentlichkeitsarbeit“, juris Rn. 58, 60).
Die Gleichberechtigung aller Parteien sowie die daraus resultierende Chancengleichheit ist formal zu verstehen. Die Formalisierung des Gleichheitssatzes im Bereich der politischen Willensbildung des Volkes hat zur Folge, dass auch der Verfassungssatz von der Chancengleichheit der politischen Parteien im gleichen Sinn formal verstanden werden muss. Der öffentlichen Gewalt ist mithin jede unterschiedliche Behandlung der Parteien, durch die deren Chancengleichheit bei Wahlen verändert werden kann, verfassungskräftig versagt, sofern sie sich nicht durch einen besonders zwingenden Grund rechtfertigen lässt (BVerfG, Urteil vom 2. März 1977
- 2 BvE 1/76 - „Öffentlichkeitsarbeit“, juris Rn. 60; st. Rspr. des BVerfG). Vom Schutz
dieses Rechts aus Art. 21 GG ist dabei nicht nur der Wahlvorgang erfasst, sondern
auch die Wahlvorbereitung und die Wahlwerbung, soweit sie durch Maßnahmen der
VerfGH 2/14
12
öffentlichen Gewalt beeinflusst wird (BVerfG, Urteil vom 2. März 1977 - 2 BvE 1/76 „Öffentlichkeitsarbeit“, juris Rn. 61).
3. Dieses Recht der Antragstellerin wurde durch die Medieninformation der Antragsgegnerin zu 1) beeinträchtigt.
Das durch Art. 21 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf Chancengleichheit kann nicht
nur durch staatliche Maßnahmen wie etwa Kandidatenstreichungen oder Verbote
beeinträchtigt werden. Auch öffentliche Äußerungen von Amtsträgern kommen insoweit in Betracht. Entscheidend ist dabei, ob durch das in Frage stehende staatliche
Handeln die Chancengleichheit von Parteien bei Wahlen verändert werden kann (vgl.
BVerfG, Urteil vom 2. März 1977 - 2 BvE 1/76 - „Öffentlichkeitsarbeit“, juris Rn. 60).
Allerdings ist nicht jede Äußerung informierender oder wertender Art, die sich - in
welcher Art auch immer - auf das durch Art. 21 statuierte Recht nachteilig auswirken
kann, schon als eine solche Beeinträchtigung zu qualifizieren. Sie muss schon mit
Blick auf das Schutzgut des Art. 21 Abs. 1 GG von einigem Gewicht sein.
Dies ist hier zum einen der Fall hinsichtlich der Information über die Teilnahme der
Ministerin an den Protesten gegen den Parteitag der Antragstellerin. Eine solche Information hat Wirkung auf die Wahlberechtigten. Die Information über die Teilnahme
einer Ministerin verstärkt den durch die Proteste hervorgerufenen Eindruck, dass es
sich beim Parteitag der Antragstellerin um eine Gefahr für die Demokratie handelt.
Zum anderen beeinträchtigen die von der Ministerin abgegebenen negativen Werturteile („menschenverachtende Ideologie“, Gefährdung der Demokratie, Missachtung
der Toleranz, Gefährdung der Weltoffenheit; „Rassismus“) das Recht der Antragstellerin aus Art. 21 GG. Diese Urteile sind von einer besonderen Intensität. Dies gilt
darüber hinaus ebenso für die Aufforderung, das „Bündnis gegen Rechts“ zu unterstützen und sich an den Protesten gegen den Parteitag der Antragstellerin zu beteiligen. Anders als negative Werturteile, die in erster Linie darauf zielen, auf den Meinungsbildungsprozess der Wähler einzuwirken, enthält der Protestaufruf sogar die
direkte Aufforderung, selbst über das Wahlverhalten hinaus gegen die NPD aktiv zu
werden.
VerfGH 2/14
13
4. Die von der Medieninformation ausgehende Beeinträchtigung ist nicht durch einen
besonders zwingenden Grund gerechtfertigt. Die Antragsgegnerin zu 1) kann ihr
Handeln als Ministerin nicht durch Berufung auf ihre Grundrechte rechtfertigen (a).
Sie kann sich hier auch nicht mit Erfolg auf ihre Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit
berufen. Zwar sind die in der Medieninformation enthaltenen Informationen und Wertungen bei isolierter Betrachtung durch die Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit gedeckt. Der Aufruf zur Teilnahme an der Protestkundgebung geht aber über eine
- auch wertende - Information der Bürger hinaus und ist deshalb nicht durch die
Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit gedeckt (b). Ob es über die Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit hinaus auch eine Befugnis der Regierung gibt, die Bürger zu
Kundgebungen aufzufordern, lässt der VerfGH offen. Jedenfalls unter den hier vorliegenden Umständen sind keine Gründe ersichtlich, die die Beeinträchtigung des
Rechts der Antragstellerin auf Chancengleichheit rechtfertigen könnten (c). Auch
aus der Grundentscheidung für eine wehrhafte Demokratie ergibt sich nichts anderes
(d).
a) In der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass das
Grundrecht der Meinungsfreiheit auch Äußerungen von Amtsinhabern deckt, die diese als politisch engagierte Bürger tätigen, so dass hierdurch keine Beeinträchtigung
des Rechts aus Art. 21 GG vorliegt (VerfGH Rh-Pf, Beschluss vom 21. Mai 2014
- 39/14 -, S. 9 ff.).
In dem hier zu entscheidenden Fall sind jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich, die
auf ein Handeln der Ministerin als Privatperson schließen lassen. Die Medieninformation wurde auf der Homepage des von ihr geleiteten und zu verantwortenden (vgl.
Art. 76 Abs. 1 Satz ThürVerf) Ministeriums veröffentlicht. Auch sind Hinweise darauf,
dass sie lediglich als politisch aktive Bürgerin zu den Protesten aufrufen wollte, nicht
erkennbar.
b) Auch die Kompetenz der Landesregierung zur Öffentlichkeitsarbeit ist kein zwingender Grund zur Rechtfertigung der Medieninformation, soweit darin zur Teilnahme
an den Protesten gegen den Nominierungsparteitag der NPD am 15. März 2014 in
Kirchheim aufgerufen wird.
VerfGH 2/14
14
(1) Die Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften ist
nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch notwendig. In den Rahmen
zulässiger Öffentlichkeitsarbeit fällt, dass Regierung und gesetzgebende Körperschaften - bezogen auf ihre Organtätigkeit - der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Maßnahmen und Vorhaben sowie die künftig zu lösenden Fragen darlegen und erläutern.
Eine verantwortliche Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung des Volkes setzt geradezu voraus, dass der Einzelne genügend weiß, um Entscheidungen,
Maßnahmen und Lösungsvorschläge beurteilen, billigen oder verwerfen zu können.
Aufgabe staatlicher Öffentlichkeitsarbeit ist es, Zusammenhänge offenzulegen, Verständnis für erforderliche Maßnahmen zu wecken oder um bestimmtes Verhalten zu
werben (vgl. BVerfG, Urteil vom 2. März 1977 - 2 BvE 1/76 - „Öffentlichkeitsarbeit“,
juris Rn. 63 f., 65; vgl. VerfGH Saarland, Urteil vom 1. Juli 2010 - 4/09 -, S. 16;
BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2002 - 1 BvR 670/91 - „Osho-Bewegung“, juris
Rn. 72 f.; Beschluss vom 26. Juni 2002 - 1 BvR 558/91 u.a. - „Glykol“, juris Rn. 52).
Allerdings ist diese Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit - wie jede Kompetenz - begrenzt.
(aa) Zunächst muss sich die Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der von der Verfassung
zugewiesenen Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche halten (BVerfG, Urteil vom
2. März 1977 - 2 BvE 1/76 - „Öffentlichkeitsarbeit“, juris Rn. 68; folgend: StGH Bremen, DVBl. 1984, S. 221, 224; VerfGH Saarland, Urteil vom 1. Juli 2010 - 4/09 -,
S. 17 f.).
(bb) Sie darf sodann nicht parteiergreifend zugunsten oder zu Lasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken (BVerfG, Urteil
vom 2. März 1977 - 2 BvE 1/76 - „Öffentlichkeitsarbeit“, juris Rn. 61; folgend: VerfGH
Saarland, Urteil vom 1. Juli 2010 - 4/09 -, S. 17).
(cc) Zudem darf die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung den Anspruch einer Partei
auf die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen nicht willkürlich beeinträchtigen. Es ist
einer Regierung daher untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen,
wenn eine solche Verdächtigung bei verständiger Würdigung der das GG beherrVerfGH 2/14
15
schenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom
29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 - „VS-Bericht“, juris Rn. 20; BVerfG, Beschluss vom
20. Februar 2013 - 2 BvE 11/12 -, juris Rn. 22; VerfGH Saarland, Urteil vom 8. Juli
2014 - 5/14 - „Pastörs“, S. 7, 13).
(dd) Zu berücksichtigen ist schließlich, dass für die Zeit der Wahlkampfnähe ein zusätzliches Gebot äußerster Zurückhaltung gilt (vgl. VerfGH Rh-Pf, Urteil vom
23. Oktober 2006, - 17/05 -, juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteil vom 1. Juli 2010
- 4/09 -, S. 18; ebenso: VerfGH NRW, Urteil vom 16. Juli 2013 - 17/12 -, S. 9 f.;
VerfGH Rh-Pf, Beschluss vom 21. Mai 2014 - 39/14 -, S. 7) und mithin ein besonders
strenger Maßstab zugrunde zu legen ist.
(2) Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Grenzen der Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit ist zunächst festzustellen, dass die Ministerin mit ihrer Äußerung keine
Zuständigkeitsgrenzen überschritten hat. Es ist keine Norm ersichtlich, der zufolge
sie sich nicht über die Antragstellerin hätte äußern dürfen.
Die Grenzen der Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit werden auch nicht durch die
Information über den stattfindenden Parteitag der Antragstellerin und die Teilnahme
der Ministerin an den geplanten Protesten überschritten. Mit dieser Information wird
die Öffentlichkeit vielmehr über das Handeln eines Regierungsmitglieds in Kenntnis
gesetzt.
Auch durch die in der Medieninformation enthaltenen negativen Werturteile werden
die Grenzen der Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit noch nicht verletzt. Die negativen Werturteile der Ministerin gegenüber der NPD haben zwar einen stark herabsetzenden Charakter („menschenverachtende Ideologie“, Gefährdung der Demokratie,
Missachtung der Toleranz, Gefährdung der Weltoffenheit; „Rassismus“). Doch diese
Werturteile beruhen nicht auf sachfremden Erwägungen. Sie decken sich weitgehend
mit der Begründung des Antrags des Bundesrates, den Bundesverband der NPD zu
verbieten. Der Rassismus-Vorwurf ist zwar nicht in diesem Antrag enthalten und
wiegt gewiss besonders schwer, da er die Einschätzung impliziert, die Antragstellerin
befürworte eine Ausgrenzung bestimmter Menschen schon allein deshalb, weil diese
VerfGH 2/14
16
sich nach tatsächlichen oder unterstellten äußeren vererbbaren Merkmalen von anderen Menschen unterscheiden. Doch auch das in diesem Vorwurf enthaltende
Werturteil beruht nicht auf sachfremden Erwägungen und ist durchaus nachvollziehbar. Dies zeigt sich etwa bei einem Blick auf eine Stellungnahme des Bundesverbandes der NPD zur Frage „Wer ist denn ein Deutscher“, die auch der Thüringer
Landes-NPD zugerechnet werden kann. Darin heißt es etwa, dass ein „Afrikaner,
Asiate oder Orientale“ nie Deutscher werden könne, weil „die Verleihung bedruckten
Papiers“ nicht die „biologischen Erbanlagen“ verändere; „Angehörige anderer Rassen“ blieben „deshalb körperlich, geistig und seelisch immer Fremdkörper“.
(3) Indessen ist die Aufforderung zur Teilnahme an einer Demonstration gegen den
Nominierungsparteitag der Antragstellerin am 15. März in Kirchheim keine rechtlich
zulässige Öffentlichkeitsarbeit.
(aa) Der an die Bevölkerung gerichtete Aufruf, an den Protesten teilzunehmen, geht
über eine Information der Öffentlichkeit und über eine negative Bewertung hinaus. Er
hat unmittelbar parteiergreifenden Charakter insofern, als er zu Lasten einer nicht
verbotenen Partei die Bevölkerung zum Handeln aufruft, was zu einer Schmälerung
ihrer Wahlchancen führen kann. Bei einem solchen Aufruf informieren staatliche Stellen nicht mehr über Absichten und Ziele einer Partei, damit sich die Wähler selbst ein
Urteil bilden können. Vielmehr fordert die Antragsgegnerin zu 1) die Bevölkerung auf,
zu Lasten dieser Partei selbst aktiv zu werden und die „rote Karte“ zu zeigen. Das
Handeln der Bevölkerung ist dann nicht mehr mittelbare Folge einer grundsätzlich
zulässigen Öffentlichkeitsarbeit, sondern der Aufruf ist unmittelbar auf jenes Handeln
mit nachteiligen Wirkungen für eine nicht verbotene Partei gerichtet. Bei einem solchen Aufruf verhält sich der Staat nicht mehr neutral. Er wird dann selbst Partei.
(bb) Die Grenzen der Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit wurden darüber hinaus
auch durch den Aufruf überschritten, das „Bündnis gegen Rechts“ zu unterstützen.
Von dieser Kompetenz sind gewiss Aufrufe gedeckt, allgemein Initiativen zu unterstützen, die für den Schutz der freiheitlichen und demokratischen Ordnung eintreten
(Vergabe von Preisen für Demokratie; Schülerwettbewerbe etc.). Es muss dann aber
gewährleistet sein, dass diese Initiativen nicht auf eine bestimmte Partei zielen. Im
konkret zu entscheidenden Fall steht es aber außer Zweifel, dass diese Initiative geVerfGH 2/14
17
rade gegen die Aktivitäten der Antragstellerin in Kirchheim gerichtet war. Damit
nimmt die Medieninformation der Ministerin den Charakter einer politischen Aktion
an, die von der Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr gedeckt ist.
c) Zulässigkeit und Grenzen von staatlichen Aufrufen an die Bevölkerung zu Kundgebungen oder ähnlichen politischen Aktionen sind daher von einem anderen Ausgangspunkt her zu bestimmen. Dafür gibt es, soweit ersichtlich, bisher keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsgerichte der Länder.
Es ist nicht Aufgabe des Staates, die Bürger zu Kundgebungen für oder gegen politische Parteien aufzurufen. Die vom Grundgesetz und von der Thüringer Verfassung
gleichermaßen gewährleistete Versammlungsfreiheit ist grundsätzlich gegen die öffentliche Gewalt gerichtet. Sie steht nicht dem Staat zu, sondern den Bürgerinnen
und Bürgern. Deshalb kann sich die Antragsgegnerin nur dann auf das Grundrecht
der Versammlungsfreiheit berufen, wenn sie als Privatperson an einer Kundgebung
teilnimmt, nicht aber als Ministerin. Aufrufe staatlicher Stellen zur Teilnahme an
Kundgebungen gehören deshalb nicht zum alltäglichen Instrumentarium staatlicher
Politik und Verwaltung.
Es kann hier dahin stehen, ob staatliche Aufrufe an die Bürger zur Teilnahme an einer Kundgebung gerechtfertigt sein können. In Bezug auf die Repräsentations- und
Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, ihm obliege es, im Interesse der Wahrung und Förderung des Gemeinwesens das Wort zu ergreifen und die Öffentlichkeit durch seine Beiträge auf von ihm
identifizierte Missstände und Fehlentwicklungen - insbesondere solche, die den Zusammenhalt der Bürger und das friedliche Zusammenleben aller Einwohner gefährden - aufmerksam zu machen sowie um Engagement bei deren Beseitigung zu werben (BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2014 - 2 BvE 4/13 -, juris Rn. 28). Werbung um Engagement und Aufforderung zur Demonstration haben beide Aufforderungscharakter
und liegen insoweit nahe beieinander. Dem Staat ist es im Hinblick auf den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien aber jedenfalls untersagt, zu einer Protestkundgebung aufzurufen, wenn diese sich gezielt gegen den Nominierungsparteitag
einer nicht verbotenen politischen Partei richtet. So liegt es indessen im vorliegenden
Fall.
VerfGH 2/14
18
d) Die Grenzen der Kompetenz der Regierung zur Öffentlichkeitsarbeit können auch
nicht durch den Hinweis auf den Auftrag zur Wahrung und zum Eintreten für eine
wehrhafte Demokratie zu Lasten der Antragstellerin verschoben werden.
(1) Das Grundgesetz hat die Bundesrepublik Deutschland aus der bitteren Erfahrung
mit dem Schicksal der Weimarer Demokratie als eine wehrhafte Demokratie konstituiert (BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1975 - 2 BvL 13/73 - „Radikalenerlass“, juris
Rn. 101). Die Bundesrepublik muss sich kraft ihrer Verfassung als eine streitbare
Demokratie verstehen (BVerfGE 5, 85 [139]; 25, 88 [100]; BVerfG, Beschluss vom
29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 - „VS-Bericht“, juris Rn. 17). Aus der Grundentscheidung der Verfassung für eine wehrhafte und streitbare Demokratie folgt insbesondere der allen Verfassungsorganen des Bundes erteilte Auftrag, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu wahren und aktiv für sie einzutreten (vgl. BVerfGE 39,
334 [349]; 40, 287 [292]; 57, 1 [8]).
(2) Auch der Freistaat Thüringen versteht sich als wehrhafte Demokratie. Als Land
der Bundesrepublik Deutschland (Art. 44 Abs. 1 ThürVerf) ist er den Grundentscheidungen des Grundgesetzes gegenüber verpflichtet. Zudem kommt die Grundentscheidung des Freistaates für eine wehrhafte Demokratie auch in mehreren Vorschriften der Thüringer Verfassung zum Ausdruck (Art. 83 Abs. 4; Art. 96 Abs. 2 oder
Art. 97).
(3) Es ist anerkannt, dass die Grundentscheidung für eine wehrhafte Demokratie
sachlich begründbare und nachvollziehbare negative W erturteile staatlicher Stellen
über Parteien oder etwa die Verteilung von Informationsbroschüren (vgl. VerfGH
Rh-Pf, Urteil vom 27. November 2007 - 27/07 - „Broschüre gegen Rechtsextremismus“, juris Rn. 14 f.) zu rechtfertigen vermag. Aus der Grundentscheidung für eine
wehrhafte Demokratie ergeben sich jedoch im Hinblick auf Demonstrationsaufrufe
staatlicher Stellen keine über die oben dargestellten Grenzen hinausgehenden Befugnisse.
Anderenfalls
würden unter
Rückgriff auf eine verfassungsrechtliche
Grundentscheidung die bislang anerkannten und konsolidierten Grenzen der Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und die allenfalls auf Ausnahmelagen
beschränke Befugnis zu Handlungsaufrufen mit der Folge erweitert, dass der Staat
selbst unmittelbar parteiergreifend tätig werden und seine neutrale Rolle aufgeben
VerfGH 2/14
19
dürfte. Die Grundentscheidung für eine wehrhafte Demokratie lieferte dann eine
Kompetenz der Regierung, selbst als Partei aktiv in den Wettbewerb um die Stimmen
der Wähler einzutreten. Dies führte aber zu einer Aushöhlung des Rechts aus
Art. 21 GG, das allen Parteien gleichermaßen zusteht, solange das Bundesverfassungsgericht nicht über ihre Verfassungswidrigkeit entschieden hat.
e) Dementsprechend ist auch der Umstand, dass gegen den Bundesverband der Antragstellerin durch den Bundesrat ein Verbotsverfahren eingeleitet wurde, nicht von
Belang. Das Parteienprivileg des Art. 21 und der daraus folgende Schutzanspruch
von Parteien gegenüber staatlichen Maßnahmen gelten bis zum Moment der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung in ungeschmälertem Umfang. Das Recht
auf Chancengleichheit ist zudem formal und streng zu deuten und anzuwenden.
IV.
Das Verfahren ist kostenfrei, § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG. Die Entscheidung über die
Erstattung der Auslagen beruht auf § 29 Abs. 2 ThürVerfGHG.
Die Entscheidung ist mit sieben zu zwei Stimmen ergangen.
Prof. Dr. Aschke
Prof. Dr. Baldus
Prof. Dr. Bayer
Dr. Habel
Heßelmann
Dr. Martin-Gehl
Pollak
Prof. Dr. Ruffert
Prof. Dr. Schwan
VerfGH 2/14
20
Sondervotum des Mitglieds des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, Prof. Dr. Walter
Bayer
Entgegen der Mehrheitsmeinung halte ich den Aufruf der Ministerin Taubert für verfassungsrechtlich zulässig. Insbesondere wurde das Recht der NPD aus Art. 21 GG
nicht verletzt.
I. Der in Art. 21 GG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Chancengleichheit aller
politischen Parteien, der es dem Staat verfassungskräftig verbietet, Parteien unterschiedlich zu behandeln, wird nicht verletzt, wenn Mitglieder der Landesregierung
verfassungsfeindliche Bestrebungen einer Partei im politischen Meinungskampf öffentlich artikulieren. Dies wird in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht auch von der Mehrheit des Thüringer Verfassungsgerichtshofs anerkannt. Eine
solche Benennung verfassungsfeindlicher Zielsetzungen ist nicht nur das Recht der
Regierung, sondern mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts sogar Teil ihrer
„politischen
Verantwortung“
(vgl.
BVerfG,
Beschluss
vom
22. Mai
1975
- 2 BvL 13/73 -, juris Rn 62; ebenso Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 -,
juris Rn 19).
Daher kann sich eine Partei gegen die öffentliche Anprangerung ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen durch staatliche Stellen auch nicht mit dem Argument verteidigen, sie sei vom Bundesverfassungsgericht bislang nicht verboten worden. Das
Privileg des Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG, wonach nur das Bundesverfassungsgericht die
Verfassungswidrigkeit einer Partei feststellen kann, schützt diese allein vor einer
rechtlichen Benachteiligung durch den Staat. Hingegen muss auch eine nicht verbotene Partei „faktische Nachteile“, die ihr daraus entstehen können, dass staatliche
Stellen öffentlich auf ihre verfassungsfeindlichen Bestrebungen aufmerksam machen, hinnehmen; gegen eine solche faktische Benachteiligung gewährt Art. 21 GG
nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen
Schutz (BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1975 - 2 BvL 13/73 -, juris Rn 62). Auch gegen drastische Formulierungen (hier: „Veranstaltung von Neonazis mit ihrer menschenverachtenden Ideologie“) bestehen grundsätzlich keine Einwände (vgl. auch
VerfGH Saarland, Urteil vom 8. Juli 2014 - Lv 5/14 -, Umdruck S. 15 f.).
VerfGH 2/14
21
II. Entgegen der Auffassung der Mehrheit ist auch der Aufruf von Ministerin Taubert,
sich in Kirchheim an Protesten gegen die NPD zu beteiligen und Rassismus und Intoleranz die „Rote Karte“ zu zeigen, nicht verfassungswidrig.
1. Die Mehrheit hat ausdrücklich offen gelassen, ob über die zulässige Meinungsäußerung zum Nachteil der NPD hinaus auch ein staatlicher Aufruf zum Handeln gerechtfertigt sein kann. Zu Recht wurde von der Mehrheit festgestellt, dass diese Frage in der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht präzise
beantwortet wurde.
Ich möchte diese Frage grundsätzlich positiv beantworten. Es ist keine Verfassungsnorm ersichtlich, die es der Bundesregierung oder einer Landesregierung verbieten
würde, die Bevölkerung des eigenen Staatsgebietes zu Demonstrationen aufzurufen.
Das Recht, auf der Straße „Flagge zu zeigen“, ist keineswegs auf die Opposition beschränkt. So kann es etwa in bestimmten Krisensituationen erforderlich sein, dass
sich eine Regierung der Unterstützung der Bevölkerung in der Weise vergewissert,
dass sie um ein sichtbares Zeichen in Form einer Beteiligung an einer von ihr initiierten Demonstration bittet.
2. Die Mehrheit ist allerdings der Auffassung, dass der Protestaufruf von Ministerin
Taubert im vorliegenden Fall jedenfalls deshalb unzulässig sei, weil er sich ausdrücklich gegen den Landesparteitag einer nicht verbotenen Partei richte. Dieser Bewertung möchte ich nicht folgen.
So wendet sich der Aufruf trotz seiner missverständlichen Formulierung nicht zielgerichtet gegen den Landesparteitag der NPD; die Proteste hatten erst recht nicht das
Ziel, den Parteitag zu behindern oder gar zu verhindern. Auch wenn „alle Thüringerinnen und Thüringer“ zum Protest aufgerufen wurden, so belegen doch langfristige
Erfahrungswerte, dass die Zahl der Demonstranten überschaubar bleibt. Auch im
konkreten Fall fanden sich nur etwa 100 Demonstranten in Kirchheim ein. Daher ist
davon auszugehen, dass mit dem Protestaufruf nicht nur keine Behinderung oder gar
Verhinderung des NPD-Parteitags beabsichtigt war; vielmehr war der Aufruf nach
den Erfahrungswerten auch von vornherein ungeeignet, den Parteitag über das bei
jeder Demonstration unvermeidliche, aber hinnehmbare Maß zu beeinträchtigen. AnVerfGH 2/14
22
haltspunkte dafür, dass in zweifellos unzulässiger Weise ein gewaltsamer Protest
unterstützt werden sollte, sind ebenfalls nicht ersichtlich.
Der Aufruf bittet nach seinem unzweideutigen Text vielmehr um Unterstützung für die
Einwohner des kleinen Ortes Kirchheim; sie sollen bei ihren angekündigten Protesten
gegen intolerante und rassistische Neonazis nicht allein gelassen werden. Der Landesparteitag der NPD war daher nicht das Zielobjekt des Protestes, sondern lediglich
der Anlass. Im Kern handelt es sich bei dem Protestaufruf genauso wie bei der Anprangerung verfassungsfeindlicher Zielsetzungen der NPD um einen Beitrag zum
öffentlichen Meinungskampf. Der einzige Unterschied gegenüber der auch von der
Mehrheit für zulässig erachteten Meinungsäußerung besteht darin, dass die Bevölkerung dazu aufgerufen wird, den Protest durch ihre Teilnahme an einer Demonstration
zu unterstützen. Dass hierdurch eine verfassungsrechtliche Schranke überschritten
wurde, kann ich entgegen der Mehrheit nicht erkennen.
Die Verfassung trifft insbesondere keine Aussage des Inhalts, dass der Staat im öffentlichen Meinungskampf „die Straße“ allein verfassungsfeindlichen Kräften von
links oder rechts überlassen müsste. Auch aus der Pflicht des Staates zur parteipolitischen Neutralität lässt sich eine solche Beschränkung nicht generell herleiten.
Vielmehr ist der Protestaufruf von Ministerin Taubert solange nicht verfassungswidrig, wie nicht bestimmte Grenzen - auf die ich sogleich eingehen werde - überschritten werden. Die Öffentlichkeit darf somit grundsätzlich auch von staatlichen Stellen
zur Unterstützung von Protesten gegen nicht verbotene Parteien aufgerufen werden,
die verfassungsfeindliche Ziele verfolgen.
III. Die somit grundsätzlich zulässige Bekämpfung verfassungsfeindlicher Parteien
durch Staatsorgane muss nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung
indes verschiedene Schranken beachten:
1. Erstens dürfen nicht verbotene Parteien in ihrer politischen Aktivität, speziell auch
bei ihrer Teilnahme an Wahlen, nicht rechtlich gehindert werden (BVerfG, Beschluss
vom 22. Mai 1975 - 2 BvL 13/73 -, juris Rn 57 ff).
VerfGH 2/14
23
Zweitens muss das allgemeine Verbot beachtet werden, wonach staatliche Ressourcen nicht zielgerichtet im Interesse der die Regierung tragenden Parteien eingesetzt
werden dürfen. Dies gilt speziell im Hinblick auf eine staatlich finanzierte Öffentlichkeitsarbeit (BVerfG, Urteil vom 2. März 1977 - 2 BvE 1/76 -, juris Rn 44 ff, 57 ff).
Und drittens kann es zur Verhinderung von Missbrauch nicht gestattet sein, dass der
Staat eine nicht verbotene Partei unter dem Vorwand, sie verfolge verfassungsfeindliche Ziele, im politischen Meinungskampf diskreditiert. Daher dürfen staatliche Stellen eine nicht verbotene Partei „in der Öffentlichkeit nur dann einer verfassungswidrigen Zielsetzung und Betätigung verdächtigen, wenn ein solches Vorgehen bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr
verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass es auf sachfremden Erwägungen beruht“ (so BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 -, juris
Rn 20; Beschluss vom 20. Februar 2013 - 2 BvE 11/12 -, juris Rn 22; vgl. weiter
VerfGH Rh-Pf, Urteil vom 27. November 2007 - VGH O 27/07 -, juris Rn 17; vgl. auch
VerfGH Saarland, Urteil vom 8. Juli 2014 - Lv 5/14 -, Umdruck S. 12).
2. Diese verfassungsrechtlichen Schranken werden durch den Protestaufruf „Antidemokratischen und rechtsextremistischen Bestrebungen die Rote Karte zeigen“
nicht verletzt.
a) Protestaufrufe als Teil des öffentlichen Meinungskampfs führen nicht zu einer Beeinträchtigung der NPD in ihrem Status als Partei. Ein Eingriff in den Landtagswahlkampf ist fernliegend, datiert der Aufruf doch vom 12. März 2014, während die Landtagswahl in Thüringen am 14. September 2014 und somit über 6 Monate später stattfand.
b) Der Aufruf von Ministerin Taubert ist ungeachtet der Tatsache, dass sie Spitzenkandidatin der SPD im Landtagswahlkampf war, offenkundig auch nicht als Wahlwerbung für eine Regierungspartei im Gewande verkappter Öffentlichkeitsarbeit zu
bewerten, die grundsätzlich unzulässig ist.
c) Vielmehr wäre der Protestaufruf - genauso wie die auch von der Mehrheit gebilligte Meinungsäußerung - nur dann verfassungswidrig und unzulässig, wenn die BeVerfGH 2/14
24
hauptung, die NPD verfolge verfassungsfeindliche Ziele, nicht objektiv belegt, sondern willkürlich wäre. Nach insoweit übereinstimmender Auffassung des Thüringer
Verfassungsgerichtshofs ist indes das Gegenteil der Fall.
IV. Im Ergebnis ist der Protestaufruf daher von der Aufgabe und Pflicht des Staates,
die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, gedeckt und zulässig.
Ich sehe mich bei dieser Einschätzung ausdrücklich auch in Übereinstimmung mit
der jüngsten einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
10. Juni 2014, worin dem Bundespräsidenten nicht nur das Recht zugestanden wurde, die NPD als „Spinner“ zu bezeichnen (BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2014
- 2 BvE 4/13 -, juris Rn 33), sondern ebenfalls die Aufforderung, die Bürger mögen
„auf die Straße gehen und sagen, ‘bis hierher und nicht weiter‘“ (BVerfG ebd., Rn 2,
32).
Inhaltlich liegt auch der Protestaufruf von Ministerin Taubert genau auf dieser Linie:
Auch sie hat sich im Rahmen des politischen Meinungskampfs „gegen geschichtsvergessene rechtsradikale und fremdenfeindliche Überzeugungen gewandt“ (so
BVerfG ebd., Rn 31) und die Bevölkerung aufgefordert, mit den demokratischen Mitteln des Protests und der Demonstration zu verhindern, dass sich diese Überzeugungen in Zukunft durchsetzen (ähnlich BVerfG ebd., Rn 31). Solche Aufrufe zum
gewaltlosen Protest muss die NPD hinnehmen.
Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass der Antrag unbegründet ist.
Prof. Dr. Bayer
VerfGH 2/14
25
Sondervotum des Mitgliedes des Thüringer Verfassungsgerichtshofes Heßelmann
Ich schließe mich den Ausführungen des Sondervotums von Prof. Dr. Bayer zur Zulässigkeit öffentlicher Äußerungen staatlicher Stellen vollumfänglich an. Darüber hinaus halte ich den Aufruf zur Beteiligung an der Versammlung des Bündnisses „Kirchheimer gegen Rechts“ aus folgenden Gründen für gerechtfertigt.
Der Aufruf ist gemessen an den im Urteil näher dargestellten vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu öffentlichen Äußerungen staatlicher Stellen,
die jedoch keinen Anspruch auf abschließende Betrachtung jeder Fallgestaltung erheben, sondern auf den Einzelfall abstellen (BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 2014
- 2 BvE 4/13 -, juris Rn. 25), von der verfassungsrechtlich legitimierten Aufgabenerfüllung der Antragsgegnerin gedeckt. Zwar mag sich die Rechtfertigung nicht aus den
Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit oder der Informationspflicht ergeben. Die Antragsgegnerin hat jedoch im Rahmen ihrer durch den Regierungsbeschluss vom 15. März
2010 und das Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit konkretisierten Befugnisse den ihr aus Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie Art. 3 Abs. 1 S. 1 ThürVerf
(teilweise inhaltsgleich mit Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG) obliegenden Schutzauftrag wahrgenommen. Die genannten Grundrechte gewähren nicht nur ein Abwehrrecht, sondern erlegen der staatlichen Gewalt Schutzpflichten hinsichtlich der
hierdurch geschützten Rechtsgüter von Leib und Leben sowie der Menschenwürde
auf (zu der Funktion der Grundrechte: grundlegend BVerfG, Urteil vom 25. Februar
1975 - 1 BvF 1/74, u.a. -, juris; BVerwG, Urteil vom 23. Mai 1989 - 7 C 2/87 -, juris
Rn. 52; bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 15. August 1989 - 1BvR 881/89 -,
juris). Auch wenn dieser Schutzauftrag im Allgemeinen keinen unmittelbaren Eingriffstitel gegen Dritte (vgl. Nachweise bei Dreier, Kommentar zum Grundgesetz,
3. Auflage, 2013, Vorb. Rn. 101 ff) bereithält, so dient er doch zur Begründung einer
verfassungsrechtlichen Legitimierung der Aufgabe der Regierung. Dies ist m. E. vergleichbar mit anderen - nicht ausdrücklich normierten - Befugnissen, wie z.B. der Informationspflicht, dem Recht zur Öffentlichkeitsarbeit oder der Integrations- und Repräsentationsaufgabe des Staatsoberhauptes, die nach der oben genannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Eingrenzung der Rechte einer Partei
aus Art. 21 Abs. 1 GG herangezogen wurden.
VerfGH 2/14
26
Die Rechtsgüter Leib, Leben und Menschenwürde wurden in der Vergangenheit
durch die Verbreitung rassistischen und xenophoben Gedankenguts vielfältig tangiert
(vgl. Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses vom 16. Juli 2014, LT-Drucks.
5/580; Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/176554/rechtsextremismus). Jedenfalls überschreitet die Antragsgegnerin die
Grenzen ihrer Einschätzungsprärogative nicht durch die Annahme, dass rassistisch
motivierte Rechtsgutsverletzungen durch Verbreitung rassistischen Gedankenguts
(mit)-verursacht werden. Genauso verhält es sich mit der Einschätzung, dass die Antragstellerin öffentlich rassistische und fremdenfeindliche Bestrebungen verfolgt,
denn diese hat hiergegen im Verfahren selbst keine Einwände erhoben. Dies lässt
sich auch durch Äußerungen der Partei, z.B. auf der Homepage der Bundes-NPD
belegen. Insoweit wird auf die Ausführungen des Urteils Bezug genommen.
Die Art der Wahrnehmung darf allerdings nicht in unverhältnismäßiger oder sachfremder Weise die Chancengleichheit einer Partei beeinträchtigen. Dies ist vorliegend auch nicht geschehen.
Es ist verfassungsrechtlich nichts dagegen einzuwenden, den Schutzauftrag des
Staates nicht nur durch strafrechtliche oder präventiv-polizeiliche Interventionen,
sondern auch im Wege der allgemeinen Prävention (durch Aufklärung, pädagogische
Arbeit und Appelle etc.) im Vorfeld konkreter Gefahren wahrzunehmen. Zu bedenken
ist ferner, dass der Präventionsgedanke zur Bekämpfung rassistischer Umtriebe
ausdrücklich in EU-rechtlichen Vorschriften Erwähnung findet, z.B. in Art. 19 Abs. 1
und 2 sowie Art. 67 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der europäischen
Union -AEUV-, (vgl. zur unterstützenden Heranziehung menschenrechtlicher Vorschriften als Interpretationshilfe nach Art. 1 Abs. 2 ThürVerf: Baldus, in: Linck u. a.,
Verfassung des Freistaates Thüringen, 2013, Art. 1 Rn. 17 und 35).
Interventionen, die über bloße negative Werturteile hinausgehen und Dritte zu einem
Eintreten gegen rassistische Umtriebe auffordern, dienen dem Zweck des Präventionsauftrages. Dieser Zweck wird durch die Anregung zu Zivilcourage und zu bürgerschaftlichem Engagement gefördert. Die Mitwirkung der Bevölkerung soll fremdenfeindliche Übergriffe ächten und damit verhindern.
VerfGH 2/14
27
Auch ist das eingesetzte Mittel nicht grundsätzlich unzulässig. Es handelte sich weder um eine verbotene Versammlung, noch hatte der Aufruf eine Blockadeteilnahme
oder eine sonstige Behinderung des Parteitages zum Gegenstand. Diese war nach
den Erfahrungen hinsichtlich der in Kirchheim durchgeführten Veranstaltungen auch
nicht zu erwarten, anders möglicherweise, wenn mehrere tausend Teilnehmer angekündigt sind. Versammlungen sowie der Aufruf hierzu stellen Formen der Kommunikation dar, derer sich auch staatliche Stellen bedienen dürfen, auch wenn ihre Vertreter selbst nicht Grundrechtsträger sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 2005
- 1 BvR 961/05 -, juris Rn. 24). Die Antragsgegnerin unterlag zudem keiner erhöhten
Neutralitätspflicht in hoheitlicher Funktion, z.B. als Versammlungsbehörde.
Es ist ferner nicht erkennbar, dass der Eingriff im Verhältnis zum verfolgten Zweck
unverhältnismäßig schwer wiegt. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht in
der Entscheidung vom 10. Juni 2014 ausgeführt, die Aufforderung des Bundespräsidenten an Jugendliche im Rahmen einer öffentlichen Rede, sich am politischen Meinungskampf zu beteiligen (auch in Form von Versammlungen), enthalte lediglich einen Hinweis auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit (BVerfG, Beschluss vom
10. Juni 2014, a. a. O., Rn. 32). Dies lässt den Schluss zu, dass das Beeinträchtigungspotential einer solchen Aufforderung dasjenige negativer Werturteile nicht wesentlich übersteigt.
Entgegen der Auffassung der Mehrheit ist der beanstandete Aufruf der Ministerin
nicht etwa deshalb unzulässig, weil es sich vorliegend um einen Nominierungsparteitag handelt und in Wahlkampfzeiten erhöhte Anforderungen an die Neutralitätspflicht
der Regierung aus Art. 21 Abs. 1 GG zu stellen sind. Zum einen ist eine mögliche
Beeinträchtigung der Funktion des Parteitages weder von der Antragstellerin vorgetragen noch bei lebensnaher Betrachtung sonst ersichtlich. Zum zweiten war der zeitliche Abstand zur Landtagswahl mit sechs Monaten zudem eher groß (vgl. Nachweise bei Mandelartz zur allgemeinen Auffassung, dass eine gesteigerte Neutralitätspflicht im Hinblick auf die Beeinflussung des Wahlvorgangs regelmäßig erst in einer
zeitlichen Nähe von drei bis fünf Monaten wirksam wird, in: Die Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit, LKRZ 2010, 371).
VerfGH 2/14
28
Schließlich bleibt zu betonen, dass sich der Versammlungsaufruf zwar gegen den
NPD-Parteitag und die NPD unmittelbar wendet, doch gerade die Partei nicht um
ihrer selbst willen treffen will (vgl. zu diesem Kriterium ausdrücklich: BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 2014, a. a. O., Rn. 26 und 28), sondern nach seinem Wortlaut
(Zeigen Sie Rassismus und Intoleranz die rote Karte) und nach dem Kontext erkennbar der Bekämpfung rassistischen und xenophoben Gedankengutes dient. Er ordnet
sich in den Zusammenhang vergleichbarer Veranstaltungen ein, an denen die Antragsgegnerin teilgenommen hat. Hierzu zählen die Protestveranstaltung am 5. Juli
2012 gegen das Konzert „Rock für Deutschland“ in Gera, die Gedenkveranstaltung
zur Reichspogromnacht am 9. November 2012 in Greiz und die Auslobung des Demokratiepreises im Jahr 2013.
Der Antrag ist daher nach meiner Auffassung unbegründet.
Heßelmann
VerfGH 2/14
29
Herunterladen