Sucht und Suizid - Suizidprophylaxe online

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Suizidprophylaxe 34 (2007), Heft 3
Sucht und Suizid
Bericht über einem Workshop der AG
Suichterkrankungen des NASPRO bei dem
Tübinger Suchttherapietagen 2006
Barbara Schneider1, Ernst Pallenbach, Tilman Wetterling, Marianne
Wedler
Zusa mme n fass ung :
Bei Suchterkrankungen ist das Suizidrisiko stark erhöht. Etwa 7%
aller Alkoholkranken versterben durch Suizid. Angesichts der hohen
Rate Suchtkranker in Deutschland mit beispielsweise 1,7 Millionen
Alkoholabhängigen ist Suizidprävention bei Suchtkranken ein
wichtiges Thema. Aus diesem Grunde veranstaltete die AG
Suchterkrankungen des Nationalen Suizidpräventionsprogramms
Deutschland bei den Tübinger Suchttherapietagen 2006 einen
Workshop. Solche Workshops dienen der Fort- und Weiterbildung
unserer Berufskollegen und somit letztlich der Suizidprävention.
Schlüsselwörter: Suizidprävention, Suchterkrankungen
Bei Störungen im Zusammenhang mit dem Konsum verschiedener
psychotroper Substanzen ist das Suizidrisiko gegenüber der
Allgemeinbevölkerung
in
Verlaufsuntersuchungen
und
kontrollierten psychologischen Autopsiestudien erhöht (11, 13).
Zwischen 19% und 63% aller Suizidopfer leiden an Störungen durch
den Konsum psychotroper Substanzen (siehe 19).
Bei Störungen durch Konsum anderer psychotroper Substanzen als
Alkohol, beispielsweise durch Opiate oder bei Polytoxikomanie
findet sich ein bis zu 44-fach erhöhtes Suizidrisiko gegenüber der
Allgemeinbevölkerung (11, 13, 22). Harris und Barraclough (11,
Metaanalyse) fanden bei Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit
(DSM-III-R) ein fast 6-fach erhöhtes Suizidrisiko gegenüber der
Allgemeinbevölkerung. Mit Ausnahme einer chinesischen
Untersuchung wurden alkoholbedingte psychische Störungen
wiederholt als Risikofaktoren für Suizid identifiziert (siehe 19).
Folgende Faktoren waren bei Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit
mit einem erhöhten Suizidrisiko assoziiert (z. B. 5): gegenwärtig
schweres Trinken, affektive Störungen, insbesondere in höherem
Lebensalter, Nikotinkonsum von mehr als 20 Zigaretten pro Tag,
Suiziddrohung, Arbeitslosigkeit, Alleinleben, geringe soziale
Unterstützung,
zwischenmenschliche
Ereignisse,
Partnerschaftsprobleme und -trennungen, geringe Schulbildung und
männliches Geschlecht.
Addiction and suicide - a report on a workshop organized by the
task force „substance use disorders" of the National Suicide
Prevention Programme for Germany on the "Tübingen
addiction therapy days 2006"?
Semmary
Suicide risk is highly increased in substance use disorders. About 7
% of all patients with alcohol use disorders commit suicide. Due to
their high number - e. g. about 1.7 Million alcoholics in Germany suicide prevention in addicts is an important topic. Therefore, the
members of the task force "substance use disorders" of the National
Suicide Prevention Programme for Germany organized and
participated in a workshop on the "Tübinger Suchttherapietage" (a
conference of addiction therapy) 2006. Such workshops are
important for further training of professionals working in the health
care system and in the end for suicide prevention.
Key words: suicide prevention, substance use disorders
Bei den Tübinger Suchttherapietagen 2006 wurde von der
Arbeitsgruppe
„Suchterkrankungen"
des
Nationalen
Suizidpräventionsprogramms Deutschland ein Workshop über Sucht
und Suizid bestritten. Die Entwicklung der
Suizidziffern in Deutschland, die Grundsätze und die Struktur des
Nationalen Suizidpräventionsprogramms Deutschland wurden
erläutert.
Störungen in Zusammenfassung mit Substanzkonsum sind die
zweithäufigste
psychische
Erkrankung
bei
Suizidopfern.
Insbesondere Alkoholabhängigkeit und Alkoholintoxikation sind
bedeutende Risikofaktoren für Suizid (19). Die Behandlung von
Suchterkrankungen
ist
eine
wichtige
Maßnahme
zur
Suizidprävention: Die Behandlung von Suchterkrankungen würde
die Suizidraten um ca. 7% weltweit senken (siehe 1).
Im Folgenden werden die Inhalte des Workshops kurz dargestellt.
Zur Epidemiologie von Suchterkrankungen und Suizid
Suchterkrankungen in Deutschland sind häufig: 4,3 Millionen
Menschen sind nikotinabhängig, 1,7 Millionen alkoholabhängig und
1,9 Millionen Menschen von psychotropen Medikamenten abhängig
(16). Weitaus seltener sind Abhängigkeiten von illegalen Substanzen
(16).
1
Zentrum der Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. K. Maurer), Johann Wolf
gang Goethe-Universität, Frankfurt/Main
1
Suizidprophylaxe 34 (2007), Heft 3
Die Bedeutung von Arzneimitteln mit psychotroper Wirkung
für Suizidalität
Arzneimittel mit psychotroper Wirkung, die häufig Patienten
verordnet werden, sind Opioide und insbesondere
Zusammenhang mit dem Konsum psychotroper Substanzen (15).
Benzodiazepine. In Deutschland wurden im Jahre 2003 insgesamt
Cheng et al. (2) konnten nicht nachweisen, dass das Vorhandensein
35 Millionen Packungen Schlaf- und B eruhi gungsmitte 1 verkauft.
von einer Persönlichkeitsstörung das Suizidrisiko bei
Unter den Arzneimittelabhängigen befinden sich etwa 1,2 Millionen
Substanzabhängigkeit erhöht. Schneider et al. (20) bestätigten, dass
Benzodiazepinabhängige. Jüngere Arzneimittelabhängige sind
sich bei Suchterkrankungen das Suizidrisiko bei Vorliegen einer
häufig polytoxikoman. Arzneimittelabhängigkeit ist häufig
affektiven Störung, aber auch bei geringer Bildung weiter erhöhte.
versteckter und weniger auffällig als Abhängigkeit von illegalen
Unabhängig von Achse I- und Achse II-Störungen wurde
Drogen
oder
Alkohol.
Etwa
Zweidrittel
der
Nikotinkonsum als ein Risikofaktor für Suizid bei Männern
Medikamentenabhängigen sind Frauen, vorwiegend im mittleren bis
identifiziert (21).
höheren Lebensalter. Auch in Altersheimen spielt ArzneiDriessen et al. (8) stellten fest, dass Alkoholabhängige bei
mittelabhängigkeit eine nicht unbedeutende Rolle.
Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika alleine oder zusammen mit
Alkohol sind mit einem 16- bis 20-fach erhöhtem Suizidrisiko
assoziiert (11).
Alkoholintoxikation und akute Suizidalität
Der Zusammenhang zwischen Alkoholismus und suizidalem
Verhalten ist unklar. Alkoholkonsum kann durch verschiedene
Mechanismen suizidales Verhalten erhöhen (14): Verringerung der
psychischen Belastbarkeit, Erhöhung der Aggressivität, Förderung
des Übergangs von Suizidgedanken in Suizidhandlungen,
Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten. Dies fuhrt zur
Verhinderung der Entwicklung alternativer Bewältigungsstrategien
(gedankliche Einengung, 14).
Über Suizidversuche bei Alkoholkranken ist nur wenig publiziert
worden. Jedoch muss davon ausgegangen werden, dass etwa 10 bis
73% aller Suizidversuche unter Alkoholeinfluss geschehen (3). Aus
diesem Grund wurde im Vivantes Klinikum Hellersdorf mit 252
000 Einwohnern im Pflichtversorgungsgebiet 277 konsekutive
stationäre Aufnahmen mit suizidalem Verhalten untersucht. Unter
den 228 suizidalen Patienten, bei denen die Alkoholkonzentration
bei Aufnahme dokumentiert war, befanden sich 135 Männer (70%
davon bei Aufnahme alkoholisiert) und 92 Frauen (36% davon bei
Aufnahme alkoholisiert). Etwa 2/3 der aufgenommenen Patienten
mit suizidalem Verhalten hatte eine Suchtproblematik, ganz
überwiegend ein Alkoholproblem. Suizidales Verhalten trat
vermehrt bei einem Alkoholisierungsgrad von deutlich über 1
Promille auf, wobei es sich insbesondere um Suizidandrohungen
handelte.
Suizidgefährdung
bei
Persönlichkeitsstörungen
Komorbidität,
insbesondere
Bis 80% aller Alkoholabhängigen leiden gleichzeitig unter einer
Persönlichkeitsstörung (6, 17); jedoch geben Autoren anderer
Studien nur Raten um 30% an (8, 10, 18).
In Studien mit der Methode der psychologischen Autopsie leiden
bis zu 89% aller Suizidopfer mit einer
Alkoholabhängigkeit gleichzeitig unter einer anderen Achse
I-Störung (9). Kontrollierte Studien zeigen, dass unter allen
Diagnosekombinationen die Komorbidität von Depression und
Substanzabhängigkeit mit dem höchsten Suizidrisiko assoziiert war
(2). Conner et al. (4) fanden, dass bei Komorbidität von
Alkoholabhängigkeit und Depression das Suizidrisiko mit
steigendem Lebensalter zunimmt (20-Jährige: OR = 4,5; 50-Jährige:
OR = 83,4).
In der umfangreichen finnischen Studie litten 14% aller Suizidopfer
gleichzeitig
unter
Alkoholabhängigkeit
und
einer
Persönlichkeitsstörung (12). 61% der Suizidopfer mit
Persönlichkeitsstörungen hatten in derselben Studie eine Störung im
Vorliegen einer Komorbidität mit einer anderen Achse I-Störung
ein
7-faches
Risiko,
bei
Komorbidität
mit
einer
Persönlichkeitsstörung ein 2-faches, bei Vorliegen einer weiteren
Achse I und einer Persönlichkeitsstörung ein 15-faches Risiko für
einen Suizidversuch (in der Anamnese) hatten.
Interpersonelle Merkmale von Alkoholikern mit anamnestischem
Suizidversuch im Vergleich zu Alkoholikern ohne Suizidversuch in
der Anamnese wurden von Dittrich et al. (7) untersucht: Die
Autoren fanden, dass 68% der Alkoholiker ohne Suizidversuch dem
sicheren Bindungstyp zugeordnet werden konnten, während sich
nur 38% der Alkoholiker mit Suizidversuch als sicher
bindungsfähig erwiesen. Alkoholiker mit Suizidversuch in der
Anamnese berichteten über deutlich mehr interpersonelle Probleme
und schätzten das Ausmaß an praktischer, emotionaler
Unterstützung und ihre sozialer Integration deutlich geringer ein als
dies Kontrollpersonen taten (7).
Wegen der häufigen Komorbidität von suizidalen Suchtkranken
sind störungsspezifische Behandlungen erforderlich. Für die Gruppe
chronisch suizidaler Suchtkranker sind spezielle niedrigschwellige
Versorgungsangebote sinnvoll, insbesondere bei Obdach-losigkeit,
Borderline oder dissozialen Persönlichkeits-störungen, die häufig
durch das gegenwärtige Therapienetz fallen.
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Korrespondenzadresse:
Priv. Doz. Dr. Barbara Schneider
Zentrum
der
Psychiatrie,
Klinik
fur
Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie Johann Wolfgang
Goethe-Universität Heinrich-Hoffmann-Str. 10 60528
Frankfurt/Main
E-mail: [email protected]
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