Prof. Dr. Bernhard Nauck Gütekriterien von Gesetzen

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Prof. Dr. Bernhard Nauck
Vorlesung
Erklärende Soziologie
3. Vorlesung
Die Modellierung sozialer Prozesse
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Gütekriterien von Gesetzen
• Allgemeinheit (ist um so höher, je geringer
der die Extension der „Wenn“-Komponente,
und je größer die Extension der „Dann“Komponente)
• Präzisionsgrad (ist die Genauigkeit der
Verknüpfung zwischen den beiden
Komponenten)
• Explizitheit
• Wahrheitsähnlichkeit (ist um so höher, je
größer die Menge der gescheiterten
Falsifikationen)
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Aus einem nicht ganz unbedeutenden Text...
• Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.
• Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd
gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich
und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.
• Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von
Klassenkämpfen.
• Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener,
Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen
in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen,
bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit
einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete
oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
• In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine
vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände,
eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen.
• Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im
Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen,
Leibeigene, und dazu noch in fast jeder dieser Klassen wieder
besondere Abstufungen.
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Analyse der Sätze
•
•
•
•
A Analogie
B Beschreibung
C Erklärung (mittlerer Reichweite)
D Beschreibung (mit impliziter
Klassifikation)
• E analytischer Satz
• F Klassifikation
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• Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.
(Analogie)
• Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd
gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich
und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.
(Beschreibung)
• Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von
Klassenkämpfen. (Erklärung – mittlerer Reichweite, nicht sonderlich
klar)
• Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener,
Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen
in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen,
bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit
einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete
oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
(Beschreibung – mit impliziter Klassifikation)
• In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine
vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände,
eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen.
(analytischer Satz)
• Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im
Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen,
Leibeigene, und dazu noch in fast jeder dieser Klassen wieder
besondere Abstufungen. (Klassifikation)
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Einige Beispiel-“Propositionen“
• Je größer das Produkt aus Profit und
Wahrscheinlichkeit, diesen Profit auch
tatsächlich zu erzielen, den die Menschen
aus einer Verbindung mit anderen erwarten,
desto mehr fühlen sie sich zu diesen
anderen hingezogen.
• Je mehr soziales Handeln in der
Alltagsroutine verwurzelt ist, desto mehr
läuft es nach einer stabilen und geregelten
Ordnung ab.
• Menschliches Handeln orientiert sich an der
Bedeutung von Objekten.
(alle aus: Richard Münch: Soziologische Theorie. Band 2:
Handlungstheorie, Frankfurt: Campus 2002, S. 65, 224, 279)
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Beispiel für eine Kombination von analytischen
und theoretischen Sätzen
Die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen
• Menschliche Akteure maximieren (mindestens) zwei
Dinge:
- Physisches Wohlbefinden
… ist das Ausmaß, in dem ein Akteur in der Lage ist, sein
(physisches) Überleben zu sichern und zu verbessern. Es
besteht aus Komfort und Stimulation.
- Soziale Anerkennung
… ist das Ausmaß, in dem ein Akteur Anerkennung durch
seinen sozialen Kontext erhält. Es besteht aus Status,
emotionale Zuneigung und Verhaltensbestätigung.
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Zwei theoretische Ableitungen und zwei
Zusatzannahmen
Je größer die erwartete soziale Anerkennung durch die
jeweilige Handlungsalternative, desto wahrscheinlicher
wird sie gewählt.
Je größer das erwartete physische Wohlbefinden durch die
jeweilige Handlungsalternative, desto wahrscheinlicher
wird sie gewählt.
Je größer die Effizienz eines Produktionsfaktors bei der
Befridigung der Grundbedürfnisse im jeweiligen Kontext,
desto wahrscheinlicher wird er gewählt.
Je dauerhafter die Effizienz eines Produktionsfaktors im
jeweiligen Kontext, desto wahrscheinlicher ist seine
intergenerationale Transmission und seine
Institutionalisierung als kulturelle Routinelösung.
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Eines der Esser‘schen Beispiele…
• Die Entwicklung der Scheidungsraten in
Deutschland
Soziologisches Rätsel: Warum steigen die
Scheidungsraten an? Warum nimmt die
Geschwindigkeit zu?
Das Explanandum: Scheidungsraten in
Deutschland im 20. Jahrhundert
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Scheidungen je 10.000 Einwohner in Deutschland
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Ansätze zur Lösung des Rätsels
• Benennen von Bedingungen, unter denen sich Akteure
scheiden lassen
- Schwellenwert von Konflikten, von Unzufriedenheit (push)
- Alternativen zur Ehe (neuer Partner, Single) (pull)
Erklärungsproblem: Welche Bedingungen für das Auftreten
dieser Faktoren haben sich in der Zeit systematisch
verändert?
Mögliche Antworten:
- Wertewandel? (wie genau vollzieht sich der?)
- Urbanisierung (wie genau wirkt sie auf
Scheidungswahrscheinlichkeit?)
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- Scheidungsspirale (wie genau wirkt sie?)
- Spezialisierungsfolgen von Partnerschaftsbeziehungen?
Ein rudimentäres Erklärungsmodell
• Je höher der Urbanisierungsgrad einer Gesellschaft,
desto geringer ist die soziale Kontrolle privater
Lebensführung und desto höher sind die Alternativen auf
dem Partnerschaftsmarkt zur bestehenden Beziehung.
• Je geringer die soziale Kontrolle und/oder je höher die
Alternativen, desto höher ist die
Scheidungswahrscheinlichkeit.
• Randbedingung: In Deutschland hat der Grad der
Urbanisierung im 20. Jahrhundert zugenommen.
also:
• In Deutschland steigen die Scheidungsziffern.
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Soziologische Explananda (I): Soziale Gebilde
-
soziale Kategorien (Akteure mit soz. bedeutsamen gemeinsamen
Merkmalen)
Aggregate (unverbundene Akteure an einem Ort zur gleichen Zeit)
Märkte (System von mehreren Anbietern und mehreren Nachfragern
nach einem Tauschgut)
Kollektive Akteure (unverbundene Akteure mit gleichgerichtetem
Handeln)
Soziale Beziehungen (dauerhafte Beziehung zwischen zwei oder
mehreren Akteuren)
Einfache Sozialsysteme (zeitlich und örtlich begrenzte Begegnungen
von Akteuren)
Gruppen (informelle Mitgliedschaft von Akteuren, die sich alle
untereinander kennen)
Organisationen (Gruppen mit formeller Mitgliedschaft und Verfassung)
Korporative Akteure („vertreten“ Organisationen)
Gesellschaften
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Soziologische Explananda (II): Soziale Prozesse
• Entstehung, Reproduktion und Wandel von sozialen Gebilden
z.B. Warum gibt es Gewerkschaften? Wie reproduziert sich das
Wissenschaftssystem? Warum gibt es einen Funktionswandel der
Familie?
• Soziale Regelmäßigkeiten temporaler Art
z.B.: Warum sind die Scheidungsraten gestiegen?
• Singuläre Ereignisse
z.B. Warum gab es in den USA niemals Sozialismus oder eine
Sozialdemokratie? Warum ist die Anzahl der Ausländer in
Deutschland nach dem Zuzugsstopp sprunghaft angestiegen?
Warum sind die Scheidungsraten nach der politischen Vereinigung
dramatisch gesunken?
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Frage-Pause
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Das Grundmodell der soziologischen Erklärung
Soziale
Situation
kollektives
Explanandum
(d)
(c)
(a)
Handlung
Akteur
(b)
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1. Schritt: Die Logik der Situation (a)
• Rekonstruktion der Situation, denen Akteure ausgesetzt sind
• Verbindung der Makro-Ebene der jeweiligen speziellen
sozialen Situation mit der Mikro-Ebene der Akteure
• Welche Handlungsbedingungen gibt es?
• Welche Alternativen haben die Akteure?
• Wie sind Bedingungen und Alternativen mit den Erwartungen
und Bewertungen der Akteure verknüpft?
Diese Verknüpfungen werden durch (typisierende)
Brückenhypothesen beschrieben. Brückenhypothesen
beschreiben die Konstruktionen erster Ordnung der Akteure,
ihre subjektiven Vorstellungen von der Handlungssituation.
(Brückenhypothesen sind Konstruktionen zweiter Ordnung).
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2. Schritt: Logik der Selektion (b)
• Erklärung des individuellen Handelns durch
allgemeine soziologische Gesetze darüber, wie
Akteure eine der Alternativen unter den
gegebenen Bedingungen selegieren.
• Mikro-Mikro-Verbindung von Akteuren und
sozialem Handeln
• Handlungstheorie erklärt die Verbindung von
Erwartungen, Bewertungen mit den
verfügbaren Alternativen.
• eine Handlungstheorie ist die sog. WertErwartungs-Theorie, eine (durchaus) andere ist
Rational-Choice
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3. Schritt: Logik der Aggregation (c)
• Mikro-Makro-Verbindung zurück zur Ebene der
kollektiven Phänomene
• Transformation der Effekte individuellen Handelns
zu dem jeweiligen kollektiven Explanandum
• Aggregierende Verknüpfungen geschehen über
Transformationsregeln
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Max Weber noch einmal…
Situation
Akteur
„subjektiver Sinn“
deutendes Verstehen
Soziales Handeln
„Ablauf“
externe Effekte
„Wirkungen“
ursächliches Erklären
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Das Grundmodell der soziologischen Erklärung…
… behauptet, dass jeder kollektive Zusammenhang
immer nur der indirekte Effekt des individuellen
Situationshandelns der Akteure ist.
… erfordert eine Tiefenerklärung (daher: ColemanWanne!) unter Rückgriff auf die Mikro-Ebene
individuellen Handelns, ohne die jede soziologische
Erklärung methodologisch unvollständig wäre.
… ist eine nur etwas andere Darstellung des Modells
des verstehenden Erklärens nach Max Weber
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Das Grundmodell soziologischer Erklärung…
… ist weder neu noch revolutionär, jedoch definiert es
die Mindestanforderungen an eine vollständige
Erklärung hinreichend
Da viele „Erklärungen“ in soziologischen Texten
implizit oder unvollständig sind, ist es zugleich ein
wichtiges Instrument der Rekonstruktion von
Erklärungen und der Integration soziologischen
Wissens (oder auch: des Nachweises von
Unvollständigkeit, Tautologien, logischen
Widersprüchen)
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Die Tiefenerklärung des Zusammenhangs von protestantischer Ethik und
dem Geist des Kapitalismus nach David McClelland
Protestantische
Ethik
(d)
Geist des
Kapitalismus
(c)
(a)
Familiale
Sozialisation
(b)
Leistungsmotivation
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Begleitlektüre: H. Esser: Soziologie,
Kap. 6 - 7
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