Theorien der Kriminalität

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Theorien der Kriminalität
Soziologische Kriminalitätstheorien
Anomietheorie der Kriminalität
 Durkheim, Emile 1858 – 1917
– Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt 1977
– Der Selbstmord. Neuwied, Berlin 1973
 Merton, Robert 1910 – 2003
– Sozialstruktur und Anomie. In: Sack, F., König, R. (Hrsg.):
Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main, S. 283–313
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Soziale Integration, Anomie und Kriminalität
 Gesellschaftliche Integration: gemeinsames Kollektivbewusstsein ("Conscience
collective“, Normen und Werte) begrenzt die Bedürfnisse der einzelnen Menschen
 Kollektivbewusstsein (Normen) vermittelt Orientierungssicherheit und ein Gefühl
der Solidarität
 Ein Anstieg des Suizides oder steigende Kriminalitätsraten kennzeichnen einen
Verlust an Solidarität/Integration sowie einen anomischen Zustand (Unsicherheit
in der Orientierung, fehlende Normen)
 Der Begriff der Anomie verweist nicht auf Kriminalität an sich, sondern auf einen
anomischen Kriminalitätsanstieg, der Schwächung des Kollektivbewusstseins und
soziale Desintegration anzeigt
 Kriminalität ist nicht nur ein normaler Bestandteil der sozialen Struktur, sondern
funktional, da die Strafe das beeinträchtigte Kollektivbewusstsein bestärkt
 Das Kollektivbewusstsein darf nicht zu stark sein; eine Anpassung des
moralischen Bewusstseins an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse, und damit
sozialer Wandel, muss möglich bleiben
– Hierzu gehört die prinzipielle Möglichkeit kriminellen Verhaltens
– Das Verbrechen kann deshalb im Einzelfall zum Schrittmacher sozialen Wandels
werden
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Mertons Anomietheorie
 Gesellschaften zerfallen in eine kulturelle und in eine
soziale Struktur
– die kulturelle Struktur gibt an, welche Ziele in einer
Gesellschaft erreicht werden sollten und wie dies
geschehen sollte (Normen und Werte)
– die soziale Struktur entscheidet über die Möglichkeiten, die
Ziele tatsächlich zu erreichen: objektive Bedingungen des
Handelns
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Anomietheorie
 Sind kulturelle und soziale Strukturen nicht integriert,
dann entsteht
– für den einzelnen Menschen eine anomische Situation oder
Stress
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Reaktion auf Anomie
 Innovation: Die kulturellen Ziele werden beibehalten, die
normativ zugelassenen Wege werden ersetzt durch
illegale oder illegitime Mittel (Abweichung, Kriminalität).
 Ritualismus: Die Werte und Ziele werden aufgegeben,
die zugelassenen institutionalisierten Mittel werden zum
Eigenwert.
 Rückzug aus der Gesellschaft. Sowohl Werte und Ziele
als auch die Mittel werden abgelehnt. Die Anpassung
besteht darin, sich aus der Gesellschaft auszugrenzen.
 Rebellion: Sowohl Werte als auch Normen werden
abgelehnt, gleichzeitig wird versucht, die abgelehnten
Werte und Normen durch ein neues (gerechteres)
System von Werten und Normen zu ersetzen.
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Cloward/Ohlin: Anomie und Zugangschancen
 Erweiterung der Anomietheorie kriminellen Verhaltens durch
Cloward/Ohlin
 Ergänzt wird die Anomietheorie um die Zugangschancen zu
illegitimen Mitteln
 Bei Merton enthält die Sozialstruktur implizit eine Annahme zur
Verteilung der Zugangschancen zu legitimen Mitteln,
– der Unterschicht sind legitime Mittel weitgehend verbaut
 Cloward/Ohlin stellen die Frage nach der Verteilung der
illegitimen Möglichkeiten
– Rückgriff auf Theorie der differentiellen Assoziation
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Theorie der differentiellen Assoziation
 Theorie der differentiellen Assoziation (Edwin Sutherland):
– kriminelles Verhalten wird gelernt, wie jedes andere Verhalten
auch
– Annahmen:
– Kriminelles Verhalten wird in intimen Bezugsgruppen gelernt.
– Das, was gelernt wird, besteht nicht nur darin, wie man Diebstähle
oder andere kriminelle Verhaltensweisen begeht, sondern auch in
bestimmten Wertemustern, Einstellungen (die für bestimmte
professionelle Kriminalitätsbegehung bezeichnend sind).
– Der Zugang zu derartigen Gruppen ist unterschiedlich verteilt.
– Insoweit hängt die Begehung von Kriminalität davon ab, ob und
inwieweit man zu bestimmten Gruppen und damit Lernmöglichkeiten
Zugang bekommt.
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Theorieintegration
 Integration der Theorie der differentiellen Assoziation und
der Anomietheorie
 Typisierung verschiedener subkultureller
Anpassungsmuster:
– Die kriminelle Subkultur (die entsprechende Lern- und
Kontaktmöglichkeiten voraussetzt)
– Die Konfliktsubkultur (Banden)
– Gewalt als Mittel zu Statuserwerb und -erhalt
– Die Rückzugssubkultur (Scheitern in jeder Hinsicht, d. h.
sowohl im legalen als auch im illegalen Bereich)
– Drogensubkultur
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Hauptgesichtspunkte der Anomietheorien
– Strukturell erzeugter „Stress“ führt zu Kriminalität (oder
anderen abweichenden „stresslösenden“
Verhaltensweisen)
– Politische Reaktion: Herstellung von Chancengleichheit,
Beseitigung von Armut (Politik der sechziger und siebziger
Jahre; war on poverty)
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Subkulturtheorien
Cohens Kultur der Gang
 Kulturtheorie männlicher Bandenkriminalität
– Ausgangspunkt: Mertons Analyse von kultureller und
sozialer Struktur
– männliche Jugendliche der Ghettos können bereits in der
Schule die von der Mittelschichtsgesellschaft gesetzten
Erwartungen nicht oder nur schwer erfüllen.
– Hieraus folgt individuelle Frustration.
– Zur Lösung der Frustration werden im Wege einer
kollektiven Reaktionsbildung die Mittelschichtsnormen und
-werte entwertet und durch eine andere Wertekultur ersetzt.
– Dies ist die Wertekultur der Bande.
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Millers Kulturkonflikttheorie
 Die Subkultur der Bande ist das Produkt eines größeren subkulturellen
Kontextes.
 Miller versteht die Jugendbande als Teil einer traditionsreichen
Subkultur (der Unterschicht, der Arbeiterklasse).
 Die Verhaltensweisen, die als deviant oder kriminell bezeichnet werden
können, entstehen dabei aber nicht wie bei Merton oder Cohen aus der
Frustration oder der Anomie, sondern aus der allgemeinen Motivation,
mit subkulturellen Werten und Normen konform zu bleiben
 Die Kriminalität der Bande ist deshalb ein Nebenprodukt subkultureller
Normen, die mit denen der dominanten Kultur im Widerspruch stehen.
 Abweichung und Kriminalität sind damit kein Produkt einer
zielgerichteten Reaktion auf Mittelschichtsnormen, sondern der
Versuch, nach den in der Subkultur geltenden Normen zu leben.
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Subkulturelle Werte
– Schwierigkeiten mit dem Gesetz haben,
– Härte und Männlichkeit (gegenüber Weichheit und Feigheit),
– Gerissenheit (gegenüber Beschränktheit, Gelderwerb durch
harte Arbeit),
– Risiko und Aufregung, Autonomie (gegenüber Unterordnung
und Autorität).
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Labeling Approach
 Anomietheorien verweisen auf sozial bedingten Stress auf den
einzelnen Menschen, der somit zu Abweichung und kriminellem
Verhalten getrieben wird und keine eigenständigen Beiträge leistet.
 Im Labeling Approach (oder Etikettierungsansatz) wird die einzelne
Person ebenfalls in den Mittelpunkt gerückt.
 Hiermit wird dann auf Interaktionen (zwischen Personen oder zwischen
Personen und Institutionen) verwiesen.
 Der labeling approach ist mit den Arbeiten von Howard Becker
verbunden (wie wird man Jazzmusiker; wie wird man
Haschischraucher).
– Becker, H. S.: Außenseiter. Frankfurt 1981
 Der labeling approach wurde in den 1960er Jahren auch in Deutschland
bzw. in Westeuropa rezipiert.
 Der labeling approach ist methodisch mit qualitativen Verfahren
verbunden (symbolischer Interaktionismus)
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Labeling Approach
 Ausgangspunkt:
– Es gibt kein abweichendes Verhalten „an sich“
– Erst die Normsetzung schafft die Voraussetzung für die
Möglichkeit des von ihnen abweichenden Verhaltens
– Soziale Gruppen schaffen abweichendes Verhalten, indem
sie Normen aufstellen
– Moralunternehmer
– Die Unterscheidung von normal und abweichend ist
Gegenstand von sozialen Konflikten
– Soziale Normen "verursachen" deshalb Abweichung bzw.
Kriminalität
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Labeling approach
 Die Bewertung einer Handlung als konform oder
abweichend erfordert:
– Ein Bewertungsschema (Norm)
– Ein Bewertungsvorgang: d. h. ein Interaktionsprozess,
in dessen Verlauf Menschen anderen Menschen die
Eigenschaft abweichend bzw. kriminell zuschreiben
– Diese (anderen) können dann das Etikett für sich selbst
übernehmen
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Zuschreibungsprozess
 1. Schritt: Verhalten (oder Abweichung)
 2. Schritt: Interaktionsprozesse: Handelt es sich um eine
Abweichung? Ist die betreffende Person ein Dieb?
 3. Schritt: Zuschreibung in Form von
– Selbstzuschreibung, Identitätsveränderung
– Fremdzuschreibung, Rekonstruktion der Geschichte des
Individuums
» erleichtert durch Aktenführung (Jugendämter, Strafakten)
– Reduzierung anderer Handlungs- und Entwicklungsoptionen
» Auch bedingt durch Stigmatisierung (durch strafrechtliche
Verurteilung oder Gefängnisaufenthalt)
– Entstehung einer „Laufbahn“, Karriere
– Allerdings ist dies kein zwingender Mechanismus
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