10 Atome - Das verständliche Universum

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Kann man in nur 8 Minuten einen Überblick über das gesamte Universum geben?
Man kann, und obwohl dieser Kurzfilm im Jahr 1977 gedreht wurde, ist er auch
heute noch eine Meisterleistung. Er heißt ›Zehn Hoch‹ und beschreibt eine Reise
über 40 Zehnerpotenzen. Als ich ihn damals zum ersten Mal gesehen habe, blieb mir
wahrscheinlich einfach nur der Mund offen stehen.
Er beginnt auf einer Picknickdecke, auf der zwei Menschen in der Sonne dösen.
Von dort geht es in einer ununterbrochenen Kamerafahrt hinauf und hinaus in den
Weltraum, das Sonnensystem, die Milchstraße bis hin zu den Galaxienhaufen und
wieder zurück. Dann zoomt die Kamera wieder ohne Pause ins Kleine hinein. Über
die Hautoberfläche geht die Reise in eine Zelle, die dort befindliche Erbsubstanz,
weiter über ein Atom, seinen Kern bis hin zu den sogenannten Quarks. In einem
Zeitalter, als Google Earth noch nicht einmal ansatzweise abzusehen war, war dieser
Film einfach bahnbrechend. Heute können Sie sich ihn jederzeit im Internet
ansehen.
Nicht im Traum hätte ich mir damals vorstellen können, dass ich diesen Film
einmal mit meinen eigenen Worten nachzeichnen werde. Aber genau darum geht es
in den folgenden Kapiteln. Wir arbeiten uns zunächst bis in die kleinsten Dimensionen vor und dann geht in umgekehrter Richtung bis zum Rand unseres Universums. Wir überspringen dabei die gesamte Biologie und Chemie, mit all ihren Lebewesen, Zellen und Molekülen. Dies vereinfacht unsere Reise und lässt uns Raum für
die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten. Wir steigen daher gleich bei den Atomen
ein.
Hinweise auf unteilbare Materiebestandteile häuften sich über den gesamten Verlauf des 19. Jahrhunderts. In der Chemie stellte man fest, dass sich alle Verbindungen aus weniger als 100 Stoffen aufbauen, die sich nicht weiter zerlegen lassen.
Diese Elemente sind bei den chemischen Reaktionen immer nur in ganzzahligen
Verhältnissen beteiligt. Wasser beispielsweise besteht aus einem Teil Sauerstoff und
zwei Teilen Wasserstoff. Mithilfe ihrer Eigenschaften und Gewichte wurde in den
1860er Jahren das Periodensystem der Elemente aufgestellt. Ein weiterer Beleg für
die Existenz von Atomen war der Erfolg der Wärmelehre mit ihrem Modell von
zusammenstoßenden Kugeln. Doch erst in den Anfängen des 20. Jahrhunderts
wurde die Existenz von Atomen allgemein anerkannt.
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Dies lag unter anderem an ihrer Größe oder besser gesagt an ihrer Winzigkeit.
Atome sind im Vergleich zur Wellenlänge des sichtbaren Lichts noch einmal 1000
bis 10 000-mal kleiner. Und da man auch mit dem besten Lichtmikroskop nichts
erkennen kann, was kleiner ist als die verwendete Wellenlänge, blieben sie lange
Zeit unsichtbar. Atome entziehen sich daher mit ihren Ausdehnungen zwischen 60
und 450×10-12 Metern einem direkten optischen Nachweis. Trotzdem habe ich mich
schon als Kind gefragt, wie es unter einem ganz starken Mikroskop eigentlich aussehen müsste, wenn ich mit meiner Hand einen Tisch berühre. Wie stoßen dabei die
Atome meiner Haut mit denen des Holzes aufeinander?
Wie gigantisch die Anzahl der Atome in normalen Gegenständen ist, haben wir
schon im Kapitel 7 über Wärme gesehen. Ich möchte trotzdem versuchen, dies einigermaßen anschaulich zu machen. Ein Liter Wasser beinhaltet ziemlich genau
1026 Atome, und ein Mensch besteht aus etwa 7×1027 Atomen. Doch wie viel ist dies,
beispielsweise im Vergleich zu der Anzahl von Sandkörnern in der Sahara? Nehmen
wir dazu an, alle Sandkörner hätten die gleiche Größe von etwa 0,4 Millimetern. Wir
sind großzügig und geben der Sahara eine Länge von 5000 km und eine Breite von
2000 km. Wir vereinfachen die Wüste nochmals und lassen sie überall aus Sand mit
einer Dicke von 10 m bestehen. Doch damit kommen wir insgesamt auf gerade einmal 1,5×1024 Sandkörner. Erst wenn wir die komplette Landoberfläche der Erde mit
mehr als 40 m Sand bedecken, erhalten wir dieselbe Anzahl von Sandkörnern wie
Atome in einem Liter Wasser. Dabei türmt sich der Sand überall so hoch wie ein
13-stöckiges Haus.
Einen weiteren und sehr griffigen Größenvergleich für Atome möchte ich hier
nochmals wiederholen: Ein Atom ist im Verhältnis zu einem Apfel etwa so klein wie
ein Apfel im Verhältnis zur gesamten Erde.
Mit Atomen kam ich das erste Mal durch eine Sendereihe im Fernsehen in Berührung. Während der Grundschule schaute ich zusammen mit meiner Mutter regelmäßig die Unterrichtssendungen des Telekollegs an. Am meisten angetan hatten es
mir der Englischkurs mit seinen lustigen Sketchen und die Physikstunde mit Victor
Pichlmayr. Mit seiner warmen fränkischen Aussprache erklärte er den Zuschauern
ruhig und besonnen den Aufbau der Welt. Obwohl er mir dabei manchmal vorkam
wie ein netter Märchenonkel, wusste er doch stets genau, von was er sprach und
wie er es am verständlichsten vermitteln musste. Neben den Boxkämpfen mit
Muhammad Ali war dies für mich eine weitere Sternstunde des Fernsehens.
Eines Abends ging es um den Aufbau von Atomen. Verschiedene Modelle
wurden vorgestellt, unter anderem auch das Atommodell von Niels Bohr
(1885–1962) aus dem Jahr 1913. Laut Bohr besteht ein Atom aus einem sehr kleinen,
aber kompakten Kern, um den eines oder mehrere Elektronen kreisen. Der Atomkern ist positiv und die Elektronen negativ geladen. Für jede weitere positive elekt© 2011 Dr. Andreas Mücklich, Nachdruck nicht gestattet
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rische Ladung des Kerns muss sich auch ein zusätzliches Elektron im Atom einfinden, damit das Atom nach außen hin wieder elektrisch neutral ist. Ein Atom wird
also von elektrischen Anziehungskräften zusammengehalten.
Nach diesen Vorbemerkungen sollte es eigentlich nicht weiter schwer sein, ein
Atom zu beschreiben. Die elektromagnetischen Kräfte zwischen dem schweren Kern
und den leichten Elektronen sind bekannt und mit den newtonschen Bewegungsgleichungen sollten sich die Bahnen der Elektronen wie bei einem Planetensystem
berechnen lassen. Aber mit diesem einfachen Ansatz erlitten die Physiker gnadenlos
Schiffbruch.
Das Problem besteht darin, dass eine kreisende elektrische Ladung normalerweise ständig Energie verliert, da sie dauernd ihre Richtung ändert, also beschleunigt wird. Bei einem Elektron in einem Atom würde dies so schnell gehen, dass es
innerhalb von Sekundenbruchteilen in den Kern stürzen müsste. Da aber nichts dergleichen passiert, hat Bohr den Elektronen kurzerhand verboten, Energie abzustrahlen. Er behauptete schlicht und ergreifend, dass ein Elektron sich in einem
Atom nur auf erlaubten Bahnen bewegen darf und nicht irgendwie beliebig. Auf
diesen Bahnen kann es dann verlustfrei bis in alle Ewigkeit kreisen, aber ein Aufenthalt dazwischen ist verboten.
Wenn Sie sich jetzt etwas veräppelt fühlen, dann spiegelt das den Wissensstand
der damaligen Physik ganz gut wieder. Aber Bohr und die anderen Physiker waren
weder naiv noch blind. Ihr Gespür sagte ihnen, dass in einem Atom andere Gesetze
gelten mussten, aber dass sie diese noch nicht vollständig erkannt hatten. Jedenfalls
waren die klassischen Theorien der Mechanik und der Elektrizitätslehre nicht dazu
geeignet, ein Atom zu erklären. Ein Atom ist kein kleines Planetensystem aus Kern
und Elektronen.
Und so klammerten sich die Physiker an alles, was die Experimente hergaben
und konzentrierten sich zunächst auf das einfachste Atom, das Wasserstoffatom.
Sein Atomkern besteht aus einem einzigen Kernbaustein, einem positiv geladenen
Proton mit einer Masse von lediglich 6,7×10-27 kg. Demzufolge besitzt Wasserstoff
nur ein negativ geladenes Elektron, das noch einmal 1836-mal leichter ist als ein
Proton. Ein Elektron im Vergleich zu einem Proton ist also ein richtiges Fliegengewicht. Es ist etwa so leicht wie ein Gummibärchen gegenüber einer Bowlingkugel.
Beide Teilchen tragen exakt die gleich große, aber entgegengesetzte elektrische
Ladung. Alle Ladungen, die jemals direkt gemessen wurden, sind ein ganzzahliges
Vielfaches dieser Elementarladung. Elektrische Ladungen kommen demnach nicht
mit einem beliebigen Wert vor, sondern besitzen eine kleinste unteilbare Einheit.
Dies zeigt uns ein zweites Mal, dass in der Welt der Atome manche Größen nur
bestimmte Werte annehmen können. Unsere vertraute Welt mit ihren kontinuierlichen Messwerten ist bei genauer Betrachtung zumindest teilweise grobkörnig und
abgezählt.
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16 Das Atommodell von Niels Bohr mit den Energieniveaus
von Wasserstoff. Bei jedem Übergang ist ein Photon der
entsprechenden Wellenlänge beteiligt.
Die Fähigkeit von Atomen, Licht auszusenden oder aufzunehmen, unterliegt ebenfalls solchen Beschränkungen. Atome können dies nur mit Licht von ganz bestimmten Wellenlängen beziehungsweise Energien leisten. Dabei hat jede Atomsorte eine
andere Auswahl von Energien zur Verfügung. Es ist ungefähr so, als hätte jede
Atomsorte ihre eigene Lichttonleiter. Bestrahlt man ein Atom hingegen mit unpassendem Licht, so ist dies gleichbedeutend damit, dass ein verstimmter Ton gespielt
wird. Er klingt nicht nur für unsere Ohren unharmonisch, auch ein Atom weiß
damit nichts anzufangen und ignoriert dieses Licht einfach. Nur ein passender Ton
oder ein Photon mit einer auf das Atom abgestimmten Energie erzielt auch eine
Wirkung.
Erhitzt man Atome beispielsweise mit einer Gasflamme, so strahlen sie nur Licht
mit wenigen eindeutigen Wellenlängen ab. Zerlegt man dieses Licht mit einem
Prisma, so findet man deshalb nur feine Linien und kein durchgängiges Spektrum
wie bei einem Regenbogen. Und genau die Anzahl und Farbe dieser Linien galt es
mit einem Atommodell zu erklären.
Bohr konnte das Linienspektrum von Wasserstoff mit seinem Modell besser
erklären als seine Vorgänger. Er behauptete, dass der Energieunterschied zwischen
den erlaubten Elektronenbahnen genau der Energie eines Photons entspricht. Ein
Atom strahlt also immer nur ein einzelnes Photon der passenden Energie ab, oder es
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absorbiert genau eines mit dieser Energie. Dabei wechselt dann auch nur jeweils ein
einziges Elektron seine Bahn.
Auch für die Bahnenergien hatte Bohr eine Formel parat. Den Zusammenhang
stellt eine Größe her, die Max Planck (1858–1947) im Jahr 1900 eher zähneknirschend entdeckt hatte. Dieses sogenannte plancksche Wirkungsquantum war
ursprünglich nur ein Rechentrick, um die Energieverteilung der Wärmestrahlung
eines Körpers zu erklären. Wenn man ein Stück Eisen erwärmt, so wird es zunächst
rot glühend, dann bekommt es eine gelbe Farbe, und schließlich leuchtet es weißbläulich. An der Erklärung dieses Farbverlaufs und der zunehmenden Helligkeit
hatten sich die Physiker eine ganze Zeit lang vergeblich die Zähne ausgebissen.
Planck führte eine Hilfsgröße h ein, von der er hoffte, dass er sie am Ende seiner
Rechnung wieder los sein würde, doch heute ist sie die vielleicht wichtigste Naturkonstante der gesamten Physik.
Planck nahm an, dass die Strahlung eines idealisierten, sogenannten schwarzen
Körpers nur portionsweise abgegeben werden kann. Ein solcher Körper ist dadurch
ausgezeichnet, dass er jegliche auftreffende Strahlung verschluckt, obwohl er selbst
welche aussendet. Ein glühendes Eisenstück und auch die Sonne sind daher verblüffenderweise für Physiker schwarze Körper, und damit einfach zu behandeln. Für
Planck jedoch war anfangs die Portionierung von Licht regelrecht ein rotes Tuch. Er
hatte zwar erstmals eine korrekte Formel für die Strahlung eines schwarzen Körpers hergeleitet, konnte aber mit seiner Hilfsgröße nichts anfangen.
Das plancksche Wirkungsquantum h beschreibt den Zusammenhang zwischen
einer Energie und einer Schwingungsfrequenz, aber Planck konnte sich nichts Vernünftiges darunter vorstellen. Erst Einstein mit seiner Lichtquantenhypothese und
Bohr mit seinem Atommodell lieferten die Begründung für diese Größe. Ein Photon
mit der Schwingungsfrequenz f hat nach Einstein genau die Energie
E = h ∙ f.
Und diese Photonen mit ihren verschiedenen Energien waren laut Bohr für die
Linien im Wasserstoffspektrum verantwortlich.
Das bohrsche Atommodell mit seinen stufenartigen Bahnen und den springenden
Elektronen konnte aber nur auf Dauer Bestand haben, wenn man auch eine Ursache
für dieses merkwürdige Verhalten fand. Auch Herr Pichlmayr vom Telekolleg stellte
als Nächstes ein wesentlich ausgefeilteres Atommodell vor.
Es basiert auf einer neuen Theorie, die fast zeitgleich Mitte der 1920er Jahre von
Werner Heisenberg (1901–1976) und Erwin Schrödinger (1887–1961) entworfen
wurde. Sie beschreibt ein Atom mit einer eigenartigen Mechanik aus Wellen
anstelle von Elektronen. Auch die Lichtquanten fanden in dieser neuen Theorie
ihren Platz. Man nannte sie daher Quantenmechanik.
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