Leukämie bei Kindern: Heilen ist mehr als Überleben

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Quelle: Markus Winter
von Ulrich Kraft
Während sich die
Forscher in den
vergangenen
Jahrzehnten auf die
Verbesserung der
Akuttherapie konzentrierten, geraten
mittlerweile die
möglichen Folgen
einer Krebserkrankung immer stärker
ins Blickfeld.
Eigentlich fing es ganz harmlos an. Ein
bisschen müde und schlapp wirkte der kleine
Luis, etwas blass um die Nase war er – doch
all dies hätte sich mit der erst kürzlich überstandenen Erkältung noch begründen lassen.
Als der Dreijährige dann aber zudem über
Schmerzen in den Beinen klagte, wollten die
besorgten Eltern den Besuch beim Kinderarzt
nicht länger aufschieben. Das dort bestimmte
Differenzialblutbild weckte bereits einen schlimmen Verdacht, der sich in der Knochenmarkspunktion in der Klinik bestätigen sollte: akute
lymphatische Leukämie (ALL) lautete die
Diagnose.
Leider kein Einzelfall. Akute Leukämien
stellen mit weitem Abstand den Löwenanteil
kindlicher Krebsleiden. 600 Kinder erkranken
in Deutschland jedes Jahr an einer ALL, das
Gros zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr. Die akute myeloische Leukämie (AML),
die meist im Schulalter auftritt, ist zwar deutlich seltener, wird aber dennoch bundesweit
bei etwa 100 Kindern jährlich diagnostiziert.
Besonders tückisch sind Leukämien, weil sie
zunächst keine Schmerzen verursachen und
deshalb oft lange unentdeckt bleiben. Erst im
fortgeschrittenen Stadium, wenn die massive
Produktion unreifer Vorläuferzellen die
normale Blutbildung im Knochenmark fast
verdrängt hat, treten die ersten Symptome
auf – wie bei Luis typischerweise Müdigkeit,
Spielunlust, Schmerzen in den Beinen, Blässe
und blaue Flecken als Zeichen der Anämie und
der Verminderung der Thrombozytenzahl.
Außerdem neigen die Kinder, da sie kaum
mehr gesunde Immunzellen besitzen, zu Infektionen. Kurze Zeit später können Haut- und
Schleimhautblutungen, Fieber, Bauch- und Kopfschmerzen, Sehstörungen, Erbrechen, Atemnot
sowie eine Vergrößerung von Lymphknoten,
Milz und Leber hinzukommen.
Bis Anfang der 1970er Jahre waren die
akuten Leukämien praktisch ein Todesurteil –
im Durchschnitt verstarben die kleinen Patienten
etwas mehr als ein Jahr nach Diagnosestellung
(Abb. 1). Das hat sich glücklicherweise in der
Zwischenzeit massiv geändert. Wie die Daten
des Kinderkrebsregisters in Mainz ergeben,
können heute 75 bis 80 Prozent der an akuter
lymphatischer Leukämie leidenden Kinder erfolgreich therapiert werden. Bei der myeloischen
Form stehen die Überlebenschancen mit über
50 Prozent allerdings deutlich schlechter.
Auch Luis gilt heute, zwei Jahre, nachdem
sein Kinderarzt die Krebserkrankung feststellte,
als geheilt. Dass er jetzt so munter mit seinen
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Kurzer Therapieabriss
Ziel des ersten Teils der Behandlung –
der Induktionstherapie – ist es, den Anteil der
Leukämiezellen im Knochenmark von fast 100
Prozent auf weniger als 5 Prozent zu reduzieren. Dazu werden die Kinder vier bis fünf
Wochen mit einer Kombination aus Steroiden
und mehreren Zytostatika behandelt. Nach der
Remission kann die normale Blutbildung dann
wieder einsetzen. Die daran anschließende
Konsolidierungstherapie mit einer alternativen
Medikamentenkombination – meist Methothrexat und 6-Mercaptopurin – soll die verbliebenen
Krebszellen weiter reduzieren. Um auch die
ruhenden Leukämiezellen zu vernichten und
Rezidive zu verhindern, erhalten Kinder mit
ALL zudem eine zytostatische Dauertherapie
über einen Zeitraum von maximal zwei Jahren.
Da die gängigen Zytostatika die Blut-HirnSchranke nicht überwinden, muss das zentrale
Nervensystem gesondert behandelt werden.
In diesem Punkt hat die Strahlentherapie des
Schädels die Überlebenschancen der Patienten
deutlich verbessert. Vor deren Einführung entwickelten 40-60 Prozent der an ALL erkrankten
Kinder vom ZNS ausgehend ein Rezidiv. Mittlerweile ist bei der vorbeugenden Behandlung des
zentralen Nervensystems die intrathekale Gabe
von Zytostatika therapeutischer Standard. Die
nebenwirkungsreiche Bestrahlung bleibt heute
auf Hochrisikopatienten beschränkt.
Geheilt – und doch nicht gesund
So erfreulich die Fortschritte bei der
Behandlung kindlicher Leukämien sind – die
Medaille besitzt leider auch eine Kehrseite. Denn
oft hinterlassen die aggressiven Therapien bleibende Spuren im Körper der kleinen Patienten,
die über viele Jahre eine weitere medizinische
Betreuung erforderlich machen. Geheilt heißt
also nicht zwangsläufig gesund. „Etwa 10 Prozent aller Leukämiekinder leiden nach einer
erfolgreichen Behandlung unter irreversiblen
Langzeitfolgen“, erklärt Dr. Gabriele Calaminus
von der Universitätskinderklinik in Düsseldorf.
„Bei den bestrahlten High-Risk-Patienten liegt
die Rate sogar bei 30 Prozent.“ Da sich der
kindliche Organismus noch in der Entwicklung
befindet, verursachen Zytostatika und Bestrahlung mehr und schwerere Folgeschäden als bei
Erwachsenen. Calaminus, Leiterin des vom
Kompetenznetz pädiatrische Onkologie und
Hämatologie (KPOH) initiierten Projekts
„Gesundheitsbezogene Lebensqualität und Spätfolgen bei krebskranken Kindern und Jugendlichen“, sieht in der Nachsorge der Therapienebenwirkungen eine der großen Herausforderungen für die Zukunft. „Im Jahre 2010 wird
einer von 250 Erwachsenen Überlebender einer
kindlichen Krebserkrankung sein. Pädiater und
Ärzte anderer Disziplinen werden also immer
öfter mit solchen Patienten konfrontiert.“
Leukämie
Kameraden im Kindergarten herumtobt,
verdankt der Kleine zum einen den enormen
Fortschritten bei der Chemo- und Strahlentherapie, zum anderen den standardisierten
Behandlungsplänen der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, die
regelmäßig nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen optimiert werden.
Mögliche Therapiefolgen erkennen
Auch Prof. Jörn D. Beck von der Kinderklinik der Universität in Erlangen hält es für eine
der wichtigsten Aufgaben der pädiatrischen
Onkologie, die möglichen Spätfolgen einer
erfolgreichen antineoplastischen Therapie im
Rahmen der Nachsorge zu erkennen und zu
beseitigen. Zu diesem Zweck wurde in Deutschland Anfang der 1990er Jahre das „Late-EffectSurveillance-System“ (LESS) ins Leben gerufen. Das von Professor Beck geleitete LESSStudienzentrum in Erlangen sammelt und
analysiert Daten über die unerwünschten Folgeerscheinungen bei Überlebenden von Krebserkrankungen im Kindesalter, und zwar bezogen auf die Krebsart und die angewandten
therapeutischen Maßnahmen. Bei Leukämien
drohen in erster Linie folgende Komplikationen:
• Kardiomyopathien
Anthrazykline gehören zu den effektivsten
Medikamenten der pädiatrischen Onkologie,
können aber durch oxidative Mechanismen das
Myokard schädigen. Die Folge ist eine dilatative
Komplikationen
einer Krebstherapie
zu erkennen und zu
behandeln, wird in
der Zukunft eine der
großen Herausforderungen sein,
meint Dr. Calaminus.
Abb. 1:
Überlebensraten nach
einer Krebserkrankung im Kindes- und
Jugendalter
Quelle: KPOH
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Kardiomyopathie, die meist progredient verläuft.
• Nierenfunktionsstörungen
Leukämie
Platinderivate und Oxazaphosphorine wie
Ifosphamid sind nephrotoxisch und können sowohl glomeruläre als auch tubuläre Nierenfunktionsstörungen nach sich ziehen – bis hin zur
terminalen Niereninsuffizienz.
• Schädigungen des zentralen
Nervensystems
Quelle: privat
Insbesondere jene Kinder, die eine kraniale
Strahlentherapie erhalten haben, leiden unter
vielschichtigen kognitiven Problemen, von
Konzentrationsschwierigkeiten über motorische
Defizite bis hin zu Teilleistungsstörungen – etwa
in der sprachlichen Entwicklung – und psychischer
Instabilität. Auch die Steroiddauertherapie wird
mit neurologischen Schäden in Zusammenhang
gebracht. Gabriele Calaminus betont, dass gerade
diese kognitiven Defizite die Lebensqualität der
Kinder oft sehr stark beeinträchtigen, sei es in
der Schule oder später während der Berufsausbildung.
• Störungen des endokrinen Systems
Dr. Gabriele Calaminus,
Leiterin des Projekts
„Gesundheitsbezogene
Lebensqualität und
Spätfolgen bei krebskranken Kindern und
Jugendlichen“.
Besonderes Augenmerk gilt hier der Schilddrüse
und den Gonaden. Infertilität ist unter ehemaligen
Krebskindern eine mögliche Folgeerscheinung der
Chemotherapie. Bestrahlungen des Schädels führen
zu einer Dysregulation der Adeno- und/oder
Neurohypophyse, die sich vor allem in einem
Ausfall der Produktion von Wachstumshormon
manifestieren kann. Auch wenn viele Kinder den
Rückstand nach der Therapie rasch aufholen, muss
die körperliche Entwicklung genau beobachtet
werden.
• Infektanfälligkeit
Niedergelassene
Pädiater könnten
eine wichtige Rolle
in der Langzeitnachsorge
übernehmen.
„Was der niedergelassene Arzt vor
allem braucht,
sind gut verfügbare Informationen.“
G. Calaminus
Auch zwei Jahre nach dem Ende der Leukämietherapie lassen sich im Immunsystem noch gewisse
Defekte nachweisen. Die Kinder sind also anfälliger für Infektionen als gesunde Gleichaltrige.
Deshalb spielen prophylaktische Maßnahmen
wie Impfungen und eine frühzeitige Antibiotikatherapie in der pädiatrischen Krebsnachsorge
eine wichtige Rolle.
Forschungsbrennpunkt Nachsorge
Im Zusammenhang mit den Sekundärmalignomen weist Gabriele Calaminus auf eines der
großen Probleme der Kinderonkologie hin:
die fehlenden Langzeitstudien. „Das zentrale
Kinderkrebsregister gibt es erst seit gut 20 Jahren, die längsten von uns untersuchten Verläufe
gehen über 15 Jahre“, erklärt sie. „Wir wissen
also gar nicht, was über diesen Zeitraum hinaus
alles noch passieren kann.“ Zweitmalignome
beispielsweise scheinen sich, wie amerikanische
Studien zeigen, oft erst nach 20 bis 25 Jahren zu
entwickeln. Also zu einem Zeitpunkt, an dem
viele ehemalige Krebskinder schon fast vergessen
haben, dass sie einmal krank waren. „Wir müssen sowohl die Patienten als auch die behandelnden Ärzte für diese möglichen Folgeerkrankungen sensibilisieren“, fordert Calaminus.
„Und dazu brauchen wir mehr Informationen
über den langfristigen Verlauf.“
Solche Informationen über die Spätfolgen
liefern Projekte wie LESS. Kliniken und niedergelassene Ärzte melden eventuelle Folgeerkrankungen der von ihnen in der Nachsorge
betreuten Patienten an das LESS-Studienzentrum, das die Daten dann zentral dokumentiert
und auswertet. Dabei muss jeder Behandlungsschritt detailliert erfasst werden:
Welches Medikament wurde in welcher
Konzentration über welchen Zeitraum eingesetzt? Welche Therapie erzielte die beste
Wirkung? Welche gesundheitlichen Probleme
traten im weiteren Verlauf auf und wann
manifestierten sie sich bevorzugt?
Neue Herausforderung in der Praxis
Bei den Leukämien obliegt vor allem die
Beantwortung der letzten Frage zum großen
Teil dem niedergelassenen Pädiater. Schließlich
sind die betroffenen Kinder zum Zeitpunkt der
Erkrankung in aller Regel so jung, dass sie auch
nach ihrer Heilung noch jahrelang in der Obhut
• Zweitmalignome
Viele Chemotherapeutika und ganz besonders die des Kinderarztes bleiben. Gabriele Calaminus
Hochdosisstrahlentherapie besitzen selbst kanze- möchte die pädiatrischen Praxen deshalb gerne
enger in die Langzeitnachsorge mit einbeziehen.
rogene Wirkung und bergen deshalb die Gefahr,
ein Sekundärmalignom auszulösen. Diese Tumore Auch in den ambulanten Abschnitten der Krebskönnen sich bereits im ersten Jahr nach der Primär- therapie, also zum Beispiel der Dauertherapiephase, können sie einen Teil der Verlaufskonbehandlung entwickeln – unter Umständen aber
trollen übernehmen – so dass kleine Patienten
auch erst nach über 20 Jahren. Nach den Daten
nur noch zu jedem zweiten Termin ins Tumordes Kinderkrebsregisters in Mainz liegt die Inzidenz der Zweitmalignome bei ALL-Patienten in zentrum kommen müssen. „Manche Untersuden ersten zehn Jahren nach Abschluss der Thera- chungen kann der Kinderarzt natürlich nicht
leisten, weil ihm schlicht die diagnostischen
pie bei zwei Prozent.
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Forschungsfeld
Therapieoptimierung
Dass die Krebsforschung ihr Augenmerk
derzeit sehr stark auf die Ermittlung von
Kriterien für das individuelle Spätfolgenrisiko richtet, hat aber noch
einen anderen Grund. Denn neue
Medikamente, die die Leukämietherapie weiter revolutionieren
könnten, sind momentan nicht
in Sicht. Deshalb versuchen
Onkologen, die Behandlung
auf andere Weise zu optimieren.
Zum einen wird die Dosierung
der Chemotherapeutika verfeinert, nach dem Motto: „So viel wie
nötig und so wenig wie möglich“.
Zum anderen erhalten die kleinen
Patienten schon während der Therapie
supportive Medikamente, die mögliche
Nebenwirkungen verhindern oder zumindest
abschwächen sollen. Beispielsweise lassen sich
Kinder mit einem erhöhten Risiko für eine
Kardiomyopathie anhand des echokardiografischen Befundes ermitteln und dementsprechend prophylaktisch behandeln. In die
individuelle Risikostratifizierung und die
daraus resultierende Therapieoptimierung
setzt Gabriele Calaminus große Hoffnungen:
„Die Spätfolgen werden sich dadurch reduzieren – und manche Komplikationen kindlicher
Leukämien sehen wir vielleicht in 20 Jahren gar
nicht mehr.“ Für Kinder wie Luis, deren einst
tödliches Leiden heute geheilt werden kann,
sind das sehr gute Nachrichten.
Leukämie
Möglichkeiten fehlen“, räumt die Onkologin
ein. „Doch vor allem nach dem ersten Behandlungsjahr macht die zweigleisige Nachsorge
Tumorzentrum-Pädiater unter bestimmten
Vorraussetzungen Sinn und wird in ländlichen
Gegenden teilweise schon erfolgreich
praktiziert.“
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die
niedergelassenen Pädiater wissen, mit welchen
Symptomen und Spätfolgen sie zu welchem
Zeitpunkt rechnen sollten und welche Untersuchungen wann notwendig werden, um eventuelle Komplikationen möglichst frühzeitig zu
erkennen. „Was der niedergelassene Arzt vor
allem braucht, sind gut verfügbare Informationen“, betont Calaminus. „Hier müssen wir
noch viel Energie investieren.“ Projekte wie
LESS oder die Studien „Gesundheitsbezogene
Lebensqualität und Spätfolgen bei krebskranken
Kindern und Jugendlichen“ zielen deshalb auch
nicht nur darauf ab, mögliche Folgeerscheinungen einfach zu erfassen. LESS möchte, wie
Projektleiter Jörn Beck betont, den Ärzten einen
Leitfaden mit konkreten Empfehlungen für die
bestmögliche Nachsorge ihrer jungen Patienten
in die Hand geben. Dabei sollen neue wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst rasch in die
therapeutischen Leitlinien einfließen und
umgesetzt werden, so dass eine vertikale
Vernetzung ermöglicht wird. „Um die optimalen
Präventionsstrukturen zu schaffen, müssen die
verschiedenen ärztlichen Disziplinen eng zusammenarbeiten“, fordert Gabriele Calaminus.
Literatur:
• Creutzig, U et al: Krebserkrankungen bei Kindern.
Deutsches Ärzteblatt. 2003 März; 100 (13).
• Creutzig, U et al: Kompetenznetz Pädiatrische
Onkologie und Hämatologie (Editorial). Klin
Pädiatrie. 1999; 211: 187-188.
• Creutzig, U et al: Vertikale Vernetzung in der
Pädiatrischen Onkologie. Onkologe. 2000; 6: 814-818.
• Langer, T et al: Basic methods and the developing
structure of a late effects surveillance system (LESS) in
the long term follow-up of pediatric cancer patients in
Germany. Medical and Pediatric Oncology. 2000; 34:
348-352.
• Calaminus, G et al: Quality of Life in Children with
Cancer. Klin. Pädiatrie. 2000; 212: 211-215.
Abb. unten:
Teilprojekt der
KPOH zur vertikalen Vernetzung
verschiedener
therapeutischer und
wissenschaftlicher
Einrichtungen.
Quelle: Kompetenznetz
pädiatrische Onkologie und
Hämatologie
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© Kompetenznetzprojekt Vertikale Vernetzung
Leukämie
Nachsorgeplan des Kompetenznetzprojektes
Vertikale Vernetzung
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