Biographie, Illusion und Bourdieu

Werbung
Biographie,
Illusion
und Bourdieu
Eine soziologische Betrachtung
der Biographieforschung
munir
für susana
Inhalt
1
Einleitung
2
.
.
.
.
.
.
1
Bourdieu und die Biographieforschung
.
.
.
2
2.1
Die biographische Illusion
.
.
.
.
2
2.2
Bourdieus Verständnis der Soziologie
.
.
.
5
3
Biographieforschung in der Soziologie
.
.
.
7
3.1
Eine Skizzierung des Aufgabenfeldes
.
.
.
7
3.2
Kritische Punkte und Plausibilität Bourdieus
.
.
12
4
Schluss
.
.
.
.
.
.
.
20
Literatur
.
.
.
.
.
.
.
22
.
.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
(Antoine de Saint-Exupéry)
1
Einleitung
Wer bin ich? Wie komme ich überhaupt darauf mir diese Frage zu stellen? Und in
welchem Zusammenhang? Wo finde ich eine Antwort – oder gar mehrere? Kann mir
wissenschaftliche Erkenntnis bei der Suche behilflich sein?
Blicke ich mit LEITNER im Zusammenhang mit diesen Fragen auf die
Biographieforschung,
so
stellt
wissenschaftlich-systematischer
diese
„den
Objektivierung
bislang
umfassendsten
individueller
und
Ansatz
kollektiver
Identitätskonstruktion dar“ (1980: 38). Hier bündeln und verzweigen sich grundlegende
Fragen: des Leibes und des Geistes, des Selbst, des Individuums und der Gesellschaft,
der Natur- und Humanwissenschaften (vgl. umfassend LEITNER 1982, auch BUDE
1986, systemtheoretisch SCHIMANK 1988). Diesem Ansatz widmet sich Pierre
BOURDIEU in seinem 1986 veröffentlichten Aufsatz »Die biographische Illusion«.
Seine Stellungnahme zur Biographieforschung dient mir als Ausgangspunkt für die
folgende Betrachtung:
Im zweiten Kapitel fasse ich BOURDIEUS Anmerkungen zusammen, stelle die
zentralen Argumentationspunkte heraus und schildere zur angemessenen Einordnung
dieser kurz BOURDIEUS Verständnis der Soziologie.
Das
dritte
Kapitel
gibt
einen
Überblick
über
die
Aufgabenfelder
der
Biographieforschung und beleuchtet deren mögliche kritische Punkte. Hier geht es zum
einen um die Frage, ob BOURDIEUS Sicht auf die Biographieforschung als
angemessen gelten kann, sowohl hinsichtlich ihrer Kenntnis als auch ihrer Würdigung,
und zum anderen darum, in wie weit BOURDIEUS Argumentation plausibel erscheint.
Hierbei widme ich mich kurz den Begriffen »Biographie«, »Lebenskonstruktion« und
»Habitus« im Zusammenhang mit dem Begriff der (sozialen) »Identität«.
1
2
Bourdieu und die Biographieforschung
2.1
Die biographische Illusion¹
Direkt im Anschluss an BOURDIEUS Aufsatz erschien in derselben Ausgabe der
Zeitschrift Bios eine knappe Interpretation von LIEBAU unter der Überschrift
»Laufbahn oder Biographie?«. Einleitend heißt es dort zu jenem Aufsatz: „Es ist dies
ein Text, in dem Bourdieus Ansatz und Methode exemplarisch deutlich werden,
zugleich ein Text, der inhaltlich in das Zentrum der aktuellen biographie- und
sozialisationstheoretischen Debatten führt“ (1986: 84). Dieses möchte ich hier kurz und
zusammenfassend verdeutlichen:
»Lebensgeschichte«, als die Rede vom Leben als einer »Geschichte«, steht im Zentrum
von BOURDIEUS Betrachtung. Für ihn bedeutet diese Rede „stillschweigend die
Philosophie der Geschichte im Sinne des Aufeinanderfolgens historischer Ereignisse zu
akzeptieren“. Es geht um Geschichte im Sinne der historischen Erzählung, in der
Theorie der Erzählung, und darum „einige Vorannahmen dieser Theorie freizulegen“:
Dabei blickt er zuerst auf »das Leben«, auf die Tatsache, dass es überhaupt „ein
Ganzes konstituiert, einen kohärenten und orientierten Zusammenhang“. Ein Leben
zwischen Geburt und Tod als Ursprung und Ende im räumlichen wie zeitlichen Sinne,
organisiert als eine chronologisch und logisch geordnete Geschichte, dargestellt in einer
(auto)biographischen Erzählung. Subjekt und Objekt der Biographie finden sich hierbei
vereint in einem gewissen gemeinsamen Interesse: „das Postulat der Sinnhaftigkeit der
berichteten Existenz (und, implizit, der gesamten Existenz) zu akzeptieren“.
Zusammenfassend schreibt er: „Diese Neigung, sich dadurch zum Ideologen seines
eigenen Lebens zu machen, dass man im Dienste einer allgemeinen Intention gewisse
signifikante Ereignisse auswählt und zwischen ihnen eigene Beziehungen stiftet, um
ihnen Kohärenz zu geben…, findet die natürliche Komplizenschaft des Biographen, der
alles, angefangen von seinen Dispositionen des professionellen Interpreten, dazu
beiträgt, diese artifizielle Kreation von Sinn zu akzeptieren.“
______
¹
Zitate ohne Quellenangabe in diesem Kapitel aus BOURDIEU (1986).
2
Hier wird bereits BOURDIEUS Ansatz deutlich, so LIEBAU (1986: 84): „Er fragt
immer zunächst nach den Praktiken und den Strukturen, in die sie eingebettet sind, nach
den praktischen Relationen und den Interessen also, die in diesen Relationen zum
Ausdruck kommen: hier dementsprechend nach den Interessen, die die Erzählung und
die darin implizierte Sinn-Konstruktion konstituieren“.
Mit dem folgenden Verweis auf die Literatur, insbesondere auf die Struktur des
modernen Romans, bedeutet für BOURDIEU die Produktion einer »Lebensgeschichte«
möglicherweise „sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen, einer trivialen
Vorstellung von der Existenz, die eine ganze literarische Tradition nicht aufgehört hat
und nicht aufhört zu unterstützen“. Gerade die neue literarische Ausdrucksform
verdeutlicht die in der rhetorischen Konvention enthaltene „Willkür der traditionellen
Repräsentation des romanhaften Diskurses als kohärente und totalisierende Geschichte
und der Existenzphilosophie“. Doch „kann man keinesfalls der Frage nach den sozialen
Mechanismen ausweichen, die die gewöhnliche Erfahrung des Lebens als Einheit und
als Ganzheit begünstigen und bestätigen“. Die Antwort auf diese „alte empiristische
Frage nach der Existenz eines Ich“ sucht BOURDIEU hier innerhalb der Grenzen seiner
Wissenschaft, der Soziologie: „er fragt nicht danach, ob die Rede vom Sinn der
Existenz als solche berechtigt ist…, sondern er fragt nach den sozialen Mechanismen,
aus denen diese Rede sich speist“ (LIEBAU 1986: 85). Er verweist auf den Habitus –
als „das aktive Prinzip der Vereinheitlichung der Praktiken und Repräsentationen“ –
und darauf, dass der Habitus eine „praktische Identität, keine erzählte Identität“ (1986:
85) ist. Es kommt also noch etwas hinzu: die soziale Welt. Sie „verfügt über alle
möglichen Institutionen der Totalisierung und Vereinheitlichung des Ich.“
Dies verdeutlicht BOURDIEU am Beispiel des Eigennamens: „Der Eigenname ist
die sichtbare Bestätigung der Identität seines Trägers durch die Zeit und die sozialen
Räume, die Grundlage der Einheit seiner aufeinander folgenden Äußerungen und der
sozial anerkannten Möglichkeit, seine Äußerungen in den offiziellen Eintragungen
zusammenzufassen“.
Als
»rigider
Bezeichner«
„kann
er
die
Identität
der
Persönlichkeit…, da es sich um eine sozial konstituierte handelt, nur um den Preis einer
massiven Abstraktion bestätigen“. Er bildet den Kern des so genannten bürgerlichen
Standes, er ist das zentrale Objekt aufeinander folgender Zuschreibungen, „an denen
entlang sich die soziale Identität konstruiert“; „unter der Kontrolle und der Garantie des
Staates“ und beruhend auf dem „Postulat der Konstanz des Namens“.
3
BOURDIEU kommt auf seine Ausgangsfrage nach der sozialwissenschaftlichen
Bedeutung erzählter Lebensgeschichten zurück, indem er auf die zu unterstellende
Annäherung zwischen Lebenserzählungen und „dem offiziellen Modell der offiziellen
Selbst-Repräsentation“ hinweist. Auch hier spielen die Gesetze hinein, die die
Beziehung zwischen Habitus und Markt regieren, und „die Lebensgeschichte wird sich
in Form und Inhalt nach der sozialen Qualität des Marktes unterscheiden, auf dem sie
angeboten wird – wobei die Befragungssituation selbst unvermeidlich dazu beiträgt, den
notierten Diskurs zu bestimmen.“ Weiterhin erlaubt alles zu unterstellen, „dass die
Gesetze der offiziellen Biographie dazu neigen werden, sich über die offiziellen
Situationen hinaus durchzusetzen“. BOURDIEU nennt hier die unbewussten
Vorannahmen der Befragung (z.B. das Ziel der Chronologie), die Befragungssituation
selbst (z.B. evtl. „Manipulationen“ durch den Befragenden) und die Vorstellungen der
Untersuchten über die Untersuchungssituation (z.B. eine Kenntnis entsprechender
Situationen). LIEBAU (1986: 87f) stellt auch an dieser Stelle wieder das Grundlegende
in BOURDIEUS Ansatz heraus: „keine abstrakt allgemeine Methodologie, sondern
zunächst eine soziologische Analyse der – in diesem Fall methodisch vermittelten –
Praxis“, und er schildert als Ergebnis das Naheliegen einer massiven Skepsis gegenüber
erzählten Lebensgeschichten als einzigem zentralen Erkenntnismittel. Dieser Blick „von
innen“ erfasst nicht die wirklichen Zusammenhänge und Brüche, sondern führt zu
systematischen Fehleinschätzungen und -urteilen, und dies allein schon in der
Befragungssituation, die nicht als „exterritorial“ angesehen werden kann.
BOURDIEUS kritische Analyse der sozialen Prozesse „bei der Konstruktion des
perfekten sozialen Artefakts, das da »Lebensgeschichte« heißt“, ist kein Selbstzweck,
sondern führt ihn „dazu, den Begriff der Laufbahn (trajectoire) als eine Abfolge von
nacheinander durch denselben Akteur (oder eine bestimmte Gruppe) besetzten
Positionen zu konstruieren, in einem (sozialen) Raum, der sich selbst ständig entwickelt
und der nicht endenden Transformationen unterworfen ist“ (Hervorhebungen im
Original). Es erscheint sinnlos, Ereignisse und Erfahrungen des Lebens ausschließlich
an ein Subjekt binden zu wollen, dessen Konstanz lediglich in seinem Eigennamen
besteht. Denn es wäre so absurd wie der Versuch eine Metro-Strecke ohne das
Streckennetz – als „die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen den verschiedenen
Stationen“ – zu erklären. Um eine Laufbahn zu verstehen, müssen also „die aufeinander
folgenden Zustände des Feldes, in dem sie sich abgespielt hat“, konstruiert werden: „das
Ensemble der objektiven Beziehungen, die den betreffenden Akteur…vereinigt haben
4
mit der Gesamtheit der anderen Akteure, die im selben Feld engagiert sind und
demselben Möglichkeitsraum gegenüberstehen.“
Fazit: BOURDIEUS Anmerkungen zur Biographieforschung betreffen im Kern
1.
die Unterstellung der Konstruktion des Lebens als »Lebensgeschichte« gemäß
einer Theorie der Erzählung,
2.
die soziale Herkunft und Praxis dieser Unterstellung,
3.
ihr Hineinreichen bis in die wissenschaftliche Methodik,
4.
seine Konzeptionen des Habitus als »praktische Identität« sowie der trajectoire,
der sozialen Laufbahn, und
5.
die Unverzichtbarkeit der Konstruktion des die jeweiligen sozialen Akteure
umgebenden Feldes – sei der Akteur das einzelne Subjekt der erzählten
»Lebensgeschichte« oder die Wissenschaft, die Soziologie, die sich dieser
Erzählung widmet.
Aufgabe der Wissenschaft, insbesondere der Soziologie, wäre es also diese Geschichten
nicht einfach nur in ihrer Sprache zu erzählen, sondern diese Erzählungen selbst in den
Blick zu nehmen.
Hiermit ist das grundlegende Verständnis BOURDIEUS von Wissenschaft, von
Soziologie, angesprochen. Dazu kurz und erläuternd der folgenden Abschnitt, gerade
auch im Hinblick auf eine angemessene Einschätzung einiger Kommentare zu
BOURDIEUS Aufsatz, wie: „Illusion über die Biographieforschung“ (NIETHAMMER
1986: 93), „in völliger Unkenntnis der soziologischen Biographieforschung“
(ROSENTHAL 1995: 17) oder „Bourdieus Entlarvung der »biographischen
Illusion«…soll die Biographieforschung nur in eine kulturalistisch renovierte
Klassentheorie zurückführen“ (BUDE 1998: 247, Hervorhebung im Original).
2.2
Bourdieus Verständnis der Soziologie
„Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass man die Logik der Praxis nur mit
Konstruktionen erfassen kann, die sie als solche zerstören, solange man sich nicht fragt,
was Objektivierungsinstrumente wie Stammbäume, synoptische Tabellen, Pläne, Karten
oder…schon die einfache Verschriftung eigentlich sind, oder besser noch, was sie
anrichten“ (BOURDIEU 1987: 26). Wurzelnd in den Erfahrungen seiner ethnologischen
5
Studien in der Kabylei verweist dieser Satz zusammenfassend auf Kern, Ursprung und
Programm der Soziologie im Sinne BOURDIEUS: die Praxis. Sie erscheint im Zentrum
jeglicher gesellschaftlicher Aktivität, von ihr aus hat die Betrachtung der Gesellschaft
ihren Ausgang zu nehmen und an ihr hat sich die Wissenschaft der Gesellschaft, die
Soziologie, zu orientieren – und er verweist auf den vielleicht wichtigsten und
grundlegendsten Punkt: auf die Schwierigkeit Praxis mit wissenschaftlicher Praxis
angemessen zu erfassen, solange diese wissenschaftliche Praxis selbst nicht –
wissenschaftlich – mit berücksichtigt wird. Soziologie ist für ihn reflexive Soziologie,
also immer auch eine »Soziologie der Soziologie« (JANNING 1991: 11): „jede Aussage
dieser Wissenschaft kann und muss zugleich auf das Wissenschaft treibende Subjekt
selber wieder bezogen werden“ (BOURDIEU 1985: 49f).
Von dieser Kritik der sozialwissenschaftlichen Praxis ausgehend entwickelt
BOURDIEU seine Soziologie als eine Theorie der Praxis. Mit seinem so genannten
praxeologischen Ansatz strebt er die Verbindung und zugleich Überwindung der
bisherigen und einander entgegenstehend erscheinenden Erkenntnisweisen in Form der
objektivistischen und der phänomenologischen Methode an (vgl. BOURDIEU 1979:
146ff; zusammenfassend auch JANNING 1991: 13ff). Grundlegend für BOURDIEU
ist, „dass Theorie und empirische Untersuchung nicht getrennt nebeneinander stehen,
sondern eng aufeinander bezogen sind“; »Theorien« als »Erkenntniswerkzeuge«, „als
Instrumente zum Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ müssen sich daran
messen lassen, „was sie für die Analyse dieser Wirklichkeit taugen“; insbesondere
entstehen neue Erkenntnismittel, als analytische Kategorien und theoretische
Konstruktionen, weder „in der Welt des reinen Geistes oder der abstrakten Begriffe“,
noch „ad hoc als Verallgemeinerung von Alltagseinsichten“, sondern „in einem
Forschungszusammenhang, der untrennbar immer theoretisch und empirisch zugleich
ist“ (KRAIS/ GEBAUER 2002: 14f – Hervorhebung im Original; vgl. zur Empirie im
Sinne Aristoteles´, Gallileis und zur wissenschaftlichen Empirie: STRAUB 1989: 199ff;
zur prägenden Erfahrung BOURDIEUS in Algerien: SCHULTHEIS 2007).
Gemäß BOURDIEUS Soziologie-Verständnis erscheinen mir seine Anmerkungen
zur Biographieforschung konsequent – ich gehe später näher darauf ein. Im Folgenden
gebe ich einen kurzen Überblick sowohl über den Stand der Biographieforschung zum
Zeitpunkt des Erscheinens von BOURDIEUS Kommentar, als auch über neuere
Entwicklungen – dies hinsichtlich der Frage nach der Aktualität seiner Stellungnahme.
6
3
Biographieforschung in der Soziologie
3.1
Eine Skizzierung des Aufgabenfeldes
Eine kurze und einführende Übersicht bis hin zur aktuellen Entwicklung der
Biographieforschung geben z.B. FISCHER-ROSENTHAL (1990, 1995b) und FUCHSHEINRITZ (1998). Hier beschränke ich mich zunächst auf grundlegende theoretische
Konzeptionen von KOHLI (1981a):
Ausgangspunkt sind für ihn alltägliche „bestimmte Gelegenheiten, bei denen dem
Individuum seine eigene Lebensgeschichte oder diejenige seiner Interaktionspartner
thematisch werden...Es geht…um die biographischen Verlaufsanalysen, die von den
Gesellschaftsmitgliedern selber zur Lösung ihrer alltäglichen Handlungsprobleme
durchgeführt werden“ (502, Hervorhebung im Original). Wobei er ausdrücklich
erwähnt, dass er nicht der Frage der Parallelität von alltäglichen und wissenschaftlichen
Verfahren nachgeht. Er verweist lediglich auf eine Richtung des Einflusses von
alltäglichen auf wissenschaftliche Konzeptualisierungen und „die Notwendigkeit,
zunächst den Stellenwert und die Struktur biographischer Äußerungen im Alltag zu
klären“ (502).
Biographie „bildet einen der wesentlichen Schnittpunkte von Handlungstheorie und
Strukturtheorie“ und ist damit Teil eines grundsätzlichen Theorieprogramms seit den
Anfängen der Soziologie: der Verbindung von Handlungs- und Strukturebene, der
Mikro- und Makrosoziologie (503). Subjektivität [hier synonym verwendet für
Individualität – M.L.] wird hauptsächlich über Lebensgeschichten in soziostrukturelle
Analysen eingebracht; hierbei soll Subjektivität nicht als Ausgangspunkt soziologischen
Denkens gelten, sondern Aufgabe des Soziologen ist es, „die sozialen Grundlagen für
die Entstehung und (partielle) Verselbständigung von Subjektivität zu untersuchen“;
insbesondere gilt dies für „das Verhältnis von biographischer Selbstreflexion als
konstitutivem
Merkmal
von
Subjektivität…und
als
einzelgesellschaftlicher
Sonderentwicklung“ (503).
Des Weiteren: „was über Biographie eingeholt werden kann, ist Subjektivität in
einem besonderen Sinne“…biographische Selbstthematisierung ist eine „anspruchsvolle
synthetische Leistung, in welcher der »Lebensstoff« auf ein hohes Aggregationsniveau
gebracht wird“ (503f, Hervorhebung im Original). Unter der Konzeption einer
7
„reflexiven“ Subjektivität analysiert KOHLI dieses dann im Rahmen der alltäglichen
Funktionen biographischer Thematisierung und liefert eine vorläufige Kategorisierung.
Als allgemeinste Funktion biographischer Thematisierung erscheint hier »Verstehen«
mit unterschiedlichsten praktischen Zielsetzungen, wie: Fremdverstehen – als
Sinnbereicherung und Handlungsorientierung; Selbstdarstellung – als Erklärung und
Anspruchsbegründung;
Selbstverstehen
–
als
Selbstvergewisserung
und
Handlungsplanung (vgl. 504ff).
Die Struktur biographischer Äußerungen bzw. Texte sowie die soziale Organisation
des Lebenslaufs klammert er hierbei ausdrücklich aus. Darüber hinaus folgt noch ein
Hinweis auf die Dimension der Lebenszeit und ihrer – sowie die der Zeit überhaupt –
Vernachlässigung in der soziologischen Forschung, und eine Vermutung über einen
möglichen Grund: „Biographie ist ohne eine Konzeption des Ichs als (Mit-)Organisator
seiner Lebensprozesse nicht zu fassen, und eine solche Konzeption von Individualität ist
für die Soziologie anstößig“ (504). Statt einer vorrangig strukturalistischen (bzw. in der
Psychologie funktionalistischen) Sicht, ist es jetzt möglich, Individualität und ihr
Verhältnis zu Gesellschaftlichkeit in einer „beidseitig nicht-reduktiven Weise neu zu
konzeptionalisieren“ (504).
In
seiner
anschließenden
Betrachtung
des
soziostrukturellen
Rahmens
biographischer Thematisierung geht er von der Konstanzannahme des Handelns als der
generalisierten Regel der Handlungsprognose mit der höchsten Trefferquote aus,
verweist aber zugleich auf ein Aufweichen des wissenschaftlichen Vertrauens in diese
z.B.
in
der
Entwicklungspsychologie und
der Sozialisationsforschung
(512,
Hervorhebung im Original): „Mit der Konstanzprognose wird…nicht nur eine
theoretische Annahme getroffen, sondern sie ist eine praktische Annahme mit
praktischen Folgen“; sie ist eine „sich selbst erfüllende Prognose“; „Konstanz wird
nicht nur angenommen, sondern damit auch hergestellt.“ Insbesondere ist aus
soziologischer Sicht „gerade entscheidend, die sozialen Mechanismen der Erzeugung
von Konstanz zu analysieren. Dazu gehört neben anderen auch die biographisch
begründete Typisierung“; und diese kann auch „Veränderungen einrechnen“ (513):
„Kontinuität“ als „Sequenz von Zuständen, die nach einer allgemeinen Regel ineinander
übergehen“ und „Konsistenz“ als „Sequenz oder Veränderung, die »sinnhaft« oder
»erklärbar« ist“ (Hervorhebungen im Original).
Im Folgenden stellt KOHLI unter „Biographie als soziale vs. individuelle Leistung“
insbesondere heraus, dass biographische Thematisierung als subjektive Leistung sich in
8
„selbstverständlicher Weise der kulturellen Ressourcen, die dazu zur Verfügung stehen,
nämlich der biographischen Typisierungen“ bedient, und konkretisiert, „wann
biographische Thematisierung notwendig oder zumindest angemessen ist“ (515).
Schließlich
erscheint
bei
KOHLI
„zur
historischen
und
interkulturellen
Variabilität“ als Einsicht zentral: „Erst mit dem Auftreten eines nennenswerten
Ausmaßes von (sozialer und geographischer) Mobilität wird die Identität des einzelnen
unsicher und damit die biographische Thematisierung erforderlich“ (516).
Soweit KOHLI 1981. Unerlässlich für die hier interessierende Fragestellung scheint mir
noch ein Blick auf die von ihm ausgeklammerten, nicht erwähnten oder lediglich
angedeuteten
Aspekte
und
deren
Behandlung
im
Zusammenhang
mit
der
Biographieforschung:
-
zur »Soziologie des Lebenslaufs«: KOHLI (1978),
-
zur »Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten«: FISCHER (1978),
-
zur Frage der Parallelität von alltäglichen und wissenschaftlichen Verfahren,
insbesondere auch hinsichtlich der anderen Richtung möglichen Einflusses, d.h.
der Verwissenschaftlichung der Biographie: z.B. LEITNER (1980, 1982),
-
zur Struktur biographischer Äußerungen bzw. Texte sowie zur sozialen
Organisation des Lebenslaufs und der Identität: z.B. LEITNER (1980,
umfassend 1982), BUDE (zu Text: 1982; zum Begriff »Lebenskonstruktion«:
1984, 1985a, [auch 1998]; zur Erzählung: 1985b), literaturhistorisch
GUMBRECHT (1981), interaktionistisch zur Identitätsentwicklung SOEFFNER
(1981),
-
zum Konzept der »Trajekt/Verlaufskurve«: GLASER & STRAUSS (1968),
SCHÜTZE (1981),
-
zu »Lebensgeschichten« bei der Selbstthematisierung der Soziologie: KOHLI
(1981b),
-
zur Konzeption der (Lebens-)Zeit (und zur Konstanzannahme): z.B. LEITNER
(1982),
-
zur »Biographisierung des Lebenslaufs«: FUCHS (1983),
-
zum »narrativen Interview«: z.B. SCHÜTZE (1984) und
-
zur »Institutionalisierung des Lebenslaufs«: KOHLI (1985).
9
Kurze Zwischenbilanz: nehme ich diese zweifellos unvollständige Zusammenstellung
zur Konzeption KOHLIS hinzu und unterstelle ihr eine gewisse Repräsentativität für
den Stand und den Aufgabenbereich der Biographieforschung zum Zeitpunkt von
BOURDIEUS Kommentar, so könnte ich auf den ersten Blick den Eindruck einer
Nicht-Würdigung der umfassenden Konzeption und Ansätze der Biographieforschung
gewinnen. Mangelnde Kenntnis? Ich vermute anderes. Denn: verdeutliche ich mir
erneut BOURDIEUS Soziologie-Verständnis, so fällt dieser Blick differenzierter aus –
und er richtet sich in seinem grundlegenden Sinne insbesondere auf die Arbeiten
LEITNERS (1980, 1982): auch sie machen „ein Problem sichtbar, das in der
Perspektive des biographischen Paradigmas gar nicht erst auftaucht, weil dieses
Paradigma darauf eine Antwort selber schon ist: die Konstitution und Bedeutung der
Textstruktur oder Textform von Identifikationen. Die Frage der Formbestimmtheit von
Identifikationen wird in der vorliegenden Literatur gänzlich ignoriert“ (1982: 19) – ich
komme im Weiteren genauer darauf zurück.
Zum Stand nach 1986, und damit zur Aktualität BOURDIEUS, orientiere ich mich hier
an FISCHER-ROSENTHAL (1995b):
„Die gegenwärtige soziologische Biographieforschung hat den Akzent von der rein
instrumentellen Nutzung biographischer Materialien [der »biographischen Methode« –
M.L.] verschoben auf die Erforschung des Biographischen als soziale Größe“ (253): in
ihr geht es um die „Rekonstruktion alltagsweltlicher Zusammenhänge und Regeln, zu
denen auch Biographisches gehört“ und um die Gestaltung der Datenproduktion und
-analyse bei der „soziologischen Instrumentalisierung des Biographischen“ derart, „dass
Grundregeln lebensweltlicher Konstitution im rekonstruierenden Wissenschaftsprozess
nicht zerstört werden. Nur so ist die Validität…der wissenschaftlichen Konstrukte
»zweiter Ordnung«, die auf den Ordnungen und Regeln der Alltagswelt aufbauen, zu
gewährleisten“ (vgl. SCHÜTZ 1971: 39ff).
Die sozio-biographische Leitfrage „wie bauen Gesellschaftsmitglieder gemeinsam
Biographien auf, welche gesellschaftlichen Baupläne gibt es dazu, und welche Aufgabe
haben Biographien?“ lässt sich in drei Teilfragen aufgliedern (253, Hervorhebungen im
Original):
„Welchen
Gesellschaftsmitglieder
Sinn
im
und
Laufe
welche
Bedeutung
sozialisatorischer
hat
und
Biographie
für
sozio-historischer
Entwicklungen erlangt? Welche Funktionen nimmt sie ein auf der lebensweltlichen
10
Ebene des sozialen Handelns und welche im Gesamtgesellschaftlichen? Wie werden
biographische Strukturen erzeugt, erhalten und verflüssigt?“.
Es folgt der kritische Hinweis, „dass die Verwendung der biographischen Methode
bis in die 60er Jahre…instrumentell der Datenbeschaffung diente, ohne dass die
Biographie selbst als soziales Konstrukt in den Blick kam“ und eine mit weiteren
Verweisen kurze Skizzierung der genannten drei Teilfragen, bzw. Perspektiven (254ff,
Hervorhebungen im Original): insbesondere im Rahmen der Sinnperspektive auf das
Konzept der »Trajekt/Verlaufskurve« (GLASER & STRAUSS 1968, SCHÜTZE 1981)
und die grundsätzliche Orientierung und Konzentrierung der Forschungsmethoden an
bzw. auf „aktualsprachlich produzierte[n] lebensgeschichtliche[n] Erzählungen“;
hinsichtlich der Funktionsperspektive auf „die Hauptfunktion der Biographie als Mittel
sozialer Individuierung und Integration“; und in der Strukturperspektive schließlich auf
„Struktur [nicht nur] im Sinne objekthafter Muster des Biographischen, sondern…als
Erzeugungsregeln des Sozialen“, und hier auf neue (z.B. auf BOURDIEU
rekurrierende) Studien mit der generellen Grundfrage: „Welche Regeln unterliegen der
Erzeugung, Reproduktion und Transformation sozialer Gebilde (sei es ein Text, ein
Gespräch, eine soziale Handlung, eine Organisation oder eine Biographie)?“.
Eine der hier wiedergegebenen in weiten Teilen identische Darstellung der
soziologischen Biographieforschung schließt FISCHER-ROSENTHAL (1990: 25) mit
dem Satz: „Insofern sie [die Biographieforschung – M.L.] in der empirischen Analyse
und Rekonstruktion von Lebensgeschichten allgemeine Strukturen des Sozialen und
ihre Entstehung in ihren Bezügen zum Biographischen wie zu seiner gesellschaftlichhistorischen Situation »entdeckt«, liegt Biographieforschung diesseits von »mikro« und
»makro« [-Soziologie – M.L.], treibt sie soziologische Theorie und Wissensbildung in
den Traditionen soziologischer Aufklärung“ (Hervorhebungen im Original).
Wunderbar, so könnte ich gemäß BOURDIEUS Analyse meinen, die soziologische
Biographieforschung hat ihre Hausarbeiten gemacht. Seine Stellungnahme ist damit
nicht mehr aktuell, die wissenschaftliche Entwicklung hat sie eingeholt und lässt diese
als eine überholte Kritik lediglich der »biographischen Methode« erscheinen.
Tatsächlich? Allein der letzte zitierte Satz von FISCHER-ROSENTHAL macht mir bei
aufmerksamer Lektüre die ganze Subtilität, Dringlichkeit und Aktualität BOURDIEUS
mit einem Schlag deutlich – wohlgemerkt: dieser Satz ist der Schlusssatz, d.h., er steht
nach dem expliziten Hinweis auf (nicht nur) BOURDIEUS grundlegende Frage nach
11
den unterliegenden Regeln „der Erzeugung, Reproduktion und Transformation sozialer
Gebilde“ (1990: 22). Im Weiteren soll es also um eine womöglich nötige DesIllusionierung im Sinne BOURDIEUS gehen.
3.2
Kritische Punkte und Plausibilität Bourdieus
In dem zitierten Schlusssatz von FISCHER-ROSENTHAL (1990: 25) erscheinen drei
für mich hier zentrale Punkte. Bevor ich diese als Ausgangspunkt für die folgenden
Ausführungen nehme, seien noch einmal die mir wesentlich erscheinenden Aussagen
BOURDIEUS (
2.1) in Stichworten genannt:
1.
»Lebensgeschichte« als Unterstellung,
2.
das »soziale« dieser Unterstellung,
3.
ihre methodischen Auswirkungen,
4.
Habitus und trajectoire und
5.
die Konstruktion des die sozialen Akteure umgebenden Feldes.
Nun zu den drei angesprochenen Punkten, genauer, Worten:
1.
Lebensgeschichten – ohne Anführungszeichen (!), statt »Lebensgeschichten«,
2.
»entdecken« – in Anführungszeichen, doch was ist mit »darstellen«? Sowie
3.
Aufklärung – im Rahmen der Soziologie.
Hierbei handelt es sich in meinem Verständnis keinesfalls um haarspalterische
Spitzfindigkeiten, wie evtl. der Hinweis auf die fehlenden Anführungszeichen
oberflächlich betrachtet erscheinen könnte. Nein, dieser Hinweis geht tiefer, betrifft
subtileres. Denn hier hat sich offenbar in ganz selbstverständlicher Weise etwas (die
Anführungszeichen) herausgeschmuggelt, oder andersherum – und mit BOURDIEU
(1986: 75) – „hineingeschmuggelt“: die »Lebensgeschichte«.
Braucht es einen offensichtlicheren Beweis für die Aktualität BOURDIEUS, wenn
selbst ein in der einschlägigen Forschungsliteratur derart präsenter Autor wie
FISCHER-ROSENTHAL als Opfer scheinbarer Selbstverständlichkeiten erscheint –
zumal an derart exponierter Stelle? Ich meine nein, und sehe BOURDIEU in diesem
Punkt vollauf bestätigt. Dies umso mehr, als mir hiermit auch seine weitere
Argumentation überaus plausibel erscheinen muss: seine Annahmen hinsichtlich der
möglichen Auswirkungen dieser Selbstverständlichkeiten auf den wissenschaftlichen
12
Erkenntnisprozess. Denn: was ist davon zu halten, wenn zwar von »entdecken« die
Rede ist, jedoch kein expliziter Hinweis auf »darstellen« erfolgt? Zumindest wirkt dies
auf
mich
nicht
vertrauensbildend.
Und
schließlich:
kann
so
verstandene
Biographieforschung wirklich den formulierten Anspruch nach soziologischer
Aufklärung erfüllen? Hier habe ich mit BOURDIEU meine Zweifel. Ich erkenne in
BOURDIEUS Stellungnahme auch keinen unangemessenen und unwürdigenden
Vorwurf, wie die oben (S. 5) genannten Kommentare zu seinem Aufsatz nahe legen
könnten, sondern sehe sie als seine Absicht „einige der Vorannahmen…freizulegen“
(1986: 75) und auf ihre Konsequenzen hinzuweisen, sollten diese nicht angemessen
berücksichtigt werden. D.h.: sollte der Versuch unternommen werden, „ein Leben als
eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender
Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt, dessen Konstanz
zweifellos lediglich in der des Eigennamens besteht“ (1986: 80). Dies genau ist für
BOURDIEU allerdings die zwangsläufige Konsequenz, sollte das Leben als Geschichte,
als »Lebensgeschichte«, betrachtet werden. Und analog zu LEITNER (1982: 9) verweist
er auf grundsätzliches: „woher, so ist dann zu fragen, wissen wir, was zu erzählen ist?“.
Diese Frage erscheint in der mir hier vorliegenden Biographieforschung
(exemplarisch KOHLI/ FISCHER 1987, BROSE/ HILDENBRAND 1988, KOHLI
1988, auch FISCHR-ROSENTHAL 1995a) lediglich auf der Ebene der „Struktur im
Sinne objekthafter Muster des Biographischen“ (FISCHER-ROSENTHAL 1995b: 256),
z.B. als Frage nach „sozialweltlichen Orientierungsmustern“ bzw. „Regelsystemen“
(KOHLI/ FISCHER 1987: 26ff), und bleibt so allerdings auf der Ebene der Biographie
selbst (vgl. LEITNER 1982: 40). Denn LEITNERS oben (S. 10) zitierte Feststellung gilt
offenbar unverändert. Auch geht es mit LEITNER nicht darum, ob dies alles falsch sei,
sondern ob es auch richtig ist. D.h.: es bleibt „die Frage nach den die Form von
Identifikationen bestimmenden Momenten“ (1982: 20) und so das mit dem Wort
»darstellen« verbundene eigentliche Problem (1982: 16): „eine »Rekonstruktion« des
Lebenslaufs in diesem Sinn erzählt den Lebenslauf, konstruiert ihn als Biographie und
identifiziert darin das Subjekt. Kein solches Konzept kann die Totalität des Lebenslaufs
insgesamt erfassen. Die paradigmatische Rekonstruktion ist nicht mehr nur
Beschreibung, sondern Darstellung, im genauen Sinn des Wortes ein Bild des
beschriebenen Lebens, und damit des Individuums“ (Hervorhebungen im Original). In
diesem Sinne ist „jede erzählende Rekonstruktion des Lebenslaufs ein biographischer
Text“ (1982: 18, Hervorhebung im Original), mithin erscheint dann jede noch so
13
disparate »Lebensgeschichte« vor und in dem zugrunde liegenden Muster der »erzählten
Lebensgeschichte«, d.h.: als »Lebensgeschichte«. Auch BUDES (1995) Beschäftigung
mit der »soziologischen Erzählung« geht nicht in die Richtung einer Klärung dieses
Problems. Weitere Hinweise in diesem Sinne habe ich in der hier behandelten Literatur
lediglich bei RÖTTGERS´ Betrachtungen zur »Erzählbarkeit des Lebens« (1988: 11ff –
zur historischen Identität) gefunden. Deshalb erscheint mir insgesamt KOHLIS (1988:
41) ausdrückliche Anmerkung hinsichtlich einer noch überwiegend ausstehenden
Bearbeitung dieses Feldes weiterhin aktuell. Zwar nennt KOHLI dort u. a. die Studie
von LEITNER (1982), stellt diese allerdings als eine eher aus kultursoziologischer
Perspektive schauende vor. Und an dieser Stelle verbirgt sich für mich das dritte oben
angesprochene Problem: das der soziologischen Aufklärung.
Handelt es sich hierbei also nach KOHLI um ein kultursoziologisches Problem? Ich
glaube nicht, und gebe DURKHEIM das Wort: „es ist notwendig, alle Vorbegriffe
systematisch auszuschalten“ (1991: 128). Sind die oben zitierten fehlenden
Anführungszeichen ein Beleg für ein systematisches Ausschalten des Vorbegriffs
»Lebensgeschichte«? Schwerlich. Stattdessen kann ich an dieser Stelle BOURDIEUS
Diktum über „die schlecht analysierten und schlecht beherrschten sozialen Prozesse, die
sich gegen den Willen und doch mit der Komplizenschaft des Forschers bei der
Konstruktion des perfekten sozialen Artefakts abspielen, das da »Lebensgeschichte«
heißt“ (Hervorhebung im Original) in seiner ganzen Aussage nur als umso treffender
empfinden. Demnach also ein im wahrsten Sinne ur-soziologisches Problem.
Gemäß seinem zuvor erwähnten Hinweis erscheint KOHLIS Kommentar zu
BOURDIEU dann auch etwas zurückhaltender als die oben (S. 5) angeführten, wenn er
zur »lebensgeschichtlichen Emergenz« anmerkt (1988: 40): „man kann dies als eine
»Illusion« bezeichnen, wie es BOURDIEU (1986) tut – es ist aber eine sozial
institutionalisierte und deshalb wirksame Illusion“ (Hervorhebung im Original). Eben
darum! Nicht anders verstehe ich BOURDIEU, wenn er deutlich schon im Titel auf sein
Anliegen hinweist: die Wirksamkeit eben dieser Illusion – bis hinein in die
Wissenschaft, in die sie sich als scheinbare Selbstverständlichkeit hineingeschmuggelt
hat (
S. 12f zu FISCHER-ROSENTHAL). Salopp und mit LEITNER formuliert,
verweist er eindringlich – und für mich wortwörtlich: offen-sichtlich – auf die
Wirksamkeit des »Thomas-Theorem«, d.h. der realen Auswirkungen von als real
Definiertem, in der Biographieforschung selbst (vgl. grundsätzlich zur Objektivität des
Subjektiven BOURDIEU 1987: 246ff, zur Illusio z.B. 2001: 173f).
14
Wie also steht es unter diesen Bedingungen um den oben zitierten erklärten Anspruch
im Rahmen der Biographieforschung soziologische Aufklärung zu treiben? Derart
verstanden scheinen mir erhebliche Zweifel berechtigt. Denn hier geht es nicht nur um
die soziologische Biographieforschung allein, sondern um ein grundsätzliches
Verständnis von Soziologie. Dies in zweierlei Hinsicht, als zwei verschiedene
Antworten auf die von der Wissenschaft an sich selbst gerichtete Frage – in Anlehnung
an Francis BACON, und KOHLI (siehe unten): »von uns selber schweigen wir«? Mit
DURKHEIM: ja, hinsichtlich der Regeln der soziologischen Methode, d.h.
Ausschaltung der praenotiones, der Vor-Begriffe; und mit BOURDIEU: nein,
hinsichtlich des zu untersuchenden Gegenstandes. Denn: kann Soziologie als
Wissenschaft von der Gesellschaft und zugleich als Teil von ihr sich selbst bei der
Betrachtung ausnehmen? Für mich ebenso eindeutig: nein – und dieses letztlich auch
hier mit DURKHEIM, denn die Wissenschaft selbst erscheint in diesem Sinne als eine
Vor-Annahme. So schreibt KOHLI dann auch zu diesem grundsätzlichen Thema – und
unter dem Titel »Von uns selber schweigen wir« (1981: 456, Hervorhebungen im
Original): „Wissenschaftliches Denken muss sich vom alltäglichen unterscheiden
lassen. Wenn schon…Wissenschaft als Konstruktion »zweiter Ordnung« auf
alltäglichem Wissen, den Konstruktionen »erster Ordnung«, aufruht, muss zumindest
eine
klare
Grenze
gezogen
werden
können“.
Es
folgt
der
Satz:
„Die
Wissenschaftsforschung ist dagegen gerade an der Thematisierung der Verbindungen
zwischen diesen beiden Bereichen interessiert“, und in seiner Anmerkung: „Es geht also
darum, im Nachweis der Abhängigkeit des Wissenschaftssystems von der Alltagswelt
seine partielle Verselbständigung genauer beschreiben zu können“. Hier ist also von
einem die Wissenschaft umfassenden Blick die Rede, jedoch geht er für mich ganz
offensichtlich auch an dieser Stelle lediglich in die eine Richtung (
S. 7), und nicht
zugleich in die entgegen gesetzte andere. In diese andere, zweite Richtung verweist
dann zwar FISCHER-ROSENTHAL (
S. 10f), nur geht sein eigener Blick dann nicht
tief genug in die eine, erste Richtung (
S. 12f).
Kurzum, und zur besseren Orientierung: nach dem hier Dargelegten stehen LEITNER
und BOURDIEU deutlich sicherer auf DURKHEIMS Schultern und reicht so ihre Sicht
auf die Vor-Annahmen und damit auf die Gegenstandsangemessenheit der eingesetzten
Erkenntnismittel erstens umso tiefer (in die eine Richtung), d.h., sie geht hinunter auf
eine grundlegendere Strukturebene; zweitens weiter, in dem beide das eigene Feld (der
15
Wissenschaft) mit einbeziehen; und drittens auch in die andere Richtung (
2.2).
Letzteres, in dem sie beide ausdrücklich auf die Konsequenzen dieser Vor-Annahmen
nicht nur für die Validität hinsichtlich der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern
gerade auch für das durch diese Erkenntnisweise identifizierte und »dargestellte«
Subjekt hinweisen: z.B. im Zusammenhang mit der Namensgebung, d.h. den
Eigennamen (BOURDIEU) bzw. den persönlichen Namen (LEITNER 1982: 60ff).
Hierzu anschließend. Doch zuvor halte ich im Hinblick auf das eben Geschilderte noch
einige knappe grundsätzliche Erläuterungen zu den Begriffen »Biographie«,
»Lebenskonstruktion« und »Habitus« für angebracht:
Zunächst zum »Habitus«: In seiner Absicht dem Strukturrealismus zu entgehen,
gelangt BOURDIEU vom opus operatum zum modus operandi, zur „Theorie des
Erzeugungsmodus der Praxisformen“, zur „Dialektik von objektiven und einverleibten
Strukturen“, zur „Dialektik zwischen Interiorität und Exteriorität, d.h. zwischen der
Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität…: Die für
einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse
charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form
von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst
werden können, erzeugen Habitusformen, d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen,
strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit
anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und
Repräsentationen, die objektiv »geregelt« und »regelmäßig« sein können, ohne im
geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv
ihrem Zweck angepasst sein können, ohne das bewusste Anvisieren der Ziele und
Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen
Operationen vorauszusetzen, und die, dies alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein
können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines »Dirigenten« zu sein“ (1979:
164ff, Hervorhebungen im Original). „Die Einheit der Person, die Kohärenz des
Handelns und, wenn man so will, die Identität des sozialen Akteurs, wird mit dem
Habitus-Konzept thematisiert: Der Habitus ist das vereinigende Prinzip, das den
verschiedenen Handlungen des Individuums ihre Systematik, ihren Zusammenhang
gibt“ (KRAIS/ GEBAUER 2002: 70f).
Wesentlich in dem hier interessierenden Rahmen: in BOURDIEUS Konzeption vom
Habitus sowie der sozialen Laufbahn (trajectoire) in einem sozialen Raum ist eine
weitestgehende systematische Ausschaltung der Vor-Begriffe zur Beschreibung
16
biographischer Ereignisse erfolgt (vgl. BOURDIEU 1986: 80; insbesondere auch zur
körperlichen Erkenntnis 2001: 165ff).
Am Begriff der »Biographie« sei dies im Vergleich verdeutlicht: „Häufig werden an
die Stelle von »Lebenslauf« bzw. »Lebenszyklus« die Begriffe »Lebensgeschichte« und
»Biographie« gesetzt. Hier sollen diese beiden dagegen nur in ihrer spezifischeren
Bedeutung verwendet werden: »Lebensgeschichte« meint einen Lebenslauf, der die
Form einer Geschichte [Hervorhebung von mir – M.L.] hat, d.h. von einem Endpunkt
aus als vergangene sinnhaft Ereignisfolge rekonstruiert und als solche erzählt wird.
»Biographie« weist zusätzlich auf den Aspekt der schriftlichen Aufzeichnung hin. In
einem weiteren Sinn kann unter »Biographie« nicht nur eine ausgeführte Geschichte
verstanden werden, sondern alles zusammengefasst werden, was von einer bestimmten
lebensgeschichtlichen [Hervorhebung von mir – M.L.] Situation aus die zeitliche
Struktur des Lebenslaufs – einschließlich der Zukunft – thematisiert (KOHLI 1978: 12,
Hervorhebungen im Original). KOHLI verweist im Folgenden hinsichtlich der
Verwendung des Begriffs »Biographie« ausdrücklich auf einen hohen „Mangel an
Präzision und Spezifität“ (S. 23), und schreibt sodann (S. 26, Hervorhebung im
Original): „In einem weiteren Sinne können unter »Biographie« alle Dimensionen der
zeitlichen Platzierung der Person im Lebenslauf zusammengefasst werden, also alle
Verweise auf die eigene lebensgeschichtliche [Hervorhebung von mir – M.L.]
Vergangenheit und Zukunft“. Nach allem oben Ausgeführten sollten sich diese Zitate
gemäß ihrer Zirkularität selbst kommentieren. Daher möchte ich lediglich den
Unterschied hinsichtlich der Vor-Annahmen zwischen den Konzeptionen »Habitus«
und »Biographie« in zwei Begriffen anschaulich auf den Punkt bringen: »Position«
(BOURDIEU)
und
»Lebensgeschichte«
(KOHLI).
Vergegenwärtige
ich
mir
insbesondere die Vielfalt der sozialen Felder und zugehörigen Positionen in einem
sozialen Raum im Sinne BOURDIEUS (vgl. FUCHS-HEINRITZ/ KÖNIG 2003:
133ff), so drängt sich mir mit dem letzten zitierten Satz von KOHLI die ganze
Willkürlichkeit – gemäß BOURDIEU – der lebensgeschichtlichen Konstruktion auf: des
„perfekten sozialen Artefakts…, das da »Lebensgeschichte« heißt“ – besteht diese doch
zwangsläufig aus einer »ein-dimensionalen« Auswahl bestimmter Positionen zur
Formung einer »Lebensgeschichte«, in der die Identität, d.h. die Identifizierung und
Darstellung, des sozialen Akteurs erscheint (
S. 13). Demzufolge bleibt auch das
Konzept der »Trajekte« (vgl. FISCHER-ROSENTHAL 1995a: 87) in der Form seiner
sprachlichen/ textlichen Ausrichtung hinter BOURDIEUS Modell zurück.
17
Hier scheint der Begriff der »Lebenskonstruktion« von BUDE (z.B. 1984, 1985a, 1998)
geeigneter. Zu seiner Bestimmung führt BUDE (1998: 248ff) die Begriffe
Konstruktivität,
Regularität
und
Totalität
an,
und
definiert:
„Unter
einer
Lebenskonstruktion soll das gestaltbildende und formgebende Regelgerüst eines
individuellen Lebens verstanden werden“ (251). Und weiter: „Lebenskonstruktionen
liegen der persönlichen Lebensführung als validierte Kohärenzregeln zugrunde. Sie
begründen die Intuition vom Zusammenhang der einzelnen Existenz“ (252). »Identität«
erscheint dann als ein »Selbst«, und „ist zu unterscheiden von der »Ich-Identität« der
Person. Es ist der Ausdruck der Reflexivität in der Bewegung des Daseins“ (BUDE
1986: 91). Insgesamt leuchtet mir hier doch KOHLIS Warnung vor einem
»strukturalistischen Rigorismus« auf – und ein (1988: 41f). Und bleibt für mich, trotz
auf den ersten Blick ähnlicher Punkte, gegenüber BOURDIEUS Habitus-Konzept die
grundsätzliche und verbindende Frage nach der Dialektik zwischen Interiorität und
Exteriorität vergleichsweise ungeklärt (siehe oben – auch BOURDIEU 1987: 97ff).
Nun zum Eigennamen: Gemäß dem bis hierher Geschilderten kann mir
BOURDIEUS Beschreibung des Eigennamens (1986: 77ff) als »rigider Bezeichner«,
als das „zentrale Objekt all jener aufeinander folgender Riten der Instituierung oder
Namensgebung, an denen entlang sich die soziale Identität konstruiert“ nur als
konsequent und plausibel gelten: „diese Akte (oft öffentlich und feierlich) der
Zuschreibung,
ausgeführt
unter
der
Kontrolle
und
mit
der
Garantie
des
Staates…beruhen alle im Effekt auf dem Postulat der Konstanz des Namens, das alle
Akte der Namensgebung unterstellen“ (1986: 79). Dies verdeutlicht insbesondere das
ethnologische Material, das LEITNER (1982: 60ff) zur persönlichen Namensgebung
anführt. Und selbst wenn ich mich hier auf den Standpunkt stellte, dass ich durch die
kulturalistische Brille doch letztlich nur auf mich selbst blicke, so könnte ich mit
DURKHEIM antworten: genau darauf kommt es an, wenn ich meine Vor-Begriffe
systematisch ausschalten möchte.
Warum dieses systematische Ausschalten der Vor-Begriffe beim Betrachten der
»Biographie« vergleichsweise schwierig erscheint, darauf gibt LEITNER in seiner
beeindruckenden
Studie
einen
mir
durchaus
einleuchtenden
Hinweis:
die
(Erzähl)Struktur unserer Sprache, die letztlich eine (»kulturell«) bestimmte Ordnung
von Raum und Zeit beinhaltet und darstellt. Erst wenn die dadurch verdeckte
grundlegende Ebene erreicht ist, kommt »Biographie« als soziale Konstruktion im
Rahmen einer Biographie-Forschung umfassend in den Blick, und verbleibt sie nicht als
18
biographische Forschung (engl. »biographical research«, vgl. FUCHS-HEINRITZ
1998: 5) auf der Ebene der Biographie selbst.
„Nicht das Individuum ist Thema soziologischer Biographieforschung, sondern das
soziale Konstrukt »Biographie«“ (FISCHER/ KOHLI 1987: 26, Hervorhebung im
Original). Wenn also »Biographie« als ein sozialer Tatbestand im Sinne DURKHEIMS
(1991: 114ff) erscheint, sie demzufolge wie ein Ding zu behandeln ist und alle ihre VorBegriffe systematisch auszuschalten sind, um sie angemessen untersuchen zu können,
dann kann es nicht Lebensgeschichte, sondern muss es »Lebensgeschichte« heißen.
D.h.: »Lebensgeschichte« selbst muss als Ding behandelt werden und kann nicht als
Muster zu ihrer eigenen Analyse herangezogen werden. Allgemeiner: Ich kann nicht
einen sozialen Tatbestand untersuchen, in dem ich ihn selbst als Untersuchungsmittel
einsetze – der Erkenntnisgegenstand kann nicht zugleich das Erkenntnismittel sein. Die
so gewonnenen Erkenntnisse sind nicht falsch, sondern bleiben zirkulär auf der Ebene
des untersuchten Tatbestands (d.h. im Rahmen biographischer Forschung). Sie sind
allerdings auch nicht richtig, wenn es um angemessene Erkenntnis über den Tatbestand
selbst geht (d.h. im Sinne von Biographie-Forschung). Und sie sind somit auch nicht
richtig in einer weiteren, grundlegenderen und aufklärerischen Absicht. Denn: in dem
die derart gewonnen Erkenntnisse nicht über den untersuchten Tatbestand hinausgehen
können, tragen sie zwangsläufig zu seinem Fortschreiben, zu seiner Perpetuierung bei.
In genau diesem Sinne verstehe ich sowohl LEITNER als auch BOURDIEU, und
sehe ich sie hier als konsequente und ur-soziologische Erben DURKHEIMS. Gemäß
diesem Erbe erscheint mir BOURDIEUS Habitus-Konzept auch hinsichtlich der
soziologischen Biographieforschung überaus plausibel. Darüber hinaus kehrt sich für
mich die Frage nach Kenntnis sowie angemessener Würdigung um und richtet sich an
die Biographieforschung selbst: in Bezug auf BOURDIEU, und in Bezug auf sie selbst.
Nach dem hier Dargelegten sehe ich auch die abschließende Frage von FUCHSHEINRITZ
im
Zusammenhang
mit
geschichtlichen
Großereignissen
und
-konstellationen (als „sozialwissenschaftliche Fragen von anderem Kaliber“) in einem
sehr viel grundsätzlicheren Licht (1988: 19, Hervorhebungen von mir – M.L.): „Aber
kann
man
angesichts
dieser
großen
Ereigniszusammenhänge
in
der
Biographieforschung den Ansatz für eine Allgemeine Soziologie sehen, ohne die in ihr
angelegten prozeßtheoretischen Möglichkeiten [insbesondere im Sinne von VorAnnahmen – M.L.] umfassend ausgebaut zu haben?“ Und – so bliebe hier mit
BOURDIEU zu ergänzen – ohne diese hinreichend erkannt und geklärt zu haben?
19
4
Schluss
„Diese kritische Reflexion über die Grenzen des wissenschaftlichen Verstehens hat
nicht etwa zum Ziel, die wissenschaftliche Erkenntnis in ihrer einen oder anderen Form
zu diskreditieren, um ihr wie üblich eine mehr oder minder idealisierte praktische
Erkenntnis entgegenzustellen oder sie durch diese zu ersetzen. Ihr Ziel ist vielmehr, die
wissenschaftliche Erkenntnis durch Befreiung von ihren Verzerrungen, die ihr von den
epistemologischen und sozialen Bedingungen ihrer Hervorbringung aufgezwungen
werden, vollständig zu begründen. Fern jeder Rehabilitierungsabsicht, wie sie die
meisten Diskurse über die Praxis irregeleitet hat, zielt diese kritischen Reflexion
lediglich darauf ab, die von der wissenschaftlichen Erkenntnis implizit angewandte
Theorie der Praxis ans Licht zu ziehen und auf diese Weise eine wahrhaft
wissenschaftliche Erkenntnis der Praxis und der praktischen Erkenntnis möglich zu
machen“ (BOURDIEU 1987: 53, Hervorhebung im Original – vgl. auch 246ff). Somit
stellt sie die grundsätzliche Frage nach der Angemessenheit.
Hinsichtlich der Biographie-Forschung beantwortet BOURDIEU diese Frage im
Rahmen seiner Wissenschaft, der Soziologie, mit dem Konzept des Habitus und der
trajectoire. Für mich plausibel und konsequent erblicke ich in diesem jene
„nichtbiographische
Konzeption
von
Biographie“
und
„nichtindividualistische
Konzeption von Individualität“, wie sie KOHLI zugespitzt und als noch ausstehend
formulierte (1988: 41f). Ohne dabei allerdings in den gleichfalls von KOHLI
beschriebenen
»strukturalistischem
Rigorismus«
zu
verfallen,
erscheint
mir
BOURDIEUS Konzept die überzeugendere, weil tief- und weitgreifendere, Umsetzung
von KOHLIS und FISCHERS eigenem grundsätzlichen Vorhaben des Fassens von
Subjektivität und Objektivität („uno actu“, vgl. FISCHER/ KOHLI 1987) – dies
insbesondere durch die im wahrsten Sinne grundlegende Einbeziehung dessen, was
(nicht nur) aus der Biographie verschwand: des Körpers (vgl. LEITNER 1980: 40ff).
Biographische Forschung, d.h. »lebensgeschichtliche« Untersuchungen auf der
Ebene „objekthafter Muster des Biographischen“ (FISCHER-ROSENTHAL), halte ich
für sinnvoll insbesondere im psychologisch-therapeutischen Bereich, etwa bei der
Öffnung und Lösung so genannter »Blockaden«. Hier kann – neben anderem, z.B.
körperlichem
–
Lebensgeschichte«,
Sprechen
zu
einer
und
Erzählen,
hilfreichen
auch
in
Form
Re-Organisation
von
(sic!)
»erzählter
einverleibter
»Deutungsmuster« führen (vgl. ROSENTHAL 1995). Kann, denn auch hier stellt sich
20
die Frage der Angemessenheit, d.h., gilt es zu beachten, dass diese Re-Organisation
grundsätzlich eher als eine Chance denn als eine Bedrohung erscheint, um nicht
vorhandene
Blockaden
zusätzlich
zu
verstärken
–
ein
schwieriges
und
verantwortungsvolles, da in beide Richtungen zirkuläres, Unterfangen.
„Auf die Frage »Wer bin ich?« Antwort im Wege wissenschaftlicher Erkenntnis zu
suchen, Identität überhaupt als Problem der Erkenntnis aufzufassen, ist eine spezifische
Wendung ausschließlich der europäischen Kultur, wie insgesamt die Entfaltung der
Wissenschaften ja ein spezifisch europäisches Phänomen ist“ (LEITNER 1980: 38).
Kunst und Wissenschaft können in persönlicher wie gesellschaftlicher Hinsicht
»öffnend« wirken, d.h., dazu beitragen Vor-Urteile zu hinterfragen sowie evtl. zu
überwinden, und stehen in dieser Hinsicht in europäisch aufklärerischer Tradition. Doch
offenbar und offenbar zwangsläufig reichen die Wirkungen der Wissenschaft in heutiger
Zeit ungleich weiter und tiefer (vgl. LEITNER 1980, 1982). Soll Aufklärung nicht als
ein einmaliges Ereignis missverstanden werden, und nicht aus einem etwa religiösen
letztlich ein wissenschaftliches Vor-Urteil werden, so ist ein aufklärerischer Blick auf
die Wissenschaft selbst angebracht: als eine Aufklärung der Aufklärung.
Sowohl das Individuum als auch die es umfassende Gesellschaft scheinen
grundsätzlich in sich gefangen und verbleiben bei dem Versuch sich selbst zu
objektivieren unentrinnbar in einem grundlegenden Zirkel. In diesem Rahmen erscheint
Erkenntnis als etwas, das wir gewinnen, in dem wir uns selbst beim Beobachten
beobachten (LUHMANN) bzw. unsere Objektivierungen objektivieren (BOURDIEU).
Sie erscheint nicht als eine »wahre«, sondern als eine »angemessene«: als eine
Angemessenheit (in der Erkenntnis), die sich selbst umfasst – es zumindest in
angemessener Weise versucht. Mit der grundlegenden Einbeziehung des Sozialen sehe
ich BOURDIEU auch in diesem Sinne in der Tradition DURKHEIMS (1984) und
verweist mir diese sich-umfassende-Angemessenheit vor allem anderen auf eine
grundsätzliche (persönliche wie gesellschaftliche) »Einstellung«, eine »Haltung«, um
nicht zu sagen einen »Habitus« – und auf eine »Kunst«: als »reine Praxis ohne Theorie«
(DURKHEIM). Sie weist so mit HÜTHER (2002) und FROMM (2007) – wie mit
SAINT-EXUPÉRY – die Richtung, in der möglicherweise auch heute noch die Antwort
auf die „alte empiristische Frage nach der Existenz eines Ichs“ zu suchen und zu finden
ist. Und wie das Wesen der Aufklärung für mich nicht in der Einmaligkeit eines
Ereignisses liegen kann, sondern in einer grundsätzlichen Einstellung, so gilt gleiches
für das Wesen der Kunst – oder gar das der Liebe.
21
Literatur
BOURDIEU, Pierre
(1979): Entwurf einer Theorie der Praxis
auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(1985): Sozialer Raum und ´Klassen´/ Leçon sur la Leçon. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(1986): Die biographische Illusion. In: Bios, 1: 75-81.
(1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
BUDE, Heinz
(1982): Text und soziale Realität.
In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie (ZSE), 1: 134-143.
(1984): Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen – Eine Antwort auf die Frage,
was die Biographieforschung bringt. In: KOHLI, Martin/ ROBERT, Günther (Hg.): Biographie und
soziale Wirklichkeit. Stuttgart: Metzler: 7-28.
(1985a): Die individuelle Allgemeinheit des Falls.
In: FRANZ, Hans-Werner (Hg.): 22. Deutscher Soziologentag. Opladen: Westdeutscher Verlag: 84-86.
(1985b): Der Sozialforscher als Narrationsanimateur.
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS): 327-336.
(1986): Zum Problem der Selbstdetermination.
In: SOEFFNER, Hans-Georg (Hg.): Frankfurt a.M./ New York: Campus: 84-111.
(1995): Die soziologische Erzählung.
In: JUNG, Thomas/ MÜLLER-DOOHM, Stefan (Hg.): »Wirklichkeit« im Deutungsprozess: Verstehen
und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften (2. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 409-429.
(1998): Lebenskonstruktion als Gegenstand der Biographieforschung.
In: JÜTTEMANN, Gerd/ THOMAE, Hans (Hg.): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften.
Weinheim: Beltz – Psychologische Verlags Union: 247-258.
BROSE, Hanns-Georg/ HILDENBRAND, Bruno (1988): Biographisierung von Erleben und Handeln.
In: Dieselben (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende.
Opladen: Leske + Budlich: 11-30.
DURKHEIM, Émile
(1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens (2. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(1991): Die Regeln der soziologischen Methode (2. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
FISCHER, Wolfram
(1978): Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten.
In: KOHLI, Martin (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt: Luchterhand: 311-335.
/ KOHLI, Martin (1987): Biographieforschung. In: VOGES, Wolfgang (Hg.):
Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag: 25-49.
FISCHER-ROSENTHAL, Wolfram
(1990): Von der »biographischen Methode« zur Biographieforschung: Versuch einer Standortbestimmung.
In: ALHEIT, Peter/ FISCHER-ROSENTHAL, Wolfram/ HOERNING, Erika M.:
»Biographieforschung«. Universität Bremen: Werksattberichte des Forschungsschwerpunktes »Arbeit
und Bildung«, Bd. 13: 11-32.
22
(1995a): Zum Konzept der subjektiven Aneignung von Gesellschaft.
In: FLICK, Uwe…(Hg.): Handbuch qualitative Sozialforschung (2. Aufl.).
Weinheim: Beltz – Psychologische Verlags Union: 78-89.
(1995b): Biographische Methoden in der Soziologie.
In: FLICK, Uwe…(Hg.): Handbuch qualitative Sozialforschung (2. Aufl.).
Weinheim: Beltz – Psychologische Verlags Union: 253-256.
FUCHS, Werner
(1983): Jugendliche Statuspassagen oder individualisierte Jugendbiographie? Soziale Welt, 34: 341-371.
FUCHS-HEINRITZ, Werner
(1998): Soziologische Biographieforschung:
Überblick und Verhältnis zur Allgemeinen Soziologie. In: JÜTTEMANN, Gerd/ THOMAE, Hans (Hg.):
Biographische Metthoden in den Humanwissenschaften. Weinheim:
Beltz – Psychologische Verlags Union: 3-23.
/ KÖNIG, Alexandra (2003): Pierre Bourdieu – Einführung in das Werk. Hagen:
Studienbrief der FernUniversität Hagen.
FROMM, Erich (2007): Die Kunst des Liebens (65. Aufl.). Berlin: Ullstein.
GLASER, B.G./ STRAUSS, A.L.(1968): Time for Dying. Chicago: Aldine.
GUMBRECHT, Hans Ulrich (1981): Lebensläufe, Literatur, Alltagswelten.
In: MATTHES, Joachim…(Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg:
Verl. d. Nürnberger Forschungsvereinigung e.V.: 231-250.
HÜTHER, Gerald (2002): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
JANNIG, Frank (1991): Pierre Bourdieus Theorie der Praxis: Analyse und Kritik
der konzeptionellen Grundlegung einer praxeologischen Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag.
KOHLI, Martin
(1978): Erwartungen an eine Soziologie des Lebenslaufs.
In: Ders.(Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt: Luchterhand: 9-31.
(1981a): Zur Theorie der biographischen Selbst- und Fremdthematisierung.
In: MATTHES, Joachim (Hg.): Lebenswelt und soziale Probleme:
Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages. Frankfurt a.M./ New York: Campus: 502-520.
(1981b): »Von uns selber schweigen wir« – Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten.
In: LEPENIES, Wolf (Hg.): Geschichte der Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 428-465.
(1985): Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente.
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), 37: 1-29.
(1988): Normalbiographie und Individualität:
Zur Institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes.
In: BROSE, Hanns-Georg/ HILDENBRAND, Bruno (Hg.):
Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen: Leske + Budlich: 33-53.
KRAIS, Beate/ GEBAUER, Gunter (2002): Habitus. Bielefeld: transcript.
LEITNER, Hartmann
(1980): Biographieforschung – Auf dem Wege zur Trivialisierung des Lebens.
In: Literatur Rundschau, 4: 37-45.
(1982): Lebenslauf und Identität. Die kulturelle Konstruktion von Zeit in der Biographie.
Frankfurt a.M./ New York: Campus.
LIEBAU, Eckart (1986): Laufbahn oder Biographie? In: Bios, 1: 83-89.
NIETHAMMER, Lutz (1986): Kommentar zu Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: Bios, 1: 91-93.
23
RÖTTGERS, Kurt (1988): Die Erzählbarkeit des Lebens. In: Bios, 2: 5-17.
ROSENTHAL, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte:
Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a.M./ New York: Campus.
SCHIMANK, Uwe (1988): Biographie als Autopoiesis – Eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität.
In: BROSE, Hanns-Georg/ HILDENBRAND, Bruno (Hg.):
Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen: Leske + Budlich: 55-72.
SCHULTHEIS, Franz (2007): Bourdieus Wege in die Soziologie. Konstanz: UVK.
SCHÜTZ, Alfred (1971): Wissenschaftlichen Interpretationen und Alltagsverständnis menschlichen Handelns.
In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, vol 1. Den Haag: Nijhoff: 3-54.
SCHÜTZE, Fritz
(1981): Prozeßstrukturen des Lebenslaufs. In: MATTHES, Joachim…(Hg.):
Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg: Forschungsvereinigung: 67-156.
(1984): Kognitive Figuren des autobiographischen Stehgreiferzählens.
In: KOHLI, Martin/ ROBERT, Günther (Hg.):
Biographie und soziale Wirklichkeit. Stuttgart: Metzler: 78-117.
SOEFFNER, Hans-Georg (1981): Entwicklungen von Identität und Typisierung von Lebensläufen.
Überlegungen zu Hans-Ulrich Gumbrecht: Lebensläufe, Literatur, Alltagswelten.
In: MATTHES, Joachim…(Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive.
Nürnberg: Verl. d. Nürnberger Forschungsvereinigung e.V.: 251-268.
STRAUB, Jürgen (1989): Historisch-psychologische Biographieforschung:
theoretische, methodologische und methodische Argumentationen in systematischer Absicht.
Heidelberg: Asanger.
24
Herunterladen