Frühe Hinweise auf seelische Störungen bei Kindern unter 6 Jahren

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Frühe Hinweise auf seelische
­Störungen bei Kindern unter 6 Jahren
Alexander von Gontard | Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum des
Saarlandes
Hintergrund
Viele psychische Störungen beginnen nicht
plötzlich im Schulkind- und Jugendalter,
sondern können sich sehr viel früher bei
jungen Kindern manifestieren. Inzwischen
liegen gute repräsentative, bevölkerungsbezogene Studien vor, die zeigen, dass
weltweit ca. 10 – 15 % aller Kinder unter
dem Alter von 6 Jahren von klinisch relevanten psychischen Störungen mit Beeinträchtigungen im Alltag betroffen sind.
Damit sind psychische Störungen bei ihnen genauso häufig wie bei älteren Kindern und Jugendlichen.
Störungen in diesem Alter sind durch eine hohe Entwicklungsdynamik und durch
die enge Einbettung in die Beziehung zu
den versorgenden Bezugspersonen gekennzeichnet. Sie sind vielgestaltig und
differenziert, können aber gut abgeklärt
und behandelt werden. In der Vergangenheit wurden sie häufig nicht erkannt und
übersehen. Die letzten Jahre waren durch
eine Zunahme von Forschungsaktivitäten
in diesem Bereich gekennzeichnet, wobei
die meisten Studien in Englisch publiziert
wurden und nicht leicht zugänglich waren.
Inzwischen liegen auch im deutschsprachigen Bereich Übersichten [1], Monographien
[2], Leitfäden [3] und Elternratgeber [4] zu
psychischen Störungen bei jungen Kindern
vor. Ein besonderer Gewinn sind die interdisziplinären S2k-Leitlinien zu psychischen
Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und
Vorschulalter (AWMF 028/041), bei denen
auch die pädiatrischen Fachverbände maßgeblich beteiligt waren [5]. Diese ermöglichen einen guten Einstieg in die klinische
Diagnostik, Beratung und Therapie.
Das Ziel dieser kurzen Arbeit ist es, praxisorientiert zu vermitteln, welche Zeichen
und Symptome zu beachten sind und wie
psychische Störungen bei jungen Kindern
diagnostiziert werden können. Aspekte der
Beratung und Therapie werden nur kurz
erwähnt. Dabei sollen sich die Empfehlungen an den Leitlinien orientieren [5].
Diagnostik
Wie in anderen Bereichen der Medizin
steht die Diagnostik an erster Stelle. Ein
Anliegen der Leitlinien war es, dass die
Grunddiagnostik psychischer Störungen
in allen Behandlungskontexten möglich
sein sollte. Die Diagnostik erfordert klinische Erfahrung und vor allem genügend
Zeit. Unverzichtbare Bestandteile der Basisdiagnostik sind die klinische Anamnese, psychopathologischer Befund (d. h. die
deskriptive Beschreibung des beobachtbaren Verhaltens), die Interaktions-/Beziehungsdiagnostik und die körperliche Diagnostik (siehe Tabelle 1). Die Anamnese
sollte ausführlich und detailliert sein und
orientiert sich an den Empfehlungen der
amerikanischen Leitlinien [6]. Nach der
Anamnese folgt die klinische Beobachtung
des spontanen Verhaltens, der Interaktion und der Beziehung. Wegen möglichen
somatischen Begleit- oder Grundkrankheiten sowie entwicklungsneurologischer
Auffälligkeiten darf auf eine körperliche
Untersuchung nicht verzichtet werden.
Standardisierte Instrumente können diese
Basisdiagnostik sinnvoll ergänzen, wenn
sie indiziert sind, sie sind aber nicht in jedem Fall notwendig. Die wichtigsten Instrumente sind in Tabelle 1 aufgeführt.
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Nach Abschluss der Diagnostik sollte es möglich sein, eine Diagnose zu stellen – oder auszuschließen. Darüber hinaus können auch subklinische Symptome vorliegen, die zwar nicht die Kriterien
für eine psychische Störung erfüllen, aber
dennoch belastend und beeinträchtigend
sein können. Sie können als Vorläufer späterer Störungen wirken. Eine Beratung bei
belastenden Symptomen kann auch ohne
­Diagnose sinnvoll sein.
Um die entwicklungspsychopathologischen Besonderheiten dieses Lebensabschnitts adäquat zu berücksichtigen, hat
Tab. 1: Basis- und erweiterte Diagnostik
mit standardisierten Instrumenten
Basisdiagnostik
◾◾ Anamnese
◾◾ Psychopathologischer Befund
◾◾ Interaktions-/Beziehungsdiagnostik
◾◾ Körperlicher Diagnostik
Erweiterte Diagnostik mit standardisierten
Instrumenten
◾◾ Entwicklungstests
◾◾ Intelligenztests
◾◾ Leistungstests, z. B. der Sprache und der
motorischen Funktionen
◾◾ Verhaltensskalen
◾◾ Allgemeine Verhaltensfragebögen
◾◾ Spezifische Fragebögen
◾◾ Interaktionsinstrumente
◾◾ Standardisierte Beobachtungsinstrumente
◾◾ Strukturierte psychiatrische Interviews
◾◾ Kinderinterviews
◾◾ Projektive Tests
◾◾ Neuropsychologische Tests
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sich neben dem bewährten Klassifikationssystem der ICD-10 [7] das spezielle, auf
junge Kinder ausgerichtete Klassifikationssystem DC:0-3R [8] bewährt. Die Leitlinie
empfiehlt deshalb eine Diagnosestellung
der psychischen Störung des Kindes sowohl nach ICD-10 wie auch nach DC: 0-3R.
Wenn eine Störung nach beiden Systemen
festgestellt werden kann, sollte sie mit beiden Diagnosesystemen erfasst werden. Eine deutsche Übersetzung der Kriterien der
­DC:0-3R findet sich bei von Gontard [2].
Neben der Hauptdiagnose einer psychischen Störung des Kindes soll in jedem Fall
auch eine mögliche Beziehungsstörung erfasst oder ausgeschlossen werden. Dazu ist
die Einteilung der DC:0-3R sehr hilfreich,
nach der ausgeprägte Beziehungsstörungen für die jeweiligen Dyaden von Kind
und Bezugspersonen klassifiziert werden.
In der Beziehungsdiagnostik werden die
Qualität des interaktiven Verhaltens, der
affektive Ton und die psychische Involvierung erfasst. Natürlich kann auch eine Beziehungsstörung ohne psychische Störung
des Kindes vorliegen – und erfordert auch
dann eine Beratung. In Tabelle 2 finden
sich zusammengefasst die Diagnoseempfehlungen der Leitlinien [5].
Tab. 2: Empfehlungen zur Diagnosestellung nach Klassifikationssystemen
Klassifikationssystem
Psychische Störung der Kindes
DC:0-3R und/oder
ICD-10
Beziehungs
störung
DC:0-3R
Psychische Störungen
des jungen Kindes
Das Spektrum psychischer Störungen bei
jungen Kindern ist groß, was noch einmal
die Notwendigkeit einer genauen und spezifischen Diagnostik unterstreicht. Allein
aufgrund des Alters können manche Störungen ausgeschlossen werden, z. B. Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, schizophrene Psychosen, Agoraphobie und Persönlichkeitsstörungen.
Manche Störungen wurden von den
Leitlinien zu psychischen Störungen im
342
Tab. 3: Die wichtigsten 12 psychischen Störungen bei jungen Kindern mit jeweiligen
Altersspannen
Störung
Mindestalter zur Diagnose
Fütter- und Essstörungen
4 Wochen
Schlafstörungen
12 Monate
Persistierendes exzessives Schreien
3 Monate
Regulationsstörungen
bis 3 Jahre
Ausscheidungsstörungen
4 bzw. 5 Jahre
Depressive Störungen
3 Jahre
Angststörungen
18 Monate
Anpassungsstörungen
Keine Angaben
Posttraumatische Belastungsstörungen
18 Monate
Bindungsstörungen
9 Monate
Hyperkinetische Störungen (HKS)/AufmerksamkeitsDefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
3 bzw. 4 Jahre
Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem
Verhalten (ODD)
3 Jahre
Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter
nicht berücksichtigt, wie Teilleistungsstörungen (z. B. der Sprache, der motorischen
Entwicklung), Intelligenzminderung
(geistige Behinderung) oder tiefgreifende
Entwicklungsstörungen (wie AutismusSpektrum-Störungen). Für diese Störungen ist es typisch, dass die Komorbiditätsrate mit anderen psychischen Störungen
erhöht ist. Auch wurden diese Leitlinien
auf die häufigen und relevanten Störungen beschränkt. Andere seltenere Störungen bei jungen Kindern sind u. a. Tic- und
Zwangsstörungen sowie der elektive Mutismus.
Für alle Störungen ist es typisch, dass
sie erst ab einem Mindestalter diagnostiziert werden können. Tabelle 3 gibt deshalb
nicht nur eine Übersicht über die Vielfalt
der häufigsten 12 Störungen wieder, sondern auch deren Altersspezifität.
Die wichtigsten Leitsymptome dieser
12 Störungsgruppen sind in Tabelle 4 wiedergegeben, die nur als grobe Orientierung
gewertet werden darf. Wichtige Aspekte
zur Diagnosestellung wie Häufigkeit, Dauer, Zahl der Symptome und Grad der Beeinträchtigung sind darin nicht erwähnt.
Manche Störungen können nur nach der
DC:0-3R oder der ICD-10 diagnostiziert
­ erden, bei anderen ist dies mit beiden
w
Systemen möglich.
Bei den Fütter- und Essstörungen
können 6 verschiedene Subtypen nach
­DC:0-3R unterschieden werden, die auch
komorbid auftreten können, d. h., ein Kind
kann 2 oder mehr Essstörungen aufweisen.
Sie haben unterschiedliche Ätiologien und
werden differenziert nach unterschiedlichen Schwerpunkten behandelt.
Ein- und Durchschlafprobleme sind im
ersten Lebensjahr so häufig, dass sie nach
der DC:0-3R erst ab dem Alter von 12 Monaten als Störungen gelten.
Das persistierende exzessive Schreien ist weder nach der DC:0-3R noch nach
der ICD-10 als Diagnose vorgesehen. Nach
neuen Studien sind Säuglinge, die übermäßig schreien und dieses Verhalten auch
über das Alter von 3 Monaten beibehalten,
in ihrer Entwicklung gefährdet. Deshalb
wurde diese Problematik von den Leitlinien besonders gewürdigt [5].
Entgegen der deutschsprachigen Tradition, die unter Regulationsstörungen die
Trias von Schreien, Fütter- und Schlafstörung sowie allgemeine Regulationsprobleme im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktion versteht [9], sieht die DC:0-3R diese Störung als Reaktion des Kindes auf externale
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Tab. 4: Leitsymptome der wichtigsten psychischen Störungen im frühen Kindesalter
Störung
Diagnose
Leitsymptome
Diagnose nach
DC:0-3R
◾◾ Regulations-Fütterstörung
Schwierigkeit, einen ausgeglichenen Zustand während des Fütterns/Essens zu erreichen oder aufrechtzuerhalten
x
◾◾ Fütterstörung der reziproken
Interaktion
Gestörte Interaktion und Gegenseitigkeit während des Fütterns/Essens,
oft psychische Störungen der Eltern
x
◾◾ Frühkindliche Anorexie
Mangelndes Interesse an Essen, gesteigertes Temperament
x
◾◾ Sensorische Nahrungsverweigerung
Bevorzugung von Nahrungsmitteln bestimmter Farbe, Geruch, Konsistenz, Verweigerung anderer Nahrungsmittel
x
◾◾ Fütterstörung assoziiert mit
medizinischen Erkrankungen
Fütter-/Essprobleme wegen einer Grunderkrankung
x
◾◾ Fütterstörung assoziiert mit Insulten
des gastrointestinalen Traktes (posttraumatische Fütterstörung)
Konditionierte Abwehr und Verweigerung von Essen nach traumatischen
Erlebnissen des oberen GI-Traktes (Absaugen, Erbrechen, Aspiration
usw.)
x
◾◾ Einschlafstörungen
Verlängerte Einschlafzeit, notwendige Anwesenheit von Eltern, wiederholte Kontakte mit Eltern
x
x
◾◾ Durchschlafstörungen
Nächtliches Erwachen, elterliche Interventionen erforderlich
x
x
Persistierendes exzessives Schreien
Exzessives Schreien, Persistenz über das Alter von 3 Monaten hinaus
nach ICD-10
Fütter- und Essstörungen
Schlafstörungen
Regulationsstörungen
◾◾ Ängstlich-vorsichtiger Typ
Überempfindlich auf Stimuli, Ängstlichkeit, Weinen
x
◾◾ Negativ-oppositioneller Typ
Überempfindlich auf Stimuli, verweigerndes, negativistisches Verhalten
x
◾◾ Unterempfindlicher/unterreagierender
Typ
Unterreagiernd auf Stimuli, eingeschränkte Exploration
x
◾◾ Stimulationssuchender/impulsiver Typ
Verlangen nach sensorischen Reizen, impulsives Verhalten
x
Ausscheidungsstörungen
◾◾ Enuresis/Harninkontinenz
Einnässen im Schlaf/am Tag, Ausschluss organischer Ursachen
◾◾ Enkopresis
Einkoten, Ausschluss organischer Ursachen
x
◾◾ Chronische Obstipation
Retention von Stuhl
◾◾ Toilettenverweigerung
Windel für Defäkation
Depressive Störungen
Anhedonie, Interessensverlust, Unglücklichsein, Kummer, Irritabilität
x
x
Angst bei realer oder befürchteter Trennung
x
x
x
Angststörungen
◾◾ Trennungsangst
◾◾ Spezifische Phobie
Umschriebene Furcht vor Objekten
x
x
◾◾ Soziale Angst
Ängste in sozialen Situationen, vor Fremden
x
x
◾◾ Generalisierte Angststörung
Grübeln, Sorgen
x
x
Anpassungsstörungen
Zeitlich begrenzte Symptomatik nach Veränderungen/Verlusten
x
x
Posttraumatische Belastungsstörungen
Hyperarousal, Vermeidung und Reinszenierung nach schweren Traumata
x
x
Bindungsstörungen
Schwierigkeiten, selektive Bindungen an Bezugspersonen aufrechtzuhalten und Trost zu suchen (Folge von Deprivation und Misshandlung)
x
x
Hyperkinetische Störungen (HKS)/
Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Impulsivität, Hyperaktivität, erhöhte Ablenkbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten
x
Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD)
Verweigerndes, provokatives Verhalten
x
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Stimuli. Es werden 4 verschiedene Subtypen unterschieden, die bisher noch nicht
optimal operationalisiert worden sind.
Die Ausscheidungsstörungen können
grob nach ICD-10 diagnostiziert werden,
wobei so wichtige Störungen bei jungen
Kindern wie die Toilettenverweigerung
(Miktionen auf Toilette, Defäkation in
Windel) nicht berücksichtigt sind.
Die internalisierenden Störungen von
Depression und Angst werden häufig übersehen, da die Kinder still und zurückhaltend sind und nicht stören [4]. Das wichtigste Leitsymptom der Depression ist die
Anhedonie, d. h. der Verlust an Freude am
Spiel und an Aktivitäten. Bei den Angststörungen können 4 verschiedene Subtypen unterschieden werden, die wiederum
kombiniert auftreten können.
Anpassungsstörungen entstehen vor­
übergehend nach Verlusten und Veränderungen in dem Umfeld des Kindes und bilden sich oft zurück. Bei jungen Kindern ist
die verlängerte Trauerreaktion besonders
beeinträchtigend.
Die Posttraumatische Belastungsstörung entsteht in zeitlicher Latenz nach einem schweren Trauma und ist durch die
Trias von Hyperarousal, Vermeidung und
Reinszenierung des Traumas gekennzeichnet. Diese Störungen gehen oft mit einer
schweren Beeinträchtigung im Alltag einher.
Bindungsstörungen entwickeln sich
nach schweren Misshandlungs- und Vernachlässigungserlebnissen und zeigen sich
in langfristigen Defiziten einer tragfähigen
Beziehungsgestaltung.
Kinder mit externalisierenden Störungen fallen durch ihr störendes Verhal-
Tab. 5: Leitsymptome der Beziehungsstörungen nach DC:0-3R
Leitsymptome
Beziehungsstörungen nach DC:0-3R
Eltern dominieren, behindern Wünsche des
Kindes, halten Grenzen nicht ein
Überinvolvierte Beziehungsstörung
Eltern sind unsensibel, reagieren nicht und
ignorieren Kind, können nicht adäquat auf
Emotionen eingehen
Unterinvolvierte Beziehungsstörung
Eltern sind gesteigert sensitiv und überprotektiv, sorgen sich exzessiv um Kind
Ängstlich/angespannte Beziehungsstörung
Eltern sind unsensibel, schroff, verspotten
oder ärgern Kind
Ärgerlich/ablehnende Beziehungsstörung
Eltern beschuldigen, kontrollieren, greifen
an, herabwürdigen Kind
Verbal misshandelnde Beziehungsstörung
Eltern verletzen Kind körperlich
Körperlich misshandelnde Beziehungsstörung
Eltern verhalten sich sexuell überstimulierend, misshandeln Kind sexuell nach eigenen Bedürfnissen
Sexuell misshandelnde Beziehungsstörung
ten auf und werden deshalb häufiger und
schneller vorgestellt. Besonders die Kombination von ADHS und Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten ist im Langzeitverlauf ungünstig. Eine
frühe Diagnose und Behandlung ist in diesen Fällen besonders wichtig.
Beziehungsstörungen
In Tabelle 5 sind die wichtigsten Leitsymptome der Qualität der Interaktion bei
Beziehungsstörungen vereinfacht zusammengefasst. Zur Diagnose nach DC:0-3R
müssen noch der affektive Ton und der
Grad der psychischen Involvierung berücksichtigt werden. Das Konstrukt einer
Beziehungsstörung ist von hoher praktischer Relevanz wegen der engen Verbindung von kindlichem Verhalten und Bezugsperson.
Wesentliches für die Praxis . . .
◾◾ Psychische Störungen sind bei jungen Kindern häufig und vielgestaltig. Sie
können klinisch diagnostiziert und behandelt werden.
◾◾ Die Diagnosekriterien der ICD-10 und der DC:0-3R sollten dazu verwendet werden.
◾◾ Neben einer psychischen Störung des Kindes soll immer auch eine Beziehungsstörung erfasst oder ausgeschlossen werden. Dazu ist es wichtig, frühe
Hinweise zu erkennen.
◾◾ Die neuen, interdisziplinären Leitlinien bieten eine praktische Orientierung.
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Beziehungsstörungen sind mit einer
ungünstigen Prognose für eine kindliche
Störung verbunden. Deshalb soll nach den
Leitlinien auch dann eine Beratung erfolgen, auch wenn (noch) keine psychische
Störung beim Kind vorliegt. Dies kann prophylaktisch wirken und das Entstehen einer
späteren kindlichen Störung verhindern.
Auch sind eigene elterliche psychische Störungen (wie Depression oder Persönlichkeitsstörungen) bei Beziehungsstörungen
häufig. Beratung und Behandlung der Eltern kann in diesen Fällen angezeigt sein.
Bei schweren Beziehungsstörungen kann
das Kindeswohl gefährdet sein. Bei misshandelnden Beziehungsstörungen steht der
Schutz des Kindes im Vordergrund.
Beratung und Therapie
Eine Beratung ist immer angezeigt bei allen psychischen Störungen des Kindes,
aber auch bei subklinischen Symptomen.
Sie wird auch empfohlen bei Beziehungsstörungen, selbst wenn keine kindliche
Störung vorliegt.
Eine Behandlung ist indiziert, wenn
eine psychische Störung vorliegt und das
Kind und die Familie beeinträchtigt sind.
Psychotherapien sind Mittel der ersten
Wahl. Eine Pharmakotherapie mit Stimulanzien kommt in dieser Altersgruppe nur bei Kindern mit gesicherter ADHS
in Frage.
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Nach differenzieller Indikationsstellung können unterschiedliche psychotherapeutische Verfahren und Anwendungsformen indiziert sein. Immer soll
die wirksamste, möglichst ambulante Behandlungsmethode gewählt werden. Das
therapeutische Spektrum umfasst ElternKind- und Elterntrainings, Eltern-Säuglings- und Eltern-Kleinkind-Psychotherapien, Einzelpsychotherapien des Kindes,
Therapien mit Fokus auf die Paar- und Familiendynamik, Psychotherapien und psychiatrische Behandlung der Eltern, systemische Familientherapie und bei schweren Formen tagesklinische und stationäre
Behandlungen. Assoziierte Therapien (wie
Logopädie, Ergotherapie, Heilpädagogik,
Physiotherapie und/oder Psychomotorik)
sowie Jugendhilfemaßnahmen können
ebenfalls nach entsprechender Indikationsstellung sinnvoll sein.
Zusammenfassung
Das Ziel der Arbeit war es, wichtige frühe Zeichen von psychischen Störungen bei
jungen Kindern zu vermitteln. Bei einem
Verdacht sollten sowohl das Vorhandensein von kindlichen psychischen Störungen wie auch von Beziehungsstörungen erfasst oder ausgeschlossen werden. Erst eine
exakte Diagnose ermöglicht eine gezielte
und wirksame Therapie. Dazu können die
neuen Leitlinien hilfreich sein.
Literatur
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375 – 385
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bei Klein- und Vorschulkindern – ein Ratgeber für Eltern
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TO THREE Press
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Bern
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Interessenkonflikt:
Der Autor hat keinen Interessenkonflikt im
Zusammenhang mit diesem Beitrag.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Alexander von Gontard
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg
Tel.: 0 68 41/16-1 43 95
Fax: 0 68 41/16-1 43 97
E-Mail: [email protected]
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