Wettstreit der Skalpelle - St. Theresien

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stern vom 22.09.2011
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Astrid Viciano
136-141
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Medizin
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Wettstreit der Skalpelle
Eine wegweisende Datenanalyse von AOK-Forschern vergleicht am Beispiel Galle die
QUALITÄT VON OPERATIONEN in mehr als tausend deutschen Krankenhäusern
Es ist 11.31 Uhr, im Operationssaal
Nummer sieben des Klinikums Passau
setzt der Chirurg Helmut Grimm mit
einem Skalpell den ersten von vier
Hautschnitten in die Bauchdecke seines
Patienten.
Um 11.36 Uhr schiebt er eine Fasszange ins Bauchinnere und greift damit
behutsam nach der Gallenblase. Um
12.15 Uhr liegt das kleine Organ dunkelrot und runzelig in einer Nierenschale auf dem Instrumententisch.
"Haben wir gut gemacht", sagt Grimm
zufrieden.
Und meint damit mehr als die soeben
gelungene Operation der Gallenblase.
Am Vortag nämlich hat der Chefarzt
erfahren, dass sein Krankenhaus in einer
bundesweiten Auswertung von 1096
Kliniken auffällig gut abgeschnitten hat.
Ein Team um den Mathematiker Christian Günster vom Wissenschaftlichen
Institut der AOK (Wido) hat ermittelt,
wie es um die Qualität der GallenblasenOPs bundesweit bestellt ist.
Die zu messen ist ein statistisches
Großunternehmen. Günster und Kollegen werteten aus, wie viele der 24 Millionen AOKVersicherten in den Jahren
2007 bis 2009 an der Gallenblase operiert wurden, wie häufig es zu Komplikationen kam und ob Menschen als
Folge des Eingriffs starben. Als eines
der ersten bundesweiten Projekte überhaupt geben die Daten Auskunft, ob sich
die Patienten nach ihrer Entlassung aus
der Klinik langfristig gut von ihrer Operation erholten.
Erst so zeichnen die Zahlen ein vollständiges Bild davon, wie gut oder schlecht
kranke Menschen in einer Klinik behandelt werden.
"Viele Komplikationen treten erst nach
der Entlassung auf", sagt Günster.
Die Qualität der Krankenhäuser wird
durch Projekte wie dieses zunehmend
transparent - Patienten müssen sich
nicht mehr allein auf die Klinikempfeh-
lung ihres Hausarztes verlassen. Sie
können selbst nachlesen. Und unter den
Krankenhäusern verstärkt sich der Wettbewerb. "Für die Medizin ist das ein
enormer Fortschritt", sagt Thomas
Mansky, Leiter des Fachbereichs Strukturentwicklung und Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin.
Im Internetsuchportal der Krankenkasse,
dem AOK-Navigator, können Interessierte die Informationen ab sofort abrufen. Neben Kliniken wie dem Kreiskrankenhaus St. Franziskus Saarburg oder
dem St.-Theresien-Krankenhaus Nürnberg liegen die Chirurgen aus Passau in
der Rangliste ganz oben. "Ich wusste
natürlich, dass wir gute Arbeit leisten",
sagt Chirurg Grimm, "aber dass wir so
gut abschneiden würden, hätte ich nicht
gedacht." Allein im vergangenen Jahr
wurde die Gallenblase in Deutschland
bei 173 000 Patienten entfernt.
Eine Entzündung oder Gallensteine, die
starke Schmerzen auslösen, sind meist
Grund für die Operation. Dramatisch ist
der Verlust der Gallenblase nicht. Das
am Unterrand der Leber sitzende Organ
konzentriert und speichert zwar Gallenflüssigkeit, ist aber für den menschlichen Stoffwechsel entbehrlich. Jedoch
hat der Eingriff selbst Risiken - und wie
groß die sind, hängt von der Güte des
ärztlichen Handwerks ab.
Wie eine Therapie verlaufen ist, müssen Kliniken seit 2005 alle zwei Jahre in
Qualitätsberichten offenlegen, ab 2013
sogar jährlich.
Zusätzlich werten manche Kliniken freiwillig Daten aus, die sie zur Abrechnung ihrer Kosten an die Krankenkassen schicken müssen. Alle im Krankenhaus verordneten Tests, Eingriffe und
Medikamente sind in diesen Dokumenten enthalten, sie liefern damit wertvolle Informationen über den Krankheitsverlauf des Patienten - bis zu seiner Entlassung.
Noch mehr sehen allerdings die Krankenkassen: Bei ihnen treffen auch die
Abrechnungen für operationsbedingte
Nachbehandlungen ein. So litten nach
der Entfernung der Gallenblase zehn
Prozent der AOK-Patienten an Komplikationen.
Warum genau es aber in manchen Krankenhäusern besser lief als in anderen,
erklären die AOKDaten nicht. Oder
warum zum Beispiel in Berlin gleich
sechs Kliniken überdurchschnittlich gut
abschneiden, in Hamburg dagegen nur
eine einzige. "Wir suchen noch nach den
Ursachen", sagt der Mathematiker Günster.
Immerhin weiß er, dass keine der üblichen Operationsmethoden der anderen
überlegen ist.
Ganz gleich, ob die Chirurgen am offenen Bauch oder mithilfe der Schlüssellochtechnik operieren - die Anzahl der
Komplikationen unterscheidet sich
nicht, so ergab eine Studie der renommierten Cochrane Collaboration.
Bei der Schlüssellochtechnik werden
eine Kamera und Operationsinstrumente über fünf bis zehn Millimeter
große Schnitte in der Bauchdecke Richtung Gallenblase geschoben. Mal brauchen die Mediziner dabei vier
Hautschnitte, mal genügt ihnen eine einzige Öffnung, um das Innenleben des
Bauchs zu sichten.
Mehr als 90 Prozent aller Gallenblasen
werden heute mithilfe dieser Methode
entfernt.
Gelegentlich entnehmen Chirurgen die
Gallenblase neuerdings auch über die
Scheide oder den Enddarm, um Narben
zu vermeiden.
Nur selten müssen sie noch die ganze
Bauchdecke öffnen, etwa wenn die Gallen blase als Folge früherer Operationen
mit anderen Organen verwachsen ist.
"Unsere erfahrenen Chirurgen assistieren den jüngeren lange Zeit, bis diese
völlig eigenständig operieren dürfen.
Vielleicht ist das der Schlüssel zu unserem Erfolg", sagt Chefarzt Grimm.
Während das Team des Wido noch im
Gesamt- Datenschatz stöbert, haben
andere Institutionen ihre eigenen Qualitätsdaten für bestimmte Kliniken analysiert und mögliche Ursachen für die
Unterschiede gefunden. So zum Beispiel der Helios-Konzern, der ein Netz
von 64 Kliniken in Deutschland
betreibt. "Die Abläufe direkt vor oder
nach der Operation liefen in manchen
Fällen nicht optimal", erläutert Hubert
Zirngibl, Leiter der Klinik für Allgemeinund Viszeralchirurgie des HeliosKlinikums Wuppertal.
Zu selten etwa hätten seine Kollegen bei
ihren Patienten vor der Operation nach
Begleiterkrankungen gesucht. Bei einer
77-jährigen Patientin übersahen die
Chirurgen, dass ihr Herzmuskel schlecht
durchblutet war. Sie starb kurz nach
Entfernung der Gallenblase an einem
Infarkt.
Alle Todesfälle werden seit dem Jahr
2000 in den Helios-Kliniken analysiert,
seit 2008 ist der Konzern Mitglied der
Initiative Qualitätsmedizin (IQM). In
dem Projekt haben sich 134 Krankenhäuser aus Deutschland, der Schweiz
und Österreich vereint, um die Qualität
ihrer Behandlung zu verbessern. "Es ist
ein Riesenfortschritt, dass ärztliche Kollegen verschiedener Kliniken auf
Augenhöhe über mögliche Fehler diskutieren", sagt Oda Rink, FachausschussLeiterin der IQM.
Für eine optimale Versorgung des Patienten, so ergaben Auswertungen der
Initiative, müssen verschiedene Abteilungen eines Krankenhauses gut zusammenarbeiten.
Im Klinikum Passau zum Beispiel sieht
ein Chirurg immer alle Patienten mit
akuten Gallenblasenbeschwerden, auch
wenn sie bei den Internisten aufgenommen werden. "Wir überlegen dann
zusammen, wie wir den Patienten
behandeln", sagt Chefarzt Grimm. Ab
November werden Internisten und Chirurgen sogar gemeinsam eine Krankenstation führen - ein Bruch mit der deutschen Tradition, Abteilungen strikt voneinander zu trennen.
Vom Organisatorischen und seinen
Tücken wissen Patienten gewöhnlich
nichts.
Umso wichtiger ist es für sie, die
Behandlungsergebnisse der Kliniken im
Detail zu erfahren. Eine Änderung im
Versorgungsgesetz soll bald den Weg
dafür ebnen, nicht nur die Patientendaten der AOK auszuwerten, sondern jene
aller gesetzlichen Krankenkassen.
70 Millionen Deutsche sind in ihnen
versichert. "Ab 2014 wollen wir die
ersten Auswertungen haben", sagt Joachim Szecsenyi, Geschäftsführer des
dafür zuständigen Instituts für Angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen in Göttingen.
Dann endlich müssen Patienten nicht
mehr blind auf das Geschick von Klini-
kärzten vertrauen.
Kasten:
Mehr InforMatIonen www.weisseliste.aokgesundheitsnavi. de Hier können Sie erfahren, wie gut oder schlecht
eine Klinik zum Beispiel die Gallenblase operiert
Grafik:
Große Kliniken für eine kleine operation Die AOK hat die Behandlungsqualität bei der Entfernung der Gallenblase
ermittelt. Hier finden Sie 29 Krankenhäuser, die besonders viele Patienten
sehr gut behandelt haben. Und jene fünf
Kliniken, die bundesweit die wenigsten
Komplikationen aufwiesen - unabhängig von der Zahl der Operierten. Auch
in den besten Häusern kommen Folgen
wie zum Beispiel Blutungen vor So
lesen Sie die Tabelle: +++ überdurchschnittlich gute Qualität ++ durchschnittliche Qualität + unterdurchschnittliche Qualität
Bildunterschrift:
BErt HEinzlMEiEr (Fotos)
Schlüssellochtechnik: der passauer Chirurg Helmut Grimm (M.) und sein team
bei einer minimalinvasiven Operation
Eine gute Kooperation zwischen den
Spezialgebieten verbessert die Ergebnisse:
Chirurg Grimm (r.) tauscht sich mit dem
Radiologen Josef Tacke aus
Ein Zehntel der Operierten leidet unter
Komplikationen - im Durchschnitt.
Es geht aber auch besser
[Kein Titel]
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