Ursachen unbekannt - Deutsches Ärzteblatt

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W I S S E N S C H A F T
Paruresis
Ursachen unbekannt
Schätzungsweise eine Million Männer und eine halbe Million
Frauen leiden unter der sozialen Angststörung.
D
er Begriff „Paruresis“ bezeichnet
das Unvermögen, auf öffentlichen
Toiletten zu urinieren. Andere
Bezeichnungen sind „shy bladder syndrome“ oder „psychogener Harnverhalt“. Das psychische Problem besteht
nicht im Ekel vor öffentlichen Toiletten,
sondern in der sozialen Komponente:
Den Betroffenen ist es unangenehm
und peinlich, wenn sie von anderen
Menschen bei den Verrichtungen auf
der Toilette gehört oder gesehen werden
(könnten). Die Paruresis wird deshalb
als soziale Angststörung angesehen.
Schätzungen gehen davon aus, dass
in Deutschland etwa eine Million Männer und eine halbe Million Frauen unter
Paruresis leiden. Für die Betroffenen ist
die Blasenentleerungsstörung ein ernst
zu nehmendes Problem. „Sie vermeiden öffentliche Toiletten und unterlassen soziale Aktivitäten, da sie nicht abschätzen können, wo und unter welchen
Bedingungen es möglich ist zu urinieren“, sagt der Psychotherapeut Dr. Philipp Hammelstein von der Universität
Düsseldorf. Der berufliche Tagesablauf
wird teilweise danach bestimmt, wann
sich eine Gelegenheit bietet, ungestört
und unbeobachtet zu urinieren. Hinzu
kommen häufig Selbstabwertungen,
Selbstzweifel und Depressionen.
Die Störung tritt in der Regel schon im
Jugendalter auf und bleibt bestehen,
wenn sie nicht behandelt wird. Die Ursachen sind unbekannt. Zurzeit geht man
von einer erlernten Fehlsteuerung des
vegetativen Nervensystems aus. Eine
traumatische Erfahrung, Ängste oder
starke Schamgefühle können dazu
führen, dass das Urinieren auf öffentlichen Toiletten erstmals nicht möglich ist.
Dadurch entsteht eine Erwartungsangst,
dass es beim nächsten Mal wieder nicht
klappen könnte. Das kratzt am Selbstwertgefühl. Selbstabwertung und Erwartungsangst führen zu Vermeidungsverhalten, das den Prozess weiter verstärkt.
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⏐ Heft 11⏐
⏐ November 2005
Deutsches Ärzteblatt⏐
Neben der Paruresis „im Kopf“ spielen
auch unwillkürliche Prozesse eine Rolle.
Beim Urinieren ist in der Regel der Parasympathikus aktiv, der eine Entspannung
der Blasenringmuskeln bewirkt. Bei den
Betroffenen wird hingegen der Sympathikus aktiviert. Das bedeutet, dass sich
ihr Körper auf Angriff oder Flucht vorbereitet und alle weniger wichtigen Körperfunktionen, wie zum Beispiel den
Harnfluss, einstellt. Da die Blasenentleerung jedoch zum Teil auch willkürlich
steuerbar ist, setzt hier die Therapie an.
Die kognitive Verhaltenstherapie ist
die Methode der Wahl, um Paruresis zu
behandeln. Vor Therapiebeginn müssen
jedoch körperliche Ursachen, wie zum
Referiert
Nachbereitende Maßnahmen
Gelerntes in den Alltag
übertragen
W
as in der Klinik gelernt wurde, ist
zu Hause schnell vergessen. Deshalb haben Forscher an der Psychosomatischen Fachklinik Bad Dürkheim
geprüft, wie sich Erlerntes besser in den
Alltag transferieren lässt. Sie boten 163
Patienten die Vor- und Nachbereitung
des stationären Aufenthalts an, während die Kontrollgruppe mit 170 Patienten keine flankierenden Interventionen erhielt. Zu den Maßnahmen zählten unter anderem psychoedukative
Gruppeninterventionen, verhaltenstherapeutische Einzelgespräche sowie Informationen über Psychosomatik, Verhaltenstherapie und Entspannungstraining. Außerdem wurden private und
berufliche Ziele der Patienten bearbeitet; es wurde Wissen über Selbstregulation, Problemlösen und zielgeleitetes
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Beispiel Prostatavergrößerung, Prostatakrebs oder Harnröhrenenge, vom
Facharzt ausgeschlossen werden. Die
Therapie: Psychoedukation, Selfmonitoring, kognitive Restrukturierung, gestufte Konfrontation und Entspannung.
Zunächst wird der Patient über die
Funktionsweise der Blase informiert.
Dann werden die negativen Gedanken, Sorgen und Schamgefühle ermittelt
und korrigiert. Die Betroffenen trainieren außerdem das Urinieren in angstauslösenden Situationen. Dadurch lernt
der Patient, dass die Toilettensituation
ungefährlich ist und der Körper keine
Gefahrenreaktionen in Gang setzen
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
muss.
Literatur
1. Soifer S, Zgourides G, Himle J, Pickering NL: Shy Bladder Syndrome: Your step-by-step guide to overcoming
paruresis. Oakland: New Harbinger Publications 2001.
2. Hammelstein P: Lass es laufen! Ein Leitfaden zur
Überwindung der Paruresis. Lengerich: Pabst Science
Publishers 2005.
Informationen im Internet: www.paruresis.de, www.paru
resis-europa.org.
Handeln vermittelt. Während in der
prästationären Phase die Informationsvermittlung im Vordergrund stand, waren Einzeltherapie und Gruppensitzungen die Schwerpunkte in der poststationären Phase. Die ambulanten Interventionen wurden in den vier Wochen
vor und bis zu acht Wochen nach dem
stationären Aufenthalt angeboten. Sie
waren kostenneutral, das heißt, sie wurden durch eine entsprechende Verkürzung der stationären Verweildauer erbracht. „Die ambulanten Maßnahmen
fanden hohe Akzeptanz bei den Patienten“, berichten die Therapeuten.
Die Maßnahmen verbesserten zudem
Vorbereitung, Transfer, Effektivitätszuwachs und Langzeiterfolg der Rehabilitation, auch über den stationären Aufms
enthalt hinaus.
Bischoff C, Gönner S, Ehrhardt M, Limbacher K: Ambulante vor- und nachbereitende Maßnahmen zur Optimierung der stationären psychosomatischen Rehabilitation – Ergebnisse des Bad Dürkheimer Prä-PostProjekts. Verhaltenstherapie 2005; 15: 78–87.
Prof. Dr. Claus Bischoff, Psychosomatische Fachklinik,
Kurbrunnenstraße 12, 67098 Bad Dürkheim
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