Hector Berlioz: Ouvertüren Alle Kompositionen des ungestümen

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Hector Berlioz: Ouvertüren
Alle Kompositionen des ungestümen französischen Romantikers Hector Berlioz sind
tatsächliche und fiktive Autobiographie, stürmische und exhibitionistische
Konfession, theatralische Selbstinszenierung, basierend auf leidenschaftlicher
Lektüre und leidenschaftlichen Liebeserlebnissen, in Gang gesetzt von einem
hypersensiblen, fast immer überreizten Gemüt, einer mimosigen ReizEmpfänglichkeit, die Berlioz selbst als „nervöse Überspanntheit“ diagnostizierte,
„ähnlich wie der Opiumrausch“. „Ich habe nur ein einziges Mittel gefunden, das
diese ungeheure Begierde nach Gemütsbewegung völlig befriedigt, und das ist die
Musik.“ Reflexe aufwühlender Leseerlebnisse und „Théâtre imaginaire“ sind natürlich
alle seine Ouvertüren, seien es die fünf Operneinleitungen oder die ebenfalls fünf
selbständigen Konzertstücke.
Als 22-jähriger Student am Pariser Conservatoire schrieb Berlioz auf einen Text
seines Freundes Humbert Ferrand seine erste Oper: Les francs-juges spielt im
mittelalterlichen Deutschland, genauer im Breisgau bzw. im Schwarzwald. (Francsjuges sind die Fehmerichter, in deren Kompetenz die todeswürdigen Verbrechen
fielen; sie kannten nur die Alternative: Freispruch oder Tod; wer nicht vor dem
Tribunal erschien, wurde verfemt, also in Acht und Bann getan.) Es geht darin um
den Usurpator und Brudermörder Olmerik, der seinen Neffen Lenor zum Tode
verurteilt, um sich dessen Verlobter Amélie nähern zu können. Auf dem OpernHöhepunkt „erbebt die Erde und gebiert eine riesige Bronzestatue“, die den
umschlingt, der sie berührt und ihn dann in die Hölle stürzt. Mit dem besonders
verworrenen Inhalt war eine Jury der Académie Royale de Musique so wenig
einverstanden, dass sie die ganze Oper ablehnte – worauf Berlioz die bereits
fertigen Teile vernichtete. Die Ouvertüre allerdings veröffentlichte er separat. Sie
wurde ein großer Erfolg, auch in Deutschland, wo Robert Schumann sich für sie
einsetzte. Die langsame Einleitung schildert in tastendem f-Moll den Gang eines
Todeskandidaten zur Richtstätte, dann in einem wuchtigen Des-Dur-Thema von
Posaunen und Ophikleiden (oder Tuben) den Bösewicht Olmerik bzw. „die
schreckliche Gewalt der Femerichter und ihren düsteren Fanatismus“. Das folgende
Allegro assai ist ein Sonatensatz, dessen zweites Thema (As-Dur) aus einem ganz
frühen Flötenquintett Berlioz’ stammt und besonders wandlungsfähig ist: In einer
Es-Dur-Variante hat es „melancholischen Ausdruck“, in der F-Dur-Fassung wird es
zum Triumphmarsch mit keineswegs zufälliger Ähnlichkeit zur Marseillaise. Schon
bei seiner ersten Wiederholung wird es mit dem ersten Thema auf eine Weise
kombiniert, die typisch ist für Berlioz’ „Kontrapunkt“. Er montiert eigentlich NichtZusammengehöriges als „double caractère“ übereinander – ein Verfahren, das er in
der Durchführung noch kühner handhabt.
Zu Berlioz’ frühen Leseleidenschaften gehörte Walter Scott, der schottische
„Erfinder“ des historischen Romans, den kein Geringerer als Goethe für den besten
Erzähler seiner Zeit hielt und dessen Roman-Erstling Waverley er gar „den besten
Sachen an die Seite“ stellte, „die je in der Welt geschrieben wurden“. Diesem
Romanhelden, Edward Waverley, der während des letzten Jakobitenaufstands 1745
gegen die Engländer kämpfte und die schöne Flora Mac-Ivor liebte, galt Berlioz’
offizielles Opus 1, seine erste Konzertouvertüre, die wohl 1827 entstand. Er hat der
Partitur die beiden letzten Verse eines Gedichts des jungen Waverley vorangestellt:
Dreams of love and lady’s charms
Give place to honour and to arms.
Es geht darin – nach langsamer Einleitung mit Cellokantilene und unheildrohendem
Paukensolo – so chevaleresk, stürmisch und anschaulich zu, dass die Zeitgenossen
den „rauen Klang der Dudelsäcke zu hören“ glaubten, „wie sie die altschottischen
Krieger zur Schlacht rufen“. Und wieder zeigte sich Robert Schumann beeindruckt,
der seine Rezension in der Neuen Zeitschrift für Musik mit dem Fazit schloss, die
Ouvertüre sei „trotz aller Jugendschwächen durch die Größe und Eigentümlichkeit
der Erfindung das Hervorragendste, was uns Frankreich an Instrumentalmusik
neuerdings hervorgebracht“.
„Shakespeare ... traf mich wie ein gewaltiger Blitzschlag, dessen Strahl mir mit
überirdischem Getöse den Kunsthimmel eröffnete und mich bis in seine weitesten
Fernen blicken ließ. Ich erkannte die echte dramatische Größe, Schönheit und
Wahrheit. ... Ich sah, verstand, fühlte, dass ich lebte, dass ich aufstehen sollte und
wandeln.“ Dieses wundersame Erweckungserlebnis hat für Berlioz’ Komponieren und
den Gang der Musikgeschichte bekanntlich entscheidende Auswirkungen gehabt:
Nicht nur die Symphonie fantastique – deren Entstehungsgrund die eher
tragikomische Liebe zur Shakespeare-Darstellerin Harriet Smithson war – und ihre
Fortsetzung Lélio, auch natürlich Roméo et Juliette, die Oper Béatrice et Bénédict
(nach Viel Lärm um Nichts) und die Ouvertüre Le Roi Lear gehen auf den englischen
Dramatiker zurück. Zur Vorgeschichte dieses Opus 4 gehört Berlioz’ Gewinn des
berühmten Rompreises, der nach den Satzungen der Pariser Akademie vorsah, dass
von dem damit erlangten fünfjährigen Stipendium zwei Jahre in der italienischen
Hauptstadt verbracht werden durften bzw. mussten.
Berlioz ertrug die Pflichtzeit in der Villa Medici nur mühsam – vor allem, weil Italien
ihm musikalisch nichts zu bieten hatte; aber auch, weil er sein eigenes privates
Eifersuchts-Melodram in Paris zu inszenieren gedachte: den geplanten Tripelmord
an seiner Verlobten Camilla Moke, ihrer Mutter und dem von ihr meuchlings
bestimmten künftigen Mann Camille Pleyel (Sohn des Komponisten Ignaz Pleyel).
Die blutigen Absichten waren schon in Nizza verflogen, wo er drei Wochen blieb und
seine emotionalen Überschüsse für die Transformation seiner jüngsten
Leseerlebnisse in Musik verwendete – unter anderem eben den King Lear, in dessen
Gemüts- und Affektzustände er sich besonders gut versetzen konnte. Das weit
ausholende rezitativische Thema der Einleitung ist zweifellos Lears Ansprache an
seine drei Töchter, und die 20 solistischen Paukentakte am Ende dieser Introduktion
hat Berlioz aus alten französischen Königsritualen übernommen. Dagegen
repräsentieren beide Oboenthemen in Einleitung und Sonatensatz die milde
Cordelia, die von ihrem Vater so gründlich verkannt wird. Dessen ausbrechendem
Wahnsinn entspricht die zunehmende Verzerrung und Destruktion des
„Königsthemas“. Die Ouvertüre Rob Roy – genauer: Intrata di Rob- Roy Mac Gregor
– ist ebenfalls eine Komposition der Rom- und Nizza-Zeit, gehörte zu den „Envois de
Rome“, also den Pflichtstücken, die die Stipendiaten regelmäßig zur Begutachtung
nach Paris zu schicken hatten. Und es ist nach Waverley Berlioz’ zweite Ouvertüre
nach einem Roman Walter Scotts: Rob Roy ist ein schottischer Rebell mit Robin
Hood-Zügen, dessen musikalische Charakterisierung Authentizität aus der
Verwendung einer schottischen Weise bezieht, die ab Takt zehn – zunächst im
Hornquartett – erklingt und über die Berlioz sich in einem Zeitungsartikel äußerte:
„Die Melodie des Mac Gregor-Clans ‚We are Scots‘ ist vortrefflich; auch ohne die
Worte dieses Gebirglerliedes zu hören, erkennt man den Hochländer, der sich seiner
Kraft und Freiheit freut.“ Andere instrumentale Hauptdarsteller sind die Harfe und
das Englischhorn, die zweimal besonders eindrucksvoll miteinander dialogisieren.
Beide Themen hat Berlioz später vom schottischen Hochland in die italienischen
Abruzzen verlegt, sie aus der erfolglosen Ouvertüre in seine Bratschen-Sinfonie
Harold in Italien hinübergerettet.
Ein später Reflex des Italien-Aufenthalts war Berlioz’ Oper um den abenteuernden
Florentiner Renaissancekünstler Benvenuto Cellini. Die Uraufführung 1838 war ein
Debakel, dessen Ursachen Berlioz ausschließlich im Desinteresse des Dirigenten
Habeneck sah – woraus er in seinen Mémoires den Schluss zog: „Arme
Komponisten! Ihr tätet gut daran, das Dirigieren zu lernen. [...] denn vergesst
nicht, dass euer gefährlichster Interpret der Dirigent ist [...]“
Berlioz hielt Teile seiner Oper am Leben – die Ouvertüre, eine Cavatine, Arien von
Ascanio und Cellini –, indem er sie gelegentlich in seinen Konzerten aufführte.
Außerdem verwendete er Opernmaterial für eine eigenständige Konzertouvertüre,
die er Römischer Karneval nannte. Nach kurzem Saltarello-Vorspann setzt die
berühmte Englischhorn-Melodie ein, die das Liebesduett Cellini-Teresa zitiert. Die
Musik des Allegro vivace entstammt zu großen Teilen dem Saltarello der „Tänzer
von Trastevere“, mit dem der Opern-Karneval eröffnet wird. Bei der Uraufführung
1844 befolgte Berlioz den eigenen Ratschlag, dirigierte selbst und errang einen
Triumph unter Bedingungen, die allerdings schwer vorstellbar sind: Die einzige
Probe fand am Morgen der Uraufführung ohne die Bläser statt (die Dienst in der
Nationalgarde hatten). Sie spielten vermutlich vom Blatt und hatten als einzige
Präparation die ihnen von Berlioz zugeraunte Allerwelts-Empfehlung, auf seinen
Taktstock zu achten und die Pausen gut zu zählen. Zudem war Berlioz’ Todfeind
Habeneck zugegen, um sich an der bevorstehenden Katastrophe zu ergötzen. Aber:
„Nicht ein einziger Fehler wurde gemacht. Ich warf das Allegro in dem wirbelnden
Tempo der Tänzer jenseits des Tiber hin. Das Publikum schrie da capo [...] Und als
ich das Foyer wieder betrat, wo sich Habeneck, etwas betreten, aufhielt, richtete ich
im Vorübergehen die vier Worte an ihn: ‚So wird das gemacht!‘“
Lord Byron, „Erfinder“ von Dandyismus und Weltschmerz, ein Apoll mit Klumpfuß,
Mann der Exzesse zwischen Askese und Wolllust, Propagandist des unumschränkten
Rechts der Persönlichkeit auf Freiheit und Liebe, hat einer ganzen Epoche den
Namen gegeben: „Byronismus“ betrieben neben den Literaten der französischen
und russischen Romantik und des Jungen Deutschland auch viele Komponisten von
ähnlicher Wesensart, darunter – natürlich – Hector Berlioz. Der fand nichts dabei, es
sich während seines Rom-Aufenthalts 1831 in Sankt Peter mit einem Band Byron „in
einem Beichtstuhl bequem“ zu machen, „und im Genuss der Kühle, der heiligen
Stille [...] folgte ich den kühnen Fahrten des Korsaren; ich verehrte aufs Tiefste
diesen zugleich unerbittlichen und zärtlichen, mitleidlosen und edelmütigen
Charakter, in dem sich in wundersamer Weise zwei scheinbar entgegengesetzte
Gefühle zusammen- finden, der Hass gegen die Gattung und die Liebe zu einer
einzigen Frau.“ Sicherlich entstand damals schon die Idee zur Vertonung der
Beichtstuhl-Lektüre, Byrons Verserzählung The corsair, doch der Weg zur Ouvertüre
Le corsaire war lang und dem Sujet angemessen abenteuerlich. Die Kurzfassung:
1831 erste Skizzen in einem Wohnturm (mit Meeresblick) in Nizza; 1845
Komposition der Ouvertüre in demselben Turm, weshalb er sie La Tour de Nice
nannte; 1852 Umarbeitung und Umbenennung in Le corsaire rouge, in Anlehnung
an James Fenimore Coopers Roman The Red Rover („Der rote Freibeuter“); 1855
Umarbeitung und Umbenennung in Le corsaire. Doch welcher Pirat – also der
kühne, aber edelmütige, nur durch widrige gesellschaftliche Umstände ins
Seeräuberleben gezwungene „outlaw“ – auch immer gemeint war: er ist eine
Projektion von Berlioz’ Ego, dem missverstandenen, einzelgängerischen, von der
Gesellschaft gar ausgestoßenen, aber unverdrossen um seine Anerkennung
kämpfenden Künstler.
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