Pflanzliche Arzneimittel auf dem Prüfstand: Johanniskraut Interview mit Prof. Dr. med. Ivar Roots, Institut für Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum Charité, Berlin Pflanzliche Arzneimittel sind sehr beliebt. Sie gelten als sanfte Medizin. Der Zauber der Natur geht von ihnen aus und das um so mehr, je technischer die Welt wird. Dass pflanzliche Arzneimittel auch Nebenwirkungen haben, daran wird überhaupt nicht gedacht. Jetzt ist durch Berichte über Nebenwirkungen von Johanniskraut diese Sorglosigkeit erschüttert worden. Sie als klinischer Pharmakologe haben über Johanniskraut gearbeitet. ■ Ja, wir haben über die Wechselwirkungen von Johanniskraut mit anderen Arzneimitteln geforscht. Zunächst bei Digoxin, einem Digitalispräparat, das die Kontraktionskraft des Herzens erhöht. Wir fanden heraus, dass Johanniskraut-Extrakt die therapeutische Konzentration von Digoxin im Blut um 25 % herabsetzt – nicht sofort, aber nach mehreren Tagen. Was bedeutet das für den Patienten? Eine Fingerhutblüte, aus der das Herzmittel Digitalis gewonnen wird, hält Dr. Gachet in der Hand auf dem Bild, das van Gogh von seinem Arzt gemalt hat. Van Gogh starb in Armut – kurz nachdem er das Bild vollendet hatte. Das Bild aber hatte eine so große Ausstrahlung, dass es zum Kultbild der Moderne wurde. 1990 kaufte der japanische Industrielle Saito das Porträt für 82 500 000 Dollar, den höchsten Preis, der je in der Kunstgeschichte für ein Bild bezahlt wurde. 18 ■ Diese verringerte Konzentration im Blut kann dazu führen, dass der Patient auf die Therapie mit Digoxin nicht oder zu wenig anspricht. Und umgekehrt: Setzt ein mit Digoxin behandelter Patient Johanniskraut-Präparate ab, läuft er Gefahr, die Grenze zur Überdosierung zu überschreiten – was sehr riskant ist. All das muss die klinische Forschung weiter klären. Sind Zwischenfälle bekannt? ■ Nein – wie auch? Wenn das Herz infolge der verminderten Wirkung von Digoxin weniger leistete, so war es sehr unwahrscheinlich, dass diese Schwäche mit Johanniskraut in Verbindung gebracht werden konnte, und zwar aus zwei Gründen: Die Patienten sagen in der Regel ihrem Arzt nicht, wenn sie pflanzliche Arzneimittel auf eigene Faust nehmen, und die Ärzte konnten nicht gezielt fragen, weil der Zusammenhang zwischen Johanniskraut und Digoxin nicht bekannt war. Aber andere Nebenwirkungen von Johanniskraut machten Schlagzeilen. ■ Ja, nach Herztransplantationen zeigten sich in zwei Fällen Abstoßungsreaktionen, weil Johanniskraut-Extrakt die Wirkung von Ciclosporin, das diese Abstoßungsreaktionen verhindern soll, abschwächte. Bei fünf Patienten wurden aus dem gleichen Grunde die transplantierten Nieren gefährdet, weil die Patienten Johanniskraut-Extrakt eingenommen oder Johanniskraut-Tee getrunken hatten. Diese Fälle hätten tragisch enden können. Sie zeigen, wie ernst die Nebenwirkungen von pflanzlichen Arzneimitteln genommen werden müssen. Was weiß man noch über Johanniskraut? ■ Johanniskraut-Extrakt senkt die Plasmakonzentration von Phenprocoumon (in: Marcumar, Falithrom u.a.) und Warfarin (in: Coumadin, Marevan u.a.). Das ist wichtig für alle, die solche Gerinnungshemmer einnehmen müssen. In einigen Fällen wurden unerwartet niedrige INR-Werte bzw. erhöhte Quickwerte gemessen, und dadurch war eine sichere Gerinnungshemmung nicht gewährleistet. Wichtig ist auch die Abschwächung der Wirkung von Indinavir, das bei der Behandlung von Aids eingesetzt wird. Johanniskraut-Extrakt senkte dessen Gesamtkonzentration im Körper (AUC) um 57 %. Bei der gleichzeitigen Behandlung mit Johanniskraut und Amitriptylin oder Nortriptylin, beides Antidepressiva, sank diese Konzentration um 21,7 bzw. 40,6 %. Dadurch wird die Wirkung dieser Medikamente erheblich abgeschwächt. Gibt es eine Erklärung für diese Nebenwirkungen? ■ Wahrscheinlich ist folgende Erklärung: Im Dickdarm und im Dünndarm, wo Medikamente resorbiert werden, befinden sich in den Schleimhäuten P-Glykoproteine. Diese Proteine haben die Aufgabe, Fremdstoffe abzufangen und aus dem Körper zu transportieren. Johanniskraut führt wahrscheinlich zur Vermehrung dieser Glykoproteine und daraus könnte sich die Wirkungsabschwächung dieser Medikamente erklären. Ein weiterer Mechanismus der Interaktion könnte in der Steigerung der Stoffwechselaktivität der Medikamente liegen. Sie könnten also schneller ausgeschieden werden. So oder so, die Forschung wird sicher in Zukunft noch mehr Interaktionen von Johanniskraut mit anderen Medikamenten finden. Wie kommt es, dass diese Wechselwirkungen erst jetzt entdeckt werden? ■ Johanniskraut wurde schon Jahrhunderte vor Christi Geburt als Heilpflanze genutzt. In Hunderten von Jahren hat es einen geradezu mythischen Ruf erworben, wie aus den volkstümlichen Namen Sonnwendkraut, Herrgottsblut, Jesuwundenkraut hervorgeht. So verließ man sich auf jahrhundertealte Traditionen und Verfahren. Die wissenschaftliche Erforschung von pflanzlichen Medikamenten ist relativ neu und hat noch große Lücken. Dass Johanniskraut-Extrakt zum Beispiel die Wirkung von Digoxin herabsetzt, kam nur dadurch heraus, dass eine deutsche Pharmafirma ihr Johanniskraut-Präparat auch im Ausland vermarkten wollte. Dafür mussten die Interaktionen mit anderen Medikamenten dokumentiert werden. Das Ergebnis der Studie, die unserem Institut in Auftrag gegeben wurde, war unerwartet. Wäre es nicht richtig, Johanniskraut-Präparate verschreibungspflichtig zu machen? 19 ■ Sicherheitsmaßnahmen sind nötig. Aber gegen eine Verschreibungspflicht gibt es auch Einwände. Zum Beispiel können auch freiverkäufliche Abführmittel die Wirkung von Medikamenten erheblich vermindern. Und Lebensmittel: Viel zu wenig bekannt ist, dass Grapefruchtsaft die Wirkung von Medikamenten (von Ciclosporin, Theophyllin, verschiedenen Calziumantagonisten, Midazolam und vielen anderen) bis um 50 % steigern kann – eine gefährliche Eigenschaft. Hier hilft keine Verschreibungspflicht, nur das Wissen von Arzt und Patient über die Nebenwirkungen. Trotzdem, bei Johanniskraut-Präparaten sind Sicherheitsmaßnahmen notwendig. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) will den Firmen auferlegen, dass sie in den Beipackzettel Warnhinweise aufnehmen. Danach sollen JohanniskrautPräparate nicht angewendet werden: ■ bei schweren Depressionen (da hier die Wirksamkeit noch nicht bewiesen ist), ■ bei gleichzeitiger Einnahme von Medikamenten mit folgenden Wirkstoffen: Antikoagulantien vom Cumarintyp (z. B. Phenprocoumon), Ciclosporin, Digoxin, Indinavir und anderen Proteaseinhibitoren in der Anti-HIV-Behandlung ■ und bei bekannter Lichtüberempfindlichkeit. Die Beipackzettel sollen unter anderem auch auf die Wechselwirkung von Johanniskraut mit anderen Antidepressiva aufmerksam machen. Bisher waren die Beipackzettel ungenügend. Klar ausgewiesen war nur die durch Johanniskraut ausgelöste Lichtempfindlichkeit. Können Sie dazu genauere Angaben machen? ■ Für Patienten, die sich an die angegebene Dosierung halten, gilt die Faustregel, dass durch Johanniskraut-Präparate die Lichtempfindlichkeit generell etwa um ein Fünftel zunimmt. Wer Johanniskraut-Präparate einnimmt, sollte eine intensive UV-Strahlung (lange Sonnenbäder, Höhensonne, Solarien) meiden. Das sind drei geprüfte Extrakte. Aber es gibt, wie die Rote Liste ausweist, 49 Johanniskraut-Präparate auf dem Markt. Die Ärzte verordneten 111,7 Millionen Tagesdosen (Arzneiverordnungs-Report 1998). Wie kann der Arzt, wie kann der Patient herausfinden, welches Präparat wirksam ist und welches nicht? Das ist doch eine unhaltbare Situation. ■ Ja, hier liegt ein großes Problem. Oft ist die Wirksamkeit pflanzlicher Heilmittel nicht ausreichend geprüft und die Nebenwirkungen sind wenig erforscht. Allerdings hat sich in den letzten zehn Jahren vieles zum Guten entwickelt. Nicht nur die Anforderungen sind sehr gestiegen, sondern auch das Interesse der Medizin. Es wird mehr und mehr an pflanzlichen Heilmitteln geforscht. Die Erkenntnis setzt sich immer mehr durch, dass Pflanzenheilmittel denselben strengen wissenschaftlichen Anforderungen genügen müssen wie andere Medikamente. Genau das fordert die Europäische Union. Das gilt nur für bestimmte Johanniskraut-Extrakte? Bis jetzt haben wir nur von den Nebenwirkungen des Johanniskrauts gesprochen, nicht aber von der Wirkung – nämlich bei der Behandlung von leichten und mittelschweren Depressionen. Immer wieder behaupten Mediziner, dass Johanniskraut wirkungslos ist. Was halten Sie von Johanniskraut als Mittel gegen Depressionen? ■ Es gibt neuere Studien, die nachweisen, dass Patienten mit leichten und mittelschweren Depressionen auf bestimmte Johanniskraut-Präparate genauso gut ansprechen wie auf chemische Antidepressiva (z. B. auf Fluoxetin oder Imipramin). Die Wirkung zeigt sich nach circa zwei Wochen wie bei den chemisch definierten Medikamenten gegen Depressionen. Der Vorteil von Johanniskraut liegt in der guten Verträglichkeit. Die Nebenwirkungen – sieht man von den oben aufgeführten Risikogruppen ab – sind viel geringer: Konzentration, Reaktionsvermögen und Wachheit werden nicht beeinträchtigt. ■ Ja, denn in den vielen verschiedenen Dragees, Tropfen, Säften, Tees ist Johanniskraut nicht gleich Johanniskraut. Es gibt das Problem der Standardisierung. Pflanzen haben je nach Standort und Witterungsbedingungen eine andere Qualität. Viel hängt vom Herstellungsprozess ab, z. B. davon, ob die Extrakte mit Wasser oder mit Alkohol gelöst werden. Bei Johanniskraut kennt man noch nicht einmal das Wirkprinzip. Wirkt der Gesamtextrakt auf Depressionen? Oder der eine oder andere Inhaltsstoff wie Hypericin, Hyperforin und bestimmte Flavonoide oder Procyanidine? Da die wirksame Substanz eines JohanniskrautExtraktes bislang nicht bekannt ist, ist es notwendig, die verschiedenen standardisierten Extrakte getrennt einer klinischen Wirksamkeitsprüfung zu unterziehen. Für Extrakte in Jarsin 300, in Esbericum und in Remotiv sind mir entsprechende Studien bekannt, die eine günstige Wirkung zeigten. ■ Die Europäische Union verlangt, dass auch schon längst eingeführte Arzneimittel ihre Wirksamkeit und medizinische Unbedenklichkeit umfassend dokumentieren müssen. Das soll in der zehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes in deutsches Recht umgesetzt werden. Pharmafirmen, die weiter pflanzliche Arzneimittel auf den Markt bringen wollen, sind dadurch gehalten, sich heutigen Zulassungsverordnungen zu unterwerfen. Damit ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass pflanzliche Arzneimittel auf ihre Wirksamkeit geprüft sind und die Patienten in den Beipackzetteln die notwendigen Informationen über Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten erhalten. Und die Patienten können selbst viel für ihre Sicherheit tun. Bisher haben sie ihre Ärzte nicht darüber unterrichtet, welche pflanzlichen Arzneimittel sie einnehmen, weil sie das als ihre Privatsache ansahen, die den Arzt nichts angeht. Das muss sich ändern! Interview: Dr. Irene Oswalt 20 21