und Leseprobe

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Nova Mediaevalia
Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter
Band 13
Herausgegeben von
Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky
Timo Kirschberger
Erster Kreuzzug und Ethnogenese
In novam formam commutatus – Ethnogenetische
Prozesse im Fürstentum Antiochia und im
Königreich Jerusalem
V& R unipress
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ISSN 2198-6231
ISBN 978-3-8471-0432-2
ISBN 978-3-8470-0432-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0432-9 (V& R eLibrary)
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften
Göttingen (GSGG).
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schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Printed in Germany.
Titelbild: Die Kreuzigung Christi aus dem Psalter der Königin Melisendis Ó The British Library
Board, MS Egerton 1139, fol. 8r
Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Gewidmet meinem Großvater Karl Fey (1926–2014)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
I.
17
17
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik . . . . . . .
1. Ethnogenese und Kreuzzugsforschung . . . . . . . . . . . . . . .
2. Panlatinismus oder Partikularismus? – Antiochia und die
Normannen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Vereinnahmung, Instrumentalisierung und Projektion – Die
Kreuzfahrerstaaten im Zeichen des Orientalismus . . . . . . . . .
a. Kolonisierte Kolonisatoren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Religiöse, philosophische und nationale Instrumentalisierung
des lateinischen Orients . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c. Der lateinische Orient als Projektionsfläche für
abendländischen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Geschichtswissenschaftliche Ethnogeneseforschung . . . . . .
b. Sozialwissenschaftliche Ethnizitätsforschung zwischen
Primordialismus und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . .
5. Zielsetzung, zeitliche und räumliche Eingrenzung des Themas . .
II. Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Historiographie des Fürstentums Antiochia .
2. Die Historiographie des Königreiches Jerusalem
3. Andere historiographische Quellen . . . . . . . .
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34
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58
66
71
8
III. Gesta Francorum? – ethnische Terminologie in der Historiographie
der Kreuzfahrerstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Entwicklung der Franci-Bezeichnung . . . . . . . . . . . . .
a. Franci und Galli in der frühen antiochenischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Die Franci-Bezeichnung in der jerosolymitanischen
Überlieferung der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . . .
c. Die Franci-Bezeichnung bei Walter dem Kanzler . . . . . . . .
d. Die Franci-Bezeichnung bei Wilhelm von Tyrus . . . . . . . .
2. Hierosolymitani, Antiocheni und Latini – ethnische Terminologie
mit Bezug zur neuen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Die Hierosolymitani-Bezeichnung in der jerosolymitanischen
Historiographie der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . .
b. Terminologische Jerusalem-Bezüge bei Wilhelm von Tyrus . .
c. Die Antiocheni-Bezeichnung in der antiochenischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Die Antiocheni-Bezeichnung in der jerosolymitanischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e. Hierosolymitani und Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Fremd- und Feindbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Kreuzzugsideologie oder Toleranz? – Abgrenzung von den
Muslimen im Königreich Jerusalem und im Fürstentum
Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. ex fonte pernicioso aque […] pestilentes – das Bild der
Muslime bei Wilhelm von Tyrus und Fulcher von Chartres . .
b. Unwissen und Verachtung – Muslime in der antiochenischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. timeo Danaos et dona ferentes – das Bild der Byzantiner in den
lateinisch-orientalischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Byzanz und die Ursprünge des Kreuzzuges . . . . . . . . . . .
b. Kampfestüchtige Barbaren und verweichlichte
Zivilisationsmenschen – das normannisch-byzantinische
Verhältnis vor dem ersten Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . .
c. Quare miseri occiditis gentem Christi et meam? –
antiochenische Graecophobie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Den Grundsätzen des Kreuzzuges verpflichtet – Byzantiner in
den jerosolymitanischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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9
Inhalt
Ethnohistorische Entwürfe und Reflexionen . . . . . . . . . . .
1. Prologe in der antiochenischen Historiographie . . . . . . . .
a. Der normannisch-antiochenische Kreuzzug im Prolog der
Gesta Tancredi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Antiochia als primärer Bezugspunkt in den Prologen der
Bella Antiochena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Ethnohistorische Reflexion in den Prologensembles der
jerosolymitanischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . .
a. Quis audivit unquam talia? – Reflexion der
jerosolymitanischen Ethnogenese im Prologensemble
Fulchers von Chartres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Das Prologgedicht der Historia Nicæna vel Antiochena . .
c. urgentissimus instat amor patrie – ethnohistorische
Reflexionen Wilhelms von Tyrus in den Abendstunden des
lateinischen Königreiches . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Prologe in der abendländischen Überlieferung . . . . . . . .
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170
VI. Der erste Kreuzzug – die ethnogenetische Phase . . . . . . . . . . .
1. Die unterschiedliche Gewichtung der Kreuzzugsphasen . . . . .
2. Urban II. und das Konzil von Clermont . . . . . . . . . . . . . .
3. Der erste Kreuzzug bis zur Eroberung Antiochias . . . . . . . . .
a. Ex pluribus unum – die kleinasiatische Phase des ersten
Kreuzzuges in der jerosolymitanischen Historiographie . . . .
b. Wiscardi acta nota sunt orbi – die normannisch-guiscardische
Ouvertüre zum ersten Kreuzzug und der
personal-dynastische antiochenische Mythomoteur . . . . . .
4. Die Schlacht von Dorylaeum – Moment des Zusammenwachsens
oder Triumph der Normannitas? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Die grünen Auen von Dorylaeum und die Speisung des
wandernden Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. quasi ut unigenæ uno consilio unam patriæ suæ gloriam
prærogarent – Dorylaeum und die Normannitas . . . . . . . .
5. Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. de uino non loquar – Hungersnöte vor und in Antiochia . . .
b. Belagerung, Eroberung und Verteidigung Antiochias . . . . .
c. Antiochi[a] horribilis oder anhelata Antiochia? – Sehnsuchtsoder Etappenziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Ein Denkmal für Bohemund und die antiochenische
Ethnogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V.
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233
10
Inhalt
6. Die Heilige Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Die Belagerung und Eroberung Jerusalems in den
nicht-jerosolymitanischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . .
b. Kurz vor dem Ziel – die Annäherung an die Heilige Stadt und
der Adventus von Bethlehem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c. novum edificium, veteri continuo et inserto – das Jerusalem
der Jerosolymitaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Liturgisches Gedenken an die primordiale Tat – die Feier des
Befreiungsfestes in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
VII. Das Fürstentum Petri und das Königreich des Kreuzes . . . . . . .
1. Gegründet gegen den Geist des Kreuzzuges? – Antiochenische
Legitimationsprobleme und Lösungsstrategien . . . . . . . . . .
a. nec cohibere flammas potuit fornax succensa – Heiliger Zorn
gegen berechtigte byzantinische Ansprüche . . . . . . . . . .
b. Pereant male qui volunt habitare Antiochie – die
antiochenische Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. super hanc petram – der Apostelfürst und das Fürstentum Antiochia .
3. Legitimation weltlicher Herrschaft im irdischen regnum Christi .
a. advocatus, princeps, rex – die Titel Gottfrieds von Bouillon und
ihre Bedeutung für das jerosolymitanische Selbstverständnis . .
b. Der abwesende König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Das Königreich des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Kreuz und Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Das Kreuz als Verweis auf Jerusalem . . . . . . . . . . . . . .
c. Die Auffindung der Kreuzesreliquie in Jerusalem . . . . . . .
d. Wahres Kreuz und Bundeslade . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e. Wem gehört das Wahre Kreuz? – das lignum domini zwischen
König, Patriarch und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
f. Das Kreuz im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
g. Der jerosolymitanische Kreuzes-Adventus . . . . . . . . . . .
5. Das Wahre Kreuz im Fürstentum Antiochia . . . . . . . . . . . .
267
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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339
343
Vorwort
Bücher erzählen nicht nur Geschichten, sie haben auch selbst eine Geschichte.
Die des vorliegenden Buches begann vor beinahe zehn Jahren in einem Seminar,
das Dorothea Weltecke an der Georg-August-Universität Göttingen angeboten
hat. Die Begeisterung für die Kreuzfahrerstaaten, die ich aus diesem Seminar
mitgenommen habe, hat schließlich zu der Entscheidung geführt, meine Dissertation dem lateinischen Orient zu widmen.
Neben dem geographischen Raum und der historischen Epoche sind für diese
Arbeit auch ihre Fragestellung und die zu deren Beantwortung gewählte Methode von Bedeutung. Hier habe ich die entscheidenden Prägungen und Anregungen meiner Doktormutter und langjährigen akademischen Lehrerin Hedwig
Röckelein zu verdanken, die mir in Lehrveranstaltungen, im persönlichen Gespräch und nicht zuletzt in meiner langjährigen Tätigkeit an ihrem Lehrstuhl in
Göttingen das Handwerkszeug historischen Arbeitens mit auf den Weg gegeben
hat. Sie hat mir vor allem hervorragende Grundlagen zur Erforschung von
Ethnogenese und Ethnizität in Spätantike und Frühmittelalter vermittelt und
mich darin bestärkt, diese Methodik auch auf meinen Forschungsgegenstand
anzuwenden.
Mein großer und herzlicher Dank gilt daher Frau Röckelein und Frau Weltecke sowie meinem Drittgutachter Herrn Peter Aufgebauer. Sie alle haben die
Geschichte dieses Buches begleitet und dazu beigetragen, daß es überhaupt
entstehen konnte. Zu danken habe ich ebenfalls Jörg Bölling, der durch fachlichen Rat und freundschaftlichen Zuspruch dieser Arbeit und ihrem Autor über
so manchen steinigen Wegabschnitt geholfen hat. Wichtige wissenschaftliche
Anregungen haben mir in verschiedenen Phasen und bei verschiedenen
Schritten der Arbeit Deborah Gerish, Nikolas Jaspert, Thomas Madden, Alan
Murray, Galit Noga-Banai, William Purkis, Jochen Schenk und Kurt Villads
Jensen gegeben. Finanzielle und ideelle Förderung habe ich im Laufe der Promotion von der Society for the Study of the Crusades and the Latin East, dem
Institute for Medieval Studies (Leeds), dem Deutschen Historischen Institut
London und dem Center for Medieval and Renaissance Studies (Saint Louis)
12
Vorwort
erhalten. Besonderer Dank gilt dem Cusanuswerk, das meine Promotion durch
ein Stipendium ermöglicht hat, und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen für einen großzügigen Zuschuß zu den Druckkosten. Julia
Freder, Jasmin Hoven, Benjamin Müsegades, Christian Popp und Christian
Stadermann haben das Manuskript korrekturgelesen und zu zahlreichen Gelegenheiten fachliche Hilfe und Anregungen beigesteuert.
Ganz besonders danke ich meinen Eltern Angelika Kirschberger und Peter
Crepon sowie meinem leider noch vor der Publikation der Arbeit verstorbenen
Großvater, Karl Fey, die mir mein Studium und meine Promotion durch finanzielle Unterstützung, vor allem aber durch familiären Rückhalt und Zuspruch überhaupt ermöglicht haben. Für Ihre Ermunterung und Unterstützung
bei der Vorbereitung der Publikation danke ich von Herzen meiner Frau Zuzana
Kirschberger.
Einleitung
In novam […] formam commutatus1 – Mit diesen Worten bezeichnet der im
ersten Viertel des 12. Jahrhunderts in Jerusalem schreibende Chronist Fulcher
von Chartres († ca. 1127) die Veränderung der Gestalt der Sonne bei einer Eklipse im Spätsommer des Jahres 1124. Ausgehend von der Anschauung des
Naturphänomens stellt Fulcher Überlegungen zu Ereignissen der jüngsten
Vergangenheit an. Er vergleicht die Erscheinung am Himmel über Jerusalem mit
dem Einzug der Teilnehmer des ersten Kreuzzuges in den Orient und reflektiert
einen Prozeß, der an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert zur dauerhaften
Ansiedlung lateinischer Christen aus verschiedenen Teilen Europas in Syrien
und Palästina führte.2 Als Folge dieses Prozesses entstanden neue Staaten im
Orient und in seinem Verlauf entwickelten die Einwanderer sowie ihre Nachkommen und Nachfolger ein neues Selbstverständnis, das nicht mehr an die
europäischen Herkunftsgebiete geknüpft war, sondern an die neue Heimat in der
Levante.
Der Auftakt zu diesen Geschehnissen war fanfarenartig am 27. November
1095 auf dem Konzil von Clermont erschallt, als Papst Urban II. zur Hilfeleistung
für die durch die Expansion der muslimischen Seldschuken bedrohten Christen
des Orients aufgerufen hatte. Neben diese Absicht, den Kirchen des Ostens und
vor allem dem Kaiser von Konstantinopel – Alexios I. Komnenos – Unterstützung zukommen zu lassen, war jedoch schon früh das Bestreben getreten, die
Kirche von Jerusalem selbst aus der Herrschaft der Muslime zu befreien.3
1 Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana, hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg
1913 (fortan FvC), III.xxxvii.1. Detaillierte Angaben zu Fulcher in Kapitel II.2.
2 Vgl. hierzu mit anderen Akzenten Giese, Wolfgang, ›Untersuchungen zur Historia Hierosolymitana des Fulcher von Chartres‹, in: Archiv für Kulturgeschichte (69; 1987), 62–115, 93.
3 Zu den Grundlagen der Debatte über die Frage, welche Rolle Jerusalem in den Kreuzzugsplänen Urbans II. spielte, vgl. knapp und immer noch aktuell Blake, Ernest O. u. Morris,
Colin, ›A Hermit goes to War : Peter and the Origins of the First Crusade‹, in: Monks, Hermits
and the Ascetic Tradition. Papers Read at the 1984 Summer Meeting and the 1985 Winter
Meeting of the Ecclesiastical History Society, hg. v. William J. Sheils (= Studies in Church
History ; 22), Oxford 1985, 79–107, 79ff. Hans Eberhard Mayer beharrt darauf, daß der »Sinn«
14
Einleitung
Am Mittag des 15. Juli 1099 gelang dieses Unterfangen, als die Besatzung eines
Belagerungsturms unter dem Kommando Gottfrieds von Bouillon die Nordmauer Jerusalems erstürmte. Mit der Überwindung dieser Mauer fand die einmonatige Belagerung der Heiligen Stadt ein erfolgreiches Ende, und gleichzeitig
bildete die Eroberung den Schlußakkord des ersten Kreuzzuges. In den mehr als
dreieinhalb Jahren, die vom Aufruf Urbans II. bis zur Eroberung Jerusalems
vergingen, traten mehrere Kontingente von Kreuzfahrern – vor allem aus dem
Herrschaftsbereich des Königs von Frankreich, aber auch aus dem Reich, aus
Süditalien und Sizilien – zunächst getrennt den beschwerlichen Weg gen Osten
an und konnten bei der Belagerung von Nicaea im Juni 1097 einen ersten großen
gemeinsamen Erfolg feiern. Es folgten weitere Siege in offenen Feldschlachten
wie auch in Belagerungen, unter denen vor allem der Triumph von Dorylaeum
im Juli 1097 und die Eroberung und anschließende Verteidigung der nordsyrischen Metropole Antiochia im Juni 1098 hervorstechen.4
Wenn sich auch die genauen Pläne nicht im Detail rekonstruieren lassen,
welche der Papst für den Kreuzzug ursprünglich ersonnen hatte, so bleibt doch
zu konstatieren, daß die Resultate dieses Unternehmens über eine Unterstützung
der orientalischen Kirchen und eine bewaffnete Pilgerfahrt zu den Heiligen
Stätten weit hinausgingen. So wurden die eroberten Gebiete und Städte nicht der
Obhut orientalischer Christen anvertraut. Weder Antiochia, das noch kurze Zeit
zuvor unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatte, noch Jerusalem, das vor
seiner schon länger zurückliegenden Eroberung durch die Araber im Jahre 638
ebenfalls von Konstantinopel aus regiert worden war, wurden an Kaiser Alexios
übergeben. Vielmehr ließen sich zahlreiche Kreuzfahrer in den von ihnen eroberten Gebieten in der Levante nieder und gründeten insgesamt vier neue
Staaten – die sogenannten Kreuzfahrerstaaten. Zunächst ging aus einer Nebenkampagne Balduins von Boulogne im März 1098 die Grafschaft Edessa
hervor.5 Noch im Sommer des selben Jahres errichtete der süditalienische
von Urbans Plänen tatsächlich in der »Hilfe für die christlichen Ostkirchen« bestanden habe
(Mayer, Hans Eberhard, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 2005 (10. Aufl., 1. Aufl. 1965, 20).
Auch die neuere und neueste angelsächsische Forschung hingegen setzt immer noch voraus,
daß Jerusalem von Beginn an mit den Kreuzzugsplänen verknüpft war, wobei diese Position
wohl aus einer unkritischen Übernahme der Aussagen von Quellen beruhen dürfte, welche im
Rückblick auf die Entwicklung der Ereignisse verfaßt wurden. Vgl. Asbridge, Thomas S., The
Crusades. The War for the Holy Land, London 2010, 1ff; Phillips, Jonathan, Holy Warriors. A
Modern History of the Crusades, London 2009, 4; Riley-Smith, Jonathan Simon Christopher,
The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986, 18.
4 Für einen knappen und übersichtlichen Überblick zum ersten Kreuzzug vgl. Mayer,
Kreuzzüge, 51–80. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Asbridge, Thomas S., The First
Crusade. A New History, London 2003. Die byzantinische Perspektive auf den ersten Kreuzzug
betont Frankopan, Peter, The First Crusade. The Call from the East, London 2012.
5 Zur Geschichte der Grafschaft Edessa vgl. Cahen, Claude, La Syrie du Nord a l’Êpoque des
Croisades et la Principatu¦ Franque d’Antioche (= Institut FranÅais de Damas. BibliothÀque
Einleitung
15
Normanne Bohemund von Tarent nach der Eroberung Antiochias ein Fürstentum, welches Nordsyrien und Teile Kilikiens umfaßte.6 Am 22. Juli 1099
schließlich wurde Gottfried von Bouillon vom Heer des Kreuzzuges zum ersten
Herrscher7 des lateinischen Königreichs Jerusalem erhoben.8 Nach dem
Kreuzzug errichteten in den Jahren 1102 bis 1113 zudem Graf Raimund von
Toulouse und seine Erben die Grafschaft Tripolis.9
Zur Bezeichnung dieser formativen Phase während des Kreuzzuges und in
den Jahren unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems prägte Erzbischof
Wilhelm von Tyrus (†1186) die Bezeichnung Latinorum introitus.10 Die vorliegende Arbeit ist der Analyse der Prozesse gewidmet, die im Laufe dieses introitus
die Einwanderer aus dem Westen im Orient zu neuen Gruppen zusammenwachsen ließen. Es gilt, die nova forma, die sie in dieser Phase annahmen,
genauer zu untersuchen. Im Folgenden werden dazu zunächst die Schwerpunkte
der Analyse vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung und ihrer Probleme
erarbeitet. Zudem wird die Methodik der Analyse hergeleitet und vorgestellt.
6
7
8
9
10
Orientale; 1), Paris 1940; Amouroux-Mourad, Monique, Le Comt¦ d’Edesse, 1098–1150 (=
BibliothÀque Arch¦ologique et Historique; 128), Paris 1988.
Zur Geschichte des Fürstentums Antiochia vgl. Asbridge, Thomas S., The Creation of the
Principality of Antioch. 1098–1130, Woodbridge 2000; Cahen, Syrie du Nord; Mayer, Hans
Eberhard, Varia Antiochena. Studien zum Kreuzfahrerfürstentum Antiochia im 12. und
frühen 13. Jahrhundert (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte; 6), Hannover 1993. Zu Bohemund vgl. Flori, Jean, Boh¦mond d’Antioche. Chevalier d’Aventure,
Paris 2007; Russo, Luigi, Boemondo. Figlio di Guiscardo e Principe di Antiochia, Ariano
Irpino 2009.
Der erste gekrönte König des Reiches war jedoch Balduin von Boulogne. Nach dem frühen
Tod Gottfrieds im Sommer des Jahres 1100 trat er die Grafschaft Edessa an seinen Verwandten Balduin von Bourcq ab und wurde am Weihnachtstag in Bethlehem gekrönt. Vgl.
Mayer, Kreuzzüge, 85f.
Zur Geschichte des Königreichs Jerusalem vgl. Mayer, Hans Eberhard, Herrschaft und
Verwaltung im Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem (= Schriften des Historischen Kollegs:
Vorträge; 43), München 1996; Murray, Alan V., The Crusader Kingdom of Jerusalem. A
Dynastic History. 1099–1125 (= Occasional Publications of the Linacre Unit for Prosopographical Research; 4), Oxford 2000; Prawer, Joshua, The Latin Kingdom of Jerusalem.
European Colonialism in the Middle Ages, London 1972; Richard, Jean, The Latin Kingdom
of Jerusalem (= Europe in the Middle Ages. Selected Studies; 11), Amsterdam 1979.
Zur Geschichte der Grafschaft Tripolis: Dédèyan, G¦rard u. Rizik, Karam (Hgg.), Le Comt¦
de Tripoli: Êtat Multiculturel et Multiconfessionnel (1102–1289). Actes des Journ¦es d’Êtudes,
Universit¦ Saint-Esprit, Kaslik, Liban, D¦cembre 2002, Paris 2010; Richard, Jean, Le Comt¦
de Tripoli sous la Dynastie Toulousaine (1102–1187) (= BibliothÀque Arch¦ologique et
Historique; 39), Paris 1945.
Wilhelm von Tyrus, Willelmi Tyrensis Archiepiscopi Chronicon, hg. v. Robert Burchard
Constantyn Huygens (= Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis; 63/63 A), 2 Bde.,
Turnhout 1986 (fortan WvT), VIII.iii.24, IX.xvii.1, XI.xvi.4, XI.xxvii.18, XXII.xvii.42–43.
Detaillierte Angaben zu Wilhelm in Kapitel II.2.
I.
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik
1.
Ethnogenese und Kreuzzugsforschung
Für die Bezeichnung solcher Prozesse der Gruppen- und Identitätsbildung hat
sich in der Geschichtswissenschaft insbesondere im Hinblick auf die Erforschung des Mittelalters der Begriff der Ethnogenese etabliert. Die Träger und
Teilnehmer der Ethnogenese werden als ethnische Gruppe, Ethnie, Volk oder
auch archaisierend als Stamm11 bezeichnet, ihr kollektives Selbstverständnis als
Ethnizität oder ethnische Identität.12 Das Themenfeld der Ethnogenese beschäftigt die Geschichtswissenschaft und andere geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen schon seit langem und steht nach wie vor hoch im Kurs.13
Trotz der allgemein großen Beachtung, die Ethnogenese und Ethnizität in der
Forschung insgesamt erfahren haben und noch heute erfahren, ist die Entstehung neuer ethnischer Gruppen in den Kreuzfahrerstaaten bislang noch nicht
systematisch untersucht worden. Wenn im Zusammenhang von Kreuzzügen
und Kreuzfahrerstaaten ethnische oder nationale Gruppen in den Blick genommen werden, so handelt es sich in der Regel um Erwägungen zu den Herkunftsgruppen und deren Zusammenspiel in der Levante oder auf dem Weg
dorthin.14 Dies bedeutet nicht, daß ethnogenetische Prozesse im lateinischen
11 Vgl. Wenskus, Reinhard, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961.
12 Vgl. z. B. Pohl, Walter, ›Conceptions of Ethnicity in Early Medieval Studies‹, Debating the
Middle Ages: Issues and Readings, hg. v. Little, Lester K. u. Rosenwein, Barbara H.,
Malden, MA/Oxford 1998, 15–24, 15ff. Siehe hierzu detaillierter.
13 Ein repräsentativer Überblick über die Forschung zu Ethnizität kann hier nicht geleistet
werden. Die für diese Arbeit wichtigen Beiträge werden im Kapitel I.4 vorgestellt.
14 Vgl. z. B. Balard, Michel, ›Gesta Dei per Francos: L’Usage du Mot Francs dans les Chroniques de la PremiÀre Croisade‹, in: Clovis. Histoire & Memoire. Le BaptÞme de Clovis, son
Êcho — travers l’Histoire, hg. v. Michel Rouche, Paris 1997, 473–483; Bull, Marcus, ›Overlapping and Competing Identities in the Frankish First Crusade‹, in: Le Concile de Clermont
de 1095 et l’Appel — la Croisade. Actes du Colloque Universitaire International de ClermontFerrand (23–25 Juin 1995) Organis¦ et Publi¦ avec le Concours du Conseil R¦gional d’Au-
18
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik
Orient in der Forschung grundsätzlich nicht erkannt worden wären. Ein Bewußtsein dafür, daß die nach dem ersten Kreuzzug im Orient verbliebenen oder
später zugezogenen Lateiner ein neues kollektives Selbstverständnis ausbildeten, ist in der Forschung durchaus vorhanden, und auch die Reflexion dieses
Prozesses durch die Historiographen des lateinischen Orients hat bereits Beachtung gefunden. August C. Krey etwa erkannte das Chronicon Wilhelms von
Tyrus als »story […] of a nation, his nation«15. Den zumeist nicht kritisch
hinterfragten Terminus der Nation auf die Kreuzfahrerstaaten anzuwenden, war
und ist vor allem in der anglo- und frankophonen Forschung weit verbreitet.
Insbesondere französische Forscher verwenden auch den Begriff »nation franco-syrienne«16, um damit auszudrücken, daß es zu einer Vermischung der Lateiner mit den autochthonen Christen sowie zu einer kulturellen Anpassung an
diese gekommen sei. Zudem wird in der älteren Forschung zumeist der eigentliche Entstehungsprozeß dieser vermeintlichen Nation nicht thematisiert, sondern lediglich dessen Ergebnis konstatiert.17 Dies gilt auch für eine jüngst von
Malcolm Barber vorgelegte Monographie zu den Kreuzfahrerstaaten, die ein
hehres Ziel verfolgt: »This is the story of how the new conquerors from the West
adapted to these circumstances and produced a distinct cultural entity of their
own.«18 Diesem hohen Anspruch jedoch wird Barber nicht gerecht. Zwar vermerkt er, daß im Hinblick auf die im Orient verbliebenen Kreuzfahrer »a need
for self-definition«19 zu diagnostizieren sei. Auch er beschäftigt sich jedoch nicht
detaillierter mit der Frage, ob und gegebenenfalls wie dieses Bedürfnis auch
erfüllt wurde, und die Erwägungen zu diesem Thema beschränken sich auf
einige wenige Sätze.
Die ersten Versuche einer systematischen Auseinandersetzung mit ethnogenetischen Prozessen in den Kreuzfahrerstaaten wurden im Laufe der letzten
dreieinhalb Jahrzehnte von deutschen Forschern unternommen. Allerdings
15
16
17
18
19
vergne, hg. v. Êcole FranÅaise de Rome (= Collection de l’Êcole FranÅaise de Rome; 236),
Rom 1997, 195–211; Murray, Alan V., ›Questions of Nationality in the First Crusade‹, in:
Medieval History (1; 1991), 61–73; Ders., ›National Identity, Language and Conflict in the
Crusades to the Holy Land, 1096–1192‹, in: The Crusades and the Near East, hg. v. Conor
Kostick, 2011, 107–130.
Krey, August C., ›William of Tyre: The Making of an Historian in the Middle Ages‹, in:
Speculum (16; 1941), 149–166, 158.
Grousset, Ren¦, Histoire des Croisades et du Royaume Franc de J¦rusalem. I. L’Anarchie
Musulmane et la Monarchie Franque, Paris 1934, 287; Madelin, Louis, ›La Syrie Franque‹,
in: Revue des deux Mondes (87; 1917), 314–358, 334. Zu dieser klassischen französischen
Position vgl. auch Smail, Raymond Charles, Crusading Warfare, 1097–1193, Cambridge
1995 (2. Aufl., 1. Aufl. 1956), 182–187.
Vgl. z. B. Richard, Jean, Le Royaume Latin de J¦rusalem, Paris 1953, 228ff. Wiederholt in der
aktualisierten englischen Übersetzung: Ders., Latin Kingdom, 281ff.
Barber, Malcolm, The Crusader States, New Haven 2012, 3.
Ibid., 96.
Ethnogenese und Kreuzzugsforschung
19
wurde das Thema in allen Fällen lediglich als Nebenaspekt größerer Studien zu
einem anderen Thema oder in Form kürzerer Forschungsbeiträge behandelt. In
seiner 1977 erschienenen Dissertation zum Spannungsverhältnis von Kreuzzugsideologie und Toleranz im Werk Wilhelms von Tyrus widmet sich Rainer
Christoph Schwinges unter anderem auch der Analyse der Verwendung des
patria-Begriffes.20 Seine Thesen zu diesem Thema hat Schwinges zudem im
Laufe der letzten dreieinhalb Jahrzehnte immer wieder in kürzeren Beiträgen
aufgegriffen.21 Dabei verwendet er seine Analyse von Wilhelms patria stets allein
dazu, sein umstrittenes22 Postulat einer weitgehenden Toleranz der Lateiner in
den Kreuzfahrerstaaten den Muslimen gegenüber zu belegen.
Ganz ähnlich wie Schwinges verfährt auch Verena Epp, die im Jahre 1981 eine
kurze Miszelle dem »Nationalbewußtsein in den Kreuzfahrerstaaten«23 widmete
und dieses Thema auch in ihrer ein Jahr später erschienenen Dissertation24 über
Fulcher von Chartres beiläufig behandelt. Das Nationalbewußtsein in den
Kreuzfahrerstaaten habe laut Epp auf den Grundlagen des lateinisch-christlichen Glaubens, der zunehmenden Mehrsprachigkeit unter den Lateinern25 und
der Opposition zu den Muslimen beruht. Es habe sich im Laufe der Zeit ver-
20 Vgl. Schwinges, Rainer Christoph, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm
von Tyrus (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 15), Stuttgart 1977, 233–240.
21 Vgl. Ders., ›Die Wahrnehmung des Anderen durch Geschichtsschreibung. Muslime und
Christen im Spiegel der Werke Wilhelms von Tyrus († 1186) und Rodrigo Xim¦nez’ de Rada
(† 1247)‹, in: Toleranz im Mittelalter, hg. v. Alexander Patschovsky u. Harald Zimmermann Sigmaringen 1998, 101–127; Ders., ›Regionale Identität und Begegnung der Kulturen
in Stadt und Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem‹, in: Päpste, Pilger, Pönitentiarie. Festschrift
für Ludwig Schmugge zum 65. Geburtstag, hg. v. Andreas Meyer, Constanze Rendtel u.
Maria Widmer-Butsch, Tübingen 2004, 237–251; Ders., ›Die andere Seite und sich selbst
im Blick. Wahrnehmung und Identität zur Zeit der Kreuzzüge‹, in: Konfrontation der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer. Begleitband zur Sonderausstellung »Saladin und die
Kreuzfahrer« in Halle, Oldenburg und Mannheim, hg. v. Heinz Gaube, Bernd Schneidmüller u. Stefan Weinfurter, Mainz 2005, 107–120. Schwinges‹ Grundthese hat Bunna
Ebels-Hoving aufgegriffen. Vgl. Ebels-Hoving, Bunna, ›William of Tyre and his patria‹ in:
Media Latinitas. A Collection of Essays to Mark the Occasion of the Retirement of L.J. Engels,
hg. v. R.I.A. Nip, E.M.C. van Houts, C.H. Kneepkens u. G.A.A. Kortekaas (= Instrumenta
Patristica; 28), Turnhout 1996, 211–216.
22 Siehe dazu z. B. die Rezensionen zu Kreuzzugsideologie und Toleranz von Marie-Luise Favreau (Historische Zeitschrift [228; 1979], 686–688) und Hans Eberhard Mayer (Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters [34; 1978], 255–257). Detaillierte Ausführungen zu diesem Thema in Kapitel IV.1.
23 Epp, Verena ›Die Entstehung eines »Nationalbewußtseins« in den Kreuzfahrerstaaten‹, in:
Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters (45; 1989), 596–604.
24 Dies., Fulcher von Chartres. Studien zur Geschichtsschreibung des ersten Kreuzzuges
(= Studia Humaniora; 15), Düsseldorf 1990, z. B. 155ff u. 166ff.
25 Vgl. Dies., ›Nationalbewußtsein‹, 598. Diese Mehrsprachigkeit bezeichnet Epp etwas unpassend als »Sprachgemeinschaft«. Gemeint ist die wachsende Fähigkeit, die Sprachen der
anderen Lateiner in der Levante zu verstehen und zu sprechen.
20
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik
stärkt, aber auch gewandelt.26 Leider äußert sich Epp nur sehr knapp zu den
Trägern dieses Nationalbewußtseins und spricht lediglich verallgemeinernd von
den »Bewohner[n] der Kreuzfahrerstaaten« oder den »Kreuzfahrer[n]«.27 Wie
Schwinges will auch Epp das Aufkommen eines eher säkularen Patriotismus
erkennen: »[D]er Glaubenskrieg weicht einer weltlichen Auseinandersetzung.
Palästina ist nicht in erster Linie das Land der Verheißung, sondern das Gebiet,
in dem die Kreuzfahrer eine neue Heimat gefunden und auf das sie Rechte
erworben haben.«28
Fünf Jahre nach Epp griff auch ihr Lehrer Rudolf Hiestand das Thema auf und
analysierte im Rahmen eines Aufsatzes die »Siedleridentität in den Kreuzfahrerstaaten«.29 Einen ganz ähnlichen Ansatz wie zuvor seine Schülerin verfolgend,
bezieht Hiestand jedoch ein größeres Quellenkorpus in seine Untersuchung ein.
Als entscheidende Elemente einer Identitätsstiftung nennt er das Vorhandensein
einer tragfähigen »Idee« und von »Zeichen«,30 an welche sich diese knüpfen
kann. Im Falle der Kreuzfahrerstaaten habe die Idee laut Hiestand im gemeinsamen Glauben der Kreuzzugsteilnehmer sowie in der aus diesem resultierenden
Bindung an die neue Heimat als Land der biblischen Geschichte und Prophezeiungen bestanden. Als besonders prägende Zeichen für die neue Siedleridentität identifiziert er die Kreuznahme nach der Predigt Papst Urbans II. in
Clermont im Jahre 1095, außerdem die 1099 aufgefundene Kreuzreliquie und die
Grabeskirche in Jerusalem.31 Auch der Aufstieg des Französischen zur »lingua
franca«32 des lateinischen Orients spielt in Hiestands Identitätskonzept eine
wichtige Rolle. Immerhin in Ansätzen wird der Entstehungsprozeß der Siedleridentität beschrieben und in Teilen als Ausdruck der Suche nach »einer historisch und rechtlich begründeten Legitimation der neuen Existenz« verstanden.33
26 Epps Befunde beruhen im Kern auf einem Vergleich der beiden zwischen 1109 und 1127
entstandenen Redaktionen von Fulchers Historia Hierosolymitana, den sie in der Miszelle
um einige Beobachtungen zum Chronicon Wilhelms von Tyrus und den Bella Antiochena des
antiochenischen Kanzlers Walter ergänzt (Walter der Kanzler, Bella Antiochena, hg. v.
Heinrich Hagenmeyer, Innsbruck 1896 [fortan WdK]).
27 Vgl. Epp, ›Nationalbewußtsein‹, 598f, 603f (Zitate 603f).
28 Ibid., 603.
29 Hiestand, Rudolf, ›Nam qui fuimus Occidentales, nunc facti sumus Orientales. Siedlung
und Siedleridentität in den Kreuzfahrerstaaten‹, in: Siedler-Identität. Neun Fallstudien von
der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Christof Dipper u. Rudolf Hiestand, Frankfurt am Main
1995, 61–80.
30 Ibid., 62.
31 Vgl. ibid., 70.
32 Ibid., 71.
33 Vgl. ibid., 62f, Zitat 62.
Ethnogenese und Kreuzzugsforschung
21
Neue Impulse brachte im selben Jahr Alan V. Murray.34 Zwar untersucht er ein
ähnliches Quellenkorpus wie Epp, wenn er nach der ethnischen Identität der
Lateiner in den Kreuzfahrerstaaten fahndet, und seine Schlüsse ähneln jenen
Hiestands. Größeren Wert als Epp, Hiestand und Schwinges legt Murray allerdings darauf, eine methodologisch-theoretische Grundlage für seinen Beitrag zu
etablieren. Vor allem macht er die Theorien der klassischen Ethnogeneseschule35
um Reinhard Wenskus, Herwig Wolfram und Walter Pohl für seine eigene Arbeit
fruchtbar. Zwar weisen auch Epp und Hiestand auf die Heterogenität der lateinischen Einwohner der Kreuzfahrerstaaten hin;36 erst Murray aber zieht durch
seine Rezeption der Ethnogeneseforschung aus dieser Heterogenität Schlüsse,
die zu einer Klassifizierung der Gruppe führen. Er benennt die Träger der ethnischen Identität mit dem Begriff gens Francorum und zieht Parallelen zu den
spätantiken und frühmittelalterlichen gentes.37 Diese Parallelen bestehen für
Murray in der »integration of individuals and groups of diverse ethnic backgrounds«38 in einer militärisch geprägten, biologisch und sprachlich heterogenen Gruppe, die sich um einen stabilen, elitären Kern herum bildete. Zur Untersuchung der Ausformung ihrer Identität müsse man laut Murray vor allem
historiographische Texte in den Blick nehmen, welche die Herkunft der Gruppe
einerseits beschreiben, andererseits aber auch konstruieren. Murray übernimmt
in diesem Punkt von der Ethnogeneseschule den Gattungsbegriff der Origines
Gentium und wendet ihn auf die von ihm untersuchten historiographischen
Texte zum ersten Kreuzzug an.39
Somit hat sich Murray durch seine methodologische Innovation von den
übrigen Vertretern der Kreuzzugsforschung abgesetzt und einen wichtigen
Impuls für die Untersuchung der Ethnogenese in den Kreuzfahrerstaaten gegeben. Allerdings bleiben seine Bemühungen auf diesem Themenfeld auf einen
kurzen Beitrag beschränkt, der zwar viele wichtige Punkte der von ihm untersuchten Ethnogenese streiflichtartig berührt, der aber den einzelnen identifizierten Spuren nicht detaillierter nachgeht. Deshalb kann eine ausführliche und
systematische Erforschung der ethnogenetischen Prozesse in den Kreuzfahrerstaaten und ihrer Ergebnisse als ein erstes wichtiges Forschungsdesiderat
identifiziert werden. Ein weiteres ergibt sich aus einem perspektivischen Pro34 Murray, Alan V., ›Ethnic Identity in the Crusader States: The Frankish Race and the Settlement of Outremer‹, in: Concepts of National Identity in the Middle Ages, hg. v. Simon
Forde, Lesley Johnson u. Alan V. Murray (= Leeds Texts and Monographs. New Series; 14),
Leeds 1995, 59–73.
35 Siehe dazu Kapitel I.4.a.
36 Vgl. Epp, ›Nationalbewußtsein‹, 598; Hiestand, ›Siedleridentität‹, 68.
37 Vgl. Murray, ›Ethnic Identity‹, 64f. Ob freilich Murrays Übersetzung von lateinisch gens mit
englisch »race« (ibid., 65, 70) eine glückliche Wahl ist, darf bezweifelt werden.
38 Ibid., 65.
39 Vgl. ibid., 64ff.
22
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik
blem, das bislang unterschiedslos die gesamte Erforschung des Themas charakterisiert.
2.
Panlatinismus oder Partikularismus? – Antiochia und die
Normannen
Murray reiht sich trotz seiner Innovationen in anderer Hinsicht nahtlos in den
Reigen der bisherigen Arbeiten zu diesem Thema ein, die ausnahmslos eine
einzige, die gesamte lateinische Levante erfassende und auf Jerusalem bezogene
Ethnogenese untersuchen. Deshalb erscheinen die Grafschaften Edessa und
Tripolis sowie das Fürstentum Antiochia nur als Satelliten des lateinischen
Königreichs, denen keine eigenen Identitäten, keine selbständigen Ethnogenesen zugeschrieben werden.40 Diese Sichtweise hat eine lange Tradition in der
Forschung. Schon im 17. Jahrhundert rechnete Thomas Fuller den gesamten
lateinischen Orient zum Königreich von Jerusalem. Die Fürsten von Antiochia
sowie die Grafen von Edessa und Tripolis bezeichnet er zudem als »subjects to
the Kings of Jerusalem«, die freilich seiner Ansicht nach »too large and absolute
power and authoritie« gehabt hätten.41 Auch Hiestand sucht allein nach einer
einzigen, an das Königreich Jerusalem geknüpften Siedleridentität a l l e r lateinischen Einwohner der Kreuzfahrerstaaten. »Alle waren eben Hierosolymitani geworden«42 schreibt er daher und bezieht sich explizit auch auf die Lateiner
in Antiochia, Edessa und Tripolis. Murray fahndet ebenfalls nach einer verbindenden Identität der lateinischen Einwohner a l l e r vier Kreuzfahrerstaaten,
die er unter dem etablierten Begriff »Franken« zusammenfaßt.43 Diese Fokussierung auf Jerusalem ist durchaus symptomatisch für die historische Forschung
zu den lateinischen Staaten in der Levante, die seit jeher von einer Vernachlässigung der drei – im Vergleich zum lateinischen Königreich vermeintlich
weniger wichtigen – Kreuzfahrerstaaten Antiochia, Edessa und Tripolis geprägt
ist. Zwar hat man Antiochia zuletzt – vor allem in seiner Funktion als wichtige
Drehscheibe im interkulturellen Transfer zwischen Orient und Okzident – ver40 Ganz ähnlich verfährt auch Sarah B. Buchanan in einer Arbeit aus dem Bereich der Literaturwissenschaft. Sie untersucht das altfranzösische, im späten 12. Jahrhundert entstandene
Gedicht La Chanson d’Antioche, in dem sie nach Zeichen einer neu entstehenden nationalen
Identität fahndet. Auch Buchanan interessiert sich allein für eine alle Lateiner in der Levante
erfassende Identität und räumt Antiochia keine besondere Stellung ein. Vgl. Buchanan,
Sarah B., ›A Nascent National Identity in La Chanson d’Antioche‹, in: The French Review
(76; 2003), 918–932. Zum Chanson d’Antioche vgl. Edgington, Susan B., ›Chanson d’Antioche‹, in: CE, 1:235–236.
41 Fuller, Thomas, The Historie of the Holy Warre, Cambridge 1639, 259f.
42 Hiestand, ›Siedleridentität‹, 68.
43 Vgl. Murray, ›Ethnic Identity‹, 60f.
Panlatinismus oder Partikularismus? – Antiochia und die Normannen
23
mehrte Aufmerksamkeit gewidmet.44 Doch zur Frage einer lateinisch-antiochenischen Ethnogenese haben auch neuere Arbeiten keinen Beitrag geleistet.
Diese nicht nur dominante, sondern unangefochtene Interpretation der ethnogenetischen Prozesse in den Kreuzfahrerstaaten kann als p a n l a t e i n i s c h
bezeichnet werden. Es stellt sich die Frage, ob diese panlateinische Position berechtigt ist, oder ob es Anzeichen dafür gibt, daß sich auch unter den Lateinern der
anderen Kreuzfahrerstaaten unabhängig von Jerusalem eigene ethnogenetische
Prozesse entfalteten. Muß man der panlateinischen also eine p a r t i k u l a r i st i s c h e Alternativperspektive entgegenstellen?
Im Hinblick auf die Grafschaften Edessa und Tripolis wird dieser Frage
schwer nachzugehen sein. Edessa ging schon früh unter und war zudem stark
von Antiochia abhängig. Tripolis bestand zwar beinahe so lange wie das lateinische Königreich, war aber wiederum eng an dieses gebunden. Zudem haben
Edessa und Tripolis keine eigene lateinische Historiographie hervorgebracht,
deren Existenz jedoch für die Fahndung nach separaten ethnogenetischen
Prozessen unabdingbar ist. Anders stellt sich die Situation des Fürstentums
Antiochia dar, das – von Phasen der Regentschaft durch Könige von Jerusalem
abgesehen – eine eigenständige Politik verfolgte und eigenständige Interessen
hatte, die sich nicht immer mit jenen des lateinischen Königreiches deckten. Vor
allem sind im nordsyrischen Fürstentum und in enger Bindung an dieses
mehrere historiographische Texte entstanden, so daß die notwendige Quellengrundlage gegeben ist.
Vor allem sprechen bestimmte Eigenarten des Fürstentums und seiner Entstehungsgeschichte für eine separate Betrachtung Antiochias. Der Annahme
einer alle Kreuzfahrerstaaten verbindenden und an Jerusalem gebundenen
kollektiven Identität widerspricht nämlich eine andere Forschungstradition,
deren Anhänger die Bedeutung der Normannen und der ersten normannischen
Herrscher des Fürstentums hervorheben – Bohemunds von Tarent (1098–1104)
und seines Neffen Tankred (1104–1112). Diese zumeist anglophonen Forscher
reklamieren für Antiochia eine besondere normannische Prägung und mithin
ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den anderen Kreuzfahrerstaaten. Reginald Allen Brown erkennt im Fürstentum Antiochia »the fourth in the extra44 Vgl. Asbridge, Thomas S., ›The Crusader Community at Antioch: The Impact of Interaction with Byzantium and Islam‹, in: Transactions of the Royal Historical Society (9; 1999),
305–325; Burnett, Charles, ›Antioch as a Link between Arabic and Latin Culture in the
Twelfth and Thirteenth Centuries‹, in: Occident et Proche-Orient: Contacts Scientifiques au
Temps des Croisades. Actes du Colloque de Louvain-la-Neuve, 24 et 25 Mars 1997, hg. v.
Isabelle Draelants, Anne Tihon, Baudouin van den Abeele, Turnhout 2000, 1–78;
Ciggaar, Krijnie N. u. Metcalf, D. M. (Hgg.), East and West in the Medieval Eastern
Mediterranean I. Antioch from the Byzantine Reconquest until the End of the Crusader
Principality. Acta of the Congress Held at Hernen Castle in May 2003 (= Orientalia Lovaniensia Analecta; 147), Löwen 2006.
24
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik
ordinary series of Norman states stretching across the known world – Normandy
itself, England, southern Italy and Sicily, and now Antioch.«45 Bei den Vertretern
dieser Forschungstradition46 erscheint das Fürstentum Antiochia als das letzte
große Kapitel in der Meistererzählung47 von Aufstieg und Triumph der Normannen, als hervorragendes Beispiel ihres Eifers und Glaubens, ihrer Stärke und
organisatorischen Leistung.48 Zudem wird der Eindruck einer zielgerichteten
Entwicklung erweckt, die von der Landnahme heidnisch-skandinavischer Eroberer im Norden Frankreichs im späten neunten und frühen 10. Jahrhundert
über die Eroberungen in Süditalien und auf Sizilien seit Beginn des 11. Jahrhunderts und die Unterwerfung Englands 1066 bis hin zum Ersten Kreuzzug und
der Gründung des Fürstentums Antiochia reicht.
Man muß sich dieser Position nicht bedingungslos anschließen, um ihr wesentliches Element – eine distinktiv normannische Prägung Antiochias – anzuerkennen. So räumen nämlich auch die meisten nicht der Forschungstradition
um Brown und Douglas angehörenden Historiker den Normannen einen besonderen Platz in Antiochia ein.49 Schon beim Ersten Kreuzzug selbst kam den
Normannen aus der Normandie und vor allem jenen aus den normannischen
45 Brown, Reginald Allen, The Normans, Woodbridge 1994 (2. Aufl., 1. Aufl. 1984), 152.
46 Außer Brown sind vorrangig zu nennen: Albu, Emily, The Normans in their Histories:
Propaganda, Myth and Subversion, Woodbridge 2001, 1; Chibnall, Marjorie, The Normans,
Oxford 2000, 96f; Douglas, David C., The Norman Fate. 1100–1154, London 1976, 169;
Haskins, Charles Homer, The Normans in European History, London 1916, 216; Hodgson,
Natasha, ›Reinventing Normans as Crusaders? Ralph of Caen’s Gesta Tancredi‹, in: Anglo
Norman Studies XXX. Proceedings of the Battle Conference, hg. v. C. P. Lewis, Woodbridge
2007, 118–132. Diese auf die Normannen fokussierte Forschungstradition organisiert sich
vor allem in der US-amerikanischen Haskins Society for Anglo-Saxon, Anglo-Norman, Angevin and Viking History (http://www.haskins.cornell.edu/soc.html) und in der Gruppe um
die Battle Conference on Anglo-Norman Studies (http://www.battleconference.com/).
47 Zum Begriff der Meistererzählung vgl. Rexroth, Frank, ›Meistererzählungen und die Praxis
der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung‹, in: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen, hg. v. Dems. (= Beiheft der Historischen Zeitschrift; 46), München 2007, 1–22.
48 Brown stellt einen expliziten Zusammenhang zwischen der Normannitas des Fürstentums
und dessen Stärke her: »Nor should it surprise us that the principality of Antioch […] was
the strongest of the Latin states of Outremer.« Brown, The Normans, 152.
49 Einschränkungen werden allein von Matthew Bennett und Alan V. Murray geäußert, wobei es
sich hierbei in erster Linie um eine Kritik an den sehr weitgehenden Positionen der »Normannenforscher« handelt. Eine besondere Bedeutung der Normannen für Antiochia – zumindest im Hinblick auf die Frühzeit des Fürstentums – bezweifeln aber auch Bennett und
Murray nicht. Vgl. Bennett, Matthew, ›The Normans in the Mediterranean‹, in: A Companion to the Anglo-Norman World, hg. v. Christopher Harper-Bill u. Elisabeth van
Houts, Woodbridge 2003, 87–102; Murray, Alan V., ›How Norman was the Principality of
Antioch? Prolegomena to a Study of the Origins of the Nobility of a Crusader State‹, in:
Family Trees and the Roots of Politics. The Prosopography of Britain and France from the
Tenth to the Twelfth Century, hg. v. Katharine Stephanie Benedicta Keats-Rohan, Woodbridge 1997, 349–359.
Panlatinismus oder Partikularismus? – Antiochia und die Normannen
25
Territorien in Süditalien und auf Sizilien eine herausragende Position zu –
insbesondere bei der mehr als siebenmonatigen Belagerung Antiochias in den
Jahren 1097 und 1098, bei der Eroberung der Stadt am 3. Juni 1098 und bei der
anschließenden Etablierung und Konsolidierung des Fürstentums.50 Noch vor
und dann verstärkt während der Belagerung Antiochias etablierten die Normannen um Bohemund und Tankred in Nordsyrien durch die Besetzung strategisch wichtiger Orte und den Aufbau eines Netzwerks von Fouragezentren zur
Versorgung ihrer Truppen eine starke Position, die sie nach der endgültigen
Übernahme der Herrschaft in Antiochia im Januar 1099 stabilisieren und ausbauen konnten.51 Als eine »normannisch[e] Herrschaftsgründung«52 bezeichnet
deshalb auch ein der Normannenbegeisterung unverdächtiger Gewährsmann
wie Harald Dickerhoff das Fürstentum Antiochia.
Speziell die ritterliche Elite des Fürstentums war – zumindest während der
ersten zwei Jahrzehnte nach dem Ersten Kreuzzug – überwiegend normannisch
geprägt.53 Erst die verlustreiche Niederlage des antiochenischen Heeres unter
Roger von Salerno – dem dritten Herrscher des Fürstentums – gegen muslimische Truppen unter Ilgazi von Aleppo in der Schlacht auf dem Ager sanguinis54
am 28. Juni 1119 könnte diese normannische Dominanz im Adel eingeschränkt,
wenn auch wohl nicht vollends ausgelöscht haben.55 Außerdem weist Marjorie
Chibnall darauf hin, daß selbst der nicht normannischstämmige Teil des antiochenischen Adels in kultureller Hinsicht von den Normannen geprägt gewesen
sei.56 Über die Herkunft der nicht-adeligen Lateiner in Antiochia lassen sich
erwartungsgemäß nur schwer Aussagen treffen. Allerdings spräche, wie Claude
Cahen vermerkt,57 ein starkes normannisches Element im antiochenischen Adel
50 Vgl. Albu, Normans, 164; Bennett, ›Normans in the Mediterranean‹, 87; Douglas, David
C., The Norman Fate. 1100–1154, London 1976, 169–172; Jamison, Evelyn, ›Some Notes on
the Anonymi Gesta Francorum, with Special Reference to the Norman Contingent from
South Italy and Sicily in the First Crusade‹, in: Studies in French Language and Medieval
Literature. Presented to Professor Mildred K. Pope, Manchester 1939, 183–208, 205; Mayer,
Kreuzzüge, 62.
51 Vgl. Asbridge, Creation, 16ff, 27ff, 42, 129f; Aubé, Pierre, Les Empires Normands d’Orient:
XIe–XIIIe SiÀcle, Paris 1999, 106ff; Mayer, Kreuzzüge, 67ff; Runciman, Steven, ›The First
Crusade: Constantinople to Antioch‹, A History of the Crusades. Volume I. The First Hundred
Years, hg. v. Kenneth M. Setton u. Marshall W. Baldwin, Madison 1969, 280–307.
52 Dickerhoff, Harald, ›Über die Staatsgründung des ersten Kreuzzuges‹, in: Historisches
Jahrbuch (100; 1980), 95–130, 98, 118.
53 Vgl. Asbridge, Creation, 163; Brown, The Normans, 153; Cahen, Syrie du Nord, 334ff, 439;
Chibnall, The Normans, 97; Murray, ›Prolegomena‹, 358f.
54 Zum Ager sanguinis siehe: Asbridge, Thomas S., ›The Significance and Causes of the Battle
of the Field of Blood‹, in: Journal of Medieval History (23; 1997), 301–316; Edgington,
Susan B., Art. ›Ager Sanguinis, Battle of‹, in: CE, 1:22; Mayer, Kreuzzüge, 99.
55 Vgl. Albu, Normans, 177; Mayer, Kreuzzüge, 99.
56 Vgl. Chibnall, The Normans, 97.
57 Vgl. Cahen, Syrie du Nord, 439, 547f.
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